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Martin Pleiß
Matrikelnummer 205289
Das gemeinsame Gefühl -
Der neurobiologische Begriff Synästhesie in Anschluss an Herders sensorium commune
Hausarbeit für die Vorlesung
Sinnlichkeit
bei Prof. Dr. Rolf Elberfeld
WS 2010/11 - Universität Hildesheim
„All of these questions that philosophers have been studying for millennia, we scientists can
begin to explore by doing brain imaging, and by studying patients and asking the right ques-
tions.“
Vilayanur S. Ramachandran – TED Talk: 3 clues to understanding your brain1
Was ist das Ich für die moderne Gesellschaft? Wie entstehen Identität, Charakter und Beziehungs-
strukturen zur Außenwelt, wie etwa Vertrauen? Was haben unsere Sinne damit zu tun, wie und vor
allem was nehmen wir nicht oder nicht bewusst war? Über all diese Fragen scheint man viel zu le-
sen und zu hören in Feuilletons, TV-Gesprächsrunden und Wissensshows, populärwissenschaft-
lichen Veröffentlichungen und Ratgebern. Aber nicht die Philosophie speist mit ihrer klassischer-
weise in solchen Fragen liegenden Kompetenz diese (zugegebenermaßen für Massenmedien Ni-
schen-) Phänomene der Populär-Kultur, sondern die Naturwissenschaften – allen voran die Neuro-
wissenschaften. Massive Fortschritte in bildgebender Technologie und bei Computersimulationen
für die Untersuchung neurologischer Prozesse und die Entwicklung des menschlichen Gehirns ha-
ben in den letzten Jahrzehnten dieser Disziplin nicht nur maßgebliche Forschungsresultate gelie-
fert, sondern auch die Popularität vor allem einer ihrer Gegenstände innerhalb vieler wissenschaft-
licher Gemeinschaften erhöht: dem Bewusstsein. Oder, wie Daniel Alexander Braun in seiner Dis-
sertation Philosophische Verwicklungen der neurobiologischen Bewusstseinsforschung2 schreibt:
„Bewusstseinsforschung ist en vogue. Will man den Protagonisten Glauben schenken, han-
delt es sich dabei um ein junges, hochdynamisches und interdisziplinäres Forschungsge-
biet, von dem sich die große Mehrheit der Natur- und Geisteswissenschaftler wahrhaft
Bahn brechende Ergebnisse erhofft.“3
Aber dürfen im Umkehrschluss erkenntnistheoretische Diskussionsgegenstände der Philosophie
im 21. Jahrhundert dann auch nicht mehr ohne den Blick auf andere Forschungsdisziplinen ver-
handelt werden? Braun nennt aus seiner Sicht eindeutige Belege dafür4, dass die Philosophie zu-
mindest generell auf diese Entwicklung reagiert. Die Zeitschrift Philosophy Now hat in einer Umfra-
ge im November/Dezember 2012 die most active areas of philosophy identifiziert. An erster Stelle,
1 Ramachandran (2007)2 Braun (2010)3 Braun (2010 : 11)4 „Gemessen an der Zahl von Zeitschriften, Organisationen und Konferenzen zum Thema ‚Bewusstsein’ ist sogar ein
'steil ansteigendes Interesse am Problem des Bewusstseins' in der Philosophie über die letzten zwanzig Jahre hin zubeobachten“. Vgl. Braun (2010 : 13)
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mit doppelt so vielen Stimmen wie der zweite Platz: „Philosophy of Mind“.5 Die Hoffnung vieler da-
bei ist, dass Untersuchungen und Überlegungen auf diesem Gebiet einem ganzheitlichen Theorie-
gebilde zuspielen und nicht weniger bilden als die Brücke zwischen den dem Subjekt phänomeno-
logisch Rechnung tragenden Geisteswissenschaften und der bis in das Abstrakte hinein ihren Ge-
genständen fern bleibenden Empirie der modernen Naturwissenschaften. Thomas Nagel formuliert
dies zum Beispiel so:
„What is needed is something we do not have: a theory of conscious organisms as physical
systems composed of chemical elements and occupying space, which also have an indivi-
dual perspective on the world, and in some cases a capacity for self-awareness as well. [...]
An integrated theory of reality must account for this, and I believe that if and when it arrives,
probably not for centuries, it will alter our conception of the universe as radically as anything
has to date.”6
Um an solchen Theorien arbeiten zu können, braucht es operativ verwendbare Begriffe, die nicht
nur aus philosophiegeschichtlicher Perspektive ausführlich behandelt und mit Tiefe beschwert wor-
den sind, sondern eben auch in den Naturwissenschaften Anschluss finden und ganz konkrete Tü-
ren öffnen, an denen sich ein Transfer ermöglichen lässt. Ob man sich dabei an den gerade am
aktuellsten experimentell untersuchbaren Thesen der Naturwissenschaften orientieren sollte oder
lieber langfristige Entwicklungen abwartet, kann hier noch nicht diskutiert werden. Dafür soll aber
ein beispielhafter Beitrag zeigen, wie lohnend schon jetzt solche Bemühungen sein können. Zwei
Begriffe sollen hierfür, nebeneinander gestellt, auf ihre Kompatibilität miteinander zu überprüfen
sein: Johann Gottfrieds Herders „aus untersensorischen Äquivalenzen und Transpositionen beste-
hendes System“7 des sensorium commune und das neurowissenschaftliche untersuchbare und
seit der Jahrtausendwende immer relevanter gewordene Phänomen der Synästhesie. Hier wird zu-
erst kurz in die aktuelle Verwendung des Synästhesie-Begriffes eingeführt, um dann das Sensori-
um Commune bei Herder zu isolieren, dagegen zu halten und mit Hilfe von aktuellen Erkenntnis-
sen der neurologischen Synästhesieforschung eine Verbindung zwischen beiden herzustellen, um
Herders Begriff anschlussfähig zu machen. Es soll auch sichtbar werden, warum gerade Synästhe-
sie in Hinsicht auf die Neurowissenschaften als Türöffner für philosophische Diskurse um Bewusst-
sein, Kreativität und Sprache dienen kann.
5 Wobei erwähnt werden sollte, dass das Antwortfeld trotz eines nicht repräsentativen Teilnehmerkreises der Umfrage sehr divers ausfiel. Auf Platz Zwei folgt aber Epistemology und zwischen den Plätzen 6 bis 13 Philosophy of Cogni-tive Science, Experimental Philosophy und Philosophy of Perception. Vgl. Chalmers / Kripke (2012)
6 Nagel (1986 : 51)7 Merleau Ponty (1966 : 274)‐
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1) Synästhesie im allgemeinen Verständnis
„Synesthesia [...], from the ancient Greek σύν (syn), "together," and αἴσθησις (aisthēsis),
"sensation," is a neurological condition in which stimulation of one sensory or cognitive pa-
thway leads to automatic, involuntary experiences in a second sensory or cognitive pa-
thway.“8
Die englische Ausgabe der Wikipedia zeigt durch ihre kollektive Arbeitsweise ein weit verbreitetes
und konsensfähiges Verständnis von Synästhesie, sieht man vom literaturwissenschaftlichen
Fachbegriff der sprachlichen Synästhesie9 ab. Aber bereits dort ist im ersten Absatz festgehalten
worden, dass der Begriff in der letzten Zeit starken Veränderungen unterliegt und sich vermehrt
eine Vielzahl von Phänomenen darunter sammeln, deren Zusammenhang genauer betrachtet wer-
den muss10 - der Begriff ist also beobachtbar in Bewegung und wird weiter ausgehandelt. Die am
häufigsten beschriebene Ausprägung, die auch in den hier folgend zu betrachtenden Studien der
dominante Untersuchungsgegenstand sein wird, ist die sogenannte Graphem-Farb-Synästhesie
(grapheme–colour synaesthesia oder GCS). Bei ihr werden – dem Namen folgend – Buchstaben
und Zahlen mit einer zusätzlichen, eindeutigen und wiederholbaren Farbwahrnehmung versehen.
Dieses Farben-Sehen kann wiederum entweder intern oder extern passieren. Bei ersterem sieht
der Betroffene die Farbe vor seinem inneren Auge, bei letzterem gibt es eine im konkreten Seher-
lebnis lokalisierte Farbwahrnehmung.11 In beiden Fällen ist der Synästhetiker aber in der Lage, zwi-
schen materiell bedingter und formbedingter, projizierter Farbe zu unterscheiden – das mit schwar-
zem Stift geschriebene A bleibt schwarz, wird aber zusätzlich zum Beispiel mit der Farbe Rot emp-
funden. Neben dieser Art der Synästhesie existieren aber noch bis in bisher nur einmalig doku-
mentierte Einzelfälle hinein unterschiedene Varianten, bei denen die Auslöser statt Graphemen
auch Wörter, Sätze, Töne, Geschmäcker, Personen oder sogar spezifische Raumerlebnisse und
emotional verknüpfte Stimulationen sein können. Und auch die Art des zusätzlich wahrgenomme-
nen Reizes ist bei unterschiedlichen Betroffenen variabel. Wichtig ist aber, zu beachten, dass Syn-
ästhesie „keine Erkrankung, keine Halluzination oder Einbildung und nach aktuellem Wissensstand
auch keine starke Assoziation“12 ist. Sie hat also, außer man will die beschrieben Effekte so bewer-
8 Vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Synesthesia. Gesichtet am 15.01.20139 Vgl. hierfür zum Beispiel Gross (2002 : 58)10 Vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Synesthesia. Gesichtet am 15.01.201311 Synästhesie hat unterschiedliche Effekte durch unterschiedliche Kopplungsmuster: „Synesthetes differ in the way
synesthetic color is perceived: “projector” synesthetes experience color externally colocalized with a presented gra-pheme, whereas “associators” report an internally evoked association. Using dynamic causal modeling for MRI, we show that V4 cross-activation during synesthesia was induced via a bottom-up pathway (within fusiform gyrus) in pro-jector synesthetes, but via a top-down pathway (via parietal lobe) in associators. These findings show how altered coupling within the same network of active regions leads to differences in subjective experience. Our findings recon-cile the two most influential cross-activation accounts of synesthesia.“ Vgl. van Leeuwen / den Ouden / Hagoort (2011)
12 Webseite der Deutschen Synästhesie-Gesellschaft e.V.: http://www.synaesthesie.org/3synaesthesia/Syn_e4sthesie Gesichtet am 10.01.2013.
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ten, keine weiteren negativen Auswirkungen und ist auch keine bewusste oder steuerbare Erfah-
rung.13 Dafür ist diese Form der Synästhesie mit hoher Wahrscheinlichkeit erblich und hat mit einer
spezifischen Strukturierung bestimmter Gehirnareale zu tun – dazu später mehr. Aber immer
bleiben die zwei Sinneseindrücke unweigerlich miteinander verbunden oder, andersherum
gedacht, werden nicht getrennt voneinander wahrgenommen. Dies geht soweit, dass viele
Synästhetiker erst spät oder gar nicht bemerken, dass ihre Art der Wahrnehmung
außergewöhnlich ist. Und immer wieder wird deswegen eine sehr hohe Dunkelziffer an unbewusst
Betroffenen vermutet.
2) Herders sensorium commune
Es folgt ein kleiner Sprung, zurück ins 18. Jahrhundert: Johann Gottfried Herder fragt 1772 in sei-
ner Abhandlung über den Ursprung der Sprache14 nach einer Mitte und einem Mittler in der er-
kenntnistheoretischen Auseinandersetzungen mit der klassischen Dichotomie von Vernunft und
Gefühl - seinem Ort an dem der Mensch aus sich zum Mensch entspringt - und findet eine Idee,
die dem pathologischen Phänomen Synästhesie sehr ähnlich scheint. Die Formulierung "klassi-
sche" Dichotomie fällt hier natürlich doppeldeutig aus: Herder steht innerhalb der Kausalkette der
Weimarer Klassik und insbesondere durch Bekanntschaft während und nach seines Studiums in
Königsberg in der damaligen Kantrezeption. Daraus folgt unmittelbar und unausweichlich die Be-
achtung von Sinnlichkeit innerhalb der Betrachtung von Vorgängen des Verstandes. Im Gegensatz
zu Kant15 wandelt Herder aber dabei, wie Ulrike Zeuch sagt, auf der dunklen Seite der Aufklärung16
– sprich in einer Denke, die versucht, eine Ganzheitlichkeit im Menschen zu entdecken und so
einen anderen Weg einschlägt als die Kategorienlehre im kantischen Sinne. Das bedeutet, dass
statt Kants fundamentalen a priori der menschlichen Wahrnehmung bei Herder ein prozesshaftes,
nur schwer fassbares Etwas auftritt, das ständig in Bewegung ist. Etwas, das einem poetischen
Menschenbild nahe steht. Und dieses Etwas ist das sensorium commune, das gemeinsame Emp-
finden. Um dessen Konzept und auch Ähnlichkeiten zu Überlegungen zum medizinischen Phäno-
men Synästhesie zu verstehen, muss man sich allerdings zuerst Herders Vorstellung vom Men-
schen als erkennendes Wesen ansehen. Die Abhandlung über den Ursprung der Sprache soll hier
13 "Strictly speaking, synaesthesia is not a normal phenomenon because it exists in 4% of the population. However, it ∼should be noted that, aside from their exceptional crossmodal experience, synaesthetes have normal cognitive abilities and brain activation. For example, brain imaging of synaesthetes shows elevated activation in areas that correspond to the synaesthetic experience but not in other brain areas. In addition, in a variety of cognitive tasks and domains, independent of the synaesthetic experience, synaesthetes show effects that are comparable with those of non-synaesthete participants, and the incidence of mental illnesses or neurological deficits among synaesthetes is the same as in the normal population."Vgl. Cohen Kadosh / Avishai (2007)
14 Herder (2001)15 Auf den hier auf Grund des Umfanges nicht weiter eingegangen werden kann. 16 Genauer gesagt: Sie sieht wie Herder in der Forschung so betrachtet wird. So zitiert sie Israel Stamm mit "[Herder, d.
A.] will not thin himself out to fine, abstract distinctness." und "Herder wende sich gegen 'the [...] Rationalistic abstraction of mind from the life of sensation and passion' " Vgl. Zeuch (2000 : 2)
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hierfür zusammen mit Ulrike Zeuchs Umkehr der Sinneshierarchie17, in der Herders Sensorik-Ver-
ständnis zusammengefasst dargestellt wird, herangezogen werden.
2.1) Die Selbstgestaltung des Menschen
"Die Gebundenheit an einen Leib gehört nach Herder zur Natur eines eingeschränkten Wesen
überhaupt [...]"18, sagt Marion Heinz in ihrem Anliegen, Gottfried Herder erkenntnistheoretisch zu
systematisieren. Solche Wesen sind aber nicht nur wir Menschen. Wir teilen uns diese Beschrän-
kung mit allen Tieren, von denen wir uns trotzdem durch eine Besonderheit der Seele unterschei-
den. Seele steht hier für des lebendige, aktive Innere, das Verarbeitende. Und den erwähnten Un-
terschied benennt Herder in der Abhandlung über den Ursprung der Sprache als die positive Kraft
des Denkens19, also die Fähigkeit, konstruktiv wirken zu wollen. Sie führt im Zusammenspiel mit
dem Körper dazu, dass die steuernden Denkprozesse, die bei Tieren in unterschiedlichsten For-
men auftauchen, beim Menschen auf ein qualitativ völlig anderes Level geführt werden. Diese An-
dersartigkeit ist sozusagen ein Tabula rasa der inneren Steuerung beziehungsweise des Gesteu-
ert-Seins oder, wie Herder es sagt, eine "[...] ganz verschiedenartige[...] Richtung und Auswicke-
lung aller Kräfte"20. Und die umfassen "[...] die ganze Haushaltung seiner sinnlichen und erkennen-
den, seiner erkennenden und wollenden Natur [...]"21. Etwas konkreter ausgedrückt: Was bei Tie-
ren grundsätzlich innewohnende, durchaus intelligent erscheinende aber geradlinige und speziali-
sierte Denkprozesse sind, das wird für Herder beim Menschen durch die Fähigkeit ersetzt, die
Seele zu öffnen und frei zu machen, sich neu zu organisieren. Und so ersetzt sich, was er bei Tie-
ren Kunstfähigkeit nennt, mit der menschlichen Vernunft und was bei den Tieren Instinkt ist mit der
menschlichen Freiheit22.
Das Sonderbare daran: Auf den ersten Blick wirkt es, als ob uns die Tiere etwas voraus hätten. Sie
sind hochspezialisiert, teilweise sensorisch und in ihren kognitiven Prozessen viel schneller und ef-
fektiver. So sind sie oft in der Lage, diese Fähigkeiten ohne einen speziellen Vorerwerb oder auf-
wendige Lernprozesse einzusetzen – sie wohnen ihnen inne. Dem gegenüber steht bei Herder ein
Mensch, der scheinbar keinen Platz mehr hat in der Welt und der seine Aufgaben und mit ihnen
seine Fertigkeiten erst finden muss. Ihm wohnt also nichts inne? Nein, denn dieser Verlust ist für
Herder kein wirklicher, auch nicht einer der etwas ausbalanciert. Denn es geht ihm nicht um höhe-
re oder niedere Stufen von Fertigkeiten, um eine Skala der Kunstfertigkeiten, sondern darum eine
17 Zeuch (2000)18 Heinz (1994)19 Vgl. Herder (2001: 26)20 Herder (2001 : 26f.)21 Herder (2001 : 26)22 Vgl. Ebenda.
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vollkommen andere Form von Wesen in der Welt zu beschreiben:23
"Nicht mehr eine unfehlbare Maschine in den Händen der Natur, wird [der Mensch] sich
selbst Zweck und Ziel der Bearbeitung."24
Wenn eben also noch gesagt wurde, dass der Mensch sich erst finden muss, dann bedeutet dies
für Herder, dass gegenüber den Tieren dessen spezifische Disposition oder, neudeutsch, des Men-
schen evolutionäre Nische wegfällt. Und er statt scharfen Sinnen einen allgemeineren Umblick ent-
wickelt, statt spezifischer Kunstfertigkeiten eine weite Aussicht und damit eine andere Form von
Vorstellungskraft.25 Und wie dem Tier seine spezifischen Fähigkeiten in die Wiege gelegt sind, so
ist dem Menschen im besonderen diese einzigartige Form der Aufnahmefähigkeit der sinnlich er-
fahrbaren Welt zugetan. Er muss sie nicht erst ausbilden, schon ein Säugling ist dazu fähig.
"Ist nämlich die Vernunft keine abgeteilte, einzelwürkende Kraft, sondern eine seiner Gat-
tung eigne Richtung aller Kräfte, so muss der Mensch sie im ersten Zustande haben, da er
Mensch ist."26
Dieses besondere Konglomerat aus Sinnen und vor allem Sinnverarbeitung nennt Herder Beson-
nenheit - sie ist es, die dem Menschen inne wohnt.27 Diese Zuschreibung ist insofern nun auch
eine poetische, da sie dem Menschen Spielraum bei der Interpretation gibt, während er die Welt
erfährt – aber auch bei der Wahrnehmung dieser Welt selber. Das ist möglich, da er eben keinen in
ihm fixierten Beschränkungen unterliegt und damit von Grund auf Welt in einer gestaltenden Praxis
erfahren kann. Diese Besonnenheit ist es auch, die dem Menschen Reflektion und Selbsterkennt-
nis ermöglicht. Und damit in direkter Folge auch Sprache.
Wie das? Herder beschreibt das etwas abgekürzt so: Bei Tieren herrscht ein konstanter stream of
consciousness, der allerdings den angeborenen Filtern der Instinkte und kunstvoll ausgeprägten
Vorstellungskraft unterliegt: Eine Spinne, beispielsweise, bemerkt alle Äste, die sich windende Flie-
ge, die Bewegungen um sie herum, sie kann sogar in dieses Geflecht der Umgebung ihre Vorstel-
23 Das ist vor allem wichtig, wenn man bedenkt wie Begriffe wie Verstand, Sinn oder eben auch Gefühl bei Herder indem einen Gefühl zusammenlaufen. Vgl. auch weiter unten, Herder (2001 : 26f.) und Zeuch (2000 : 146-148)
24 Herder (2001 : 26)25 Vgl. Herder (2001 : 25f.) Vor allem: "Er hat kein einziges Werk [...], aber er hat freien Raum, sich an vielem zu üben,
mithin sich immer zu verbessern. Jeder Gedanke ist ist nicht ein unmittelbares Werk der Natur, aber eben damitkanns sein eigen Werk werden."
26 Herder (2001 : 29)27 Herder (2001 : 28) Vor allem: "[...] und diese ganze Disposition seiner Natur wollen wir, um den Verwirrungen mit
eignen Vernunftkräften usw. zu entkommen, Besonnenheit nennen." Diese Besonnenheit ist insofern unterschieden von eigenen Vernunftkräften, als dass diese erst innerhalb diesesGewebes aus Sinnen, Gefühl und geheimen Band zur Schöpfung (siehe Fußnote 14) wirken. Ein so individuellesEtwas wie der Verstand bildet sich für Herder innerhalb der beim Menschen universellen, göttlichen Besonnenheit,nicht mit oder neben ihr.
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lung der Form eines Netzes hineinprojizieren. Soll sie allerdings zwei Fliegen als Individuen erken-
nen oder voneinander unterscheiden versagt sie, und zwar weil ihre Instinkte und kognitiven Fähig-
keiten ihr nicht erlauben einen Fokus einzustellen und sie so übermannen. Sie ist ganz einfach
nicht in der Lage, die Fliegen anders als in ihr 'vorprogrammiert' wahrzunehmen. Der Mensch hat
in derselben Situation allerdings ein besonderes Werkzeug in der Hand. Durch seine
Besonnenheit wird sein stream of consciousness flacher aber breiter, er kann die Gegenstände
immer wieder erfahren und versuchen, anders zu betrachten oder zu erleben. Und dabei sucht er
nach Symbolen, also Merkmalen des Gegenstandes, die ihn eindeutig von anderen Gegenständen
unterscheiden und die er als eindeutige Zuweisungen und Identifikationsmerkmal benutzen kann.
Was Herder an dieser Stelle beschreibt, gehört ganz typisch zur Semiotik: Genau diese Art von
verarbeitender, flexibler und wiederholbarer Zuordnung ist Grundlage aller Zeichensysteme und
damit natürlich auch der Sprache selbst. Worte sind – mehr oder weniger – eindeutig zuweisbare
Symbole zu Gegenständen der Welt oder des Geistes und für Herder ist klar, hier muss deswegen
nach der Genese der Sprache gesucht werden. Und hierin liegt das Ziel seiner Ausführungen in
der Abhandlung über den Ursprung der Sprache.
2.2) Das Wieder-Erkennen mit dem sensorium commune
Wie aber macht der besonnene Verstand das, ein Symbol zu erkennen? Was genau ermöglicht es
ihm überhaupt, statt des Instinktes einen variablen und lernfähigen Filter einzusetzen und damit
die Dinge und Sinne voneinander zu trennen, einzelne Erfahrung eigenen Konzepten von Dinglich-
keit zuzuordnen? Schließlich ist im Gegensatz zum Tier der Leitmechanismus nicht mehr vorhan-
den, der dies für den Menschen übernimmt. Alles was wir wahrnehmen, so Herder, ist zuerst pure
Wahrnehmung. Dieses zuerst meint einen Menschen, der jungfräulich in der Welt steht, ein Klein-
kind etwa oder die fiktive Figur des leergewaschenen Verstandes. Die Dinge fließen in so einer Si-
tuation in uns Menschen hinein, da wir keinerlei Instinkte besitzen, welche unsere Umwelt für uns
filtern und damit prädispositionieren – Herder verwendet hier immer wieder das Bild eines Ozea-
nes oder Meeres aus Empfindungen.28 Der ganze Bewusstseinsstrom des Menschen lässt sich an
diesem Punkt vielleicht als ein großer Brei aus sinnlichen Erfahrungen beschreiben, Eindrücke aus
denen sich der Mensch noch keine Gegenstände herausgebildet hat und der noch keine Namen
oder symbolischen Zuweisungen kennt.
Eine erste Idee für eine Antwort auf die Frage nach einem Filtermechanismus wäre, dass sich in
28 Besonnenheit ist nicht nur einfach die erste und einzige wirkende Kraft im Menschen, sie schließt ein und geht damit jeder Reflexion oder Verstandesarbeit an den Sinnen voraus: "Der Mensch beweist Reflexion, wenn die Kraft seiner Seele so frei würket, daß sie in dem ganzen Ozean [...] eine Welle, wenn ich so sagen darf, absondern, sie anhalten, die Aufmerksamkeit auf sie richten und sich bewußt sein kann"Herder (2001 : 32)
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der Welt selbst, oder besser in ihren Gegenständen, etwas finden lässt was eine solche Ausdiffe-
renzierung ermöglicht. Der Gedanke liegt nahe, aber nur weil wir als Betrachter dieser Vorgänge
bereits in den zu betrachtenden und damit vorgebildeten Kategorien denken: Wir unterscheiden
und klassifizieren Dinge, wir kennen das Konzept von einer Welt die aus Verschiedenem besteht,
und dass dieses Verschiedene sich anhand von ganz bestimmten und sinnlich erfahrbaren
Merkmalen auseinander halten lässt. Herders noch unerfahrener Mensch kann dieses Konzept
aber eben noch nicht kennen – und so auch keine Muster oder erfahrbare Hilfestellungen in den
Dingen, isoliert betrachtet, finden.
Trotzdem könnten die Gegenstände dieser Welt auf einer metaphysischen Ebene mit uns verbun-
den sein und eine Symbolik bereitstellen – wie etwa in der Tradition von Platons Ideenlehre. Aber
auch hier schließt Herder die Gegenstände selber als Helfer aus. Sie haben bei ihm einfach keine
metaphysischen Eigenschaften oder Bindungen die uns helfen würden, denn sie sind vor allem
nicht an sich in der Welt und können damit auch keinen metaphysischen Bezug haben den wir er-
kennen können – zumindest eben nicht aus einer erfahrbaren Perspektive. Denn die erkennt ja
keine Gegenstände an sich und muss sie selbst erst konstruieren.29
Als so eine zu findende, dritte Kraft kommt bei den Tieren der Instinkt erneut ins Spiel: Die Spinne
kann sich der Fliege in ihrem Netz nicht entziehen. Sie ist zu ihr hingezogen und wird ironischer-
weise von ihr eingesponnen.30 Ihr Instinkt lenkt sie zu ihrer Beute und ordnet bestimmte Wahrneh-
mungen ganz eindeutig bestimmten Bedürfnissen, Erkenntnissen und Verhaltensmustern zu. Statt-
dessen hat der Mensch nur das Wahrgenommene in sich, mit seinen verschiedenen Qualitäten.
Wir erkennen damit erst einmal nichts, außer etwa eine sonderbare Verdichtung aus einem Weich,
Weiß und Warm. Wir erkennen auch, dass diese Qualitäten nicht frei in Raum und Zeit umherirren,
sondern einem so entstehenden Etwas mit Verortungsmöglichkeiten in eben diesen Dimensionen
gehören - sagen wir etwa einem Schaf. Herder beschreibt an dieser Stelle, wie der Mensch diesem
äußeren Objekt eine Identität zuordnet: Indem dieses Schaf blökt.31 Wie tut er das? Der Klang des
Blökens ist ein sehr ausdifferenzierter und einzigartiger Eindruck, besonders im Vergleich zu einer
Qualität wie etwa der Farbe Weiß, die häufiger vorkommt und auch oft schwerer von Variationen
ihrer selbst zu unterscheiden ist. Der Eindruck des Blökens ist also relativ leicht im Strom der Sin-
ne als etwas unterscheidbares auszumachen. Außerdem ist der akustische Sinn durch seine Un-
29 Eine Stelle, an der Herder sich tatsächlich explizit von den Gegenständen abwendet, wäre Herder (2001 : 54): "Wie hängt Gesicht und Gehör, Farbe und Wort, Duft und Ton zusammen? Nicht unter sich in den Gegenständen; aber was sind denn diese Eigenschaften in den Gegenständen? Sie sind bloß sinnliche Empfindungen in uns [...]" Allerdings ist zu beachten, dass Herder doch eine Verbindung zwischen dem Menschen und einem Außen befürwortet. Dieses geheime Band ist dennoch in dem Sinne kein metaphysisches, als dass es durch theologisches Vertrauen und Glauben dem Menschen überhaupt erst ermöglicht, sich in einer Außenwelt zu konstituieren und ihn nicht in eine kontruktivistische Innenwelt fallen lässt. Vgl. auch Zeuch (2000 : 141)
30 Herder spricht auch vom Kreis der Tiere, den zu verlassen sie nicht in der Lage sind und der immer kleiner wird, jekunstfertiger ihre Fähigkeiten und vor allem schärfer ihre Sinne werden. Vgl. Herder (2001 : 21)
31 Herder (2001 : 32)
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mittelbarkeit und seine Vergänglichkeit ein sehr direkter; das Blöken dringt, mit Herders Worten,
sehr tief ein.32
Herders Mensch benutzt nun diese Erfahrung um eine erste Kategorisierung seiner Umwelt vorzu-
nehmen: Das Schaf ist, was blökt. Er kann diese Zuordnung vornehmen, weil er nicht durch In-
stinkte geblendet ist und weil er so die Freiheit und Umsicht besitzt, das Schaf erfahren zu wollen.
Und so ordnet er jetzt diesem Etwas ein sinnliches Symbol zu, etwas Wiedererkennbares. Und ob-
wohl Herder das nicht ausdrücklich sagt, wird bei ihm erst durch diese Symbolzuweisung das Si-
gnifikat als solches konstituiert, ins Leben gerufen, denn erst jetzt ist es als ein wiederkehrendes
Etwas in die Welt des Menschen vorgedrungen - mit dem Wiederkehren als konstituierendes Merk-
mal im Strom der Reize.33
2.3) Das sensorium commune als universelles Gewebe
Es bleibt ein Problem, das mit Herder noch erklärt werden muss: Wenn wir keinerlei Prädisposition
in uns haben, wie unterscheiden wir dann eine Qualität der Wahrnehmung von einer anderen? Wie
kann der an Ideen vollkommen leere Verstand ein Blöken vom Fauchen des Windes unterscheiden
oder, noch viel substanzieller, eine Farbe von einem Klang? Hier kann die Abhandlung über den
Ursprung der Sprache vorerst noch keine klare Antworten geben, aber zumindest ein paar Hinwei-
se. Zuerst fällt einem vielleicht die folgende Zeile auf:
"[A]lle Sinne [sind], insonderheit im Zustande der menschlichen Kindheit, nichts als Ge-
fühlsarten einer Seele [...]"34
Ist die Fähigkeit zu differenzierter sinnlicher Erfahrung bei den Tieren in funktionalen Veranlagun-
gen festgeschrieben, bleibt sie beim Mensch durch seine Hervorbringung einer menschlichen See-
le, der Menschlichkeit selbst, beweglich. In ihr, der Seele, laufen die Sinne aber nicht zusammen,
sondern sie bringt sie erst hervor. Denn die Frage nach dem gemeinsamen Nenner, dem einzigen
Festgeschriebenen für die Sinne, wird bei Herder damit beantwortet, dass sie fühlen können. Und
dieses Gefühl ist nichts anderes als die Seele, die in sich selbst die verschiedenen Vorstellungsar-
ten ermöglicht.
32 Herder (2001 : 33) Warum sich das Gehör sowieso bei Herder für die Benennung und Erkenntnis eignet, liegt unter anderem daran, dass Laute nach einem Naturgesetz direkt mit Gefühlen verbunden sind. Siehe auch Herder (2001 : 57ff.)
33 Dieser Vorgang der Besinnung wird bei Herder durch die Konsitution von Sprache eingeleitet: "Dies erste Merkmal der Besinnung war Wort der Seele!" Vice versa heißt das aber auch, dass für den Menschen vor den Reizen als Symbole keine Signifakte existiert haben können. Vgl. Herder (2001 : 32f.)
34 Herder (2001 : 57)
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Wie ist das möglich? Wie können verschiedene Sinnsysteme aus einem Gefühl entstehen? Auf der
einen Seite: Gar nicht. Für Herder wirken Sinne eben durch ihre Konstitution innerhalb des einen
Gefühls immer zusammen, sie sind in ihren Grundfesten nicht voneinander zu trennen und trennen
sich erst durch ihr Nebeneinanderstellen, auch wenn wir das im Alltag oft übersehen. Die von uns
erlebte Trennung der Sinnsysteme ist so zur einen Hälfte eine artifizielle, und damit ein variabler
Filter den wir durch Übung spezifizieren und verfeinern.35 Dieses Training im Gebrauch ermöglicht
es, spezielle Sinnesqualitäten herauszuarbeiten, die der Mensch schon im ersten Moment beginnt,
erst in gröbere und dann in feinere Kategorien zu ordnen – Weiß zu Rund, Weich zu Nass, Laut zu
Basslastig. All das bildet ein Gewebe, welches zwar in seiner Vernetzung untereinander nicht auf-
zutrennen ist, aus dem heraus wir aber mit Vernunft und Umsicht Strukturen geben können. Diese
Strukturen wiederum ermöglichen einen 'Scheuklappenblick', der streng lineare Orientierungen er-
möglicht aber auch flexibel in seiner Ausrichtung ist.
"Der Philosoph muß einen Faden der Empfindung liegenlassen, indem er den andern ver-
folgt - in der Natur aber sind alle die Fäden ein Gewebe! - Je dunkler nun die Sinne sind,
desto mehr fließen sie ineinander; und je weniger man noch gelernt hat, einen ohne den
anderen zu brauchen, mit Adresse und Deutlichkeit zu brauchen, desto dunkler!"36
Dieses Gewebe ist es, was Herder als sensorium commune bezeichnet. Ein gemeinsamer Sinn –
nicht nur im Bezug auf die verschiedenen Sinnsysteme, sondern auf die Seele des Menschen
selbst bezogen. Jedes Individuum hat durch die Flexibiltät des eigenen Interesses und Ge-
schmacks eine persönliche Wahrnehmung, das ist für Herder klar.37 Aber die Prinzipien des Füh-
lens und der Gewebebildung sind ein universelles für die Menschheit, und damit auch der Gottes-
funken, der uns zu dem macht was wir sind.
2.4) Die physiologische Dimension
Vielleicht ist es noch etwas schwer vorstellbar, wie aus einem Durcheinander von Sinnsystemen
ein Nebeneinander entstehen kann – aus dem wir dann verschiedene Eindrücke differenzieren. In
der Abhandlung über den Ursprung der Sprache taucht eine relevante Textstelle auf, die hier even-
tuell weiterhelfen kann:
"[...] aber was sind denn diese Eigenschaften in den Gegenständen? Sie sind bloß sinnli-
che Empfindungen in uns, und als solche fließen sie nicht alle in eins? Wir sind ein denken-
35 "Wir unterscheiden [die Sinne], aber wieder nur durch Sinne; also Vorstellungsarten durch Vorstellungsarten." Vgl. Herder (2001 : 55)
36 Ebenda.37 Vgl. Zeuch (2000: 140)
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des sensorium commune, nur von verschiedenen Seiten berührt – da liegt die Erklärung."38
Von verschiedenen Seiten berührt – nicht etwas in uns nimmt die ersten Trennungen von Ein-
drücken vor, die Welt tut es. Das Kleinkind, heute würden wir vielleicht sogar sagen der Fötus, wird
mit Massen von Eindrücken bombardiert, aber diese Masse verändert sich in ihren Qualitäten und
ihrer Intensität mit der Zeit und den Bewegungen der Umwelt. In uns bleiben die Sinne immer ver-
bunden. Deswegen ist es auch kein Zufall, dass Herder direkt im Anschluss an diese Textstelle auf
Phänomene verweist, die hier in den vorherigen Kapiteln noch in einem Kontext betrachtet wurden,
der sich aus der pathologisch denkenden Medizin entwickelt hat:
"Mir ist mehr als ein Beispiel bekannt, da Personen natürlich [...] nicht anders konnten, als
unmittelbar durch eine schnelle Anwandlung mit diesem Schall jene Farbe, mit dieser Er-
scheinung jenes ganz verschiedne, dunkle Gefühl verbinden"39
Die Nähe zu modernen Synästhesiebegriffen verstärkt sich sogar noch umso mehr, wenn Herder
für solche konkret beschriebenen Erfahrungen in ihrer Wahrnehmung von Außen ein psychologi-
sches Anders-Sein, eine Nichtnormalität - etwa eines Krankheitsstatus - erkennt:
"Wir sind voll solcher Verknüpfungen der verschiedensten Sinne; nur wir bemerken sie nicht
anders als in Anwandlungen, die uns aus der Fassung setzen, in Krankheiten der Phanta-
sie oder bei Gelegenheiten, wo sie außerordentlich merkbar werden. [...] Wäre es möglich,
daß wir die Kette unser Gedanken anhalten und an jedem Gliede seine Verbindungen su-
chen könnten [...] Wir wären alle [...] jener Gattung von Verrückten ähnlich, die klug denken,
aber sehr unbegreiflich und albern verbinden!"40
Denn spätestens jetzt sieht man sehr deutlich, dass Herder nicht nur über eine abstrakte und religi-
ös gebaute Metapher spricht, die nur der theoretischen Zugänglichkeit zu menschlichen Denkpro-
zessen dient. Er spricht auch über die ganz konkreten, empirisch untersuchbaren Erscheinungen
des menschlichen Körpers selber. Mit einem poetischen und gottesgläubigen Modell berührt Her-
der auf einmal die physiologisch motivierte Psychologie der Moderne – und das ist bemerkenswert.
Denn er versucht gar nicht einzelne Phänomene zu deuten, einzuordnen oder zu behandeln, son-
dern beschreibt immer noch von einem Standpunkt des 18. Jahrhunderts, wo der Ursprung von
ausdifferenzierter Sprache in uns zu finden ist. Aus dem Körper heraus bildet sich ein Geist, auch
wenn dessen Ursprung theologischer Natur ist. Denn was ist das sensorium commune, das ge-
meinsame Gefühl? "[E]s ist die einzige positive Kraft des Denkens, die, mit einer gewissen Organi-
38 Herder (2001 : 54)39 Herder (2001 : 54f.)40 Herder (2001 : 55)
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sation des Körpers verbunden, bei den Menschen [ ] Vernunft heißt"41 Wahrnehmung und Beson-
nenheit fallen bei Herder auch in der Form zusammen, dass beides vor allen anderen Gefühls- und
Seelenregungen steht, sie sind Bedingung der Möglichkeit und handelndes Subjekt in einem. Denn
erst durch sie und durch Ausprägungen und Modifikationen ihrer selbst entstehen die
verschiedenen, konkreteren Vorstellungskräfte. Herder lässt dabei seinen Menschen nicht von der
kurzen Leine der Sinne – was nicht wahrnehmbar ist, kann auch nicht seinen Weg in den
Vorstellungs- oder Gefühlsraum des Individuums finden.42 Erlernen wir also unser Bewusstsein?
3) Synästhesie im neurobiologischen Kontext
"Weil wir viel lesen, entwickeln die meisten eine Graphem-Farb-Synästhesie. Und diejeni-
gen, die mit Musik zu tun haben, entwickeln dann eher eine Ton-Farb-Synästhesie."43
Ist Wahrnehmung und Bewusstsein kultivierbar? Lutz Jäncke, der so von der Zeitung Die Welt zi-
tiert wird, ist Neuropsychologe an der Universität Zürich. Seine Forschung steht in der Reihe eini-
ger Erkenntnisse der letzten zwei Jahrzehnte, die das funktionale Verständnis von Synästhesie als
biologisch beschreibbares Wahrnehmungsphänomen stark verändert und präzisiert haben. Dabei
wurden verschiedene Methoden angewandt, am wichtigsten sind aber der bildgebende Blood Oxy-
genation Level Dependent – Kontrast (BOLD-Kontrast), mit dem im funktionellen Magnetresonanz-
tomographieverfahren trotz einer sehr hohen Auflösung nur situativ besonders aktive Gehirnareale
gefunden werden können, und die sogenannte Ruhezustand – Elektroenzephalografie (EEG), mit
der nur auf bis zu einem Zentimeter genau, aber dafür schon sehr geringe Veränderungen von Ge-
hirnströmen über einen längeren Zeitraum untersucht werden. Zwei von Jänckes Kollegen und
Vorläufern sind für Philosophen vielleicht besonders interessant. Zum einen hat schon im Jahr
1996 Simon Baron-Cohen dafür plädiert, einige Untersuchungen bei Kleinkindern und Thesen zur
Genese von Synästhesie zusammen zu fassen und folgendes Szenario in Betracht zu ziehen44: Als
Neugeborene haben alle Menschen eine Gehirnstruktur, die alle Teile des Organs gleichermaßen
miteinander verknüpft. Sie bilden ein sogenanntes small-world Netzwerk45, bei dem alle Synapsen
über eine geringe Anzahl an Sprungschritten miteinander verknüpft sind. Erst im Alter von vier Mo-
naten modularisiert sich das Gehirn und bestimmte Bereiche trennen sich ab, in einem Atemzug
mit ihrer zunehmenden Spezialisierung und damit einhergehenden Vervielfachung von synapti-
schen Verbindungen innerhalb dieses Bereiches. Bei Synästhetikern allerdings bleiben einige we-
41 Herder (2001 : 26)42 Vgl. auch Zeuch (2000 : 140) 43 Jiménez (2011)44 Baron-Cohen (1996)45 Vgl. auch http://en.wikipedia.org/wiki/Small-world_network: „Specifically, a small-world network is defined to be a net-
work where the typical distance L between two randomly chosen nodes (the number of steps required) grows propor-tionally to the logarithm of the number of nodes N in the network“Gesichtet am 16.12.2012.
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nige dieser Verbindungen erhalten, während sich das restliche Hirn ganz normal weiter entwickelt.
In der Konsequenz müssten Neugeborene, ganz nach dem Herderschen Bild, in einer fast chaoti-
schen anmutenden Welt aus ineinander übergehenden Sinneseindrücken leben und erst durch die
Selbstgestaltungsfähigkeit ihres menschlichen Gehirns Sinne isolieren und dementsprechend ver-
arbeiten können.
Diese These wurde 2001 von Vilayanur Ramachandran und Edward Hubbard noch einmal be-
stärkt46, nachdem konkret nachgewiesen werden konnte, dass bei GCS-Betroffenen tatsächlich
anormale neurale Verknüpfungen zwischen den für Farb- und Zahlenwahrnehmung zuständigen
Gehirnarealen vorhanden sind47. Ramachandran und Hubbard konnten außerdem feststellen, dass
synästhetische Wahrnehmung auf einem höheren Verarbeitungslevel als der direkten Sinnesauf-
nahme stattfindet (z.B. erzeugen am äußersten Rand des Sichtfelds angeordnete Grapheme keine
Farbinduktion) aber der bewussten Wahrnehmung noch untergeordnet ist (durch andere Formen
versteckte Zahlen induzieren Farben noch bevor die Zahl bewusst überhaupt als solche erkannt
wird). Die beiden Forscher führen auch verstärkt die Erkenntnis auf, dass Synästhesie gehäuft bei
Künstlern, Poeten und Autoren vorkommt. Das führt zu der Frage: "[Are creative] concepts repre-
sented in brain maps just as percepts are[? T]hen cross-activation of brain maps may be the basis
for metaphor"48. Und noch einen Schritt weitergedacht vermuten sie, wieder ist die Parallele zu
Herder unübersehbar, dass die Genese von Sprache auf sogar mehreren Wechselwirkungen zwi-
schen verschiedenen Synästhesien und Spiegelneuronen beruht. Dazu gehören Verbindungen von
Form und Ton, Ton und Lippen bzw. Zungensensorik, wiederum visueller Form und vokalem
Ausdruck und Vokalisierung mit Gestik. So entsteht ein fast zwanghafter Kreislauf des sensorisch
und mimetisch gekoppelten Ausdrucks, der in einer "proto-language" kulminiert.49 Eine ungeschlif-
fene Sprache, die sich in ihrer Sinnes- und Selbstbezogenheit an die klassische Sprachsynästhe-
sie anschließt50 und möglicherweise damit verknüpft ist51.
Es ist inzwischen allgemein anerkannt, dass eine erhöhte Vernetzung bestimmter Gehirnareale
46 Vgl. Ramachandran / Hubbard (2001)47 Genauer gesagt: "[Crossactivation between color area] V4 (or V8) and the number area, which lie right next to each
other in the fusiform gyrus" Ebenda. S. 28
48 Ramachandran / Hubbard (2001 : 28)49 Vgl. Ramachandran / Hubbard (2001 : 29)50 „Fügungen wie ‚bittere Enttäuschung’, ‚eisiger Blick’, ‚warme Stimme’ oder ‚harte Entscheidung’ zeichnen sich nicht
durch Originalität aus, sondern haben die Funktion, Erlebnisqualitäten mitteilbar zu machen, indem sie auf gemein-same Wahrnehmungscharakteristika rekurrieren. Sie erlauben gerade in ihrer Konventionalität und idiomatischen Eingeschliffenheit authentische, affektiv getönte Aussagen, in denen subjektive Erlebnisse mitteilbar werden.“ Vgl. Gross (2002 : 65)
51 "Man geht jedoch davon aus, dass die Verknüpfung von Vorstellungsgebieten nicht rein willkürlich ist, sondern ge-wissen Methoden unterliegt. So tauchen einige Verknüpfungen in der Literatur bis heute überhaupt nicht auf, wäh-rend beispielsweise Tastsinn und Geschmack sehr häufig als Attributlieferanten für Gehör und Gesicht dienen. In Thomas Manns 'Buddenbrooks' werden sogar bei 66% der benutzten Synästhesien taktile Bilder zur Beschreibung akustischer Wahrnehmungen genutzt.“ Gross (2002 : 70)
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eine große Rolle beim Auftreten von Synästhesie einnimmt – aber welcher qualitativer Natur diese
Vernetzungen sind, wie sie direkt oder indirekt mit dem subjektiven Erlebnis korrespondieren und
wann und wie sie entstehen, das wird momentan noch verstärkt weiter untersucht. Zum Beispiel
wurde gezeigt52, dass der neuronale Ort für die Erzeugung synästhetischer Farben bei bestimmten
Formen von GCS nicht direkt im visuellen Cortex liegt, und deswegen sowohl die Netzwerke weiter
zu denken sind als auch die Programmierung, die zur phänomenologischen Erfahrung führt, ent-
weder wie eine Software übertragbar sein muss oder die synästhetische Farberfahrung sogar auf
einer höheren kognitiven Ebene ausgelöst werden kann. Gemeint ist eine semantischen Verarbei-
tung, bei der die Stimulation bereits isoliert und ihr eine semantische Repräsentation zugewiesen
wurde, was zur Entstehung der Zweitbenennung Ideasthesia (idea + aisthesis) geführt hat.53
Ein anderer untersuchter Aspekt, der auch starken Einfluss auf die Diskussionen rund um den De-
finitionsbereichs des Synästhesiebegriffs hat, ist die Frage nach der Konsistenz von synästheti-
schen Erfahrungen. Bei einer solchen Untersuchung von Nicolas Rothen und Devin Blair Terhune54
sollten für 120 verschiedene Reize im Abstand von 6 Monaten bei Synästhetikern konsistente, also
gleichbleibende Erfahrung nachgewiesen und gleichzeitig die Ruhezustand-Aktivität von neuralen
Netzwerke bei diesen Testpersonen mit einer Kontrollgruppe verglichen werden. Dabei wurden
nicht nur erneut gezeigt, dass Unterschiede zwischen GC-Synästhetikern und Nicht-Betroffenen
vor allem in subtilen Verbindungen bestimmter Netzwerke bestehen – sogenannter Functional Net-
work Connectivities (FNC) - sondern auch, dass das rechte Frontoparietal-Netzwerk in der Synäs-
thesie eine große Rolle spielt. Das ist relevant, denn „In the general nonsynesthetic population,
frontoparietal connectivity has been hypothesized to be crucial for conscious processing in terms of
a global platform for the integration of representations distributed across multiple brain regions“55.
Das Stichwort hierbei ist conscious processing und es weist darauf hin, dass die Konsistenz von
synästhetischen Erfahrungen direkt mit dem Grad an Bewusstsein der Erfahrung zusammenhängt
– oder anders gesagt, dass die Erfahrung bei allen Menschen konsistent vorkommt und verarbeitet
wird, aber es nur bei wenigen Betroffenen schafft, bis in die bewusste Wahrnehmung durchzudrin-
gen.
Solche Erkenntnisse verwerfen aber auch die Konnotation Baron-Cohens, dass morphologische
Unterschiede in den Verknüpfungen von Gehirnarealen Synästhesie hervorrufen: Es sind wahr-
scheinlich eher stärkere Ausprägungen von Verknüpfungen die sowohl mit ohne GCS bei den
meisten Menschen vorhanden sind. Und eine weitere Implikation dieser Untersuchung ist, dass be-
stimmte FNC's durch die wiederholte Stimulation bei GCS generell gestärkt werden, was dann
52 Hupé / Bordier / Dojat (2012)53 Nikolić (2009)54 Rothen / Blair Terhune (2012)55 Ebenda.
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auch im Ruhezustand sichtbar wird und bei den Betroffenen deshalb bestimmte Effekte entstehen,
die unabhängig von der synästhetischen Erfahrung existieren. Hier verlässt man nun eindeutig die
vorhin angesprochene, sich abgekapselt verhaltende Synästhesie-Definition, denn diese Effekte
sind zum Beispiel ein verbessertes visuelles Gedächtnis und generell bessere Bildverarbeitung,
aber auch Mitempfindung und autobiographische Erinnerung. Natürlich ist hier die Frage der
Genese auch unter organischen Gesichtspunkten zu stellen: Sind diese Eigenschaften Nebenef-
fekte der Synästhesie, verhält es sich genau umgedreht oder ist beides noch Ausdruck einer
dritten Erscheinung?
Womit auch wieder zu Lutz Jäncke und seiner Bewertung des Umwelteinflusses von Synästheti-
kern auf ihre phänomenologische Ausprägung zurück gekommen werden kann. „Diese Form der
Synästhesie kann nur übers Lernen entstanden sein“ schlussfolgert er in Hinsicht auf die For-
schung der letzten Jahre und ergänzt: „Wir lernen dann am besten, wenn es gelingt, das Lernma-
terial mit anderen Informationen zu verknüpfen. Je mehr Verknüpfung, desto besser ist die Ge-
dächtnisspur. Und Synästheten machen genau das nun einmal per definitionem.“56 Für Jäncke ist
Synästhesie als Begriff also eindeutig so konzipiert, dass er kulturell und biographisch bedingte
Verarbeitungen des Bewusstseins mit einschließt. Er bewegt sich so von der physiologischen Un-
tersuchung phänomenologischer Berichte zu einer erweiterten erkenntnistheoretischen Dimension.
4) Die Gegenüberstellung
Hält man beide Begriffe also zusammengefasst nebeneinander, Herders sensorium commune und
die neurobiologische Synästhesie, dann fallen mehrere Aspekte besonders auf:
1. Beide Begriffe bewegen sich ganz grundsätzlich in einer Sphäre, die Phänomenologi-
sches mit der externen Betrachtung von Körpern verbindet. Mit Herder, so Ulrike Zeuch, „ist nicht
entscheidbar, ob "das Einende" der Sinne der Leib als denkendes sensorium commune oder die
Seele ist“57. Und für Anna Doverns einflussreichen Artikel zu intrinsischen Netzwerken ist vor allem
deren Untersuchung bzw. die von funktionalen Netzwerken „directly related to the phenomenology
of human experiences“58.
2. Dabei gleichen sich beide Betrachtungen in ihrer Konzeption von Sinnesverarbeitung
und Bewusstsein sehr. Diese Parallelen äußern sich in der Auflösung einer strengen Ordnung von
Sinnen und sogar in der Trennung von Außen und Innen an der Grenze des Körperlichen durch
eine Möglichkeit und Kraft der Selbstgestaltung. Wenn der Mensch oder dessen Umwelt Einfluss
56 Jiménez (2011)57 Zeuch (2000 : 148)58 Dovern / Fink / Fromme / Wohlschläger / Weiss / Riedl (2012)
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auf die Konstitution seiner Sinne haben kann, diese Sinne wiederum wenigstens teilweise Grundla-
ge für sein eigenes Bewusstsein sind, dann ergibt sich ein erstaunlich organisches Bild des Anein-
anderwachsens, Gestaltens und Gestaltet-Seins. Der deutlichste Unterschied ist jedoch: Wird die
Gestaltkraft der Sinne bei Herder zentral besprochen und dem Menschen aus dem Göttlichen ge-
geben, so findet man sie in der Neurobiologie sehr vorsichtig formuliert und unterschiedlich verteilt
auf Kultur, Umwelt und Genetik.
3. Zuvor wurde in Bezug auf Herder gesagt, dass die Umwelt durch ihre Verschiedenartig-
keit die Grundlage für das menschliche Erkennen und Sortieren der Eindrücke sein muss. Was
Herder hier impliziert, ist ein Akt des Nebeneinanderstellens und der Wiederholung. Man könnte
vielleicht sagen, er lässt den Menschen Erfahrungs-Schleifen durchlaufen, in denen er seine Sinn-
und Weltkategorien ausbildet und schärft. Veränderungen, die innerhalb mehrerer Schleifen fest-
gestellt werden, schreiben sich ein und bilden konstitutiv Objekte und Konzepte aus. Dieselbe
Grundkonstruktion findet sich auch in der Neurobiologie, wenn sich neuronale Netze durch struktu-
rierte Wiederholungen ausprägen. Allerdings muss hier zwischen physiologischen und codierten
Strukturen unterschieden werden – solche Netzwerke sind nicht automatisch gleichzusetzen mit
den Prozessen, die in und zwischen ihnen stattfinden. Der Vergleich funktioniert daher erst einmal
nur auf Sinnsysteme bezogen, die in der Synästhesieforschung dem Einfluss solcher physiologi-
schen Beschreibungen unterliegen.
4. Auch in Hinblick auf die Genese von Sprache sind beide Begriffe relevant und vereinbar.
Vor allem Ramachandran und Hubbard konstruieren für die Neurologie ein Szenario, welches Her-
ders Ausführungen zur Entstehung der Sprache äußerst ähnlich sieht. Sie stellen ebenso einen un-
mittelbaren Zusammenhang zwischen Sprach-Synästhesien und den physiologischen Prozessen
bei GCS her. Sofern Sprache für Überlegungen zur Konstitution von Bewusstsein notwendig ge-
dacht wird, schließen die beiden sich damit nicht nur im neurobiologischen, sondern auch im Her-
derschen Kontext aus doppelter Perspektive diesem Diskurs an: Sowohl die Genese von Sprache,
als auch die Selbstbezüglichkeit in ihrer Beschreibung wird in ihrem Synästhesie-Begriffsraum re-
flektierbar.
5. Beide Begriffe öffnen sich einer Reihe von weiteren interessanten Fragen und liefern Bei-
träge, die zu ihrer Beantwortung nützlich sein können. Zum Beispiel: Worin liegt der Ursprung
kreativen Denkens, der Kombination aus auf den ersten Blick chaotisch zusammengesetzten Ge-
dankenfiguren? Wie werden sensorisch wahrgenommene Objekte und Phänomene überhaupt erst
in Kategorien eingeordnet, Stereotype gebildet, aus denen das kreativ schöpferische Handeln sie
dann wie wieder befreit? Wie konstruiert sich ein integeres Ich aus einer Flut von Sinnesein-
drücken und körperlichen Bedürfnissen? Kann es mit diesen Begriffen überhaupt ein integeres Ich
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geben? Und, egal in welcher Form, konstruiert sich ein Ich überhaupt?
Eine Schwierigkeit, die es beim Nebeneinanderhalten der beiden Begriffswelten gibt, zeigt sich in
fast allen hier zitierten neurobiologischen Artikeln und Papers: Da sie sich generell mit Aussagen
zurückhalten, welche über direkte Konsequenzen ihrer Befunde hinaus gehen oder den für die Ar-
beit relevanten Diskursraum verlassen, ist es selten möglich, aus ihnen weiterführende Interpreta-
tionen der gewonnenen Daten zu entnehmen. Genau hier werden Begriffe wie sensorium commu-
ne relevant – sie führen entsprechende Befunde in Theoriekomplexe ein, die von Seiten der Neu-
rowissenschaften nur selten in solchem Umfang angesprochen werden.
5) Gesprächsgrundlagen
Herders Sensorium Commune ist für die Philosophie ein Beispiel dafür, von den eigenen Denkka-
tegorien der Sinnsysteme Abstand zu bekommen, aus denen sie entstammen und deren Notwen-
digkeiten der Erkenntnisbildung sie unterliegen, um in Folge Prozesse höherer Denkordnung zu
betrachten. Eine ähnliche Funktion übernimmt die Synästhesie in den Naturwissenschaften: „It is
clear that the knowledge gained from research on synaesthesia is not confined to the understan-
ding of synaesthesia per se; rather, it can be used to constrain psychological theories in other are-
as.“ Dies sagten die Neuro-Psychologen Cohen Kadosh und Henik bereits 2007 in einem Review
für ScienceDirect59 und verwiesen auf Sprache, Emotionen, Vorstellungsvermögen und Aufmerk-
samkeit.
Synästhesie ist dabei nur ein Phänomen von vielen, die in der Neurologie gerade besonders unter-
sucht werden. Gerade Abnormalitäten des Hirns stehen im Mittelpunkt, um aus den physiologi-
schen und phänomenologischen Abweichungen bei den Betroffenen Erkenntnisse über die allge-
meine Funktionsweise des Gehirns, der Wahrnehmung und des Bewusstseins zu schließen. Aus
etwaigen Studien von Phantom-Gliedern (abgetrennten, noch spürbaren Körperteilen), Autismus,
speziellen Hirnverletzungen, die nur isolierte Bereiche des Organs betreffen, und auch Drogenein-
flüssen entstehen dann Theorien wie die der Functional Network Connectivities oder auch der hier
nicht weiter besprochenen Spiegelneuronen.60 In der Universität Berkeley wurde vor kurzem eine
Karte der „semantischen Nachbarschaft“ erstellt, bei der Begriffe durch ihre jeweilig zugehörigen
aktiven Gehirnareale in einem Netzwerk der räumlichen und damit wahrscheinlich funktionellen
Verwandtschaft angelegt wurden.61 Aber die nächste Stufe in der Verarbeitung der Befunde schei-
59 Cohen Kadosh / Avishai (2007)60 Eine gute Einführung dazu bietet der eingangs zitierte TED Talk von Ramachandran.61 Beschrieben unter http://newscenter.berkeley.edu/2012/12/19/semanticspace/ und zu finden unter
http://gallantlab.org/semanticmovies/. Beides gesichtet am 03.02.2013.
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nen dann populärwissenschaftliche Veröffentlichungen wie The Tell-Tale Brain62 von Rama-
chandran zu sein, in dessen Duktus sich das einführende Zitat dieses Textes bewegt. Und dieser
Duktus ist einer, der sich sich oft sehr nah an den eigenen Diskursen bewegt, der keine übergrei-
fenden Bilder erstellt, der zwischen Philosophen und Wissenschaftlern trennt. Und der diesen Wis-
senschaftlern Möglichkeiten in der Beantwortung vieler Fragen zuschreibt, die Philosophen an-
scheinend nicht besitzen. Das mag auf Seiten der Diagnosen sogar stimmen, aber gerade in der
übergreifenden Interpretation der Befunde kippt das Verhältnis wieder, dort haben die Philosophen
Hilfsmittel und Know How bereit stehen. Alles was wir tun müssen, ist diese Werkzeuge, unsere
Begriffe, anschlussfähig zu machen. Oder, mit den Worten des Times Autoren James Geary in
dem Schlusswort seines TED Vortrags zu konzeptueller Synästhesie:
„Take the three most famous words in all of Western philosophy: "Cogito ergo sum." That's
routinely translated as, "I think, therefore I am." But there is a better translation. The Latin
word "cogito" is derived from the prefix "co," meaning "together," and the verb "agitare,"
meaning "to shake." So, the original meaning of "cogito" is to shake together. And the
proper translation of "cogito ergo sum" is "I shake things together, therefore I am."
James Geary – TED Talk: Metaphorically Speaking63
62 Ramachandran (2011)63 Geary (2009)
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