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Der totale Filmemacher: Michael Powells Peeping Tom (1959) S ULGI LIE „I am not a director with a personal style. I am simply cinema.“ 1 „Being simply cin- ema“, das gilt auch nicht minder für Mark Lewis (Karlheinz Böhm), der die Überi- dentifikation mit dem Kino von seinem Regisseur Michael Powell übertragen be- kommen hat. Michael Powells Diktum sollte nicht nur als megalomane Koketterie eines allzu selbstbewussten Regisseurs abgetan werden, steckt doch in der minima- len Differenz des ‚Kino Seins‘ zum herkömmlichen Ausdruck des ‚Kino Machens‘ oder ‚Filme Machens‘ der Schlüssel zur kinematografischen Psychose von Peeping Tom, die im ganz wörtlichen Sinne auch eine Psychose des Kinematografischen ist: Denn der Filmemacher Mark Lewis ist eben nicht nur ein besonders obsessiver Vertreter seiner Zunft, sondern ein delirierender Ontologe des Kinos, der sich mit Haut und Haaren, mit Leben und Tod dem unmöglichen Projekt eines totalen Films verschrieben hat, in der er Regisseur, Darsteller und Zuschauer zugleich ist. Der persönliche Stilwillen soll zugunsten der Suche nach der ultimativen filmischen Wahrheit transzendiert werden, die darin besteht, das Nichtfilmbare zu filmen – den Tod im Bild zu bannen. Michael Powell hat aus seiner affektiven Nähe zu Mark Lewis kein Hehl ge- macht: „I felt very close to the hero, who is an ‚absolute‘ director, who is conscious of it and suffers from it. He is a technician of emotion.“ 2 Powells Beschreibung situiert den totalen Filmemacher in der Ambivalenz zwischen Erfolg und Scheitern, zwischen Selbstbewusstsein und Leiden. Denn so sehr Mark Lewis die Mordkunst der Kamera auch technisch perfektioniert, entzieht sich ihm immer wieder das per- fekte Bild, bleibt ein Entzug im Sichtbaren, ein blinder Fleck: „The lights fade too soon“, so wird Mark in einem fast schon melodramatischen Moment des Films la- 1 Michael Powell zit. nach Peter Wollen: „Dying for Art.“ In: Sight and Sound, Nr. 12 (1994), S.12. 2 ebd.

Der totale Filmemacher. Michael Powells \"Peeping Tom\"

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Der totale Filmemacher: Michael Powells Peeping Tom (1959)

SULGI LIE „I am not a director with a personal style. I am simply cinema.“1 „Being simply cin-ema“, das gilt auch nicht minder für Mark Lewis (Karlheinz Böhm), der die Überi-dentifikation mit dem Kino von seinem Regisseur Michael Powell übertragen be-kommen hat. Michael Powells Diktum sollte nicht nur als megalomane Koketterie eines allzu selbstbewussten Regisseurs abgetan werden, steckt doch in der minima-len Differenz des ‚Kino Seins‘ zum herkömmlichen Ausdruck des ‚Kino Machens‘ oder ‚Filme Machens‘ der Schlüssel zur kinematografischen Psychose von Peeping Tom, die im ganz wörtlichen Sinne auch eine Psychose des Kinematografischen ist: Denn der Filmemacher Mark Lewis ist eben nicht nur ein besonders obsessiver Vertreter seiner Zunft, sondern ein delirierender Ontologe des Kinos, der sich mit Haut und Haaren, mit Leben und Tod dem unmöglichen Projekt eines totalen Films verschrieben hat, in der er Regisseur, Darsteller und Zuschauer zugleich ist. Der persönliche Stilwillen soll zugunsten der Suche nach der ultimativen filmischen Wahrheit transzendiert werden, die darin besteht, das Nichtfilmbare zu filmen – den Tod im Bild zu bannen.

Michael Powell hat aus seiner affektiven Nähe zu Mark Lewis kein Hehl ge-macht: „I felt very close to the hero, who is an ‚absolute‘ director, who is conscious of it and suffers from it. He is a technician of emotion.“2 Powells Beschreibung situiert den totalen Filmemacher in der Ambivalenz zwischen Erfolg und Scheitern, zwischen Selbstbewusstsein und Leiden. Denn so sehr Mark Lewis die Mordkunst der Kamera auch technisch perfektioniert, entzieht sich ihm immer wieder das per-fekte Bild, bleibt ein Entzug im Sichtbaren, ein blinder Fleck: „The lights fade too soon“, so wird Mark in einem fast schon melodramatischen Moment des Films la-

1 Michael Powell zit. nach Peter Wollen: „Dying for Art.“ In: Sight and Sound, Nr. 12

(1994), S.12. 2 ebd.

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mentieren, als die Todesangst des Opfers sich in der Projektion im Schwarzbild auflöst. Die Tragik des totalen Filmemachers speist sich aus einem endlosen Ver-fehlen und Aufschieben des orgasmischen Todesbildes, das den Tod nicht nur zeigt, sondern gleichzeitig dieser Tod ist. Mark Lewis kann dieser Aporie nur entgehen, indem er Bild und Tod in seinem eigenen Körper kurzschließt. Der Selbstmord, der am Ende von Peeping Tom steht, beendet die Serie der Substitutionen und Wieder-holungen durch eine kinematografische „passage à l’acte“, in der Mark Lewis auf tödliche Weise mit der Totalität des kinematografischen Dispositivs verschmilzt und zum Zuschauer seines eigenen gefilmten Todes wird.

Mit unentrinnbarer Notwendigkeit steht am Ende von Peeping Tom die Vollen-dung des filmischen Gesamtkunstwerks in der immer schon antizipierten Inszenie-rung des Selbstmordes. Aus der Perspektive seines Endes scheint das Triebschick-sal seines Protagonisten von Anfang an einer Determination unterworfen, die sich nur im Tod totalisieren kann: Das totale Kino ist in Peeping Tom ein Kino des To-des, das ein Opfer verlangt. Mark Lewis psychotischer Ästhetizismus zielt auf ein „L’art pour l’art“, in der das Leben vollständig von der Kunst absorbiert wird und der absolute Glaube an das Kino rituell am eigenen Leib bezeugt werden muss. Da-bei ist von entscheidender Bedeutung, dass der totale Filmemacher Mark Lewis eben nicht nur hinter der Kamera steht, sondern auf einer phantasmatischen Ebene gleichzeitig auch vor der Kamera. Und der Zuschauer Mark Lewis blickt nicht nur auf das projizierte Filmbild, er will auch mit diesem Bild fusionieren – Bildwerden, Kinosein. In seiner Überidentifikation mit der Gesamtheit des kinematografischen Dispositivs zerfließen sowohl die Grenzen zwischen Kamera, Projektor und Lein-wand als auch die zwischen Regisseur, Schauspieler und Zuschauer.

Begreift man in diesem Sinne die phantasmatische Osmose von Subjekt und Kino als Fluchtpunkt des Films, können die zahlreichen psychoanalytischen Inter-pretationen, die Peeping Tom zu einem paradigmatischen Film der feministischen Filmtheorie gemacht haben, womöglich noch Mal neu perspektiviert werden. Denn natürlich kann keine neue Lesart des Films die filmtheoretischen Arbeiten seit den 1980er Jahren ignorieren, die Peeping Tom zu einem Film transformiert haben, dem der psychoanalytische Diskurs geradezu immanent ist. Mit anderen Worten: Pee-ping Tom genießt den Status eines selbst schon filmtheoretischen Films, der den ti-telgebenden männlichen Voyeurismus als perverse Struktur des Kinos analytisch seziert. Im Anschluss an Laura Mulveys kanonische These von der Fundierung der männlichen Blickmacht in den skopophilen Abweichungen des Sexualtriebes haben verschiedene Autorinnen die subversive Qualität von Peeping Tom in der metafil-mischen Reflexion perverser Schaulust verortet. Die Rezeptionsgeschichte des Films sei hier kurz skizziert:

Linda Williams diskutiert Peeping Tom als Sonderfall eines Horrorfilms, der die geschlechtshierarchische Spaltung von Voyeurismus und Exhibitionismus inei-nander kollabieren lässt: Nicht nur oszilliert Mark Lewis permanent zwischen

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Blicksubjekt und Blickobjekt, auch die weibliche Protagonistin Helen (Anna Mas-sey) vermag es, der Objektivierung durch die tödliche Kamera zu widerstehen und ihren Blick gegen den blindmachenden Horror des narzisstischen männlichen Ki-nowahns zu behaupten.3 Eingebettet in eine Studie zur weiblichen Stimme erkennt Kaja Silverman in Peeping Tom eine Demaskierung der fetischistischen Verschie-bung der männlichen Kastrationsangst auf den Körper der Frau: Indem sich Mark Lewis immer auch in der Angst seiner weiblichen Opfer wiedererkennt, fällt die Wunde eines ursprünglichen Mangels auch auf die männliche Subjektivität zurück.4 Im Rahmen der filmtheoretischen Wende der 1990er Jahre zu Fragen einer verkör-perten, masochistischen Schaulust im Kino widmet Carol Clover ihre Überlegungen zu Peeping Tom dem Trennungszusammenhang von sadistischen Impulsen, die auf der Seite des Filmemachens dominieren und masochistischen Affekten, die insbe-sondere im Horrorkino von einem passiven Zuschauer als Lust an der Verwundbar-keit des Auges erfahren wird.5 Emblematisch verdichtet sich für Clover diese maso-chistische Affektion des Sehens in den ersten beiden non-diegetischen Einstellun-gen des Films, in denen auf das Logo von Powells Produktionsfirma The Archers – in dem ein Pfeil das kreisförmige Zentrum einer Zielscheibe trifft – in grafischer Analogie ein aufgerissenes Auge der Angst folgt: Die Augen der Angst (so der deutsche Titel des Films) verkörpern so immer auch die Angst der Augen vor dem Augentod, dem Erblinden. In den lacanianischen Beiträgen von Elisabeth Bronfen und Parveen Adams verschiebt sich der Fokus der psychoanalytischen Theorie vom Register des Imaginären zum Register des Realen: Es wird nun weniger nach den imaginären Identifikationsschemata von Voyeurismus, Narzissmus, Sadismus und Fetischismus gefragt als vielmehr die psychotische Halluzination im Realen unter-sucht, die für Elisabeth Bronfen in einer Konfusion von Bild und Körper mündet6 und für Parveen Adams in der Suche nach einer unerträglichen jouissance der Angst, die sich von der Ökonomie der (Schau)Lust fundamental unterscheidet.7 Aus einer stärker phänomenologisch informierten Perspektive hat Elena del Rio in Revi-sion des okularen Modells der Psychoanalyse ihr Augenmerk auf zentrale Momente des Films gelegt, in der das Sehen somatisiert wird und das filmische Bild als

3 Linda Williams: „Wenn sie hinschaut.“ In: Frauen und Film, Nr. 49 (1990), S. 3-20. 4 Kaja Silverman: The Acoustic Mirror. The Female Voice in Psychoanalysis and Cinema.

Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press 1988, S. 32-41. 5 Carol Clover: Men, Women and Chainsaws. Gender in the Modern Horror Film. Prince-

ton: Princeton University Press 1992, S. 168-191. 6 Elisabeth Bronfen: „Bilder, die töten – Tod im Bild. Gedanken zu Michael Powells Pee-

ping Tom.“ In: Cinema, Nr. 40 (1994), S. 112-134. 7 Parveen Adams: „‚Father, can’t you see I’m filming?’“ In: dies.: The Emptiness of the

Image. Psychoanalysis and Sexual Difference. London/New York: Routledge 1996, S. 90-107.

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Membran einer körperlichen Einverleibung inszeniert wird.8 Schließlich hat Laura Mulvey selbst auf eine a-visuelle Dimension in dem Film hingewiesen, auf einen blinden Blick, der sich dem epistemischen Regime der kinematografischen Skopo-philie entzieht.9

Es wäre müßig, diesen kanonischen Texten noch eine weitere psychoanalyti-sche Lesart hinzuzufügen, die das bereits Gesagte nicht noch Mal verdoppeln würde. Eine symptomatische Lektüre dieser Texte zeigt aber auf, was durchaus ei-ner neuen systematischen Konzeptualisierung bedarf – nämliche die immanente Suspension von filmtheoretischen Kategorien, die in Peeping Tom permanent in ihr Gegenteil umzuschlagen drohen. Was alle Interpretationen des Films vereint, ist ein gleichsam dialektisches Manövrieren zwischen oppositionellen Begriffen: So chan-giert für Linda Williams der Film zwischen Voyeurismus und Exhibitionismus, für Kaja Silverman zwischen Fetischismus und Mangel, für Carol Clover zwischen Sa-dismus und Masochismus, für Elisabeth Bronfen zwischen Bild und Realem, für Parveen Adams zwischen Lust und Genießen, für Elena del Rio zwischen väterli-chen Narzissmus und mütterlicher Alterität und für Laura Mulvey zwischen der Evidenz des Sichtbaren und dem zweiten Blick einer blinden Wahrnehmung.

Meine These wäre nun die, dass diese paradoxe Ununterscheidbarkeit dem uni-versellen ‚Kinosein‘ des totalen Filmemachers entspringt, dem unmöglichen Wunsch, alle kinematografischen Positionen zugleich anzunehmen, sowohl Subjekt und Objekt, Blick und Bild, Sehen und Gesehenwerden, Aufzeichnung und Auffüh-rung in einem überdeterminierten Kinokörper zu vereinen.

Als Inkarnation des kinematografischen Dispositivs ist Mark Lewis weniger ein konsistentes Individuum als vielmehr ein Agglomerat aus widersprüchlichen Parti-altrieben. In technischen Termini lässt er sich als ein Medium beschreiben, das Filmbilder zugleich sendet und empfängt. Diese Personalunion von Sender und Empfänger operiert weniger linear als zirkulär mittels Feedbackschleifen und Inter-faceinstallationen, wie noch zu zeigen sein wird. Dass die Zirkularität der filmi-schen Rückkoppelung nur durch eine suizidale Schnittstelle vollendet werden kann, gehört zur Tragik dieses totalen Filmemachers. Eine Tragik freilich, in der Erfolg und Scheitern nicht zu trennen sind und in einer psychotischen Version des alten romantischen Ideals der Einheit von Leben und Kunst, das Gelingen der Kunst mit dem Tod bezeugt werden muss: „Die romantische Kunst lässt die kreative Wahrheit in der Freiheit des Subjekts zusammenschießen, sie bildet zugleich den Anspruch eines absoluten Buches aus, einer Art Bibel in permanenten Wachstum, die nicht

8 Elena Del Rio: „The Body of Voyeurism. Mapping a Discourse of the Senses in Michael

Powell’s Peeping Tom.“ In: Camera Obscura, Nr. 45 (2001), S. 115-149. 9 Laura Mulvey: „The Light that Fails. A Commentary on Peeping Tom.“ In: Ian Christie

Andrew Moor (Hrsg.): The Cinema of Michael Powell. International Perspectives on an English Filmmaker. London: bfi 2005, S. 143-155.

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mehr das Tatsächliche darstellen, sondern es vielmehr ersetzen soll.“10 Blanchots Worte lassen sich nur zu gut auf Mark Lewis münzen: Der absolute Film des ro-mantischen Filmkünstlers will das Tatsächliche nicht darstellen, sondern ersetzen.

Mit dieser totalen Subjektivierung der Wirklichkeit durch das Bild beginnt auch die berühmt gewordene Anfangssequenz von Peeping Tom, in der die tödliche Kamera ihr erstes weibliches Opfer ins Visier nimmt. Dass hier der Point of View der die-getischen Kamera direkt mit dem Blick des Zuschauers zusammenfällt, haben fast alle Beschreibungen dieser Szene als initiales Moment sadistischer Skopophilie be-schrieben, die den weiblichen Körper gewaltsam in Beschlag nimmt. Nun ist aber 10 Maurice Blanchot: „Das Athenäum.“ In: Volker Bohn (Hrsg): Romantik. Literatur und

Philosophie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987, S. 117.

Abb. 1-2

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den meisten Analysen der minimale Spalt in der Montage der ersten Einstellungen entgangen, die den Kamerablick vom Auge des Protagonisten trennt und somit den vermeintlichen optischen Point of View wieder in Frage stellt:

Auf die Totale einer nächtlichen Straßenansicht, die am rechten Bildrand eine Frau im roten Kleid vor einem Schaufenster zeigt und die vom linken unteren Bild-rand von einem pfeifenden Mann im Trenchcoat betreten wird, folgt statt einer Identifizierung des Gesichts eine Großaufnahme einer 16mm-Kamera mit drei ver-schiedenen Objektiven (Abb. 1).

Es wird deutlich sichtbar, dass der Mann die Kamera ungefähr in Bauchhöhe trägt und aus seinem Mantel herauslugen lässt. Nun bewegt sich der Mann langsam in Richtung der primären, unsichtbaren Kamera der Enunziation, begleitet vom ein-setzenden Surren der 16mm-Mechanik, bis die Großaufnahme kurz in einem Schwarzbild verschwimmt, um danach in den Gegenschuss auf die Prostituierte zu wechseln (Abb. 2). Peeping Tom beginnt mit einer Disjunktion von Auge und Ka-mera und nicht mit ihrer organischen Einheit; die filmende Kamera ist vom sehen-dem Auge abgekoppelt, das eben nicht sieht, was gefilmt wird, sondern im gewis-sen Sinne blind bleibt. Der Zuschauer wird in eine optische Identifikation gezwun-gen, die entgegen der Konvention des klassisch narrativen Films nicht mit dem per-spektivischen Augenpunkt der diegetischen Figur identisch ist, sondern von einer reinen apparativen Instanz in Gang gesetzt wird: Von Beginn an ist der anonyme Peeping Tom weniger eine Person als vielmehr eine technische Prothese mit Eigen-sinn und Eigenblick. Das kinematografische Subjekt verkörpert sich nicht im Auge, sondern in einem azephalen Blick in Bauchhöhe – eine viszerale Visualität, die von der Dunkelheit angesogen wird und die im Moment des Schwarzbildes kurz erblin-det.

Als nun Mark Lewis der Prostituierten in ihr Zimmer folgt, setzt eine Vivisek-tion des weiblichen Körpers auf allen Ebenen ein – von der fetischistischen Kadrie-rung einzelner Körperteile, die ihr warenförmiges Echo in den Gliedmaßen der Schaufensterpuppen haben, bis zu der fast schon splitscreenartig anmutenden Vier-teilung des Kamerabildes durch das Suchkreuz. In das Surren der Kamera mischt sich nun im Zimmer das Ticken einer Uhr – akustische Signaturen eines Triebs, der direkt in der ahumanen Mechanik der Filmapparatur zu wirken scheint. Kurz vor der tödlichen Penetration des Opfers durch das in einem Stativbein versteckte Mes-ser (wie wir freilich erst später im Film erfahren), mündet der weibliche Angst-schrei mit einem harten Schnitt in das Geräusch eines 16mm-Projektors (Abb. 3):

Auch in diesem akustischen Übergang von der Affektexplosion des Schreis in das Übertragungsrauschen eines technischen Apparats beschwört Peeping Tom die Subsumtionsmacht des Films über das Leben: „Filme, heißt das, sind wirklicher als die Wirklichkeit und ihre sogenannten Reproduktionen in Wahrheit Produktio-

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nen.“11 Produziert worden ist ein Film im Film, der nun sofort wieder als Reproduk-tion wiederholt wird. Im Umschnitt sieht man den Mann in Rückenansicht neben dem Projektor, der sich das eben gefilmte Material im Dunkeln eines Heimkinos betrachtet (Abb. 4).

Die Projektion wiederholt die Aufzeichnung noch Mal von vorne, nur das Schwarzweiß und das fehlende Suchkreuz markieren den Unterschied zum bereits Gesehenen. Während nun die Credits einsetzen, alterniert die Kadrierung zwischen Rahmung und Entrahmung – einmal ist Mark Lewis, dessen frontale Gestalt wir immer noch nicht gesehen haben, als Betrachter Teil des Bildes, das andere Mal 11 Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose 1986, S.

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Abb. 3-4

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füllt der projizierte Film die primäre Leinwand voll aus. Im Unterschied zum ersten Mal prolongiert der Film aber im Replay den Höhepunkt des Todesschreis, indem er in einer extremen Großaufnahme den Mund des Opfers einfängt, der sich wie ein schwarzer Schlund auf der sekundären Leinwand öffnet. In scheinbarer Erwartung eines entscheidenden Augenblicks erhebt sich Mark Lewis in deutlicher Erregung aus seinem Stuhl, bis seine dunkle Silhouette einen kurzen Moment lang vom offe-nen Mund verschlungen zu werden droht.

Doch die erhoffte Klimax scheint auszubleiben, sichtlich enttäuscht sackt Mark Lewis wieder in seinem Stuhl zusammen und das orale Bild kippt in ein anokulares Schwarzbild, um in einer zirkulären Schleife wieder dem Bild des Projektors zu weichen, über das nun der Name von Michael Powell geschrieben wird. Michael Powell schreibt sich damit allegorisch als Enunziator eines Wiederholungszwangs in den Film (im Film) ein, der in dezidiert pornografischer Weise den orgasmischen Mehrwert der (Todes)Lust ansteuert, diese jouissance aber asymptotisch verfehlt. Diese Matrix eines Verfehlens kurz vor der Erfüllung wird alle Szenen von Peeping Tom strukturieren: Dem totalen Filmemacher entgleitet das absolute Bild kurz vor dem ersehnten Exzess. Als würde ein schwarzes Loch, ein blinder Fleck der orgas-mischen Fülle des Sichtbaren immer zuvorkommen, kreist der Wiederholungs-zwang des totalen Filmemachers um ein unmögliches Genießen, das im Replay der Reproduktion unentwegt heraufbeschworen wird.

Die unermüdliche Beute nach Bildern wird in Peeping Tom jedoch nicht nur in der Psychopathologie des Protagonisten grundiert, sondern als historischer Moment einer neuen visuellen Kultur markiert: Das London der späten 1950er Jahre ist ein Zirkulationsraum von massenmedialen Bildfabrikationen aller Art, von Boulevard-Zeitungen, semi-pornografischen Pin-Up-Fotos, 16mm-Amateurfilmen und indust-riellen Studioproduktionen. Mark Lewis verdingt sich sowohl als Fotograf von Nacktfotos, die dann heimlich unter der Ladentheke eines Zeitungsgeschäfts ver-kauft werden, als auch als Kameraassistent eines Filmstudios, das gerade einen Film mit dem sprechenden Titel The walls are closing in dreht. Bilder über Bilder, Bilder von Bildern: Als nach der Creditsequenz Mark Lewis’ Antlitz zum ersten Mal sichtbar wird, filmt er gerade den von Polizisten und Reportern gefilmten Tat-ort gleichsam in der zweiten Wiederholung, um das Aufgezeichnete danach erneut in der höhlenartigen Kammer seines Heimkinos obsessiv zu observieren: The walls are closing in – die Kammer des totalen Filmemachers ist auch eine kinematografi-sche Krypta, in der das Bild die Welt ersetzen soll. Und wie in einem Heiligengrab ist diese Gruft voll von Reliquien, die den Körper des heiligen Vaters bewahren; nur dass in der Kinoreligion von Mark Lewis die Reliquien die Kameras und Pro-jektoren sind, mit denen er seinen ‚heiligen Vater‘ beerbt, seinen leiblichen Vater, der Gott und Teufel des Kinos zugleich gewesen ist.

Diese Krypta ist ein veritables Ego-Kino und erlaubt keinem anderen den Zu-tritt als Mark Lewis selbst, der auf dem Regisseursstuhl thronend, den Film seines

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eigenen Lebens zugleich produziert und rezipiert. Gestört wird die kinematografi-sche Krypta, oder platonisch gesprochen, die spekuläre „Speläologie“12 nun durch die Präsenz einer neuen Zuschauerin, die in die geschlossenen Wände eindringt: Als Marks Nachbarin Helen an ihrem 21. Geburtstag voller kindlicher Neugier die Kinokammer inspiziert, nennt sie unwillentlich den Terror der Technik beim Wort: „This all seems so, well, terribly technical.“

Was nun zur Aufführung kommt ist das traumatische Terrorkino von Mark Lewis’ Vater, der als psychotischer Psychologe die Kindheit seines Sohnes einer totalen visuellen Überwachung unterzogen hat, um die Auswirkungen der Angst auf das Nervensystem zu studieren. Mark bietet Helen die Urszene seiner Perver-sion (oder père-version wie Lacan formulieren würde) als ‚Geschenk‘ zu ihrem Ge-burtstag an, als ob unerträglicher Schmerz und unerträgliches Glück in den schwarzweißen Kindheitsbildern des kleinen Marks zusammenfließen würden.

Es beginnt mit Bildern des schlafenden Kindes, das vom Blitzlicht der väterli-chen Kamera geblendet wird, jenes unheimliche Flackern, das auch das Gesicht der getöteten Prostituierten illuminiert hatte. Es folgt eine Urszene in der Urszene, in der Mark ein küssendes Liebespaar im Park beobachtet und daraufhin der schreck-lichste Moment dieses Amateurfilms, als der Vater eine Echse in das Bett seines Sohnes legt. In einer direkten Vergegenwärtigung des vergangenen Traumas schreitet Mark zu einer Reinszenierung der visuell induzierten Angst, indem er Helens Angstreaktion auf die Angstreaktion im Film sofort wieder filmen will: „Wanted to photograph you watching“. Was sich in diesem Blick auf den Blick of-fenbart, ist der perverse Wunsch nach einem lückenlosen Kreislauf der Angst, eine filmtechnische Angstschleife sozusagen, in der Mark sowohl die Position des fil-menden Vaters als auch die Position des gefilmten Sohnes einnimmt: The scene which Mark Lewis tries to film, his own primordial mise-en-scène, has not to do with the usual senses of primal scene but with intolerable jouissance. [...] It rests upon the idea of the completion of terror in which the subject and the Other, killing and being killed, seeing and being seen, are incarnated in a single object, in a single impossible moment. His murders rest upon the hypothesis that by killing a victim he will have enacted a sufficient sac-rifice.13 An dieser Verschleifung der perversen Positionen zeigt sich nicht zuletzt, dass die Schaulust einer originären „Schauangst“ entspringt, einer „Skopophobie“, die sich immer auch darin ausdrückt, dass Mark zwar obsessiv schaut, ohne dass sich jedoch

12 Jacques Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen.

München: Wilhelm Fink 1997, S. 21. 13 P. Adams: ‚Father can’t you see I’m filming?‘, S. 95-96.

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ein sichtbares Lustempfinden bei ihm einstellt.14 Genießen ist eben keine Lust, son-dern ein masochistischer Lust-im-Schmerz, der auf Repeat geschaltet ist: „The re-active gaze of Peeping Tom is doubly marked as masochistic: in its drive to pleas-ure-in-pain and in its characteristic need to revisit, over and over and over again, an originary story in hopes of getting it right so as to put it to rest.“15 Gegen den visuellen Wiederholungszwang des ‚Kinoseins‘, gegen Marks psychotische Ein-verleibung des monströsen väterlichen (Kamera)Phallus setzt Helen auf eine fun-damentale Differenz von Sehen und Verstehen, von Bild und Bedeutung, als sie das Filmen ihrer Selbst unterbindet: „No. No. Please help me to understand this thing.“ Aber die jouissance des väterlichen Terrorkinos schießt als untote Substanz in das Reale über: „That will do, Mark. Dry your eyes and stop being silly,“ erklingt die körperlose Stimme ohne jede (intra)diegetische Verankerung aus einem Jenseits des Realitäts- und Lustprinzips, so dass es sich auch um eine akustische Halluzination Marks handeln könnte: „Die Stimme erscheint als der Teil des Vaters, der noch nicht ganz tot ist; sie beschwört das Bild des Genießens herauf und deutet damit den abschüssigen Weg zur Zerstörung des in seinem Namen errichteten Gesetzes an.“16 Die „Prosopopöie, die Fiktion der Stimme-von-jenseits-des-Grabes“17 kippt in Peeping Tom von der filmischen Illusion ins Reale so wie auch das Bild den symbolischen Rahmen der Repräsentation überschreitet. Wenn in den letzten Se-quenzen des Film im Films der Tod von Marks Mutter endgültig die obszöne Herr-schaft des Vaters besiegelt, kommt dieser in einem kurzen Moment ins Bild, um seinen Sohn den Phallus als Geschenk zu überreichen: Es ist niemand anderes als Michael Powell selbst in der Rolle des Dr. Lewis, der nun phantasmatisch vor und hinter der Kamera steht und Mark mit einer Kamera beschenkt.

In einer weiteren performativen Diffusion von Vergangenem und Gegenwärti-gem, Bild und Realem wird genau in dem Augenblick eine Einstellung derselben Kamera (Abb. 5) gezeigt, als Mark das magische Wort „The Camera“ ausspricht. In einem unheimlichen Echo filmt der kleine Mark mit seiner neuen Kamera fast frontal in die Kamera des Vaters (Abb. 6). Als nun die Kamera immer näher an den Jungen mit der Kamera heranfährt, scheint auch Helen den Übertritt des tödlichen Blicks in den Realraum zu befürchten: „Switch it off. Mark!“ Mit dem Ende des traumatischen Amateurfilms schließen sich auch die zirkulären Strukturen: Mark

14 „In the case of Mark Lewis, tormented by the paternal gaze, scopophilia is a secondary

formation, a response to a more basic trauma and the instrument of a more basic desire.“ (P. Wollen: Dying for Art, S. 12).

15 C. Clover: Men, Women and Chainsaws, S. 176. 16 Mladen Dolar: His Master’s Voice. Eine Theorie der Stimme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp

2007, S. 139. 17 Paul de Man: „Autobiographie als Maskenspiel.“ In: ders.: Die Ideologie des Ästheti-

schen, hrsg. v. Christoph Menke. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 141.

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‚schenkt‘ Helen zum Geburtstag das ‚Geschenk‘ seines Vaters, der seinen Sohn beim Filmen filmt: In the ricochet (or duel) of camera lenses screened in this scene (and focused by the POV of the paternal camera), what transpires is an eliding of any breathing room between site and its sighting as well as between vision and its record – all absorbed in to the filming of filming across the interface and face-off of generations.18

In diesem Kurzschluss der sich selbst gegenseitig filmenden Kameras nimmt Mi-chael Powell als fiktionaler Dr. Lewis exakt die Schnittstelle des totalen Filmema-chers ein, der Mark Lewis so gerne sein möchte: Mark Lewis, so macht dieses Selbstporträt des Regisseurs nur allzu deutlich, sollte man als einen Doppelgänger Michael Powells verstehen: „I am cinema.“ Eine psychotische Performativität des Kinos, die kein Außen mehr kennt, sondern nur eine totale Mimikry ohne Diffe-renz: Michael Powell ist Mark Lewis, Mark Lewis ist Michael Powell, Film ist Le-ben.

Die fatale Verschlingung von Kino und Leben wird auch in der nächsten me-tafilmischen Szene in einen tödlichen Kurzschluss getrieben, aber nicht ohne zuvor in einer amüsanten Parodie des industriellen Filmemachens vom Horror in die Ko-mödie zu wechseln: Der Produzent von The walls are closing in gibt auf ökonomi-schen Druck der finanzierenden Hollywoodstudios die Anweisung, zur Einsparung der Produktionskosten gleich den ersten brauchbaren Take zu verwerten. Der Re-gisseur mit dem Namen A. Baden verzweifelt aber gerade an den emotional nicht gerade überzeugenden Versuchen seiner blasierten Hauptdarstellerin, einen hysteri-schen Zusammenbruch in einem Fahrstuhl zu spielen. Aber nach drei misslungenen Takes erklären plötzlich alle Beteiligten den vierten Versuch für geglückt, obwohl auch diesmal der Fall der Diva lächerlich theatral wirkt und eben gar nicht von je-nem ‚feeling‘ getragen wird, dass der entnervte Regisseur scheinheilig seinem Star bescheinigt. Generisch lässt die Szene auf eine besonders seichte Schmonzette im High-Society-Milieu schließen, an der selbst der Regisseur völlig desinteressiert zu sein scheint. Er ist als Studioangestellter und Lohnarbeiter von konfektionierten Genreformaten das absolute Gegenteil von Mark Lewis, dem totalen Filmemacher. Im komischen Kontrast zu dem gelangweilten Hollywood-Handwerker erscheint Mark, der bei der Produktion nur als ‚Focus Puller‘ dem Kameramann assistiert, als der wahre Künstler. Mark ist der ‚Auteur‘, der an die Kunst des Kinos glaubt, wäh-rend sich die anderen nur dem Kommerz unterworfen haben. Die Passion des Künstlers widersetzt sich den Rhythmen des Nine-to-Five-Arbeitsalltags, die Nacht ist für ihn die Zeit des Films: Denn als nun das Team zum Feierabend das Studio

18 Garrett Stewart: Closed Circuits. Screening Narrative Surveillance. Chicago/London:

Chicago University Press 2015, S. 143.

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verlässt, verschanzt sich Mark im Gebäude, um heimlich mit Vivian (Moira Shea-rer), die als Stand-in für die Diva arbeitet, an Test-Aufnahmen zu arbeiten.

Mark soll Vivian zu einem Star machen und so inszenieren die beiden Subordi-nierten der Produktionshierarchie in der Verlassenheit des nächtlichen Studios die mythische Symbiose von Director und Star und ersetzen damit Regisseur und Hauptdarstellerin von The walls are closing in. Die Doubles substituieren die Ori-ginale. Mark justiert sorgfältig das Scheinwerferlicht, während Vivian als Warm-up zu den Klängen eines Kassettenrekorders einen immer ekstatischer werdenden Tanz aufführt. Wie in der Heimkino-Szene kommt es wieder zu einer Vertauschung der Rollen, als Vivian hinter die Kamera wechselt und Mark sie mit einer weiteren Ka-mera beim Filmen filmt: „Photographing you photographing me.“ Mit diesem Satz ist nun performativ das Interface der Urszene wiederhergestellt und auch Mark hat

Abb. 5-6

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sich nun warm geprobt. Auf die sexuelle Vorlust, das sexuelle Vorspiel von Vivians Tanz, muss nun der Höhepunkt folgen: „I’m ready now, Viv“, verkündet Mark in einer unverhohlen sexuellen Verschiebung von Ficken zum Filmen. Doch Vivian ist noch nicht erregt genug, um den Orgasmus der Angst zu erreichen, den Mark ih-rem Gesicht abringen will. So suggeriert ihr Mark mit ausgefahrenem Stativbein eine illusorische Todesangst, die sich Vivian im Angesicht eines verrückten Mör-ders imaginieren soll. Mark tarnt das Reale als Illusion, um bei Vivian die Illusion des Realen herbeizurufen. Erst als Mark das Messer mit der filmenden Kamera ‚synchronisiert‘ spürt Vivian das Reale der Illusion am eigenen Leib: Sie wird zum Star ihres eigenen ‚Snuff‘-Films durch den Exzess jenes ‚Feelings‘, das dem Holly-woodstar zuvor so abging und der ihr von Mark, ihrem ersten und letzten Regisseur als Selbstopfer an die Kunst ‚geschenkt‘ wird.

Im Moment des Todesschreis schwenkt die Kamera von einem Close-Up (Abb. 7) in das unscharfe Bild eines roten Schweinwerferlichts (Abb. 8), das bald darauf ins Schwarzbild blendet: „I’ve put the red light on.“ Zweifach sagt Mark zuvor, die roten Lichter nur für Vivian eingeschaltet zu haben. Das Rotlicht verknüpft Vivians exhibitionistische Darbietung semantisch mit dem Rotlichtmilieu in der ersten Mordszene und etabliert eine Analogie zwischen Schauspielerin und Prostituierter, die beide ihren Körper als Ware verdinglichen. Die Mortifizierung im Bild er-scheint als Konsequenz der sexuellen Verdinglichung des weiblichen Körpers als Tauschobjekt: „Die Perversion von Mark, die der Film zu dekonstruieren sucht, be-steht nun aber vor allem darin, dass dieser symbolische Tausch in dem der weibli-che Körper als Bild und das Bild als Ware getauscht wird – an der Grenzlinie zum Tod in den Bereich des Realen kippt.“19 Das tödliche Reale ist in Peeping Tom mit der Farbe Rot Mark’iert/markiert. Überall leuchtet das Rot als Affektfarbe in den meist dunkel gehaltenen Bildern des Films auf: im roten Kleid der Prostituierten, in den ausnahmslos roten Haaren der Frauen (Helen, die Diva und auch Vivian), in der schummrigen Beleuchtung von Marks Heimkino und eben in dem kreisförmi-gen Scheinwerferlicht (Abb. 8), das in Rekurs auf die erste Einstellung des Films wie ein blutendes Auge anmutet.20 Ein defiguriertes, geblendetes und blindes Auge, das freilich durch die Unschärfe des Bildes in reine piktoriale Abstraktion um-schlägt: Rot auf Schwarz, Kreis auf Fläche.

19 E. Bronfen: Bilder, die töten – Tod im Bild, S. 120. 20 Carol Clover versteht das Emblem des verwundeten Auges als Triumph des masochisti-

schen Blicks über den sadistischen: „In case we doubted which of the eye’s two opera-

tions Peeping Tom wishes to privilege in its analysis of horror cinema, this opening mi-

nute spells it out: not the eye that kills, but the eye that is ‚killed‘.“ (C. Clover: Men, Wo-

men and Chainsaws, S. 181).

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Michael Powell hat bereits in seinen früheren Filmen mit der koloristischen Abs-traktionskraft der Farbe Rot auf außergewöhnliche Art experimentiert21: In The Life and Death of Colonel Blimp (1943) findet sich ein fast nicht wahrnehmbarer, sub-liminaler Flashframe in Rot während einer Kriegsszene, die Anfangssequenz von A Matter of Life and Death (1946) wird affektiv von roten Flashlights rhythmisiert, in Black Narcissus (1947) gibt es eine Rotfärbung des ganzen Bildes im pathologi-schen Point of View einer Wahnsinnigen und natürlich trägt eines der berühmtesten Filme von Powell die Farbe Rot im Titel: The Red Shoes (1948), der die Geschichte einer Balletttänzerin erzählt, die von den roten Tanzschuhen buchstäblich in den 21 Zur Affektfarbe und Farbaffekt bei Michael Powell vgl. auch Johannes Binotto: „Affekt

Effekt Defekt.“ In: Riss. Zeitschrift für Psychoanalyse, 81 (4.2015), S. 78-104, vor allem S. 97-99.

Abb. 7-8

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Tod getanzt wird. Und die Hauptrolle wird von niemand anderem als Moira Shearer gespielt, die von ihrem obsessiven Ballettdirektor Boris Lermontov (Anton Wal-brook) zum totalen Tanz getrieben wird. In diesem Sinne lässt sich Peeping Tom auch als Remake von The Red Shoes verstehen, nur dass die roten Schuhe von ei-nem anderem Partialobjekt ersetzt worden sind – der Kamera, die sehen macht und bluten lässt, während die Schuhe tanzen machen und bluten lassen. In beiden Fil-men wird für die totale Kunst ein Opfer verlangt, als Todestanz oder als Todesfilm: „Dying for Art“22 Moira Shearer muss ein zweites Mal für die Kunst eines Mannes sterben und den Todestanz des Todesfilms tanzen. Die Röte des Rots von Tech-nicolor ist auch die Blutigkeit des Bluts: Die Radikalität, mit der Peeping Tom Rot und Blut, Abstraktion und Illusion ästhetisch kurzschließt, lässt sich mit Alexander Garcia Düttmanns Worten als doppelter Vollzug von Schein und Sein in der Kunst beschreiben: [...] so hat es der doppelte Vollzug stets mit einem Verhältnis zwischen dem So-ist-es der Darstellung, der Oberfläche, und dem Als-ob des Dargestellten, der Tiefenwirkung, zu tun, mit einem Verhältnis, an dessen Anfang und Ende zwei Grenzfälle stehen, die Abstraktion, die nichts mehr darstellt, und das tromp-l’oeuil, das keine Darstellung mehr sein will, die reine Oberfläche und die bloße Tiefenwirkung.23 Dieser doppelte Vollzug von Fläche und Tiefe, Abstraktion und totalem trompe l’oeuil findet sich in dieser Form nur bei Hitchcock, mit dessen Werk Powells Film ohnehin untergründig zu kommunizieren scheint: Die Vaterpsychose von Peeping Tom hat ihre Entsprechung in der Mutterpsychose von Psycho, die roten Farbdeli-rien antizipieren schon Hitchcocks experimentelle Bildeinfärbungen in Marnie24 und Anna Massey wird 1972 in Frenzy wieder mit einem gestörten Londoner Seri-enkiller konfrontiert.

Das Rotbild des allegorisch blutenden Auges (Abb. 8) wird zudem an der Grenze der realistischen Repräsentation vokal als Schrei markiert, als könne die Todesangst nur im Kollaps der audiovisuellen Artikulation freigesetzt werden. Mi-chael Powell hat einmal gesagt: „Für mich gibt es nichts Furchterregenderes als

22 So der Titel des oben zitierten Aufsatzes von Peter Wollen. 23 Alexander Garcia Düttmann: Teilnahme. Bewusstsein des Scheins. Konstanz: Konstanz

University Press 2011, S. 115-116. 24 Zur Farbästhetik von Marnie vgl. auch meinen Beitrag Sulgi Lie: „Anamorphosen des

Affekts. Hitchcocks Akusmatik der Erinnerung.“ In: Ute Holl, Matthias Wittmann (Hrsg.): Memoryscapes. Filmformen der Erinnerung. Berlin/Zürich: diaphanes 2014, S. 199-225.

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eine Kamera, die läuft, die einen anschaut.“25 Im Bann der Kamera verblutet das Auge in das Schwarz der Leinwand.

Auf das verblutende Auge in Rot folgt eine Überblendung auf die blinden Au-gen von Helens Mutter (Maxine Audley). Als Negation des okularen Zwangs von Marks väterlicher Perversion verkörpert Helens Mutter ein Mehr-Sehen jenseits des Sichtbaren, was Derrida in seinen Überlegungen zur Blindheit als „abokulare Hy-pothese“ bezeichnet: „Der Blinde kann ein Seher sein, mitunter ist er zum Visionär bestimmt.“26 Die Version des Vaters wird von der Vision der Mutter herausgefor-dert: Bei ihrer ersten Begegnung reagiert Mark mit Panik auf das hellseherische Wissen der Blinden, das die visuelle Oberfläche durchdringt und seismografisch den erregten Pulsschlag von Marks Hand abliest. In einer somatischen Konversion von der Diegese in die Enunziation wird nun Marks Herzschlag akustisch überdi-mensioniert auf der Tonspur hörbar, als ob der Film sich nun das visionäre Vermö-gen der Blinden aneignen würde: This impossibility of separating ourselves clearly from (or identifying completely with) the beat marks it as a haunting, a dimension in excess of our recognizable and meaningful world (and haunting always has to do with the effect of this double placelessness) where we cannot even know whether we are dealing with something external to us or internal, for it is both at once in a sense.27 Was Eyal Peretz hier anhand eines Films von Brian de Palma als Heimsuchung durch eine anorganische Somatisierung des Sounds beschreibt, kann auch für die ‚Hauntologie‘ fruchtbar gemacht werden, für die in Peeping Tom die blinde Mutter steht. Eine ‚Hauntologie‘, die in der (Un)Gestalt von schwarzen Fade-Outs, roten Flecken und unverortbaren Organgeräuschen die realistische Textur des Films ver-unstaltet und so immanent gegen die visuelle ‚Ontologie‘ des okularen Vaters op-poniert. Unbemerkt dringt Helens Mutter in Marks Refugium ein und verlangt Zu-tritt zu seinem totalen Kino: „Take me to your cinema.“ Als Mark daraufhin den entscheidenden Moment von Vivians Todesballett abspielt, kippt das Schaukino in ein Tastkino.

25 Michael Powell zit. n. Frieda Grafe: Ins Kino! Münchener Filmtips 1970-1986. Schriften:

11. Band. Berlin: Brinkmann & Bose 2007, S. 253. 26 J. Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden, S. 10. 27 Eyal Peretz: Becoming Visionary. Brian de Palma’s Cinematic Education of the Senses.

Stanford: Stanford University Press 2008, S. 87.

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Im Verlust der visuellen Distanz übernimmt Mark gleichsam den blinden Blick der Mutter und verschmilzt mit der Projektion von Vivians Großaufnahme zu einem haptischen Teil der Leinwand (Abb. 9). Fast wie in Vorwegnahme der berühmten Einstellung von Ingmar Bergmans Persona (1966), in der ein kleiner Junge das mütterliche Gesicht der Leinwand streichelt, weicht in diesem Interface von Bild und Körper Marks sexuelle Kontaktphobie einem Wunsch nach maternaler Berüh-rung: „The interface enables one not just to see, but to feel, touch, and be united with the other in the way this desire could be fulfilled virtually ghostly.“28 Als die-ser Touchscreen wieder am Höhepunkt des Todes zunächst ins Schwarzbild kippt,

28 Seung-Hoon Jeong: Cinematic Interfaces. Film Theory after New Media. New York:

Routledge 2013, S. 85.

Abb. 9-10

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um danach nur das materiale Weiß der Leinwand (Abb. 10) freizugeben, scheint Mark nun endgültig die Hoffnung aufzugeben, das ultimative Bild der Angst jemals visuell einfangen zu können: „The lights fade too soon.“ Die Erlöschung des Se-hens als Blackout und Whiteout lassen den totalen Filmemacher an eine Grenze stoßen, die nur durch eine paradoxe Schnittstelle von Sichtbarkeit und Erblindung überwunden werden kann. Das filmische Dispositiv dieser Schnittstelle ist natürlich nichts anderes als der Zerrspiegel an der Kamera, der den Opfern ihre eigene Angst als Rückkoppelung zurückspiegelt: „The spectator in the cinema is made conscious of Mark Lewis’s consciousness of his victim’s consciousness of her own con-sciousness of death.“29

29 P. Wollen: Dying for Art, S. 21.

Abb. 11-12

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Die Todesangst der Opfer wird durch eine selbstreferenzielle Feedbackschleife

potenziert, gewissermaßen eine Autopoesis der Angst, eine Angst vor der eigenen Angst. In der grauenvollen anamorphotischen Verzerrung des Gesichts ist dies frei-lich ein Spiegel, der zugleich sehen macht und erblinden lässt, ein Spiegel, der wie das mythische Haupt der Medusa den Blick petrifiziert und mortifiziert (Abb. 11). Dass dieses Medusa-Interface erst gegen Ende von Peeping Tom enthüllt wird, hat seinen Grund darin, dass dieses Interface nur in der Verschaltung mit Marks eige-nem Leib seine poetische Vollendung erfahren kann: „Für Powells Peeping Tom könnte man nun sagen, das wissenschaftliche Projekt des Vaters wird zum halluzi-natorischen Projekt Marks, genauer, zu einem delirierenden Dokumentarfilm, in dem Körper und Bild nicht mehr getrennt werden, die figurale Tötung des Filmens real wird.“30 Die tödliche Perfektion kann nur durch den perfekten Tod besiegelt werden, den Mark in den Opfern so verzweifelt gesucht hat, aber nur im Selbstop-fer purifiziert werden kann. In der finalen Inszenierung seines dokumentarischen Ich-Kinos wird sogar die Entdeckung durch die Polizei von Mark in das suizidale Script eingebaut. In einer audiovisuellen Gesamtsynthese seines Lebens, bewahr-heitet sich in Peeping Tom die „Vorstellung, dass in der Konfrontation mit dem ei-genen Tod das Leben wie ein Film noch einmal vorbeizieht.“31 Mark synchronisiert mit mehrspurigen Tonbandmaschinen seine eigenen Schreie als Kind mit dem blendenden Blitzlicht von verschiedenen Kameras, bis er schließlich endgültig mit seinem totalen Todeskino eins wird: Kinosein (Abb. 12).

„I’m glad I’m afraid“ sind seine letzten Worte und zum ersten Mal zeigt sich in Marks Gesicht eine Befriedigung, als ob er nun als kinematografischer Märtyrer die ersehnte jouissance endlich erreicht hätte. Das totale Kino vollendet sich in seiner totalen Negation, das Sehen im Erblinden: Das Bild des Todes ist der Tod des Bil-des, das auch nach dem Ende des Films in Rot nachblutet.

30 E. Bronfen: Bilder, die töten – Tod im Bild, S. 132 31 Gertrud Koch: „Der unsterbliche Körper – Kino und Todesangst.“ In: Beat Wyss, Markus

Buschhaus (Hrsg): Den Körper im Blick. München: Wilhelm Fink 2008, S. 35