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Tierstudien 01/2012 Animalität und Ästhetik Herausgegeben von Jessica Ullrich Neofelis Verlag Tierstudien_01.indd 3 27.02.2012 22:44:14

Bauen ohne Hand und Hirn. Anmerkungen zum Begriff der Tierarchitektur

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Tierstudien

01/2012

Animalität und Ästhetik

Herausgegeben von Jessica Ullrich

Neofelis Verlag

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Bauen ohne Hand und HirnAnmerkungen zum Begriff der Tierarchitektur1

Sascha Roesler

Mit „Tierarchitektur“ konstituierte sich seit den frühen 1960er Jahren ein Begriff, der das Territorien begründende Verhalten von Tieren in Analogie zur menschlichen Architektur als ästhetisch-bauliche Praxis versteht. Die Anfänge einer dezidiert ästhetischen Deutung des terri-torialen Verhaltens von Tieren als Tierarchitektur finden sich da, wo Biologen aus modernekritischen Impulsen heraus in einen Dialog mit Architekten und Ingenieuren treten. Die Architektur des Menschen bildet dabei den Echoraum, in dem die ethologischen Erkenntnisse nachhallen und durch den die Tierbauten erst eine ästhetisch-archi-tektonische Dimension erlangen. Der ästhetisierende Blick auf Tierbauten verdankt sich letztlich reformerischen Impulsen, die die moderne, von Architekten gestaltete Lebenswelt betreffen.Anders als der Begriff des „Habitats“, der einen räumlichen Zusammen-hang zwischen einem Organismus und seiner Umwelt meint, führt die Rede von der Tierarchitektur zu einer Verengung des tierischen Lebensraums auf ein räumliches Objekt. Gerade die wiederkehrende Hervorbringung von Territorialität – der Biologe Cord Riechelmann spricht von einem „im Tierreich weit verbreiteten rhythmischen Zeremoniell, Territorien zu begründen“2 – als womöglich zentrale Eigenheit des baulichen Verhaltens von Tieren tritt dabei in den Hin-tergrund. Entgegen der verbreiteten Sicht tierischen Bauens, welche das Territorialverhalten der Tiere evolutionistisch in einen Zusam-menhang mit dem menschlichen Bauen stellt, betont Riechelmann die irreduzible Andersheit des tierischen Territorialverhaltens: „Für die Bautätigkeit von Tieren folgt […], sie nicht als wie auch immer ausge-

1 Der Aufsatz stellt eine stark modifizierte Fassung eines 2008 erschienen Beitrags für die Zeitschrift Kunst + Architektur in der Schweiz dar. Beide Aufsätze geben Argu-mentationen wieder, wie sie in der Dissertation durch den Autor entwickelt wurden. Siehe: Sascha Roesler: Bauten ohne Konstruktion. Tierarchitektur im Diskurs der Postmoderne. In: Kunst + Architektur in der Schweiz 2008, Heft 4, S. 20–27; sowie: Sascha Roesler: Konstruktion der Konstruktion. Eine Diskursgeographie des aussereuropäischen Hausbaus, 1933–1986. Dissertation ETHZ 2010, S. 364–368.2 Cord Riechelmann: Eine Geschichte um das Bauen der Tiere. In: Du. Das Kultur-magazin Nr. 784, März 2008, S. 52–57, hier S. 54.

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arbeitete evolutive Vorläufer unserer Architektur anzusehen, sondern als etwas anderes, etwas entschieden nach unseren Kriterien Unkal-kulierbares, Unberechenbares.“3 Über „die Funktionen des Schutzes, der Werbung und der Verführung“ hinaus bleibe ein Aspekt,

in dem sich das Tier schlicht selbst genügt. Einen Aspekt, der sich nicht in evo-lutionsgeschichtlichen Entwicklungslinien darstellen lässt, der von einfachen zu komplizierteren Formen führt, von unten nach oben sozusagen, sondern der beschrieben werden müsste als eine Funktion, die sich ohne Ziel in den ver-schiedensten Formen immer wieder jeden Tag ‚nur‘ ausdrückt.4

Territoriales Verhalten von Tieren wäre demnach, folgt man der antidarwinistischen Argumentation Riechelmanns, nicht ohne weite-res mit der Erstellung von menschlichen Behausungen vergleichbar oder gar gleichzusetzen.Für Darwin hingegen steht bekanntermaßen „die Qualität der Anpassung eines Organismus an seine Umwelt“5 im Mittelpunkt, ist sie doch die entscheidende, die natürliche Selektion beeinflussende Größe. Tiere leisten eine solche Anpassung an eine gegebene Umwelt nicht zuletzt mittels ihres baulich-territorialen Verhaltens – einer Anpassungsleistung, die erst mit der Industrialisierung im 19. Jahr-hundert im Gegensatz zum Bauen des Menschen gesehen wird.6 Mit dem modernen Städtebau schließlich entsteht gar eine gebaute Umwelt, die die natürliche bleibend verändert und sich baulich nicht mehr in sie einfügt. An die Stelle der Anpassung an die Umwelt tritt neu die Vorstellung einer Manipulation derselben.

Natürliche KonstruktionenDie Erforschung von „Tierarchitektur“ erfolgt seit den frühen 1960er Jahren im Spannungsfeld der drei Disziplinen Biologie, Ingenieurs-wissenschaften und Architektur, wobei sich die disziplinären Schwer-punkte an der Beschreibung des Verhaltens, der Konstruktion und der Form tierischer Bautätigkeit beziehungsweise Behausung festmachen lassen. Die Interdisziplinarität begründet ein neuartiges Forschungs-feld, das die formalen Perspektiven, wie sie etwa in der Tendenz

3 Ebd., S. 54.4 Ebd., S. 54f.5 Eve-Maria Engels: Charles Darwin. München: C.H. Beck 2007, S. 100.6 Exemplarisch dafür: J. G. Wood: Homes without Hands, Being a Description of the Habi-tations of Animals, Classed according to their Principle of Construction. London: Longmans, Green, and Co. 1866.

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eines organischen Bauens schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts gege-ben waren, überschreitet. Die biomorphen Formenwelten tierischer Bauten unterliegen nun einer empirischen Verwissenschaftlichung und – mit dem Aufkommen der so genannten Bionik – immer mehr auch einer technologischen Operationalisierung. Der Ingenieur Udo Küppers spricht im Kontext einer bionischen Übersetzungsarbeit treffend von einer „Analogieforschung“.7Was die Beschreibung von Tierarchitektur anbelangt, sind die Pub-likationen zweier Biologen hervorzuheben: 1974 erscheint die wir-kungsgeschichtlich bedeutsame, an ein breites Publikum gerichtete Studie von Karl von Frisch, dem deutschen Zoologen und Nobel-preisträger, Tiere als Baumeister; 1984 publiziert der britische Zoologe Michael Hansell Animal Architecture and Building Behaviour, die sich an ein Fachpublikum wendet, seither jedoch durch weitere populärwis-senschaftliche Publikationen desselben Autors ergänzt wurde.8 Beide Biologen gehen bei ihren Untersuchungen zum baulichen Verhalten von Tieren von „engen Parallelen“ zwischen tierischen und mensch-lichen Herstellungsmethoden im Bereich des Bauens aus. Beide Pub-likationen zeichnet dabei aus, dass die biologische (wissenschaftliche) Argumentation zum baulichen Verhalten von Tieren auf einem all-tagssprachlichen Verständnis von menschlicher Architektur aufbaut: Beide stützen sich auf einen durch Handarbeit und Erfahrungswissen geprägten Architekturbegriff, der seit der Industrialisierung immer weniger Gültigkeit besitzt.Wissensgeschichtlich standen die beiden Publikationen nicht allein da. Bereits 1961 konstituiert sich in Deutschland die Arbeitsgruppe Biologie und Bauen, in der sich Biologen, Architekten und Ingenieure zusammenschlossen. Treibende Kraft waren anfangs der Biologe Johann Gerhard Helmcke sowie der Flugzeugbauer Heinrich Hertel, die es verstanden, Leute wie etwa den Schweizer Bauingenieur Heinz

7 Udo Küppers: Bionik und Bauen – Lernen von den Baumeistern der Natur. In: Peter-René Becker / Horst Braun (Hrsg.): nestWerk. Architektur und Lebewesen. Olden-burg: Isensee 2001, S. 96.8 In der Folge erscheinen eine ganze Reihe von ästhetisch gefärbten Publikatio-nen: 1989 veröffentlicht der Kunsthistoriker Franzsepp Würtenberger Die Architektur der Lebewesen. Zwei Ausstellungskataloge dokumentieren die wachsende ästhetische Bedeutung von tierischen Bauten: 1995 die vom finnischen Architekten Juhani Pal-lasmaa im Finnischen Architekturmuseum initiierte Ausstellung Animal Architecture sowie die 2001 im Bremer Übersee-Museum gezeigte Schau nestWerk – Architektur und Lebewesen.

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Isler, einen der Pioniere des dünnwandigen Stahlbeton-Schalenbaus, in die Arbeitsgruppe einzubinden.9 Nach der Gründung des Insti-tuts für leichte Flächentragwerke durch Frei Otto 1964 in Stuttgart intensivierte sich die Arbeit dieser Gruppe. Sie mündete in den 1980er Jahren in Deutschland u.a. im Sonderforschungsbereich 230 Natürliche Konstruktionen – Leichtbau in Architektur und Natur, einem interdisziplinären Forschungsschwerpunkt, an dem Geistes- und Sozialwissenschaften, Biologie, Architektur, Bauingenieurswesen und Naturwissenschaften beteiligt werden.Tierische Bauten bildeten in der Vision Frei Ottos nur einen Aspekt einer viel weiter gefassten „Evolution der Technik“, die es aus unter-schiedlichsten natürlichen Systemen abzuleiten galt. Die Erforschung biologischer Systeme sollte für die Innovation und Optimierung tech-nischer Artefakte nutzbar gemacht werden. Konzeptioneller Dreh- und Angelpunkt dieser Forschung wurde die sogenannte natürliche Konstruktion, die die Annäherung von natürlichen und kulturell beding-ten Konstruktionen beförderte. Indem schlicht „jedes materiell exis-tierende Objekt“, sei es von Menschenhand geschaffen oder natürlich gegeben, sich als Konstruktion begreifen und als solche mechanisch beschreiben lässt, wird die (menschengeschaffene) Technik zu einer Heuristik der Natur.10 Der entscheidende Aspekt architektonischer Konstruktionen von Menschen, nämlich – allem technischem Sach-verstand zum Trotz – die in der Verbindung der Bauteile waltende Kontingenz, wurde mit diesem Naturalisierungsschritt dem For-schungsinteresse geopfert. Damit wurde dem im 20. Jahrhundert zum Durchbruch gelangten physikalistischen Verständnis von mensch-licher Konstruktion ein weiterer Schub verliehen; einem Verständ-nis, das die symbolische Grunddisposition der Konstruktion – die Konstruktion der Konstruktion wenn man so will – nur noch in Form einer Suspendierung zur Geltung bringt. Die begriffliche Domesti-zierung des Territorialverhaltens von Tieren als Tierarchitektur ging bezeichnenderweise mit dieser Naturalisierung der (menschlichen) Konstruktion einher. Die Naturalisierung der menschlichen Kon-

9 Siehe dazu: Berthold Burkhardt: Das Institut für leichte Flächentragwerke. Uni-versitätsinstitut und Spinnerzentrum. In: Winfried Nerdinger (Hrsg.): Frei Otto. Das Gesamtwerk. Leicht bauen natürlich gestalten. Basel/Boston/Berlin: Birkhäuser Verlag für Architektur 2005, S. 93.10 Jürgen Hennicke, zit. in: Frei Otto et al. (Hrsg.): Natürliche Konstruktionen. Stutt-gart: dva 1982, S. 24.

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struktion und die Kulturalisierung des tierischen Territorialverhaltens waren Teil derselben technologiegläubigen Bewegung.

Flechtende Vögel und AffenDer Architekturtheoretiker Lewis Mumford hat bereits 1966 scharf-sinnig die technische Komplexität tierischer „Container“ gegenüber den frühen menschlichen „Werkzeugen“ hervorgehoben. In einer evolutionären Perspektive sei „Technik“, so Mumford, „nichts aus-schliesslich Menschliches“ gewesen, sondern vielmehr ein generel-les Merkmal, das Tiere mit Menschen verbinde.11 Analog zu den Tragwerksformen menschlicher Architektur finden sich bei Tieren Höhlen und Stabtragwerke (viele Nester der Vögel), Membranbau-ten und Netzkonstruktionen (Spinnen- und Raupennetze), Schalen (dünnwandige Schwalbennester der Salanganen), Falttragwerke (die Wabenbauten der Bienen), Gewölbe (Ameisenhaufen) und gegossene Massivbauten (Termitenbauten).12 Im Tierreich findet sich die ganze Palette konstruktiver Verfahren massiver und filigraner Bauweisen, die auch von Menschen zur Anwendung gebracht werden: „Spin-nen, Weben, Nähen, Kleben, Zusammenfügen von Fremdmaterial, Graben, Anhäufen, Bohren, Fräsen“.13 Viele Tierarten verfügen über eine Art körpereigene Raffinierung. Michael Hansell teilt die von Tieren verwendeten Baustoffe in die beiden grundlegenden Katego-rien „secreted materials“ und „collected materials“ ein.14

Bei Tieren ist der Gebrauch körperfremder Werkzeuge eine Selten-heit. Normalerweise benutzen sie ihre eigenen Körperteile, bevorzugt die Mundwerkzeuge und Beine. Bemerkenswert ist, dass „von stam-mesgeschichtlich völlig fremden Tieren ähnliche Werkzeuge für ähn-liche Tätigkeiten ausgebildet [werden]. […] Ein bekanntes Beispiel ist der Vergleich zwischen der Grabhand der Maulwurfgrille und des Maulwurfs.“15 Gleichzeitig gilt, dass dasselbe konstruktive Verfahren

11 Lewis Mumford: Technics and the Nature of Man. In: Smithsonian Institution (Hrsg.): Knowledge Among Men. Eleven Essays on Science, Culture, and Society Commemorat-ing the 200th Anniversary of the Birth of James Smithson. Washington, D.C.: Simon and Schuster 1966, S. 129.12 Angaben gemäß: Cornelius Thywissen: Tierbauten. In: Otto et. al. (Hrsg.): Natür-liche Konstruktionen, S. 20.13 Ebd., S. 20.14 Michael Hansell: Animal Architecture. Oxford: Oxford University Press 2005, S. 34–54.15 Thywissen: Tierbauten, S. 20.

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mit ganz unterschiedlichen körpereigenen Werkzeugen bewerkstel-ligt wird, wie ein Vergleich des Flechtens von Webervögeln und von Menschenaffen exemplarisch zeigt.

Die Webervögel – eine Familie mit über 100 Arten, die das Handwerk bereits im Namen tragen – verfügen für die Erstellung ihrer Nester über Flechttechniken von erstaunlichem Geschick, das an dasjenige von Korbflechtern und Webern erinnert. Es sind vor allem die Männ-chen, die die Nester erstellen, indem mit dem Schnabel und unter Zuhilfenahme der Beine Grashalme und Streifen von Palmblättern flechtend und webend verarbeitet werden. Das Resultat sind kugel-förmige Nester, die außerdem über eine Flugröhre als Anhängsel ver-fügen. Karl von Frisch schildert den Nestbau-Vorgang der Cassins Webervögel, „einem der besten Weber“ überhaupt, folgendermaßen:

Die Art der Verflechtung ist mannigfaltig und richtet sich nach der gegebe-nen Situation. Im einfachsten Fall wird der Faden als Schlinge um einen Zweig oder um einen anderen Faden gelegt. Oder er wird durch eine andere Schlinge gezogen, oder zu einem Knoten verknüpft, einfach spiralig herumgewickelt oder zuletzt auch verschlungen […]. Geschickt versteht er eine Faser durch ein Geflecht durchzustecken und daneben wieder herauszuziehen. Ist auf eine solche Weise eine feste Grundlage für die Form gegeben, so kann die Wand durch echtes Weben nach dem Prinzip von Kette und Schuss verdichtet und verfestigt werden […]. Hier verlaufen die Fäden mit grosser Regelmässigkeit senkrecht zueinander, diagonal zur Richtung der Neströhre.16

16 Karl von Frisch: Tiere als Baumeister. Frankfurt am Main/Berlin/Wien: Ullstein 1974, S. 217.

Nestbau des Webervogels (links) und schematische Darstellung der dabei angewendeten Knüpftechniken.

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In einer evolutionären Perspektive beherrschen die stammesge-schichtlich älteren Tiergattungen ähnliche Bautechniken oft besser, „als ob die Spezialisierung längere Tradition hätte“17. Was das Bauen von Tieren anbelangt, scheinen Intelligenz und technische Virtuosität oft geradezu gegenläufig. Gerade da, wo durch Lernen modifizierte Ansätze (menschlichen Zuschnitts) zu beobachten sind, wie bei den Menschenaffen (Orang-Utans, Gorillas und Schimpansen), entste-hen die prekärsten konstruktiven Gebilde. Die Nestbau-Fähigkeiten dieser drei Affenarten sind nicht angeboren, sondern sie entstehen durch Lern- und Vervollkommnungsprozesse. Die Nester werden als Nachtlager jedes Mal unter Verwendung vegetabiler Baustoffe (Zweige, Blätter etc.) neu gebaut. Schimpansen bauen ihre Nester, anders als die Bodennester der Gorillas, hoch in den Bäumen.18

Für den Schweizer Architekten und Anthropologen Nold Egen-ter manifestiert sich im Nestbau der Menschenaffen ein bauliches Vermögen, das qualitativ vom territorialen Verhalten anderer Tier-gattungen zu unterscheiden ist. Erst mit Bezug auf die Nester von Menschenaffen könne berechtigterweise von „Prototypen von Bau-werken“ gesprochen werden. Egenter bezeichnet die Menschenaffen deshalb auch als „architéktôn“, erste Baumeister im Wortsinn, oder schlicht als „Affen-Architekten“,19 damit Überlegungen aufgreifend, die bereits von Darwin 1871 in The Descent of Man angestellt wurden. In den vegetabilen Plattformen der Menschenaffen erkannte Darwin ebenfalls die Vorläufer-Artefakte einer „groben Architektur“20. Den zentralen Unterschied macht Egenter in der „Konstruktivität“ der Menschenaffen aus, einem Optionen offenen Vermögen, das von den Primatenforschern Ada und Robert Yerkes zuerst beschrieben wurde.21 Der Handentwicklung bei den Primaten kommt für die

17 Thywissen: Tierbauten, S. 20.18 Angaben gemäß: Colin P. Groves / Sabater J. Pi: From Ape’s Nest to Human Fix-Point. In: Man, New Series 20,1 (März 1985), S. 22–47.19 Nold Egenter: Affen-Architekten – Die Nestbautraditionen der höheren Men-schenaffen. In: Umriss 2 (1983), S. 2–9, hier S. 9.20 Charles Darwin: The descent of man, and selection in relation to sex. London: John Murray 1882, S. 82–83. Siehe auch den 1876 von Friedrich Engels publizierten Auf-satz Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen, der ganz offensichtlich an einer Lektüre Darwins geschult ist. Vgl. Karl Marx / Friedrich Engels: Werke. Band 20. Berlin: Dietz 1962, S. 444–455.21 Ada Yerkes / Robert Yerkes: The Great Apes. A Study on Anthropoid Life. New Haven: Yale University Press 1929.

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Ausbildung von Konstruktivität eine zentrale Bedeutung zu; evoluti-onsgeschichtlich muss Konstruktivität vor rund 20 Millionen Jahren ins Spiel gekommen sein. In seinem 1983 publizierten Aufsatz Affen-Architekten hat Egenter die Nestbau-Aktivität eines Schimpansen dargestellt:

Auf Bäumen zieht [der Schimpanse], auf tragenden Seitenästen stehend oder hockend, wenige starke Äste mit den Armen heran, klemmt sie unter den gegen-überliegenden Fuss fest. Entweder gebrochen, geknickt oder nur zurechtgebo-gen, werden sie dann verflochten. Durch Drehen des Körpers und Wiederholen desselben Vorganges entsteht so eine federnde Plattform, eine winzige Ebene im ringsum abfälligen Raum. Danach werden meist in kauernder Stellung dün-nere Äste hereingebogen und zu einem 60–80 cm weiten Kranz verflochten. Zum Schluss wird das Nest mit feinen, zum Teil abgerissenen Zweigen oder hergebrachtem Material ausgepolstert, eventuell durch Klopfen mit dem Hand-rücken ausgeglichen. Der ganze Vorgang dauert etwa 1–5 Minuten.22

Im Unterschied zum Flechten der Webervögel zeichnet sich im Flechten der Schimpansen bereits ein bauliches Vermögen ab, bei dem reines Instinktverhalten in Formen lern-abhängigen Handelns übergeht. Dadurch wird eine Handlungsfähigkeit freigesetzt, die eine Bauevolution erst in Gang bringen kann. Mit der Konstruktivität der Menschenaffen ist „nicht mehr nur Anpassung an zufällig von der Natur Angebotenes“ gegeben, sondern es zeigt sich, so Egenter, „ein klar umrissenes und systematisches Bemühen, vorgefundene Umge-bungen auf eigene Bedürfnisse hin sich selbst anzupassen“23. Das konstruktive Vermögen der Menschenaffen zeigt sich darin, dass es sich auch in Gefangenschaft auf „ein weites Spektrum von Material beziehen“24 könne. Neben dem Verflechten von Zweigen wurde auch das Aufschichten von Steinen oder von gefallenem Holz beobachtet, darin menschlichem baulichen Handeln ähnlich. Der Übergang zu einer solch konstruktiven Handlungsfähigkeit ging bekanntermassen mit dem Anwachsen des Gehirns, der Entwicklung hin zur Zweifüs-sigkeit, der Verflachung des Gesichts und, besonders hervorzuheben, der Ausbildung der polytechnischen Hand einher.25 Für die Architektur von Menschen(-Affen) in hohem Masse bedeutsam ist die „Pfote-

22 Egenter: Affen-Architekten, S. 5.23 Ebd., S. 4.24 Ebd., S. 6.25 Siehe dazu: André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Spra-che und Kunst. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980.

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Hand-Differenz“,26 der Übergang also von der (tierischen) Pfote zur (menschlichen) Hand.

Spinnen und Vögel imitierende Menschen„Techniken von Tieren“27 erlangten auf der Suche nach naturna-hen Baumethoden innerhalb der Architektur (von Menschen) seit den 1960er Jahren wachsende Aufmerksamkeit. Bemerkenswerterweise sind es zwei Olympiastadien, diejenigen Münchens (1968–1972) und Pekings (2003–2008), die das komplexe Verhältnis sichtbar machen, in das eine spätmoderne Architektur zum Bauen von Tieren getreten ist. Als gebaute Symbole dieses Verhältnisses machen die beiden Sta-dien Anleihen bei filigranen Bauweisen, die an diejenigen von Spin-nen und Vögeln erinnern. Wurde für die Entwicklung des Münchner Stadiontragwerks sehr direkt auf Strukturexperimente zurückgegrif-fen, die die Spannungsverteilung in Spinnennetzen simulieren, so ist es im Fall des Pekinger Stadions allgemeiner die scheinbare Red-undanz der tragenden Elemente, die eine Nähe zum Nestbau von Vögeln impliziert.Einen Meilenstein in der bionischen Konzeptualisierung von Trag-werken stellt das Münchner Olympiastadion dar, entworfen von einer Architektengruppe um Günter Behnisch und Frei Otto28 im Vor-feld der Olympiade 1972. An der filigranen Zeltdachkonstruktion des Stadions sowie an den Überdachungen der Zugangswege sind die natürlichen Vorbilder – Spinnennetze – mit ihrem minimierten Materialeinsatz und der optimalen Spannungsverteilung unschwer zu erkennen. Die gesamte Dachkonstruktion des Stadions wurde, analog zur Aufhängung des Netzes von Spinnen an Gräsern, nur an weni-gen Masten befestigt, was zu einer Verringerung der Auflagerbereiche geführt hat. Die unterschiedliche Krümmung der Dachflächen ver-leiht der Konstruktion als Ganzes die nötige Festigkeit. Der leicht-füssige, damals als demokratisch interpretierte Charakter des Stadions verdankt sich der Filigranität seines natürlichen Vorbildes, die die Architekten zu wahren verstanden.

26 Peter Sloterdijk: Antennen des Seins. Über Hände, Füsse, Gesichter als Organe der Weltoffenheit. In: NZZ Sonderbeilage, 12.01.2005, S. J 87.27 Otto et. al. (Hrsg.): Natürliche Konstruktionen, S. 104.28 Beteiligt waren auch die Architekten Fritz Auer, Carlo Weber, Eberhard Tränk-ner, Winfried Büxel sowie der Landschaftsarchitekt Günther Grzimek.

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Mit dem als „Vogelnest“ bezeichneten Pekinger Olympiastadion wurde vom Schweizer Architekturbüro Herzog und de Meuron, zusammen mit dem Ingenieurbüro Ove Arup & Partners, ein Gebäude geschaffen, das sich bildhaft in eine vermeintlich zeitlose und natürliche Ordnung – jenseits des Politischen und Ideologischen – einschreibt. Es kann kein Zufall sein, dass mit diesem biomorphen Gebilde eine Art architektonische Signatur der Gegenwart entstan-den ist, für die die Nestmetapher die offizielle Lesart abgibt.29 Die biologistische Pointe erwies sich als Ausweg aus der durch und durch politisierten Aufgabenstellung Stadion für eine Diktatur. Die gleicher-maßen technische und symbolische Innovationskraft des Gebäudes liegt indes in seiner Konstruktion: Die Fuzzy-Logic, die an den Nest-bau von Vögeln erinnert, ist, in den Maßstab eines Stadions für rund 90.000 Menschen übersetzt, darum so frappierend neu, weil sie sich nicht nur als Bild einer oberflächlichen Verkleidung, sondern in der Struktur selber manifestiert. Während die 24 primären Portalträger in regelmäßigen Abständen tangential den Ringträger der Dachöffnung umschreiben, wurden die außen verlaufenden aussteifenden Sekun-därträger unregelmässig angebracht – ebenso funktionalen wie stati-schen Anforderungen Beachtung schenkend.30 Sie erst erzeugen die mehrdeutig-prekäre Wirkung dieser gigantischen Stahl-Konstruktion.Das Nest – zentraler biologischer Begriff für die Benennung von Tier-bauten – eröffnet übertragen auf die menschliche Lebenswelt jenen metaphorisierenden Sehnsuchtsraum, an den Architektur als quasi vorgesellschaftliches und vorkulturelles Konstrukt immer wieder anzuknüpfen versucht. Die Metapher vom Tier als „Baumeister“ oder als „Architekten ohne Zeichenbrett“ bildet dabei das Gegen-stück zu dieser Fantasie. Das Gehäuse von Raupen, Larven und Schne-cken; die Höhle von Mäusen, Kaninchen und Füchsen; das Nest von Ameisen, Vögeln und Affen stellen nicht nur evolutionäre Vorstufen

29 Gemäß Angaben des Architekturtheoretikers Yehuda E. Safran hat die mit dem Stadionwettbewerb betraute chinesische Jury als erste die Behauptung aufgestellt, das chinesische Volk habe die Nestmetapher für das Gebäude erfunden. Safran geht allerdings eher davon aus, dass die Metapher von der Jury selber geprägt wurde, um das ungewöhnliche Projekt der chinesischen Öffentlichkeit nahezubringen. Siehe dazu: Yehuda E. Safran: The nest. In: werk bauen + wohnen, Juli/August 2008, S. 4–14, hier S. 8.30 Angaben gemäß: Nationalstadion in Peking. Dokumentation. In: Detail – Zeit-schrift für Architektur und Baudetail, 7+8/2008: Große Tragwerke, S. 771–779, hier S. 777.

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räumlicher Organisation des Menschen dar, sondern sie fungieren immer auch als kulturkritische Kategorien im Umfeld einer spätmoder-nen Architektur.

Geschärfter KonstruktionsbegriffGemeinsame Bauweisen bei Mensch und Tier eröffnen für die Dis-ziplin der Architektur eine evolutionistische Sicht auf sich selber. Die in die Naturgeschichte ausgreifende Perspektive führt zu einem vorkulturellen Verständnis vom Bauen. Unübersehbar ist dabei ein gewisser modernekritischer Impetus. Die Nestmetapher in der Sphäre des Menschen und die Handwerkermetapher in der Sphäre der Tiere illustrieren dies exemplarisch. Die Grundlagen einer mit der Industrialisierung entstandenen modernen Architektur – Rationalität und künstlerische Autonomie – werden mit gegenläufigen Prinzipien – Instinkt und Gen-Ausstattung – konfrontiert und kritisiert. „You don’t need brains to be a builder“31, sagt der Biologe Michael Hansell. Gemeinsamkeiten zwischen tierischem und menschlichem Bauen werden entsprechend im Bereich der Bautechnik und der technolo-gischen Fertigkeiten verortet, wo Symbolhaft-Intendiertes mechanis-tisch ausgeschlossen werden kann.Was der Bautechnik von Tieren allerdings fehlt, ist das, was von Primatenforschern und, im Anschluss an diese, von Nold Egenter Konstruktivität genannt wird: ein unter Handlungsoptionen stehendes Vermögen, die Umgebung auf die eigenen Bedürfnisse hin anzupas-sen. In der Literatur zur Tierarchitektur öffnet sich eine leise Diffe-renz zwischen Bauen und Konstruieren: Letzteres ist nicht mehr bloß das konzeptionelle Gegenstück zum realisierenden Bauen, sondern eine avancierte Entwicklungsstufe davon. Die Fähigkeit, Konstrukti-onen zu bilden, stellt demnach eine bauevolutive, man könnte auch sagen kognitive Entwicklungsstufe dar, die erst mit dem Aufkommen der Menschenaffen erreicht ist: Tiere bauen, Menschen(-Affen) aber konstruieren – was auf die Notwendigkeit von hoch entwickelten Gehirnen hinweist. Gemäß diesem bauevolutionistischen Verständ-nis liegt das virtuose Flechten der Webervögel dem Menschen weit ferner als das dilettantisch-unmotivierte Verknüpfen von Zweigen der Schimpansen. Konstruieren erscheint als ein vieldimensionales

31 Michael Hansell: Built by Animals: The Natural History of Animal Architecture. Oxford: Oxford University Press 2007, S. 58.

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Vermögen des Menschen, mit der die Umwelt symbolisch überformt und räumlich manipulativ verändert wird.Tierarchitektur lässt sich demnach – vorausgesetzt man nimmt die symbolische Grunddisposition der menschlichen Konstruktion zum Richtstab – in zwei Gruppen einteilen: in eine Gruppe, die sich klar von der Architektur des Menschen abgrenzen lässt, sowie in eine Gruppe, die in einem Tier-Mensch-Übergangsfeld anzusiedeln ist. Die zweite Gruppe steht, aufgrund lernbasierter Verhaltensweisen, dem Menschen nahe. Mit der Konstruktivität der Menschenaffen entsteht ein Tier-Mensch-Übergangsfeld, das den Umschlag von der Naturabhängigkeit zur Manipulationsfähigkeit der Umwelt, vom ins-tinktiven Verhalten zu komplexeren Handlungsvermögen, von einer Natur- zu einer Kulturgeschichte des Bauens einleitet.

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