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Prof. Dr. Dieter Dörr Universität Mainz http://www.jura.uni-mainz.de/doerr Januar 2014
Schule des Deutschen Rechts Universität Krakau
Deutsches Verfassungsrecht in Europa
Gliederung
A. Deutsches Verfassungsrecht in Europa .............................................................. 4
B. Deutsches Verfassungsrecht ............................................................................... 4
I. Wesen und Geltungsgrund des deutschen Verfassungsrechts ....................... 4
II. Historische Entwicklung ................................................................................... 6
1. Verfassungsentwicklung vor 1949 ................................................................ 6
2. Entstehung des Grundgesetzes ................................................................... 7
III. Normenhierarchie ....................................................................................... 10
IV. Auslegung des Grundgesetzes .................................................................. 10
1. Wortlautauslegung ..................................................................................... 11
2. Systematische Auslegung .......................................................................... 11
3. Entstehungsgeschichte .............................................................................. 11
4. Teleologische Auslegung ........................................................................... 11
5. Europarechtskonforme Auslegung ............................................................. 11
6. Völkerrechtsfreundliche Auslegung ............................................................ 12
V. Struktur des Grundgesetzes .......................................................................... 12
VI. Grundrechte (Überblick) ............................................................................. 12
VII. Die Grundprinzipien des Staatsorganisationsrechts ................................... 14
1. Ewigkeitsklausel ......................................................................................... 14
2. Demokratieprinzip ...................................................................................... 14
3. Rechtsstaatsprinzip .................................................................................... 16
Prof. Dr. Dieter Dörr - 2 - Deutsches Verfassungsrecht in Europa http://www.jura.uni-mainz.de/doerr/ Gliederung
2
4. Bundesstaatsprinzip ................................................................................... 20
5. Sozialstaatsprinzip ..................................................................................... 22
6. Republikprinzip ........................................................................................... 23
7. Weitere Staatsziele .................................................................................... 23
VIII. Staatsorganisation und Staatsorgane ........................................................ 24
1. Legislative .................................................................................................. 24
a) Deutscher Bundestag ........................................................................... 24
(1) Rechtsstellung der Bundestagsabgeordneten ................................... 25
(2) Wahl der Abgeordneten ..................................................................... 25
(3) Arbeit im Bundestag .......................................................................... 26
(4) Funktionen des Bundestages ............................................................ 26
b) Bundesrat.............................................................................................. 27
c) Gesetzgebungsverfahren ...................................................................... 28
2. Exekutive .................................................................................................... 28
a) Bundesregierung ................................................................................... 29
b) Verwaltung ............................................................................................ 29
c) Bundespräsident ................................................................................... 30
3. Judikative ................................................................................................... 32
a) Gerichtssystem ..................................................................................... 32
b) Bundesverfassungsgericht .................................................................... 32
C. Europarecht ....................................................................................................... 34
I. Abgrenzung der einzelnen Rechtsmaterien im Europarecht .......................... 34
1. Abgrenzung des EU-Rechts vom Europarat............................................... 34
2. Die Europäische Union ............................................................................... 35
II. Rechtsquellen des Unionsrechts.................................................................... 36
III. Unmittelbare Geltung des Unionsrechts ..................................................... 36
IV. Grundrechtsschutz in der Union ................................................................. 37
Prof. Dr. Dieter Dörr - 3 - Deutsches Verfassungsrecht in Europa http://www.jura.uni-mainz.de/doerr/ Gliederung
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1. Historische Entwicklung ............................................................................. 37
2. Vorrang des Unionsrechts und Grundrechtsschutz .................................... 37
3. Kompetenz des EuGH ................................................................................ 40
4. Bindung der Union an die EMRK und an die Rechtsprechung des EGMR 40
V. Europäische Grundrechtecharta .................................................................... 41
D. Verhältnis Europarecht und deutsches Verfassungsrecht ................................. 42
I. Integration der Bundesrepublik in die Europäische Union ............................. 42
II. Vorrang des Europarechts ............................................................................. 43
1. Sichtweise des EuGH ................................................................................. 43
2. Sichtweise des BVerfG ............................................................................... 44
III. Europarecht und die Grundrechte des Grundgesetzes .............................. 44
1. Allgemeines ................................................................................................ 44
2. Leitentscheidungen des BVerfG ................................................................. 45
IV. Die Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten und die
Kompetenzüberschreitung der Union .................................................................... 49
1. Lissabon-Urteil BVerfG vom 30.6.2009 ...................................................... 49
2. Honeywell-Entscheidung des BVerfG vom 6.7.2010 .................................. 52
Prof. Dr. Dieter Dörr - 4 - Deutsches Verfassungsrecht in Europa http://www.jura.uni-mainz.de/doerr Skript
A. Deutsches Verfassungsrecht in Europa
Das deutsche Verfassungsrecht in Europa ist eine Rechtsmaterie, die verschiedene
Bereiche des Rechts berührt. Es ist von seinem Wesen und seinem Geltungsgrund
her deutsches Staatsrecht. Normativ geregelt ist es im Grundgesetz und in den Ver-
fassungen der Bundesländer. Inhaltlich erstreckt es sich über das deutsche Verfas-
sungsrecht hinaus auf dessen Verhältnis zum Recht der Europäischen Union. Dabei
treffen zwei Rechtskreise – derjenige der Europäischen Union und derjenige des
deutschen Verfassungsrechts – aufeinander. Die Normen aus dem deutschen Ver-
fassungsrecht werden dabei nach den Regeln über die Interpretation nationalen Ver-
fassungsrechts ausgelegt.
Allerdings kann die Auslegung nicht an den Gesetzmäßigkeiten und insbesondere
den Besonderheiten des Europarechts vorbeigehen. Es war der Wille des nationalen
Verfassungsgesetzgebers, sich in seinem Verhältnis zu Europa und der Welt im Ein-
klang und entsprechend den Gesetzmäßigkeiten des internationalen Rechts zu ver-
halten. Dies macht schon die Präambel des Grundgesetzes (GG) deutlich, die davon
spricht, dass das Deutsche Volk, das sich dieses Grundgesetz gegeben hat, dabei
von dem Willen beseelt war, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa
dem Frieden der Welt zu dienen. Die damit zum Programm erhobene Offenheit des Grundgesetzes für die europäische Integration, die als Grundsatz der Euro-parechtsfreundlichkeit bezeichnet wird, macht deutlich, dass die Regeln des deut-
schen Staatsrechts im Einklang mit dem Recht der Europäischen Union interpretiert
werden müssen. Ihre Auslegung verlangt deshalb ein vertieftes Verständnis für das
Europarecht. Aus diesem Grund verfügt die Vorlesung über zwei Ebenen – das deut-
sche Verfassungsrecht mit dem Schwerpunkt Staatsorganisationsrecht auf der ers-
ten Ebene und dessen Einordnung in den Kontext der Europäischen Union auf der
zweiten Ebene.
B. Deutsches Verfassungsrecht
I. Wesen und Geltungsgrund des deutschen Verfassungsrechts
Das Staatsrecht ist nationales Recht. Innerstaatlich betrachtet ist Geltungsgrund des
deutschen Staatsrechts der Wille des Volkes als dem Souverän, der das Grundge-
setz und die Verfassungen der Länder kraft seiner verfassunggebenden Gewalt
Prof. Dr. Dieter Dörr - 5 - Deutsches Verfassungsrecht in Europa http://www.jura.uni-mainz.de/doerr Skript
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geschaffen hat. Das Grundgesetz gibt in seiner Präambel einen eindeutigen Hinweis
auf diesen Entstehungstatbestand. Dort heißt es: hat sich das deutsche Volk kraft
seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.
Damit entspricht die Entstehung des Grundgesetzes in der Theorie den Regeln über
die richtige oder gerechte Schaffung eine Verfassung. Die Verfassung kann anders
als etwa das Gesetz nicht von einem Gesetzgeber erlassen werden. Dies folgt dar-
aus, dass der Gesetzgeber immer erst das Produkt einer Verfassung ist. Der Ge-
setzgeber wird als Teil der verfassten Staatsgewalt auch pouvoir constitué genannt.
Der Verfassungsgeber, der pouvoir constituant, wird dagegen positivrechtlich
nicht bestimmt. Häufig sind Verfassungen das Ergebnis revolutionärer Prozesse, die
gerade außerhalb der bestehenden, durch die Revolution abgeschafften Verfas-
sungsordnung ablaufen. Deshalb kann die Verfassung auch ihre Entstehung nicht
verbindlich regeln.
Regeln über den Verfassungsgeber kennt aber die allgemeine Staatslehre, die bei
der Beschreibung des idealen Staates auch dessen Entstehungstatbestände bewer-
tet. Dabei hat sich seit dem 19. Jahrhundert mehr und mehr die Auffassung durchge-
setzt, dass legitimer Verfassungsgeber nur das Volk sein kann. Deshalb sollte die
Entstehung jeder Verfassung auf den Willen des davon betroffenen Volkes zurückge-
führt werden können. Der Oktroi einer Verfassung durch einen Monarchen oder ei-
nen Diktator wird als nicht legitim angesehen. Daraus folgt aber nicht notwendig,
dass diese Verfassung nicht gilt. Die Regeln der Allgemeinen Staatslehre wirken sich
im positivrechtlichen Sinne nicht auf die Gültigkeit einer konkreten Verfassung aus.
Eine solche Verfassung ist im System des geschriebenen Rechts gültig. Sie ist zwar
gemessen an den Normen des überpositiven Rechts illegitim, sie ist aber nicht ille-
gal.
Nur wenn man den Sätzen des Naturrechts auch eine normative Kraft beimisst, ist
eine solche Verfassung ungültig. Sie ist, wenn man dem folgt, nur der Form nicht
aber ihrem Inhalt nach Recht. Es gilt dann der Satz vom normativen Unrecht. In
Deutschland ist wegen der Erfahrungen mit dem Unrechtsregime des Dritten Reiches
die Idee der naturrechtlichen Bindung des positiven Rechts seit dem Ende des Zwei-
ten Weltkriegs sehr stark vertreten. Sie kann sich auch auf das Grundgesetz selbst
stützen, das an mehreren Stellen auf das Naturrecht verweist. So spricht die Prä-
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ambel von der Verantwortung vor Gott. Damit verweist die Präambel auf grundle-
gende Regeln christlicher Ethik und damit auf überpositives Recht.
II. Historische Entwicklung
1. Verfassungsentwicklung vor 1949
Verfassungen sind komplexe, historisch gewachsene Gebilde, für deren Verständnis
auch der historische Kontext herangezogen werden muss. Die Verfassungsge-schichte Deutschlands ist eng mit europäischen Entwicklungen verbunden,
zumal es über viele Jahrhunderte hinweg keinen „deutschen Staat“ gab. Eine verfas-
sungsgeschichtliche Zäsur für ganz Europa bildet der Untergang des Heiligen Römi-
schen Reiches deutscher Nation (Sacrum Imperium Romanum Nationis Germanicae)
im Jahre 1806. 1815 erfolgte die Gründung des Deutschen Bundes, dessen Fläche
heute Deutschland, Österreich sowie Teile von Tschechien, Polen und Ungarn um-
fasst. Beim Deutschen Bund handelte es sich aber um einen Staatenbund und gera-
de nicht um einen Bundesstaat. Seine mitglieder waren daher souveräne Einzelstaa-
ten.
Entscheidende Impulse erhielt die verfassungsgeschichtliche Entwicklung 1848/49
durch die bürgerliche Revolution und die so genannte Paulskirchenverfassung
(nach der Frankfurter Paulskirche als Tagungsort der Revolutionäre). Die von den
Revolutionären beabsichtigte nationalstaatliche Neugründung des Reiches scheiterte
jedoch ebenso wie die Einführung der Verfassung, die zwar verabschiedet und im
Gesetzblatt veröffentlicht wurde, aber anschließend nicht durchgesetzt werden konn-
te. Vielmehr siegte die Restauration, der Deutsche Bund existierte weiter.
1867 entsteht mit der Gründung des Norddeutschen Bundes ein erster Bundesstaat
mit einer Bundesverfassung. Diese hat jedoch mit der freiheitlich orientierten Pauls-
kirchenverfassung wenig gemein. Insbesondere enthält sie keine Grundrechte. Ein
wichtiges Datum in der Entstehung eines deutschen Staates bilden die Jahre
1870/71. In dieser Zeit entsteht das Deutsche Reich durch die Erweiterung des
Norddeutschen Bundes um die süddeutschen Staaten. Am 16.4.1871 gibt sich das
Deutsche Reich eine Verfassung, die in weiten Teilen der Verfassung des Norddeut-
schen Bundes entspricht. Diese Verfassung bleibt bis zum Ende des Ersten Welt-
krieges in Kraft.
Gegen Ende des Ersten Weltkrieges führte die so genannte Novemberrevolution von
1918 zum Ende des deutschen Kaiserreiches. Die letzte Regierung unter Prinz Max
Prof. Dr. Dieter Dörr - 7 - Deutsches Verfassungsrecht in Europa http://www.jura.uni-mainz.de/doerr Skript
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von Baden hat mit den Oktoberreformen – Reformen hin zu einer parlamentarischen
Demokratie – selbst noch die Parlamentarisierung der Reichsverfassung vorgenom-
men. Der letzte deutsche Kaiser, Wilhelm der II. dankte am Mittag des 9. November
1918 ab. Zwei Stunden später wurde die Republik ausgerufen. Am 11. August 1919
wurde die Weimarer Reichsverfassung verabschiedet. Die Weimarer Reichsver-
fassung knüpfte teilweise an die 1848 gescheiterte Revolution an und bildet inhaltlich
an manchen Punkten auch die Basis für die heutige deutsche Verfassung, das
Grundgesetz. Allerdings steht das Grundgesetz der Paulskirchenverfassung deutlich
näher als der Weimarer Verfassung.
Mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichkanzler begann 1933 das Dritte Reich
und damit der dunkelste Punkt der deutschen Geschichte, eine menschenverach-tende Diktatur, die nicht nur jeglicher Rechtsstaatlichkeit, sondern auch aller Huma-
nität den Rücken gekehrt hatte.
2. Entstehung des Grundgesetzes
Nach dem Zweiten Weltkrieg kapitulierte das Deutsche Reich bedingungslos am
8.Mai 1945. Das Gebiet Deutschlands wurde von den vier Alliierten Hauptsieger-
mächten Vereinigte Staaten, Vereinigtes Königreich, Frankreich und Sowjetunion
militärisch besetzt. Die Hauptsiegermächte erklärten am 5. Juni 1945, dass sie die
supreme authority (oberste Regierungsgewalt) in Deutschland übernehmen wer-
den. Am 2. August 1945 vereinbarten sie in Potsdam, dass Deutschland in vier Be-satzungszonen aufgeteilt werden sollte. Jede Siegermacht verwaltete ihre Besat-
zungszone gesondert, alle Deutschland als Ganzes betreffenden Fragen sollten von
den Alliierten gemeinsam entschieden werden. Damit hatte die Staatsgewalt, die
zuvor auf der Grundlage der Weimarer Reichsverfassung von 1919 und den schwer
zu erfassenden Rechtsgrundlagen des Dritten Reiches ausgeübt wurde, aufgehört zu existieren. Allerdings hat die militärische Besetzung Deutschlands nicht dazu ge-
führt, dass Deutschland als Staat im Sinne des Völkerrechts untergegangen ist. Da
die Alliierten Deutschland nicht okkupiert und in der Potsdamer Erklärung am Fortbe-
stand von Deutschland als Ganzem festgehalten haben, war davon auszugehen,
dass Deutschland weder als Staat untergehen noch in mehrere Einzelstaaten aufge-
teilt werden sollte.
Bereits kurz nach Ende des Krieges brach zwischen den Westmächten und der Sow-
jetunion jedoch ein globaler Interessengegensatz auf, der später als kalter Krieg be-
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zeichnet wurde und auch die Deutschlandpolitik maßgeblich beeinflusste. Die West-
alliierten vereinigten ihre Besatzungszonen zunächst Anfang 1947 zur englisch-
amerikanischen Bizone und dann 1948 unter Einschluss der französischen Zone zur
Trizone. Dort wurde im Juni 1948 eine neue Währung eingeführt und die Wirtschaft
nach westlichem Muster reorganisiert. Die Sowjetunion ihrerseits organisierte ihre
Besatzungszone nach dem in den übrigen osteuropäischen Staaten bewährten Mus-
ter. Die SPD wurde 1946 mit der KPD zur SED zwangsvereinigt und die übrigen Par-
teien mussten den Vorranganspruch der SED akzeptieren. Es wurde eine umfangrei-
che Boden- und Industriereform durchgeführt, die zur Verstaatlichung der Bauernhö-
fe und der Industrie führten. Damit waren faktisch zwei unterschiedliche Wirt-schafts- und Gesellschaftssysteme entstanden.
Mit dem Auseinanderdriften der Alliierten und ihrer Verwaltung der Besatzungszonen
rückte die Wiedervereinigung aller Besatzungszonen in weite Ferne. Die letzte ge-
meinsame Beratung der Alliierten über Deutschland fand im November 1947 in Lon-
don statt. Sie endete ergebnislos. Die Westmächte trafen sich im Februar 1948 er-
neut in London und verhandelten unter Ausschluss der Sowjetunion über die staatli-
che Neuorganisation der westlichen Besatzungszonen. Als Ergebnis dieser Konfe-
renz tagten im Juli 1948 in Frankfurt die Militärgouverneure der Westalliierten zu-
sammen mit den Ministerpräsidenten der seit 1946 reorganisierten Bundesländer.
Die Militärgouverneure übergaben dabei den Ministerpräsidenten drei Papiere, die
sog. Frankfurter Dokumente. Das wichtigste Dokument war das erste, in welchem
die Ministerpräsidenten ermächtigt wurden, eine „Verfassungsgebende Versamm-
lung“ einzuberufen. Dabei enthielt dieses Dokument einige inhaltliche Vorgaben für
diese Verfassung. Deutschland sollte ein Bundesstaat mit einer demokratischen
Ordnung werden, in dem die Grundfreiheiten seiner Bürger angemessen geschützt
werden sollten.
Die Ministerpräsidenten einigten sich mit den Militärgouverneuren darauf, einen aus
Vertretern der Landtage der Bundesländer bestehenden Parlamentarischen Rat einzusetzen, der die Verfassung ausarbeiten sollte. Die Landtage der damals elf be-
stehenden Bundesländer waren nach der Konstituierung dieser Länder aus freien
Wahlen hervorgegangen. Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates wurden dann
im August 1948 durch die Landtage gewählt. Zur Vorbereitung des Parlamentari-
schen Rates setzten die Ministerpräsidenten einen „Sachverständigenausschuss für
Verfassungsfragen“ ein, der im August 1948 auf der Insel Herrenchiemsee tagte.
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Diesem gehörten elf stimmberechtigt Mitglieder (jedes Land entsandte ein Mitglied)
sowie ein nicht stimmberechtigter Vertreter Berlins sowie beratend ca. 20 weitere
Experten an. Dieser so genannte Herrenchiemsee-Konvent erarbeitete vom 10. Bis
zum 23. August 1948 einen fast vollständigen Verfassungsentwurf, der den Bera-
tungen des Parlamentarischen Rates als Grundlage diente. Dies liegt neben der
fachlichen Qualifikation seiner Mitglieder auch daran, dass einige prominente Mit-
glieder des Parlamentarischen Rates, wie Carlo Schmid und Alfred Süsterhenn, da-
nach auch Mitglieder des Parlamentarischen Rates waren.
Der Parlamentarische Rat, dem 65 stimmberechtigte und 5 nicht simmberechtigte
Mitglieder (Vertreter Berlins) angehörten, nahm seine Beratungen am 1. September
1948 auf. Die Schlussabstimmung über den in mehreren Ausschüssen und im Ple-
num beratenen Text fand am 8. Mai 1949 statt. Am 12. Mai 1949 wurde der Text von den Alliierten Militärgouverneuren genehmigt.
Während die Militärgouverneure in den Frankfurter Dokumenten bestimmt hatten,
dass die Verfassung durch Volksabstimmung bestätigt werden sollte, sah Art.144
Abs.1 GG vor, dass das Grundgesetz durch die „Volksvertretungen in zwei Dritteln
der Deutschen Ländern“ angenommen werden sollte. Damit wollte der Parlamentari-
sche Rat den vorläufigen Charakter des Grundgesetzes betonen. Man wollte alles
vermeiden, was eine endgültige Teilung Deutschlands beförderte. Deshalb sollte die
Verfassung der Bundesrepublik nur Grundgesetz heißen und sie sollte nicht wie eine
vollgültige Verfassung durch das Volk bestätigt werden. Das Deutsche Volk sollte
vielmehr erst gemäß Art.146 GG im Falle der Wiedervereinigung über eine dann zu
schaffende gesamtdeutsche Verfassung entscheiden. Am 23. Mai 1949 trat das Grundgesetz nach Zustimmung der Länderparlamente mit Ausnahme Bayerns, das
aber seiner Bindung an das Grundgesetz zustimmte, in Kraft.
Seit dem Fall der Berliner Mauer 1989 und der darauffolgenden Wiedervereinigung
gilt das Grundgesetz auch in den so genannten „neuen Bundesländern“ (Sachsen,
Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Thüringen, Berlin). Die Präambel des Grundgesetzes
wurde entsprechend ergänzt. Historisch betrachtet stammt das Grundgesetz damit
aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in der auch die Vereinten Nationen ge-
gründet und die Charta der Vereinten Nationen sowie die Allgemeine Erklärung der
Menschenrechte verabschiedet wurden. Diese Entwicklungen hatten zahlreiche Ein-
flüsse auf das Grundgesetz, etwa im Bereich der Grundrechte, aber im Hinblick auf
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die internationale Ausrichtung des Grundgesetzes. Nachfolgend werden die Struk-
turprinzipien des Grundgesetzes überblicksartig dargestellt. Die Grundrechte werden
vertieft in einer eigenen Vorlesung behandelt. Vorab ist aber noch auf die Normen-
hierarchie und die Auslegungsgrundsätze einzugehen.
III. Normenhierarchie
Zur hierarchischen Ordnung der zahlreichen rechtlichen Regelungen in Deutschland
dient das System der Normenhierarchie. Dieses kann man sich optisch wie eine Py-
ramide vorstellen (man spricht auch von Normenpyramide). An der Spitze der Nor-
menpyramide steht das Grundgesetz, die Verfassung, deren Normen – wie in allen
Verfassungsstaaten – anderen Vorschriften vorgehen. An zweiter Stelle stehen Ge-
setze, die vom Parlament beschlossen werden. Darunter folgen Rechtsverordnun-
gen, die von der Exekutive erlassen werden, also etwa von der Bundesregierung o-
der einem Bundesminister oder von der Landesregierung oder einem Landesminis-
ter. Hierunter stehen so genannte Satzungen, die von Selbstverwaltungseinrichtun-
gen beschlossen werden, etwa den Gemeinden auf kommunaler Ebene oder von
den ebenfalls als Selbstverwaltungseinrichtungen organisierten Universitäten.
Bei einer Normenkollision sind folgende allgemeine Vorrangregeln zu beachten,
wobei die Punkte zwei und drei für Kollisionen innerhalb der verschiedenen Ebenen
gelten:
1. Vorrang der ranghöheren Norm (Normenpyramide) als häufigster und
wichtigster Anwendungsfall (lex superior derogat legi inferiori)
2. Bundesrecht bricht Landesrecht (Art. 31 GG)
2. Vorrang der jüngeren Norm, jüngere Norm setzt ältere außer Kraft
(lex posterior derogat legi priori)
3. Vorrang der spezielleren Norm, im Zweifelsfall kommt die speziellere
Norm zur Anwendung (lex specialis derogat legi generali)
Hinzu kommt noch der Anwendungsvorrang des Europarechts vor nationalem Recht
(hierzu näher unter C.IV.2.).
IV. Auslegung des Grundgesetzes
Für die Verfassungsinterpretation, also die Auslegung des Grundgesetzes, werden in
Deutschland 6 Auslegungsmethoden herangezogen:
Prof. Dr. Dieter Dörr - 11 - Deutsches Verfassungsrecht in Europa http://www.jura.uni-mainz.de/doerr Skript
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1. Wortlautauslegung
Nach der Wortlautauslegung, die auch als grammatikalische Auslegung bezeichnet
wird, bilden der Wortlaut und dessen natürliche Bedeutung im allgemeinen Sprach-
gebrauch den ersten Anknüpfungspunkt für die Auslegung. Der Wortlaut ist zu-
gleich die äußerste Grenze für die Auslegung einer Norm. Eine Auslegung contra
legem, gegen den Wortlaut einer Norm, ist unzulässig.
2. Systematische Auslegung
Die systematische Auslegung betrachtet den Zusammenhang, in dem eine Norm
steht. Das bedeutet, man überlegt, in welchem Abschnitt die Norm steht, welcher
Normen ihr vorangehen und welche Normen ihr folgen und ob sich hieraus Schlüsse
für die Auslegung der Norm ziehen lassen.
3. Entstehungsgeschichte
Auch die Entstehungsgeschichte kann für die Interpretation einer Norm aufschluss-
reich sein. So kann man in den Dokumenten des Parlamentarischen Rates nach-
lesen, welche Intention der Verfassungsgeber zum Zeitpunkt der Schaffung des
Grundgesetzes im Zusammenhang mit einer bestimmten Norm hatte. Diese Ausle-
gungsmethode verliert allerdings in gewisser Weise an Bedeutung, da eine Verfas-sung dynamisch sein muss, um mit den Entwicklungen Schritt zu halten.
4. Teleologische Auslegung
Eine hervorgehobene Rolle bei der Auslegung des Grundgesetzes durch das Bun-
desverfassungsgericht spielt die teleologische Auslegung, die Auslegung nach dem
Sinn und Zweck der Vorschrift. Bei dieser Auslegung versucht das Bundesver-fassungsgericht, den objektiven Sinngehalt einer Norm zu ermitteln.
5. Europarechtskonforme Auslegung
Mit der zunehmenden Intensität der Integration in die Europäische Union hat die eu-
roparechtskonforme Auslegung des Grundgesetzes eine steigende Bedeutung er-
langt. Dies bedeutet, dass das Bundesverfassungsgericht in einem „Kooperations-
verhältnis“ mit dem EuGH agiert und sich bemüht, das Grundgesetz im Sinne des
Europarechts auszulegen (hierzu näher unter D.III.2.).
Prof. Dr. Dieter Dörr - 12 - Deutsches Verfassungsrecht in Europa http://www.jura.uni-mainz.de/doerr Skript
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6. Völkerrechtsfreundliche Auslegung
Das Bundesverfassungsgericht leitet in Übereinstimmung mit der Literatur aus der
Präambel des Grundgesetzes, Art. 1 Abs. 2 GG, Art 24 GG und Art 25 GG der
Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes ab. Daraus folgert es,
dass das Grundgesetz völkerrechtsfreundlich auszulegen ist, also auch die Men-
schenrechte der EMRK bei der Auslegung zu berücksichtigen sind.
V. Struktur des Grundgesetzes
Das Grundgesetz gliedert sich in zwei grundlegende Teile, nach denen auch die Vor-
lesungen im deutschen Verfassungsrecht stets unterteilt werden. Der 1. Teil umfasst
die Grundrechte als individuelle Freiheitsrechte. Diese beruhen auf der Idee eines
freien Individuums und sind im Grundgesetz bewusst als erstes erwähnt. Der Bürger
und seine Freiheiten sollen im Zentrum der staatlichen Ordnung stehen. Funktion
des Staates und seiner organisatorischen Einheiten ist es, der Verwirklichung dieser
Freiheiten zu dienen. Der 2. Teil umfasst die Organisation des deutschen Staates.
Hierzu gehört die föderale Ordnung Deutschlands, also die Unterteilung in Bund und
Länder und deren Verhältnis zueinander. Diese Vorschriften wurden im Rahmen der
Föderalismusreform 2006 neu gefasst. Anschließend behandelt das Grundgesetz die
Gesetzgebung des Bundes (Legislative). Es folgen Normen zur Ausführung der Bun-
desgesetze, also Vorschriften für die Organisation der Verwaltung in Deutschland.
Die Rechtsprechung (Judikative) ist ebenfalls in einem eigenen Abschnitt geregelt.
Es folgen Vorschriften zum Finanzwesen, zum Verteidigungsfall sowie Übergangs-
vorschriften zum Abschluss.
VI. Grundrechte (Überblick)
Ideengeschichtlich stammen die Grundrechte aus der Zeit der Aufklärung und der
französischen Revolution. Mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch
die Vereinten Nationen am 10.Dezember 1948 wurden die Menschenrechte interna-
tional proklamiert. Das Grundgesetz fügt sich mit seinem Grundrechtskatalog in die-
se internationale Entwicklung ein (vgl. Art. 1 Abs. 2 GG) und greift zugleich verfas-
sungsgeschichtlich auf die deutsche Paulskirchenverfassung von 1848 sowie auf die
Verfassung der Weimarer Republik von 1919 zurück. Damit verbunden ist die be-
wusste Abkehr vom totalitären Regime des Dritten Reichs, das die Würde des
Menschen mit Füßen getreten hat. Dieser bewussten Abkehr von den Gräueltaten
des Dritten Reichs ist es auch geschuldet, dass das Grundgesetz in seinem Art. 1
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Abs. 1 die Menschenwürde als den obersten Verfassungswert stellt. Die Ausstrah-
lungswirkung des Grundgesetzes auf Europa zeigt sich auch darin, dass die Men-
schenwürde – auf Betreiben des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Roman
Herzog hin, als Vorsitzendem des Grundrechtskonvents – auch als erstes Grund-
recht der europäischen Grundrechte-Charta aufgenommen wurde.
Für die Systematisierung der Grundrechte ist die Unterscheidung in Freiheits- und Gleichheitsrechte sowie Teilhaberechte grundlegend. Die Freiheitsrechte umfas-
sen die ursprüngliche Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte des Bürgers ge-
gen den Staat, wie sie auf den Philosophen Kant zurückgeht. Danach soll es einen
Freiheitsbereich des Bürgers geben, den der Staat zu respektieren hat. Die Gleich-
heitsrechte formulieren einen Anspruch auf gleiche Behandlung, z. B. Diskriminie-
rungsverbote von Behinderten, von Frauen, aufgrund einer Religion oder Weltan-
schauung, aufgrund politischer Anschauungen, aufgrund der Heimat oder Herkunft.
Die Teilhaberechte sind staatsbürgerliche Rechte, also insbesondere das Wahlrecht
des Bürgers, aber auch der freie Zugang jedes Deutschen zum öffentlichen Dienst.
Nach dem berühmten Elfes-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Januar
1957 (BVerfGE 6, 32) muss sich alles staatliche Handeln an den Grundrechten messen lassen. Der gesamte Staat ist damit auf die Gewährleistung maximal mögli-
cher Freiheit für den Einzelnen ausgerichtet. Das Grundgesetz führt in seinem so
genannten „Grundrechtskatalog“ die einzelnen Grundrechte auf.
Die Durchsetzung der Grundrechte und der Menschenrechte, wie sie in der Euro-
päischen Menschenrechtskonvention, der Europäischen Grundrechtecharta (EMRK)
und den Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen verankert sind, erfolgt auf
vielfältige Art und Weise:
1. Durch die einfache Gerichtsbarkeit, insbesondere durch die Verwaltungsgerich-
te; die Grundrechte sind bei der Auslegung des einfachen Rechts durch die einfa-
chen Gerichte (etwa Zivil-, Straf oder Verwaltungsgerichte) zu beachten.
2. Wichtigstes Organ zur Durchsetzung der Grundrechte des Grundgesetzes ist das
Bundesverfassungsgericht, insbesondere im Verfahren der Verfassungsbe-
schwerde.
3. Auch der Gerichthof der Europäischen Union (EuGH) hat die Grundrechte zu ach-
ten, wie sie in den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten zum Ausdruck kom-
men.
Prof. Dr. Dieter Dörr - 14 - Deutsches Verfassungsrecht in Europa http://www.jura.uni-mainz.de/doerr Skript
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4. Der Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) wacht
über die Einhaltung der Menschenrechte aus der EMRK.
5. Die Vereinten Nationen sind im Rahmen des universellen Menschenrechtsschut-
zes.tätig
VII. Die Grundprinzipien des Staatsorganisationsrechts
1. Ewigkeitsklausel
Sinn und Zweck des Staatsorganisationsrechts ist es, bestimmten materiellen Ver-
fassungsgrundsätzen Geltung zu verschaffen. Hierzu gehören zum einen die bereits
im Überblick vorgestellten Grundrechte. Zum anderen zählen dazu bestimmte
Staatsstrukturprinzipien, die als tragende Leitprinzipien das gesamte verfassungs-
rechtliche System maßgeblich prägen. Diese Verfassungsprinzipien sind in Art. 20
GG enthalten. Sie sind durch die so genannte Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG gesichert. Nach dieser Klausel ist eine Änderung des Grundgesetzes, welche die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt, unzulässig.
Damit werden die Menschenwürde, das Demokratieprinzip, das Rechtsstaatsprinzip,
das Sozialstaatsprinzip und das Bundesstaatsprinzip der Änderung durch den ver-
fassungsändernden Gesetzgeber entzogen. Eine Änderung dieser Prinzipien ist nur
durch eine neue Verfassung möglich.
2. Demokratieprinzip
Das Demokratieprinzip ist in Art. 20 Abs. 2 GG, Art. 20 Abs. 1 GG, Art. 28 Abs. 1 S. 1
GG verankert und umfasst vereinfacht gesagt die Herrschaft des Volkes. Diese
Volkssouveränität findet als Ausübung der Staatsgewalt im Namen des Volkes ih-
ren Ausdruck (so ergehen etwa die Urteile deutscher Gerichte „Im Namen des Vol-
kes“). Dabei lässt der zentrale Satz des Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG („Alle Staatsgewalt
geht vom Volke aus") ein System der Repräsentation als Ausprägung effektiver de-
mokratischer Herrschaft zu, wie sich aus den übrigen Vorschriften im Grundgesetz
präzisierend ergibt.
Das Demokratieprinzip findet seinen ersten und zugleich bedeutendsten Nieder-
schlag im Akt der Verfassungsgebung als Ausdruck der Volkssouveränität. Die ande-
ren Verfassungsprinzipien wurden im Gegensatz dazu erst durch die Entscheidung
der verfassunggebenden Versammlung Bestandteil des Grundgesetzes.
Konkrete Ausprägungen des Demokratieprinzips im Grundgesetz:
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Wahl der wichtigsten Träger der Staatsgewalt durch das Volk:
Das Grundgesetz sieht eine mittelbare repräsentative Demokratie vor. In Art. 20
Abs. 2 GG ist der Umfang („Alle...“), die Art der Ausübung („...in Wahlen und Ab-
stimmungen und durch besondere Organe...“) und der Ursprung („...vom Volke...“)
der Staatsgewalt festgelegt.
Dabei dienen Wahlen der Legitimierung der Staatsorgane, damit diese für das Volk
die Staatsgewalt ausüben dürfen. Unter Abstimmungen versteht man direktdemo-
kratische Elemente wie Volksentscheide (Abstimmung über Gesetzentwurf od. be-
stimmte Frage), Volksbegehren (Initiative aus dem Volk für ein Gesetz) und Volksbe-
fragungen (Befragung über bestimmte Sachfrage). Im Grundgesetz ist ein Volksent-
scheid ausdrücklich nur in Art. 29 Abs. 2, 3 GG für die Länder vorgesehen, die von
einer Neugliederung des Bundesgebiets betroffen sind.
Zu beachten ist, dass nur der Bundestag direkt legitimiert ist, während alle weite-
ren Organe lediglich mittelbar durch Einschaltung des Parlaments ihre demokrati-
sche Legitimation erhalten. Dies ist aber mit dem Demokratieprinzip vereinbar, da
allein die ununterbrochene demokratische Legitimationskette entscheidend ist,
d.h. die Herrschaftsausübung auf das Volk zurückführbar sein muss.
Prinzip der Mehrheitsentscheidung:
Geht man von einer formalen Gleichberechtigung aller Staatsbürger aus, liegt zu-
nächst der Schluss nahe, dass kein Bürger in einer Demokratie überstimmt werden
könne. Aus diesem Blickwinkel wäre eine Entscheidung für das Einstimmigkeitsprin-
zip bei Entscheidungen folgerichtig. Dieses ist jedoch in der Praxis nicht umzusetzen,
weswegen an diese Stelle das Mehrheitsprinzip der Demokratie tritt. Dieses gilt je-
doch wiederum nicht absolut, sondern wird eingeschränkt durch die Bindung an Ge-
setz und Recht, das Prinzip der Herrschaft auf Zeit und die Vorgaben der Grund-
rechte.
Oppositionsfreiheit:
In Ergänzung zum Mehrheitsprinzip wird gleichzeitig das Recht auf verfassungsmä-
ßige Bildung und Ausübung der Opposition geschützt. Als Mittel des Minderheiten-
schutzes hat die parlamentarische Opposition Mitwirkungsmöglichkeiten unterschied-
licher Art bei der demokratischen Willensbildung wie etwa Antrags-, Rede- und Ein-
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spruchsrechte. Dennoch besitzt die Opposition in Deutschland (anders als etwa im
Vereinigten Königreich) keine eigenständige Rechtsstellung.
Gleichheit der Staatsbürger:
Der Gleichheitsgrundsatz ist Grundlage der Volkssouveränität. Anders ist eine
„Staatsgewalt vom Volke aus“ nicht möglich. Ausgehend vom Gleichheitssatz des
Art. 3 I GG enthält das Grundgesetz eine Reihe von speziellen Gleichheitssätzen,
wonach die Gleich- bzw. Ungleichbehandlung gewisser Sachverhalte automatisch
willkürlich sein soll (z.B. Art. 3 II, III GG).
Mit Ausnahme des Wahlrechts (Art. 38 I GG) verwirklicht das Grundgesetz jedoch
nie eine absolute Gleichheit, sondern nur eine materielle / relative. Schließlich wäre
die absolute Gleichbehandlung aller Menschen in allen Beziehungen einerseits uner-
reichbares Ideal, andererseits selbst wieder Quelle zahlreicher Ungerechtigkeiten.
Politische Grundrechte, insbes. Kommunikationsgrundrechte
Willensbildung von unten nach oben (vgl. Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG):
Die Willensbildung hat ihren Ursprung bei den Staatsbürgern. Sie geschieht auch
durch die Mitwirkung der Parteien, soll aber jedenfalls staatsfrei sein, um Einfluss-
nahmen zu verhindern.
Die Besonderheit der bundesrepublikanischen Demokratie ist die Form der parla-mentarischen Demokratie, in der der Bundestag eine herausragende Stellung hat.
Das Prinzip des Gesetzesvorbehalts und die Wesentlichkeitstheorie sind nicht
nur ein Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips, sondern auch des Demokratieprinzips, da
hierüber wegen der Öffentlichkeitsfunktion des Parlaments die Legitimation der rele-
vanten Entscheidungen und damit auch deren Akzeptanz erhöht werden.
3. Rechtsstaatsprinzip
Zwar ist das Rechtsstaatsprinzip als solches nur in Art. 28 Abs. 1 GG explizit ge-
nannt, es wird aber allgemein angenommen, dass es über Art. 20 Abs. 3 GG auch
als eines der Verfassungsprinzipien in Art. 20 GG enthalten ist.
Unter Rechtsstaatsprinzip wird der Grundsatz verstanden, nach dem die Staatsge-
walt rechtlich bestimmt und begrenzt ist und wonach die Rechtstellung des einzelnen
durch garantierte Rechte (z. B. Grundrechte) gesichert ist. Rechtsstaatlichkeit ist das
grundlegende Ordnungsprinzip des Grundgesetzes. Es handelt sich nicht um
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einen abstrakten Rechtsgrundsatz, sondern um eine zusammenfassende strukturelle
Festlegung.
Es gilt nicht mehr wie noch im 19. Jahrhundert nur ein formeller Rechtsstaatsbe-griff (Gesetzmäßigkeit staatlichen Handelns), vielmehr ist das Grundgesetz durch
ein materielles Verständnis des Rechtsstaats bestimmt. Es bestehen daher be-
stimmte Anforderungen, denen die Rechtsordnung genügen muss. Zwar ist aus dem
Begriff als solchem keine Rechtsfolge abzuleiten, dennoch kann davon gesprochen
werden, dass das Grundgesetz mit seinen Wertentscheidungen versucht, einen
Entwurf materieller Gerechtigkeit festzuschreiben. Darüber hinaus besteht das
Rechtsstaatsprinzip als grundlegendes Verfassungsprinzip aus einer Vielzahl von
einzelnen Ausgestaltungen.
Das materielle Element, die Gerechtigkeit, ist nicht festlegbar, so dass sie ein für
allemal bestehen würde. Vielmehr ist sie immer wieder neu zu erobern. So ist
Rechtsstaatlichkeit zugleich Zustand und Staatsziel. Die Verbürgung des Rechts-
staats enthält eine Reihe von Einzelgarantien mit den unterschiedlichsten Zielrich-
tungen.
Konkrete Ausprägungen:
Grundsätzlich ist es Sache des Gesetzgebers, dem Rechtsstaatsprinzip bei der
Normsetzung Rechnung zu tragen. Ihm kommt im Rahmen der verfassungsrechtli-
chen Bindungen ein Einschätzungs- und Bewertungsvorrang zu, der nicht der Über-
prüfung durch das BVerfG unterliegt. Erst wenn sich eindeutig ergibt, dass unver-
zichtbare Erfordernisse nicht mehr gewahrt sind, kann eine Regelung als rechts-
staatwidrig beanstandet werden.
Gewaltenteilung:
Die Staatsgewalt wird durch das System der Gewaltenteilung gem. Art. 20 Abs. 2 S.
2 GG verteilt. Dieses System der 'checks and balances' bedeutet eine Machtvertei-
lung zwischen den klassischen drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative.
Im Grundgesetz ist diese horizontale Gewaltenteilung noch durch eine vertikale Gewaltenteilung zwischen den verschiedenen staatlichen Ebenen erweitert. Aller-
dings handelt es sich wegen der zahlreichen bestehenden Verschränkungen zwi-
schen den Gewalten um keine strikte Gewaltenteilung. Die Gewaltenteilung ist
dadurch gekennzeichnet, dass die einzelnen Organe voneinander unabhängig sind
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und das gleichzeitige Bekleiden von Ämtern in verschiedenen Gewalten unzulässig
ist.
Vorrang des Gesetzes:
Ein Gesetz kann nicht durch eine allgemeine Verwaltungsvorschrift außer Kraft ge-
setzt oder abgeändert werden und nicht durch eine Rechtsnorm von niedrigerem
Rang verdrängt werden (kein „Handeln gegen Gesetz“).
Vorbehalt des Gesetzes:
Dies bedeutet zunächst, dass die Verwaltung nur aufgrund eines Gesetzes in Rechte
des Bürgers eingreifen darf. Nach der klassischen Formulierung bedürfen Eingriffe in
Freiheit, Leben und Eigentum stets einer gesetzlichen Grundlage. Vereinzelt wird
vertreten, dass überhaupt kein „Handeln ohne Gesetz“ erfolgen darf. Ein solcher To-
talvorbehalt wäre aber nicht praktikabel, es bestünde die Gefahr der Übernormierung
und der Überforderung des parlamentarischen Gesetzgebers. Der Gesetzesvorbe-
halt gilt aber in jedem Fall bei Eingriffen in die Rechte des Bürgers.
Darüber hinausgehend vertritt heute die herrschende Meinung die Wesentlichkeits-
theorie (Parlamentsvorbehalt), wonach das Parlament alle wesentlichen Entschei-
dungen im Bereich der Eingriffs- und der Leistungsverwaltung selbst treffen muss.
Das jeweilige Sachgebiet und die Intensität der getroffenen Regelung sind entschei-
dend. Dies folgt auch aus dem Parlamentsvorbehalt und damit aus dem Demokratie-
prinzip.
Bindung aller staatlichen Gewalt an die Grundrechte:
Nach dem Elfes-Urteil des Bundesverfassungsgerichts muss sich alles staatliche
Handeln an den Grundrechten messen lassen. Der gesamte Staat ist damit auf die
Gewährleistung maximal möglicher Freiheit für den Einzelnen ausgerichtet (vgl. dazu
bereits bei den Grundrechten). Die Einklagbarkeit der Grundrechte erfolgt mittels der
Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht.
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit:
Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit darf staatliches Handeln den Bürger
nicht in einer über das erforderliche Maß hinausgehenden Weise belasten. Das vom
Gesetzgeber eingesetzte Mittel muss daher geeignet, erforderlich und angemessen
sein, um den angestrebten Zweck zu erreichen. Während dem Gesetzgeber auf der
Stufe der Geeignetheit ein weiter Ermessensspielraum zukommt, prüft das Bundes-
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verfassungsgericht bei der Erforderlichkeit einer Maßnahme, ob es nicht ein gleich
effektives, aber für den betroffenen Bürger milderes Mittel gegeben hätte. Auf der
letzten Stufe, der Angemessenheit, ist eine Gesamtabwägung zwischen der Schwere
des Eingriffs und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe vorzunehmen. Dabei
darf die Grenze der Zumutbarkeit für den Adressanten nicht überschritten werden.
Gebot der Rechtsschutzgewährung:
Erforderlich ist die Gewährung effektiven Rechtsschutzes. Dies ist für öffentlich-
rechtliche Streitigkeiten in Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet, gilt aber auch in bürger-
lich-rechtlichen Streitigkeiten. Die Garantie eines effektiven Rechtsschutzes wird
auch als Krönung des Rechtsstaats bezeichnet. Hierunter fällt auch das Gebot der
Waffengleichheit und einer gleichmäßigen Verteilung des Prozessrisikos. Außerdem
muss der Rechtsschutz in angemessener Zeit gewährt werden. Der Zugang zu
einem Gericht darf nicht in unzumutbarer Weise erschwert werden. Das Rechts-
staatsprinzip fordert aber keinen Instanzenzug eines jeden Rechtsweges.
Strafrecht und Strafverfahrensrecht:
Der Grundsatz nulla poena sine lege („keine Strafe ohne Gesetz“) ist in Art. 103 II
GG festgelegt. Außerdem wurzelt im Rechtsstaatsprinzip die Unschuldsvermutung,
die den Beschuldigten schützt, solange kein rechtsstaatliches Verfahren stattgefun-
den hat.
Nach Art. 103 III GG darf zudem niemand wegen derselben Tat zweimal bestraft
werden (ne bis in idem).
Schließlich gilt in allen Prozessen das Recht auf ein faires Verfahren. Danach muss
dem Beschuldigten die Möglichkeit eingeräumt werden, auf den Gang und das Er-
gebnis des Strafverfahrens Einfluss zu nehmen. Insoweit greift das bundesverfas-
sungsgericht auf Art. 6 EMRK zurück (völkerrechtsfreundliche Auslegung des
Grundgesetzes).
Vertrauensschutz:
Der Grundsatz des Vertrauensschutzes setzt der Veränderung von Recht, auf des-
sen Bestehen der Bürger sich eingestellt hat, Grenzen gesetzt. Zu differenzieren ist
zwischen der so genannten echten und der unechten Rückwirkung.
Echte Rückwirkung
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Ein Gesetz greift nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehö-
rende Tatbestände ein. Dies ist nach rechtsstaatlichen Grundsätzen prinzipiell verbo-
ten. Nur zwingende Gründe des Allgemeinwohls oder ein nicht vorhandenes schutz-
bedürftiges Vertrauen des einzelnen erlauben ausnahmsweise eine Durchbrechung.
Unechte Rückwirkung
Eine Norm wirkt auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte für die
Zukunft ein, wodurch die betroffene Rechtsposition nachträglich entwertet wird. Das
ist generell zulässig. Anders verhält es sich nur dann, wenn das Gesetz einen Eingriff
bedeutet, mit dem der Betroffene nicht zu rechnen brauchte und sein Vertrauen
schutzwürdiger als der mit dem Gesetz verfolgte Zweck ist.
Rechtsklarheit / Bestimmtheitsgrundsatz:
Um Rechtssicherheit zu gewähren, muss in einem Rechtsstaat auch Rechtsklar-heit herrschen. Dies soll der Bestimmtheitsgrundsatz gewährleisten. Danach muss
eine Norm in ihren Voraussetzungen und in ihrem Inhalt so formuliert sein, dass die
von ihr betroffenen Bürger die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten danach ein-
richten können. Außerdem folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip zur Gewährleistung der
Rechtsklarheit das Gebot der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung.
Staatshaftung:
Als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips gilt auch die Haftung des Staates für
Schäden, die der Bürger infolge rechtswidrigen Verhaltens staatlicher Organe erlitten
hat. Sie ist in Art. 34 GG i.V.m. § 839 BGB teilweise geregelt. Im Übrigen beruht sie
wesentlich auf richterrechtlich entwickelten Grundsätzen.
4. Bundesstaatsprinzip
Das Bundesstaatsprinzip wird aus Art. 20 Abs. 1 GG („Bundesrepublik Deutschland“)
Abgeleitet. Gemäß dem Aufbau eines Bundesstaates haben grundsätzlich alle Län-der sowie der Bund eine eigene Staatlichkeit (eigenes Staatsgebiet, -volk, -
gewalt), es gibt aber keine Existenzgarantie für die einzelnen Länder (vgl. Möglich-
keit der Neugliederung nach Art. 29 GG), sondern lediglich die Garantie einer Exis-
tenz von Gesamtstaat und Gliedstaaten. Allerdings besitzt nur der Bund Souveränität
nach außen; nur er ist ein Staat im Sinne des Völkerrechts.
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Grundlage ist die politische Idee des Föderalismus, d.h. der Aufbau der Gesell-
schaft und des Staates geht von unten nach oben unter Beachtung des Subsidiari-
tätsprinzips. Dabei liegt die „Kompetenz-Kompetenz“, also die Befugnis, die Vertei-
lung der Zuständigkeiten vorzunehmen, beim Bund, wobei Art. 79 Abs. 3 GG gewis-
se Schranken z.B. bei der Gesetzgebung, setzt.
Konkrete Ausprägungen des Bundesstaatsprinzips im Grundgesetz:
Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 und 3 GG:
Gefordert wird zwar keine Identität der Verfassungen, aber eine Übereinstimmung in
den Grundsätzen. Gegenstand der Homogenität sind jene grundlegenden Struktur-
merkmale des Staates, die auch im Bund in verfassungsmäßiger Weise nicht verän-
dert werden können. Bei Missachtung gibt es sogar die Möglichkeit des Bundes-
zwangs (vgl. Art. 37 GG).
Kompetenzklausel des Art. 30 GG:
Grundsätzlich sind die Länder zuständig, außer wenn das Grundgesetz eine andere
Regelung „trifft oder zulässt“. Ersteres bezieht sich auf explizite Kompetenzzuwei-
sungen, letzteres sind „implied powers“ (Bundeszuständigkeit kraft Natur der Sache,
Sachzusammenhang, Annexkompetenz). Vgl. ferner die Abschnitte VII.-IX. des
Grundgesetzes.
Kollisionsklausel des Art. 31 GG:
Unabhängig von den allgemeinen Regeln wie „lex specialis vor lex generalis“ oder
„höherrangiges bricht niederrangiges Recht“ ist Bundesrecht im Kollisionsfalle jeden-
falls vorrangig und das entsprechende Landesrecht nichtig. Dies gilt allerdings nur in
den Bereichen, in dem der Bund und die Länder recht setzen dürfen.
Die Grundrechtsklausel des Art. 142 GG bildet eine Ausnahme zur Kollisionsklau-
sel für Grundrechte in Länderverfassungen, wenn sie in Übereinstimmung mit den
Grundrechten des Grundgesetzes sind.
Bundesratsbezogene Normen (Art. 50 ff. GG):
Der Bundesrat als Ländervertretung ist ein Bundesorgan.
Zusätzlich ergibt sich aus dem Bundesstaatsprinzip der Grundsatz des bundes-freundlichen Verhaltens, der eine gegenseitige Rücksichtnahme der Länder ge-
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genüber dem Bund und umgekehrt sowie der Länder untereinander fordert und von
der Rechtsprechung in Konfliktfällen herangezogen wird.
Das Bundesstaatsprinzip stärkt das Demokratieprinzip durch eine Vervielfachung der
politischen Mitwirkungsmöglichkeiten und führt zu einer stärkeren Gewaltenteilung,
indem neben die horizontale Gewaltenteilung zwischen den drei Gewalten noch eine
vertikale Gewaltenteilung zwischen den beiden politischen Kräften Bund und Län-
der tritt, die die Machtausübung begrenzt und hemmt. Als mögliche Nachteile des
föderalistischen Prinzips werden eine gewisse Schwerfälligkeit in politischen Ent-
scheidungen sowie negative Auswirkungen unterschiedlicher regionaler Verhältnisse
angeführt.
5. Sozialstaatsprinzip
Art. 20 Abs. 1 GG, Art. 28 Abs. 1 S.1 GG und weitere konkrete Vorschriften garantie-
ren den Sozialstaat. Das Sozialstaatsprinzip enthält die Anforderung an den Gesetz-
geber, eine gerechte soziale Ordnung zu schaffen und entgegenstehende Gesetze
zu unterlassen. Zwar ist dieses Verfassungsprinzip wie die anderen für den Gesetz-
geber verbindlich, der genaue Gehalt lässt sich aber nur schwer bestimmen, so
dass bestimmte Einzelanforderungen schwer zu definieren sind.
Dennoch wird heute allgemein davon ausgegangen, dass das Sozialstaatsprinzip
des Art. 20 I GG nicht lediglich ein Programmsatz, sondern eine echte, unmittelbar
geltende und damit alle Staatsgewalten bindende Staatsleitlinie ist. Allerdings
ergibt sich aus dem Sozialstaatsprinzip allein kein subjektives Recht, es muss viel-
mehr - vor allem durch den Gesetzgeber - konkretisiert werden.
Zwingend ist der Staat nach Art. 20 I GG iVm. Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet, die Min-
destvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein seiner Bürger zu schaffen.
Damit ist die Garantie eines Existenzminimums verfassungsrechtlich abgesichert.
Das Sozialstaatsprinzip enthält folgende zwei Aspekte:
- soziale Gerechtigkeit (Güter so verteilen, dass ein angemessener Lebensstandard
möglich ist; Schutzbestimmungen für Fälle sozialer Ungleichheit und dadurch Her-
stellung von Chancengleichheit)
- soziale Sicherheit (Daseinsvorsorge in Bezug auf existenznotwendige Güter wie
Wasser/Elektrizität und Sozialhilfe; Absicherung sozialer Mindeststandards)
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Konkret bedeuten diese Aspekte das Verbot einer Benachteiligung sozial Schwäche-
rer und die Garantie des Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Sozial-staatsprinzip), nicht aber eine Ableitung von Grundpflichten in Form einer gegen-
seitigen Solidarität oder eines „Staates als Versorgungsstaat“, da das Grundgesetz
auf dem Prinzip der Eigenverantwortung basiert.
Das Sozialstaatsprinzip ist aber auch zur Auslegung von Gesetzen heranzuziehen
und soll Handlungsanleitung bei politischen Entscheidungen sein. Absolut geschützt
sind durch das Sozialstaatsprinzip die Kernbereiche der sozialstaatlichen Gesetz-gebung (gesamter Komplex der Sozialversicherung) nur in ihrer grundsätzlichen
Existenz, Modifikationen des bestehenden Systems sind ohne weiteres möglich. Dies
rührt aus einem Verständnis des Sozialstaatsprinzips als in ihrer Zukunft offene
Staatszielbestimmung.
6. Republikprinzip
Art. 20 Abs. 1 GG („Bundesrepublik Deutschland“) und Art. 28 Abs. 1, S.1 GG ge-
währleisten die Republik. Das Republikprinzip spielt in der Praxis keine bedeutende
Rolle, sondern hat mehr eine historische Bedeutung. Das Prinzip der Republik
schließt lediglich die Einführung einer Monarchie aus. Es kann weder eine dynas-
tisch begründete und durch Erbfolge bestimmte Herrschaft auf Lebenszeit noch eine
Wahlmonarchie (Wahl eines Staatsoberhauptes auf Lebenszeit) geben. Das republi-
kanische Staatsoberhaupt ist vielmehr dadurch charakterisiert, dass es
- durch Wahl in das Amt gelangt und
- nur für eine vorher festgelegte Amtszeit die Rolle des Staatsoberhauptes innehat.
7. Weitere Staatsziele
Das Grundgesetz enthält weitere Staatzielbestimmungen, etwa den Umweltschutz in Art. 20 a GG, der in zahlreichen Einzelgesetzen konkretisiert wird, und auch den
Tierschutz, der ebenfalls in Art. 20 a GG verankert ist.. Auch das Prinzip des Frie-densstaates, der keine Aggression nach außen betreibt, insbesondere keine An-
griffskriege führt, ist in einer Zusammenschau aus der Präambel, Art. 1 Abs. 2, 24,
25 und Art. 26 GG enthalten. Ob weitere Staatszielbestimmungen in das Grundge-
setz aufgenommen werden sollen, ist immer wieder Gegenstand der Diskussion. So
wurde diskutiert, ob die deutsche Sprache oder die Kultur als Staatsziel in das
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Grundgesetz aufgenommen werde sollte. Der Vorschläge stießen aber auf ein geteil-
tes Echo. Juristen warnen insbesondere vor einer „Inflation der Staatziele“.
VIII. Staatsorganisation und Staatsorgane
1. Legislative
Die Legislative ist für die parlamentarische Gesetzgebung zuständig. Auf Bundes-
ebene ist dies der Deutsche Bundestag, auf Landesebene die Landtage der ein-
zelnen Bundesländer. Die Abgrenzung erfolgt inhaltlich nach den Art. 70 ff. GG. Da-
nach sind grundsätzlich die Länder für die Gesetzgebung zuständig. In der Praxis
liegen aber mittlerweile die meisten Zuständigkeiten beim Bund. Die Länderge-
setzgebung ist insbesondere noch in den Bereichen Schule, Hochschule, Polizei und
Rundfunk wichtig. Die Legislative ist die „Leitgewalt“ in der Demokratie, die vom Par-
lament erlassenen Gesetze sind daher auch die maßgebliche Grundlage für die Aus-
übung staatlicher Gewalt.
a) Deutscher Bundestag
Der Deutsche Bundestag in Berlin umfasst derzeit 631 Abgeordnete. Grundsätzlich
beträgt die Zahl 598 Abgeordnete. Es herrschen aber leichte Schwankungen der
Zahl von einer Wahlperiode zur nächsten aufgrund von Besonderheiten des Wahl-
rechts. Der Bundestag wird alle vier Jahre neu gewählt. Gegenwärtig wird diskutiert,
die Wahlperiode auf fünf Jahre anzuheben. Er besitzt kein Selbstauflösungsrecht. Nur in zwei Fällen ist eine frühere Wahl möglich: 1. Nach einer Bundestagswahl fin-
det sich keine absolute Mehrheit für die Wahl eines Bundeskanzlers. Um eine Min-
derheitsregierung zu verhindern, kann der Bundespräsident in diesem Fall nach sei-
nem Ermessen entweder den Bundeskanzler, der von einer Minderheit gewählt wur-
de, ernennen oder den Bundestag auflösen. 2. Der Bundeskanzler erhält auf seinen
Antrag gegenüber dem Bundestag, ihm das Vertrauen auszusprechen, keine positive
Antwort, d.h. die Mehrheit der Mitglieder des Parlaments steht nicht mehr hinter der
Regierung. Auch in diesem Fall kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bun-
deskanzlers den Bundestag auflösen und Neuwahlen ansetzen. Letzteres ist erst
dreimal in der Geschichte der BRD passiert (1972 nach einer Vertrauensfrage des
Bundekanzlers Willi Brandt; 1983 nach einer Vertrauensfrage des Bundekanzlers
Helmuth Kohls; 2005 nach einer Vertrauensfrage des Bundekanzlers Gerhard
Schröder).
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(1) Rechtsstellung der Bundestagsabgeordneten
Die Rechtsstellung der Bundestagsabgeordneten ist in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG
geregelt. Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes, sie sind nicht an Auf-
träge oder Weisungen gebunden und sind in ihren Entscheidungen nur ihrem Gewis-
sen unterworfen (Grundsatz des „freien Mandats“). Hieraus ergibt sich für die Pra-
xis eine notwendige Balance zwischen der erforderlichen Fraktionsdisziplin auf der
einen Seite und dem freiem Mandat auf der anderen Seite. Die Fraktion ist an einem
einheitlichen Abstimmungsverhalten ihrer Mitglieder interessiert, es darf aber kein
Zwang oder übermäßiger Druck auf die Abgeordneten ausgeübt werden. Die Abge-
ordneten besitzen Rede- und Stimmrechte im Bundestag sowie einen Anspruch auf
Information durch die Bundesregierung. Sie haben auch das Recht, parlamentari-
sche Initiativen zu starten und sich zu Fraktionen zusammenzuschließen. Die Abge-
ordneten genießen Indemnität und Immunität. Nach dem Grundsatz der Indemnität dürfen Abgeordnete wegen ihrer parlamentarischen Äußerungen nicht gerichtlich
belangt werden, außer bei verleumderischen Beleidigungen. Dieses Institut schützt
den freien Diskurs und die freie Auseinandersetzung im Bundestag. Es gilt nur für
Äußerungen im Bundestag. Auch nach dem Ende seiner Amtszeit kann ein Abge-
ordneter wegen dieser Äußerungen nicht belangt werden. Immunität bedeutet, dass
eine Strafverfolgung eines Abgeordneten des Bundestages nur mit Genehmigung
des Bundestages möglich ist. Dieser Grundsatz gilt nur für die Dauer des Bundes-
tagsmandats. Nach Art. 47 GG haben Abgeordnete darüber hinaus ein Zeugnis-verweigerungsrecht vor Gericht bezüglich Sachen, die ihnen in ihrer Eigenschaft
als Bundestagsabgeordneter anvertraut wurden. Zusätzlich besteht ein Verbot der Beschlagnahme von Schriftstücken, welche die Abgeordnetentätigkeit betreffen.
(2) Wahl der Abgeordneten
Die Abgeordneten werden direkt durch das Volk gewählt. Der Deutsche Bundestag
besitzt damit eine unmittelbare demokratische Legitimation. Die Wahl als zentraler
demokratischer Vorgang muss nach Art. 38 GG verschiedenen Erfordernissen ge-
nügen. Sie muss grundsätzlich allgemein sein, d.h. jeder deutsche Bürger muss
wählen dürfen (Einschränkungen beim Alter, ab Volljährigkeit von 18 Jahren darf
man wählen). Die Wahl muss unmittelbar sein, d.h. es dürfen also keine Wahlmän-
ner dazwischengeschaltet werden. Sie muss frei sein, es darf also keine Beeinflus-
sung des Bürgers bei der Abgabe seiner Stimme oder im Vorfeld der Wahl gegeben
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sein. Außerdem gilt der Grundsatz der Gleichheit der Wahl. Jede abgegebene
Stimme zählt danach gleich. Die Wahl muss auch geheim sein. Jeder Bürger gibt
seine Stimme geheim ab, so dass nicht nachvollziehbar sein darf, welcher Bürger für
welche Partei abgestimmt hat.
(3) Arbeit im Bundestag
Die Mitglieder des Bundestages können sich zu Fraktionen oder Gruppen zusam-
menschließen, um gemeinsame Interessen zu verfolgen. Eine Fraktion muss die
Stärke von mindestens 5% der Mitglieder des Bundestages haben. In der Praxis
spielen die Fraktionen als Interessengemeinschaften im Bundestag eine wichtige
Rolle, z. B. erfolgt die Besetzung der Ausschüsse durch die Fraktionen. Fraktio-
nen können auch einen Antrag stellen, dass der Bundestag über eine bestimmte
Frage zu beraten hat. Die Fraktionen besitzen ferner die Befugnis zur eigenen Öf-
fentlichkeitsarbeit.
Die inhaltliche Arbeit erfolgt vor allem in den Ausschüssen des Bundestages.
Eine spezielle Form des Ausschusses bildet der Untersuchungsausschuss zur
Kontrolle und Aufklärung bestimmter Sachverhalte, ein eigens eingesetzter Kontroll-
ausschuss für bestimmte Sachfragen, der mit einem Abschlussbericht endet. So gab
es etwa einen Untersuchungsausschuss über die Frage, ob Mitglieder der Bundes-
regierung oder andere Personen in diesem Verantwortungskreis durch bestimmte
Weisungen im Zusammenhang mit der Erteilung von Visa deutscher Auslandsvertre-
tungen in Moskau und anderen Städten die Sicherheit der BRD beeinträchtigt haben.
Eine bedeutende Rolle spielt auch die Opposition im Bundestag. Sie bildet das
Gegengewicht zur Fraktion der Bundesregierung im Bundestag. Obwohl im Grund-
gesetz nicht ausdrücklich erwähnt, spielt die Opposition für die demokratische Praxis
eine wichtige Rolle, da sie die Bundesregierung zusätzlich kontrolliert und Alternati-
ven zum Programm der Regierung aufzeigt.
(4) Funktionen des Bundestages
Wichtigste Aufgabe des Bundestages ist die Gesetzgebung. Der Bundestag schafft
Bundesrecht und ändert die Verfassung (vgl. Art. 79 Abs. 2 und 3 GG). Der Bundes-
tag genehmigt internationale Verträge mit anderen Staaten und Organisationen. Er
beschließt den Bundeshaushalt (Budgethoheit) und fällt damit die wichtige Ent-
scheidung, wie viel Geld wofür ausgegeben wird. Der Bundestag wählt mit absoluter
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Mehrheit den Bundeskanzler als den Regierungschef und wirkt bei der Wahl des
Bundespräsidenten, der Bundesrichter und anderer wichtiger Bundesorgane mit. ei-
ne wichtige Aufgabe des Bundestages ist die Kontrolle der Bundesregierung. Der
Bundestag kontrolliert auch den Einsatz der Bundeswehr. So musste der Afgha-
nistan–Einsatz der Bundeswehr erst vom Bundestag bewilligt werden. Dem Bundes-
tag kommt auch eine Öffentlichkeitsfunktion zu. Der Bundestag hat die Aufgabe, die
Wünsche der Bevölkerung aufzunehmen und die Bevölkerung über die Aktivitäten
des Bundestages zu informieren. Damit soll Transparenz und Bürgernähe bewirkt
werden. Diese Funktion wird vom Bundestag sehr ernst genommen. Der Wille zu
Transparenz zeigt sich etwa auch an dem umfassenden Internetauftritt des deut-
schen Bundestages, unter www.bundestag.de.
b) Bundesrat
Der Bundesrat ist das Staatsorgan des Bundes, durch das die Länder an der Ge-
setzgebung beteiligt werden. Mitglieder im Bundesrat sind die Mitglieder der Lan-desregierungen, die von den Landesregierungen entsandt werden. Die Mitglieder
im Bundesrat sind weisungsgebunden gegenüber den Landesregierungen. Der
Bundesrat daher keine echte zweite Kammer im Sinne einer parlamentarischen
Kammer. Die Ministerpräsidenten der Länder sind als Spitzen der Landesexekutive
stets Mitglied im Bundesrat. Die Stimmabgabe der Länder im Bundesrat muss ein-heitlich erfolgen, da jeweils ein Land abstimmt. Uneinheitlich abgegebene Stimmen
sind ungültig, wie das Verfassungsgericht in einer wichtigen Entscheidung vor eini-
gen Jahren entschieden hat. Der Bundesrat hat das Recht zur Gesetzesinitiative.
Im Gesetzgebungsverfahren kommen dem Bundesrat unterschiedliche Beteili-
gungsmöglichkeiten zu, je nach dem, ob es sich um ein Einspruchs- oder um ein Zu-
stimmungsgesetz handelt. Bei Einspruchsgesetzen hat der Bundesrat nur eine Ein-
spruchsmöglichkeit. Der Einspruch des Bundesrates kann durch eine Mehrheitsent-
scheidung des Bundestages zurückgewiesen werden, so dass das Gesetz dann zu-
stande kommt. Bei einem Zustimmungsgesetz ist hingegen die positive Zustim-
mung des Bundesrates erforderlich. Zustimmungsgesetze müssen als solche im
Grundgesetz vorgesehen sein, ansonsten handelt es sich um den Grundfall eines
Einspruchsgesetzes.
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c) Gesetzgebungsverfahren
Das Gesetzgebungsverfahren ist in den Art. 76 ff. GG und in der Geschäftsord-nung des Bundestages (GOBT) geregelt. Es beginnt mit der Gesetzesinitiative nach Art. 76 GG und § 76 GOBT. Das Initiativrecht steht der Bundesregierung, dem
Bundestag und dem Bundesrat zu. Für den Bundestag müssen eine Fraktion oder
mindestens 5% der Mitglieder des Bundestages handeln (§ 76 GOBT). Gesetzesvor-
lagen der Bundesregierung werden zunächst dem Bundesrat zur Stellungnahme zu-
geleitet, Vorlagen des Bundesrates sind dem Bundestag durch die Bundesregierung
zuzuleiten. Im Bundestag wird der Gesetzesentwurf dann in drei Lesungen behan-
delt (§ 78 GOBT). Nach der dritten Lesung erfolgt die Schlussabstimmung im Bundestag. Bei Einspruchsgesetzen wird, wenn der Bundesrat Einspruch einlegen
will, ein Vermittlungsausschuss einberufen, der sich aus Mitgliedern von Bundestag
und Bundesrat zusammensetzt. Der Vermittlungsausschuss kann Änderungsvor-
schläge einbringen. Tut er dies, geht die Gesetzesvorlage erneut an den Bundestag.
Legt der Bundesrat keinen Einspruch ein, ist das Gesetz zustande gekommen. Hat
der Bundesrat Einspruch eingelegt, so kann der Bundestag den Einspruch mit der
Mehrheit der Stimmen seiner Mitglieder zurückweisen. Ist die erforderliche Mehrheit
im Bundestag vorhanden, so kommt das Gesetz mit der Zurückweisung des Ein-
spruchs zustande. Findet sich im Bundestag nicht die erforderliche Mehrheit zur Zu-
rückweisung des Einspruchs, so ist das Gesetz gescheitert. Bei Zustimmungsge-setzen muss der Bundesrat seine positive Zustimmung geben. Auch in diesem Fall
kann der Vermittlungsausschuss angerufen werden. Ist das Gesetz damit im Sinne
des Art. 78 GG zustande gekommen, so folgt die Ausfertigung und Verkündigung durch den Bundespräsidenten nach Art. 82 GG. Das Gesetz wird hierfür zunächst
vom Bundeskanzler und dem zuständigen Bundesminister und anschließend vom
Bundespräsidenten unterzeichnet. Mit der abschließenden Verkündung des Geset-zes im Bundesgesetzblatt tritt das Gesetz in Kraft.
2. Exekutive
Die Exekutive stellt sich als besonders schillernde Gewalt dar. Sie besteht aus der
Regierung (Gubernative) und der öffentlichen Verwaltung (Administrative) und
umfasst auch die militärische Gewalt. Ihr obliegt in erster Linie der Gesetzesvollzug.
Die Exekutive besitzt aber auch eingeschränkte normsetzende Befugnisse: Sie kann
Rechtsverordnungen erlassen, die aber in der Normenpyramide unterhalb von Par-
Prof. Dr. Dieter Dörr - 29 - Deutsches Verfassungsrecht in Europa http://www.jura.uni-mainz.de/doerr Skript
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lamentsgesetzen stehen. Die öffentliche Verwaltung erfolgt auf verschiedenen Ebe-
nen: auf der Bundesebene durch Bundesbehörden, auf der Landesebene durch Lan-
desbehörden und auf kommunaler Ebene durch die Gemeindeverwaltungen. Im Ein-
zelnen gestaltet sich dies als kompliziertes System der Verteilung von Verwaltungs-
kompetenzen und Aufsichtsmaßnahmen.
a) Bundesregierung
Die Bundesregierung besteht nach Art. 62 GG aus dem Bundeskanzler und den
Bundesministern und bildet damit ein so genanntes Kollegialorgan. Der Bundes-
kanzler wird vom Bundestag gewählt und ist dem Bundestag verantwortlich. Die
Bundesminister werden vom Bundeskanzler vorgeschlagen und vom Bundespräsi-
dent ernannt. Die politische Staatsleitung wird von Bundestag und Bundesregie-rung gemeinsam ausgeübt. Hier erfolgt eine enge Zusammenarbeit. Bundeskanz-
ler und Bundesminister haben ein jederzeitiges Rederecht im Bundestag. Sie können
auch an jeder Ausschusssitzung teilnehmen. Die Bundesregierung hat auch wie ge-
zeigt das Recht zur Gesetzesinitiative. Zugleich steht ihr die Organisationsgewalt über die Bundesverwaltung zu. Die interne Organisation der Bundesregierung er-
folgt gemäß Art. 65 GG nach drei Prinzipien. Gemäß dem Kanzlerprinzip bestimmt
der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik und trägt dafür auch die Verantwortung.
In der politischen Praxis und in der Wahrnehmung der Bürger spielt der Bundeskanz-
ler damit als Chef der Regierung eine große Rolle. Seit 2005 obliegt Bundeskanzlerin
Angela Merkel als erster Frau in dieser Position diese Rolle. Nach dem zweiten Prin-
zip, dem Ressortprinzip ist jeder Bundesminister für sein Ressort verantwortlich und
besitzt einen gewissen Gestaltungsspielraum innerhalb seines Ressorts. Die Grenze
dieses Spielraums ist aber die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers. Nach dem
dritten Prinzip, dem Kollegialprinzip, gehen Entscheidungen des Kabinetts als Kol-
legialorgan einzelnen Entscheidungen eines Bundesministers vor.
b) Verwaltung
Die Verwaltung erfolgt nach dem System der vertikalen Gewaltenteilung auf drei Ebenen: Bund, Länder und Kommunen. Die Kommunen besitzen das Recht zur
Selbstverwaltung im Rahmen der Gesetze. Der Vollzug von Landesgesetzen erfolgt
durch die Länder selbst, die eine eigene Verwaltung besitzen. Bundesgesetze wer-den grundsätzlich ebenfalls durch die Länder vollzogen (Art. 83, 84 GG). Dane-
ben gibt es den Landesvollzug von Bundesgesetzen im Auftrag des Bundes, die so
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genannten Bundesauftragesverwaltung (Art. 85 GG) und den bundeseigenen Vollzug
von Bundesgesetzen (Art. 86 GG).
c) Bundespräsident
Im Gegensatz zum Präsidenten in der Weimarer Reichsverfassung hat der Bundes-
präsident nur geringe Machtbefugnisse. Seine Stärke liegt vielmehr in seiner Re-präsentationsfunktion und in seiner Integrationsfunktion. Er ist das Staatsober-haupt der Bundesrepublik Deutschland und repräsentiert den Staat nach außen. Zu-
gleich obliegen ihm einige staatsnotarielle Funktionen: die Ausfertigung von Geset-
zen sowie die Ernennung und Entlassung von Mitgliedern der Bundesregierung. Er
hat zudem eine Reservefunktion.
In Situationen politischer Instabilität erhält der Bundespräsident gewisse Befugnis-se. Dazu gehört, wie bereits erwähnt, die Situation, wenn sich nach einer Bundes-tagswahl keine absolute Mehrheit für die Wahl eines Bundeskanzlers findet. Um
eine Minderheitsregierung zu verhindern, kann der Bundespräsident nach seinem
Ermessen entweder den Bundeskanzler, der von einer Minderheit gewählt wurde,
ernennen oder den Bundestag auflösen. Wenn der Bundeskanzler auf seinen An-trag gegenüber dem Bundestag, ihm das Vertrauen auszusprechen, keine posi-tive Antwort erhält, d.h. die Mehrheit der Mitglieder des Parlaments nicht mehr hin-
ter der Regierung steht, kann der Bundespräsident ebenfalls auf Vorschlag des Bun-
deskanzlers den Bundestag auflösen und Neuwahlen ansetzen. Der Bundespräsi-
dent kann darüber hinaus den Gesetzgebungsnotstand nach Art. 81 GG erklären.
Dies ist allerdings in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nicht vor-
gekommen.
Dem Bundespräsidenten obliegt ein Gebot der Zurückhaltung in politischen Fra-gen. Er soll ein Organ sein, das über den Auseinandersetzungen der politischen Par-
teien steht. Damit der Bundespräsident keine eigene, der Richtung der Bundesregie-
rung zuwider laufende Politik betreibt, ist er nach Art. 58 GG zur Gegenzeichnung verpflichtet. Das heißt, der Bundeskanzler muss alle politisch relevanten Akte des
Bundespräsidenten unabhängig von ihrer rechtlichen Relevanz gegenzeichnen. Je
stärker die dominierende Stellung des Reichspräsidenten aus der Weimarer Republik
gegenüber der eigenständigen Entwicklung des Bundespräsidentenamtes in der
Bundesrepublik historisch verblasst, desto restriktiver legt man Art. 58 GG allerdings
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aus und lässt damit dem Bundespräsidenten die Möglichkeit einer eigenverantwortli-
chen Wahrnehmung seines Amtes.
Da der Bundespräsident eine Integrationsfigur für alle Bürger darstellen soll, muss
er auch eine gewisse Unabhängigkeit von der Bundesregierung besitzen. Die Integ-
rations- und Vermittlungsfunktion des Bundespräsidenten würde konterkariert, wenn
die Bürger den Bundespräsidenten als bloßes Sprachrohr der Bundesregierung
wahrnehmen würden. Die Gefahr einer politisch zu starken Stellung des Bundesprä-
sidenten besteht angesichts der geringen Kompetenzen, die dem Bundespräsidenten
nach dem Grundgesetz zustehen, nicht. Die Macht des Bundespräsidenten liegt im
Wesentlichen im Wort begründet.
Nach dem Gebot der Verfassungsorgantreue hat die Bundesregierung aber einen
Anspruch darauf, dass sich der Bundespräsident nicht in die Tagespolitik einmischt
und nicht offen gegen die Regierung Stellung bezieht. Im Einzelfall ist die verfas-
sungsrechtliche Beurteilung, ob sich eine politische Willensäußerung des Bundes-
präsidenten noch in dem von Art. 58 GG in Verbindung mit dem Gebot der Rück-
sichtnahme gezogenen Rahmen bewegt oder ob bereits die Schwelle zu einer ei-
genständigen Politik des Bundespräsidenten, die mit seiner Funktion als Staatsober-
haupt gerade nicht einhergehen soll, überschritten wird, eine schmale Gradwande-
rung. Allerdings hat sich in der Praxis – zumindest bisher – noch kein offener Streit
zwischen Bundespräsident und Bundesregierung um die Grenzen des Art. 58 GG
entzündet. Ob der Bundespräsident mit seinen politischen Äußerungen die Schwelle
einer für die Bundesregierung unzumutbaren politischen Profilierung bereits über-
schritten hat, kann die Bundesregierung im äußerten Fall im Wege eines Organ-
streitverfahrens durch das Bundesverfassungsgericht klären lassen (zum Bundesver-
fassungsgericht und den Verfahren vor dem Gericht gleich noch ausführlicher). Der
ehemalige Bundespräsident Horst Köhler, der ab 2004 das Amt bekleidete, war vor-
her geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds und legte dieses
Amt nieder, um Bundespräsident zu werden. Bewusste eigene Akzente bei der Amts-
führung des Bundespräsidenten sind üblich. Horst Köhler bezog besonders dezidiert
Stellung zu politischen Themen und übte sich nicht in Zurückhaltung, sondern äußert
sich auch zu tagespolitischen Themen. Nunmehr ist nach Christian Wulff, der auf
Grund der sog. „Wulff-Affäre“ nach einer nur sehr kurzen Amtszeit zurückgetreten
war, Joachim Gauck zum Bundespräsident gewählt worden.
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3. Judikative
Die Rechtsprechung ist funktionsmäßig und organisatorisch klar von den übrigen
Gewalten geschieden. Gemäß Art. 92 GG ist die rechtsprechende Gewalt den Rich-
tern anvertraut und wird durch die Gerichte ausgeübt. Die Stellung des Richters ist
nach der Verfassung eine ganz besondere: Der Richter ist gemäß Art. 97 GG sach-lich und persönlich unabhängig. Der Bürger hat mit den Justizgrundrechten ei-
nen Anspruch darauf, dass dieses System eingehalten wird. Art. 101 Abs. 1 GG ver-
leiht dem Bürger einen Anspruch auf den gesetzlichen Richter. Art. 103 Abs. 1 GG
gewährt einen Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht. Hinzu kommt die Garan-
tie eines effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG, wonach der Bürger ge-
gen Akte der öffentlichen Gewalt, die ihn in seinen Rechten verletzen, vor Gericht
vorgehen kann.
a) Gerichtssystem
Das Gerichtssystem in Deutschland besteht aus verschiedenen Gerichtszweigen.
Die Verfassungsgerichtsbarkeit wird vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe
und den Landesverfassungsgerichten der einzelnen Bundesländer ausgeübt. Das
Bundesverfassungsgericht ist dabei für die Anwendung und Auslegung des Grund-
gesetzes zuständig. Ansonsten bestehen fünf Gerichtszweige: Die ordentliche Ge-
richtsbarkeit für Zivil- und Strafsachen, die Arbeitsgerichtsbarkeit, die Verwaltungsge-
richtsbarkeit, die Finanzgerichtsbarkeit und die Sozialgerichtsbarkeit. In jedem Ge-
richtszweig gibt es einen Instanzenzug, der dem Bürger nach Art. 19 Abs. 4 GG
offen steht. Der Bürger kann also zunächst die Gerichte der Länder anrufen, etwa in
der Verwaltungsgerichtsbarkeit zunächst das Verwaltungsgericht des Landes, dann
das Oberverwaltungsgericht des Landes und schließlich das Bundesverwaltungsge-
richt in Leipzig (www.bverwg.de). Alle Gerichtszweige besitzen einen obersten Ge-
richtshof des Bundes: Bundesgerichtshof (Zivil- und Strafsachen) in Karlsruhe, Bun-
desarbeitsgericht, Bundesverwaltungsgericht, Bundesfinanzhof und Bundessozialge-
richt.
b) Bundesverfassungsgericht
Im Folgenden soll das Bundesverfassungsgericht (www.bverfg.de) näher vorgestellt
werden, da es eine hervorgehobene Bedeutung für das Verfassungssystem be-
sitzt. Das Bundesverfassungsgericht ist ein Verfassungsorgan. Es verwaltet sich
selbst und untersteht keiner Dienstaufsicht eines Ministeriums. Für das politische
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System der BRD besitzt es eine überragend wichtige Bedeutung. Hinzu kommt das
große Ansehen, welches das Bundesverfassungsgericht in der Bevölkerung ge-
nießt. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts entfalten zudem Ausstrah-lungswirkung in Europa und in der Welt. So ist Art. 1 der Europäischen Grund-
rechte-Charta gleichlautend mit Art. 1 Grundgesetz, der die Würde des Menschen in
das Zentrum des deutschen Rechtssystems rückt.
Das Bundesverfassungsgericht besteht aus 2 Senaten mit jeweils 8 Richtern. Die
Richter werden zur Hälfte vom Bundestag und zur Hälfte vom Bundesrat jeweils mit
2/3 Mehrheit gewählt. Ihre Amtszeit beträgt zwölf Jahre, eine Wiederwahl ist aus-geschlossen. Damit wird die Abhängigkeit der Richter von der Politik verhindert. Je-
dem Richter stehen vier wissenschaftliche Mitarbeiter zu Verfügung, die ihm zuar-
beiten und die der Verfassungsrichter selbst auswählen kann (so genannter „Dritter
Senat“). Häufig werden die Stellen als Bundesverfassungsrichter mit Richtern von anderen Bundesgerichten besetzt, aber auch etwa mit Wissenschaftlern.
Die wichtigsten Verfahrensarten vor dem Bundesverfassungsgericht werden in
Art. 93 GG aufgeführt. Bei der abstrakten Normenkontrolle können die Bundesre-
gierung, eine Landesregierung oder ein Drittel der Mitglieder des Bundestages beim
Bundesverfassungsgericht einen Antrag auf Überprüfung der Vereinbarkeit von Bun-
des- oder Landesrecht mit dem Grundgesetz stellen. Das Bundesverfassungsgericht
kann im Falle eines Verstoßes gegen das Grundgesetz auch ein Gesetz für nichtig erklären. Die Entscheidung wirkt nicht nur gegenüber den Parteien, sondern allge-
mein und hat Gesetzeskraft.
Im Falle der konkreten Normenkontrolle (Richtervorlage) nach Art. 100 GG hält
ein Gericht ein Gesetz, welches das Gericht bei seiner Entscheidung anwenden
muss, für verfassungswidrig. Das Gericht muss sein Verfahren dann aussetzen und
die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einholen, ob die Norm verfas-
sungswidrig ist. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kann das
Gericht dann seinen Rechtsstreit entscheiden. Dem Bundesverfassungsgericht
kommt ein Verwerfungsmonopol bei Gesetzen zu.
Im Organstreitverfahren entscheidet das Bundesverfassungsgericht im Rechtsstreit
zwischen den obersten Bundesorganen oder anderen Beteiligten, die das Grundge-
setz mit eigenen Rechten ausstattet. So würde das Bundesverfassungsgericht etwa
in einem Streit zwischen dem Bundespräsidenten und der Bundesregierung über die
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politischen Äußerungsmöglichkeiten des Bundespräsidenten entscheiden – dieser
spezielle Fall ist allerdings bisher in der Praxis noch nicht vorgekommen. Antragsbe-
rechtigt im Organstreitverfahren sind aber auch einzelne Abgeordnete. Auch eine
Fraktion kann ein Organstreitverfahren führen, etwa im Streit um die ihr zustehende
Redezeit im Parlament.
Im Bund-Länder-Streit streiten Bund und Länder um die Rechte und Pflichten des
Bundes einerseits und der Länder andererseits. Häufigster Anwendungsfall des
Bund-Länder-Streits ist die Ausführung von Bundesrecht durch die Länder. In diesem
Fall kann es zum Streit kommen, wer welche Regelungen treffen darf. Der Bund-
Länder-Streit verschafft dem föderalen Prinzip prozessual Geltung und gestaltet
sich daher als ein Verfahren für die Durchsetzung von Rechten des Bundes und der
Länder.
Das wichtigste und mit Abstand häufigste Verfahren vor dem Bundesverfassungs-
gericht ist die Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG. Verfas-
sungsbeschwerden können von „jedermann“ erhoben werden mit der Behauptung,
durch die öffentliche Gewalt in einem Grundrecht verletzt worden zu sein. Vorher
muss allerdings der Rechtsweg erschöpft worden sein. Zwar sind nur ca. 2,5 % der
Verfassungsbeschwerden erfolgreich. Es handelt sich aber oft um politisch beson-ders wichtige Verfahren mit einer breiten Öffentlichkeitswirkung. Zwischen 1951
und 2005 sind beim Bundesverfassungsgericht über 157.000 Anträge eingegangen,
davon mehr als 151.000 Verfassungsbeschwerden. Die Verfassungsbeschwerde ist
auch der Grund für das hohe Vertrauen, das die Bürger dem Bundesverfassungsge-
richt entgegenbringen, weil sie wissen, dass sie sich direkt (auch ohne Anwalt) an
das Bundesverfassungsgericht wenden können.
C. Europarecht
I. Abgrenzung der einzelnen Rechtsmaterien im Europarecht
1. Abgrenzung des EU-Rechts vom Europarat
Grundsätzlich muss man das Recht der Europäischen Union von anderen Formen
des auf Europa bezogenen Völkerrechts unterscheiden. Die wichtigste andere Orga-
nisation in Bezug auf Europa ist der Europarat. Diese Organisation mit Sitz in Straß-
burg ist 1949 als erste Organisation in Bezug auf Europa gegründet worden. Aufgabe
des Europarats ist es, die Verbindung zwischen den Staaten Europas auf rechts-
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staatlichem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiet zu fördern. Der Europarat hat
zurzeit 47 Mitglieder, und einen Beitrittskandidaten (Weißrussland). Das sind fast
alle Staaten Europas einschließlich der Türkei und Russland.
Kernstück des Europarats ist die Europäische Menschenrechtskonvention, ein
multilateraler völkerrechtlicher Vertrag. Die Europäische Menschenrechtskonven-
tion schützt wesentliche Grund- und Menschenrechte in einem relativ umfassenden
Katalog. Geschützt werden diese Rechte durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrecht, den jeder Mitgliedstaat und jeder Bürger, der der Hoheitsgewalt
eines Mitgliedstaates unterliegt, anrufen kann. Die Entscheidungen des EGMR sind
gemäß Art.46 EMRK für die Vertragsparteien verbindlich. In der Praxis hat die EMRK
in Europa zu einer deutlichen Verbesserung des Schutzes der Menschenrechte
geführt, auch in Deutschland haben die vom angelsächsischen Rechte beeinflussten
Verfahrensrechte, etwa das „fair trial-Prinzip“, Auswirkungen auf das GG genommen.
In der EU wirkt die EMRK über Art.6 Abs.2 EUV Lissabon (Art. 6 Absatz 2 EUV a.F.)
auch auf den Grundrechtsstandard in der Union ein.
2. Die Europäische Union
Bis zum Vertrag von Lissabon musste man das Recht der EU selbst vom Recht der
drei Gemeinschaften EG, EGKS und Euratom abgrenzen. Die Union bestand aus
drei Säulen. Die erste Säule umfasste die EG und Euratom. Der EGKS-Vertrag ist
2002 ausgelaufen. Die zweite Säule enthielt die gemeinsame Außen- und Sicher-
heitspolitik (GASP) und die dritte Säule die polizeiliche und justizielle Zusammenar-
beit in Strafsachen (PJZS). Die EU selbst war im Verhältnis zu Drittstaaten keine in-
ternationale Organisation, sie hatte keine eigene Rechtspersönlichkeit.
Mit dem Vertrag von Lissabon hat sich die Rechtslage entscheidend geändert.
Dieser Vertrag ist am 1.12.2009 in Kraft getreten. Nunmehr bestehen als geschrie-
benes Primärrecht nur noch der EU-Vertrag und der Vertrag über die Arbeitsweise
der EU (AEU). Die Union besitzt Rechtsfähigkeit und tritt an die Stelle der Ge-
meinschaft, deren Rechtsnachfolgerin sie gemäß Art. 1 EU ist. Die EU ist auch nach
innen organisiert. Ihre Organe sind gemäß Art.13 EU die ehemaligen Organe der
Gemeinschaft, also Parlament, Rat Kommission, Gerichtshof, Europäische Zentral-
bank und Rechnungshof sowie zusätzlich der Europäische Rat, dessen Aufgaben
und Zusammensetzung Art. 15 EU regelt.
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36
II. Rechtsquellen des Unionsrechts
Das Unionsrecht kennt genauso wie das innerstaatliche Recht einen Stufenaufbau
der Rechtsnormen (Normenpyramide). Dabei ist die jeweils rangniedere Rechts-
norm an die ranghöhere Rechtsnorm gebunden, das heißt, ist die rangniedere Nor-
men mit der ranghöheren Norm inhaltlich nicht vereinbar, so ist sie unwirksam. An der Spitze des Unionsrechts stehen nunmehr gleichrangig der EU-Vertrag und der
Vertrag über die Arbeitsweise der EU, das sogenannte Primärrecht. Zum pri-
mären Unionsrecht gehören auch die so genannten allgemeinen Rechtsgrundsätze.
Hierzu zählen etwa die von EuGH in seiner Rechtsprechung entwickelten Grundrech-
te. Zudem kommt der EU-Grundrechtecharta gemäß Art. 6 Abs. 1 EU der gleiche
Rang wie den Verträgen zu. Auf der zweiten Stufe stehen die völkerrechtlichen Abkommen, welche die Union mit anderen Völkerrechtssubjekten geschlossen hat.
Sie binden gemäß Art. 216 Abs. 2 AEU die Organe der Union, sind also bei deren
Handlungen zu beachten. Unterhalb des primären Unionsrechts und den völker-
rechtlichen Verträgen stehen die von den Unionsorganen erlassenen Rechtsakte,
das so genannte sekundäre Unionsrecht. Dies sind gemäß Art. 288 AEU Verord-
nungen, Richtlinien, Entscheidungen und in abgeschwächter Form Empfehlungen
und Stellungnahmen.
III. Unmittelbare Geltung des Unionsrechts
Seit der grundlegenden Entscheidung van Gend & Loos des Europäischen Gerichts-
hofs aus dem Jahr 1963 ist anerkannt, dass einige Vorschriften der damaligen Ge-
meinschaftsverträge, nunmehr des EU und des AEU nicht nur, wie das sonst bei völ-
kerrechtlichen Verträgen üblich ist, die Mitgliedstaaten als Vertragsparteien binden,
sondern dass sie auch unmittelbar im Verhältnis zu den Bürgern Anwendung finden. Dies gilt insbesondere für die sogenannten Marktfreiheiten (die oben ge-
nannte Entscheidung bezog sich auf das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEU
(Art.12 EG a. F.). Das bedeutet, dass sich die Bürger in den Mitgliedstaaten gegen
Akte der Organe ihres Heimatstaates auf diese Marktfreiheiten berufen können.
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37
IV. Grundrechtsschutz in der Union
1. Historische Entwicklung
Die Diskussion um den Grundrechtsschutz im Unionsrecht betrifft solche Rechte, die
sich gegen die Gemeinschaft und ihre Organe wenden. Solche Grundrechte haben
die Gemeinschaftsverträge ursprünglich nicht gekannt.
Als 1950 die Montanunion gegründet wurde, war für die Mitgliedstaaten das Erfor-
dernis nach Grundrechtsschutz noch nicht so offenkundig. Ziel dieses Vertrags war
die Errichtung eines gemeinsamen Marktes für Kohle und Stahl und die Abschaffung
von Zöllen und Kontingentierungsregelungen in diesem Industriezweig. Die Montan-
union war deshalb in erster Linie ein wirtschaftlicher Zweckverband, der die Rechts-
verhältnisse der betroffenen Unternehmen regeln wollte. Der Eingriff in Grundrechte
war zwar möglich, in Anbetracht der nur begrenzten Zuständigkeiten der Organe der
EGKS wurde dies jedoch nicht als erhebliches Problem empfunden.
Diese Auffassung hatte sich 1957 beim Abschluss der Römischen Verträge noch
nicht geändert. Auch die Euratom und die EWG waren ursprünglich als rein wirt-
schaftliche Zusammenschlüsse geplant, deren beschränkte Regelungsgegenstände
dem Bewusstsein für die grundrechtliche Relevanz ihres Handelns entgegen stand.
Diese Haltung wurde auch dadurch begünstigt, dass das Verhältnis des Gemein-
schaftsrechts zum Recht der Mitgliedstaaten und damit auch die Möglichkeit des
Rückgriffs auf nationale Grundrechte gegen Akte von Gemeinschaftsorganen auf
Gemeinschaftsebene noch nicht eindeutig im Sinne des absoluten Vorrangs des
Gemeinschaftsrechts geklärt war. Hinzu kam noch eine andere Erwägung. Die Mit-
gliedstaaten wollten wohl den Europäischen Wirtschaftsgemeinschaften nicht durch
die Schaffung eines Grundrechtskatalogs den Anstrich von staatsähnlichen Gebilden
geben.
2. Vorrang des Unionsrechts und Grundrechtsschutz
In der Rechtsprechung des EuGH spielte der gemeinschaftsrechtliche Grundrechts-
schutz erstmals in der Entscheidung Stork ./. Hohe Behörde1 eine Rolle. In diesem
Urteil vom 4.2.1959 lehnte der EuGH noch die Gewährung von Grundrechts-schutz ab. Dabei stellte er sich auch auf den Standpunkt, dass die Verfassungsord-
1 Slg. 1959, S.43.
Prof. Dr. Dieter Dörr - 38 - Deutsches Verfassungsrecht in Europa http://www.jura.uni-mainz.de/doerr Skript
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nungen der Mitgliedstaaten und der dort verankerte Grundrechtsschutz kein Maßstab
für die Beurteilung von Gemeinschaftsrecht sein können. Nur das Gemeinschafts-
recht selbst könne zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Ge-
meinschaftsorgane herangezogen werden. Bestimmendes Motiv für den EuGH war
die Wahrung der Einheitlichkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung, die durch die Her-
anziehung des unterschiedlich ausgeformten nationalen Verfassungsrechts für ihn in
Frage gestellt war.
Die Selbständigkeit des Gemeinschaftsrechts gegenüber den nationalen Rechtsord-
nungen hat der EuGH dann in den Jahren 1963 und 1964 in den Entscheidungen
Van Gend & Loos2 und Costa/E.N.E.L3 theoretisch vertieft. Der EuGH stellte dort
fest, dass das Gemeinschaftsrecht aus einer von den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten geschiedenen, autonomen Rechtsquelle fließe, in seiner Geltung
unabhängig vom Recht der Mitgliedstaaten sei. Im Verhältnis zum nationalen Recht
genieße das Gemeinschaftsrecht einen Vorrang, der jede Beurteilung von Akten der
Gemeinschaftsorgane am Maßstab nationalen Rechts verbiete.
Da sich die Union heute aber nicht nur als Wirtschaftsgemeinschaft, sondern auch
als Rechts- und Wertegemeinschaft versteht, ist der vom EuGH angenommenen
Anwendungsvorrang des Europarechts aber nur dann mit rechtsstaatlichen und
demokratischen Grundsätzen vereinbar, wenn das Unionsrecht selbst einen Grund-
rechtsschutz gewährleisten kann. Der EuGH sah sich durch die Gefahr, dass ohne
einen gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutz, Rechtsschutz in den nationalen
Verfassungen gesucht würde, gezwungen einen Grundrechtsschutz zu entwickeln
bzw. die Geltung von Gemeinschaftsgrundrechten festzustellen.
Dies geschah nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Solange I-Entscheidung (E 37,
271) des Bundesverfassungsgerichts und der Entscheidung Frontini des italie-nischen Corte Costitutionale. In der Solange I-Entscheidung hat das BVerfG - an-
ders als der Europäische Gerichtshof - die Auffassung vertreten, dass das Gemein-
schaftsrecht sich zumindest an einem Kernbereich der deutschen Verfassung mes-
sen lassen muss. Damit hat es sich den Weg eröffnet, insbesondere die Grundrechte
des Grundgesetzes zum Maßstab für die Rechtmäßigkeit des sekundären Gemein-
2 Slg. 1963, S.1. 3 Slg. 1964, S.1251.
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schaftsrechts zu machen. Zugleich hat es aber mit der Solange-Formel, auch ein
Angebot an den Europäischen Gerichtshof gemacht, durch die Gewährleistung von
Grundrechten auf der Gemeinschaftsebene die Prüfung durch das Bundesverfas-
sungsgericht am Maßstab des Grundgesetzes zu vermeiden. Einen vergleichbaren
Grundrechtsvorbehalt hat der italienische Corte Costitutionale im Fall Frontini ange-
bracht.
Dies führte dazu, dass der EuGH erstmals im Fall Stauder aus dem Jahr 1969
Grundrechte erwähnte, indem er auf die in den allgemeinen Grundsätzen der Ge-
meinschaftsrechtsordnung enthaltenen Grundrechte verwies. Obgleich er sich in die-
ser Entscheidung auf eine Methode zur Ableitung solcher allgemeinen Grundsätze
nicht festlegte, sprach er sich generell für die Geltung von Gemeinschaftsgrundrech-
ten aus. Erst aus dem Urteil Nold aus dem Jahre 1974 lässt sich erkennen, dass der
EuGH die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als Grundlage zur Ermittlung der Gemeinschaftsgrundrechte als allgemeiner
Rechtsgrundsätze heranzog. Dort heißt es: „Der Gerichtshof hat bereits entschieden,
dass die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, die er zu
wahren hat, und dass er bei der Gewährleistung dieser Rechte von den gemeinsa-
men Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten auszugehen hat.“
Gleichzeitig nahm der EuGH darin, wenn auch noch mit einer gewissen Zurückhal-
tung auf die Europäische Menschenrechtskonvention Bezug. Anlass für die Ein-
beziehung der EMRK war der Beitritt Frankreichs 1974 zur EMRK als letzter Mit-
gliedstaat der EG. Die Europäische Menschenrechtskonvention konnte somit, da von
allen Mitgliedstaaten ratifiziert, als Ausdruck gemeinsamer Rechtsüberzeugung
als Maßstab dienen. Die nachfolgende Rechtsprechung, was die Urteile Rutili, Hau-er und Hoechst belegen, hat sich dann dahingehend verdichtet, dass sie die EMRK
ausdrücklich zur Konkretisierung der Gemeinschaftsgrundrechte heranzieht und da-
mit als eigene Erkenntnisquelle neben den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaa-
ten anerkennt. Als unmittelbar anwendbare Rechtsquelle können die Verfassungen
der Mitgliedstaaten nicht dienen, da das EG-Recht nach der Costa/E.N.E.L.- Ent-
scheidung im Rang über nationalem Recht, also auch über dem nationalen Verfas-
sungsrecht steht. Die EMRK deshalb nicht, weil die EG nicht Mitglied der EMRK ist.
Der EuGH stellt folglich unter Anwendung der allgemeinen Rechtsgrundsätze die
Geltung von Gemeinschaftsgrundrechten fest.
Prof. Dr. Dieter Dörr - 40 - Deutsches Verfassungsrecht in Europa http://www.jura.uni-mainz.de/doerr Skript
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3. Kompetenz des EuGH
Trotz des Fehlens einer ausdrücklichen materiellen Grundlage wird in der Literatur
überwiegend davon ausgegangen, dass dem EuGH eine Kompetenz zur Entwick-lung allgemeiner Rechtsgrundsätze aus Art. 220 EG a.F. (nunmehr Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EU) zukommt. Wegen des im Unionsvertrag immer noch geltenden Prinzips
der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 EU) ist dieser Begründungsansatz jedoch
nicht ganz ohne Kritik hinzunehmen. Letztlich wird man jedoch sagen müssen, dass
die vom EuGH ausgeübte Grundrechtsprechung, obgleich eine solche Kompetenz
nicht ausdrücklich in den Verträgen genannt, aber auf die Akzeptanz der Mitglied-staaten gestoßen ist und somit von einer stillschweigenden Vertragsänderung zu-
gunsten des EuGH gesprochen werden kann.
Ihre grundsätzliche Akzeptanz haben die Mitgliedstaaten zum ersten Mal durch die
1978 abgegebene Erklärung zur Demokratie deutlich gemacht, in der sich die
Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten einer gemeinsamen Erklärung von
Rat, Kommission und Europäischen Parlament angeschlossen haben, in denen die-
se Organe ihre Bereitschaft zum Ausdruck bringen, die Grundrechte anzuerkennen
und zu achten.
4. Bindung der Union an die EMRK und an die Rechtsprechung des EGMR
Vor dem 01. Dezember 2009, also vor der Geltung des neuen EU-Vertrages, war
eine Bindung der EU an die EMRK nicht so einfach zu erklären. Da die Europäische Gemeinschaft bisher kein Mitglied der EMRK ist, kann aus Art.6 Abs.2 EUV a. F.
nicht auf eine unmittelbare Bindung der Europäischen Gemeinschaften an die EMRK
geschlossen werden. Der Europäische Gerichtshof hat es in einem Gutachten aus
dem Jahr 1996 ausdrücklich abgelehnt, dass die Europäischen Gemeinschaften auf
der Grundlage des geltenden Gemeinschaftsrechts Mitglied der Europäischen Men-
schenrechtskonvention werden können. Grund für diese Entscheidung war, dass der
EuGH durch diesen Beitritt eine Änderung des kompetenziellen Gefüges der Gemeinschaften befürchtete. Damit ist gemeint, dass er sich nicht der Rechtspre-
chungshoheit des EGMR in Grundrechtsfragen unterwerfen will.
Dies ist für die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften nicht unbedenk-
lich. Erlassen die Organe der Union einen Akt des sekundären Rechts, so ist dieser
zwar nicht an die Europäische Menschenrechtskonvention gebunden. Muss dieser
Akt allerdings durch die Organe der Mitgliedstaaten, also vor allem durch die Verwal-
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tung und die Justiz umgesetzt werden, so ist dieser Umsetzung Akt als nationaler Vollzugsakt an die EMRK gebunden. Würde nun der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte den nationalen Umsetzungsakt als Verstoß gegen die EMRK quali-
fizieren und käme der Europäische Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass das Unions-
recht mit der EMRK vereinbar wäre, bestünde die Gefahr, dass der vollziehende
Mitgliedstaat entweder gegen das Gemeinschaftsrecht oder gegen die EMRK ver-
stoßen müsste.
Außerdem bleibt durch die fehlende Anbindung an die Rechtsprechung in Straßburg
der Maßstab für die Anwendung der EMRK im Unionsrecht unsicher. Es fehlt die
konkrete Anbindung an diesen geschriebenen Grundrechtskatalog und eine bereits
seit Jahrzehnten praktizierte Rechtsprechung.
Diese Problematik ist jedoch durch den Vertrag von Lissabon entschärft. Der neue
Art. 6 Absatz 2 EUV Lissabon sieht nämlich einen Beitritt der EU zur EMRK vor. Al-
lerdings bleibt abzuwarten, wann dieser Beitritt erfolgt.
V. Europäische Grundrechtecharta
Um das Fehlen eines geschriebenen Grundrechtskataloges zu beheben, hat der
Europäische Rat den Auftrag zur Erarbeitung einer Charta der Grundrechte der Eu-
ropäischen Union verabschiedet. In der Folgezeit ist durch das Europäische Parla-
ment, den Europäischen Rat, die Kommission und die Parlamente der Mitgliedstaa-
ten ein Gremium gebildet worden, das unter dem Vorsitz des ehemaligen deutschen
Bundespräsidenten Roman Herzog eine Grundrechtecharta ausgearbeitet hat.
Die „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ beginnt mit einer Präambel, in
der erklärt wird, dass durch diese Charta die Grundrechte „sichtbarer gemacht wer-
den sollen“. Als Inspirationsquellen nennt die Präambel die Verfassungsordnun-gen der Mitgliedstaaten, die EMRK, den EUV und die früheren Gemeinschaftsver-träge sowie die Rechtsprechung von EuGH und EGMR. Die Charta enthält eine
Fülle von Grundrechten. An der Spitze steht wie im Grundgesetz das Bekenntnis zur Würde des Menschen. Daran schließt sich ein Kanon klassischer Freiheits-rechte an, wie etwa die Religionsfreiheit, die Meinungsfreiheit, die Berufsfreiheit und
das Eigentumsrecht. Der dritte Teil ist der Gleichheit der Menschen gewidmet und
enthält ein in mehreren Artikeln näher präzisiertes Diskriminierungsverbot. Kapitel IV,
das mit „Solidarität“ überschrieben ist, nennt zudem eine Reihe sozialer Grundrech-te, wie das Recht auf Kündigungsschutz, das Recht auf gerechte und angemessene
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Arbeitsbedingungen, das Recht auf soziale Sicherheit, aber auch den Verbraucher-
schutz. Kapitel, das den Unionsbürgern vorbehalten ist gewährt unter der Überschrift
„Bürgerrechte“ das aktive und passive Wahlrecht zum Europaparlament, das Kom-
munalwahlrecht, ein Recht auf gute Verwaltung und andere mit der Unionsbürger-
schaft verbundene Rechte. Kapitel VI enthält justizielle Grundrechte, wie das Recht
auf einen gerechten Richter, die Unschuldsvermutung, den Satz nulla poena sine
lege und das ne bis in idem. Die Charta schließt mit Regelungen über ihren Anwen-
dungsbereich, die Beschränkbarkeit der Rechte, das Schutzniveau und das Verbot
des Missbrauchs der Rechte. Dabei ist insbesondere Art.51 Abs.2 zu erwähnen, der
bestimmt, dass diese Charta weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Gemeinschaft und für die Union schafft oder bestehende Zuständigkeiten
ändert. Und Art.52 Abs.3 stellt klar, dass die Charta in ihrem Schutzniveau nicht hin-
ter die Gewährleistungen der EMRK zurückbleibt, ein höheres Schutzniveau aber
denkbar ist.
Die Grundrechtecharta ist in Nizza auf der Tagung des Europäischen Rates in der
Form einer Deklaration verabschiedet wird. Damit wurde sie zunächst nur ein poli-tisches, nicht aber rechtlich unmittelbar wirksames Instrument. Unmittelbare recht-
liche Wirksamkeit hätte sie erlangt, wäre sie Teil des abgelehnten Verfassungsver-
trages geworden.
Nunmehr enthält aber der die Verfassung „ersetzende“ Vertrag von Lissabon in Art. 6 Abs. 1 EU einen Verweis, über den die Grundrechtecharta für verbindlich erklärt
wird. Mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon am 1.12.2009 ist die Grund-
rechtecharta damit verbindlich geworden und nimmt gemäß Art. 6 Abs. 1 EU auch
den gleichen Rang wie das Vertragsrecht ein.
D. Verhältnis Europarecht und deutsches Verfassungsrecht
I. Integration der Bundesrepublik in die Europäische Union
Eine besondere Ausprägung der Verwobenheit von nationalem und internationalem
Recht ist die Mitgliedschaft Deutschlands in internationalen und supranationalen Or-
ganisationen. Insbesondere solche internationale Organisationen, die für die Mit-
gliedstaaten verbindliche Beschlüsse fassen können, wie etwa die Vereinten Natio-
nen verlangen nach einer Organisation des Staates, die deren Befolgung sicherstellt.
Das internationale Recht hat in Gestalt der supranationalen Organisationen einen
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extrem hohen Verdichtungsgrad erreicht. Deutlichster Ausdruck dieser Verwobenheit
ist das Verhältnis der Bundesrepublik zur Europäischen Union und vorher auch zu
den Europäischen Gemeinschaften, das in Art. 23 GG geregelt ist. Dieses Verhältnis
hat sich über das übliche Maß internationaler Beziehungen hinaus zu einem derartig
hoch integrierten Verband entwickelt, dass die dabei geltenden Rechtsbeziehungen
von vielen bereits als staatsähnlich beschrieben werden. Die Besonderheit liegt da-
bei insbesondere darin begründet, dass nunmehr die Union (vorher die EG) im Ge-
gensatz zu sonstigen internationalen Organisationen Rechtsakte setzen kann, die unmittelbar in jedem Mitgliedstaat wirken und dort die Rechte der Bürger die-ser Staaten regeln.
II. Vorrang des Europarechts
1. Sichtweise des EuGH
Das Primärrecht der Union besteht aus völkerrechtlichen Verträgen, weshalb grund-
sätzlich Art.59 II GG zur Anwendung kommt. Allerdings weist der EuGH dem Primär-
recht in ständiger Rechtsprechung unmittelbare Geltung zu. Seit der grundlegenden
Entscheidung van Gend & Loos des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 1963
ist anerkannt, dass einige Vorschriften der Gemeinschaftsverträge nicht nur, wie das
sonst bei völkerrechtlichen Verträgen üblich ist, die Mitgliedstaaten als Vertragspar-
teien binden, sondern dass sie auch unmittelbar im Verhältnis zu den Bürgern Anwendung finden. Voraussetzung ist, dass die Normen
- ohne weitere Konkretisierung anwendbar sind,
- dass sie unbedingt sind
- dass keine weiteren Vollzugsmaßnahmen vorgesehen sind und
- dass kein Ermessensspielraum für die Mitgliedstaaten besteht
Dies gilt insbesondere für die sogenannten Grundfreiheiten. Das bedeutet, dass
sich die Bürger in den Mitgliedstaaten gegen Akte der Organe ihres Heimatstaates
auf diese Marktfreiheiten berufen können.
Die Selbständigkeit des damaligen Gemeinschaftsrechts gegenüber den nationalen
Rechtsordnungen hat der EuGH 1964 in der Entscheidung Costa/E.N.E.L (Slg.
1964, 1251) theoretisch vertieft. Der EuGH stellte dort fest, dass das Gemeinschafts-
recht, da aus einer von den Rechtsordnungen der Mitgliedsaaten geschiedenen, au-
tonomen Rechtsquelle fließe, in seiner Geltung unabhängig vom Recht der Mitglied-
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staaten sei. Im Verhältnis zum nationalen Recht genieße das Gemeinschaftsrecht
zudem einen Vorrang, der jede Beurteilung von Akten der Gemeinschaftsorgane am
Maßstab nationalen Rechts verbiete. Begründet wurde dieser Vorrang insbesondere
mit einem dem Gemeinschaftsrecht immanenten Integrationsgedanken. Zum We-
sen der Gemeinschaft (nunmehr der Union) gehöre es, die Rechtsordnungen der
Mitgliedstaaten zu vereinheitlichen, um einen fortschreitenden und sich vertiefenden
Zusammenschluss der Mitgliedstaaten nicht nur auf wirtschaftlichem sondern auch
auf politischem Gebiet zu ermöglichen. Diesem Integrationsgedanken könne nur
dann wirksam Rechnung getragen, wenn das Gemeinschaft den Anspruch erheben
könne, in jedem Mitgliedstaat in derselben Weise zu gelten. Dabei geht man davon
aus, dass es sich um einen bloßen so genannten Anwendungsvorrang – im Ge-
gensatz zum Geltungsvorrang – handelt. Das bedeutet, dem Europarecht entgegen-
stehendes deutsches Recht wird im Kollisionsfall nicht angewendet. Es tritt aber nicht
außer Kraft.
2. Sichtweise des BVerfG
Auch das BVerfG hat den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts (nun-mehr des Unionsrechts) kraft verfassungsrechtlicher Ermächtigung aus
Art. 23 Abs. 1 GG („innerstaatlicher Rechtsanwendungsbefehl“) iVm. ungeschriebe-
ner Kollisionsnorm des Gemeinschaftsrechts in Art. 288 AEU (Art. 249 EG a. F.) und
Art. 4 Absatz 3 Satz 2 EU (Art. 10 EG a. F.) grundsätzlich vorbehaltlos anerkannt. Daraus folgt auch, dass die nationalen Gerichte und die Verwaltung eine Verwer-
fungskompetenz bezüglich gemeinschaftsrechtswidriger nationaler Gesetze haben.
Dies führt aber nach Ansicht des BVerfG nicht dazu, dass keinerlei Bindung an die
Verfassung besteht. Dies verdeutlicht bereits der Text des Art. 23 GG, der die Betei-
ligung Deutschlands an der EU von bestimmten Voraussetzungen abhängig macht.
III. Europarecht und die Grundrechte des Grundgesetzes
1. Allgemeines
Umstritten war von Beginn an, ob und inwieweit das Gemeinschafts- bzw. Uni-onsrecht an die Grundrechte des Grundgesetzes gebunden ist und dem Bun-desverfassungsgericht die Kompetenz zukommt, dies zu kontrollieren. Damit
beschäftigten sich die Entscheidungen Solange I (E 37, 271) und Solange II (BVer-
fGE 73, 339), die allerdings vor dem in Kraft treten des Art. 23 GG ergingen. Die
Grundrechte des Grundgesetzes wurden vom Bundesverfassungsgericht zum Maß-
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stab der Geltung des Gemeinschaftsrechts in der deutschen Rechtsordnung ge-
macht. Das Bundesverfassungsgericht hat in der Solange I-Entscheidung den
Grundrechtsschutz insgesamt als eine ”unaufgebbare, zur Verfassungsstruktur des
Grundgesetzes gehörende Essentialie” bezeichnet.
Allerdings galt dabei ein im Gegensatz zu rein innerstaatlichen Rechtsakten modifi-zierter Maßstab. Dieser modifizierte Maßstab wird nunmehr mit Art. 23 Abs.1 GG
begründet. Da dieser die Integration Deutschlands in die Europäische Gemeinschaft
zum Verfassungsziel erklärt, lässt er ausdrücklich auch eine Integration zu, in wel-
cher der strikte deutsche Grundrechtsstandard zugunsten eines durch die europäi-
schen Gegebenheiten modifizierten Grundrechtsstandards ersetzt wird. Da in den
Mitgliedstaaten der EU ein je unterschiedlicher Grundrechtsstandard gilt, kann
Deutschland nicht erwarten, dass ein europaweiter Grundrechtsstandard exakt den
Vorgaben des Grundgesetzes entspricht.
Zur Gewährleistung eines effektiven Grundrechtsschutzes gegenüber Akten der Eu-
ropäischen Gemeinschaften bzw. nunmehr der Union hat das Bundesverfassungsge-
richt eine Rechtsprechung entwickelt, die im Lauf der Zeit zur Zurückhaltung eige-ner Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht geführt hat.
2. Leitentscheidungen des BVerfG
BVerfGE 37, 271 ff, Solange I: „Solange der Integrationsprozess der Gemeinschaft
nicht so weit fortgeschritten ist, dass das Gemeinschaftsrecht auch einen von einem
Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden formulierten Katalog von Grund-
rechten enthält, der dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat ist, ist die Vorlage eines Gerichts der Bundesrepublik Deutschland an das Bundesverfas-sungsgericht zulässig und geboten, wenn das Gericht die für es entscheidungser-
hebliche Vorschrift des Gemeinschaftsrechts in der vom Europäischen Gerichtshof
gegebenen Auslegung für unanwendbar hält, weil und soweit sie mit einem der
Grundrechte des Grundgesetzes kollidiert.“
Das Problem an diesem Ansatz war, dass potentiell jedes nationale Verfas-sungsgericht sekundäres Gemeinschaftsrecht für unvereinbar mit nationalen Grundrechten und damit für unanwendbar erklären konnte. Von dieser für die
europäische Integration problematischen Rechtsprechung nimmt das BVerfG 1986
Abstand:
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BVerfGE 73, 339, 340 - Solange II: „Solange die Europäischen Gemeinschaften,
insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Gemeinschaften einen wirk-
samen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften
generell gewährleistet, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen
Grundrechtsschutz im wesentlichen gleich zu achten ist, zumal den Wesensgehalt
der Grundrechte generell verbürgt, wird das Bundesverfassungsgericht seine Ge-richtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte oder Behörden im Ho-
heitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte
des Grundgesetzes überprüfen; entsprechende Vorlagen nach Art. 100 Abs. 1 GG
sind somit unzulässig.“
Hintergrund dieser Wertung, dass nun ein dem deutschen Grundrechtsschutz nach
Konzeption, Inhalt und Wirkungsweise im wesentlichen vergleichbarer Grundrechts-
schutz auf europäischer Ebene bestehe, war die fortschreitende Entwicklung der Grundrechtssprechung des EuGH. Das Bundesverfassungsgericht nimmt so-lange dieser Zustand andauert von einer eigenen Kontrolle Abstand.
BVerfGE 89, 155, 274f.- Maastricht: „Das BVerfG gewährleistet durch seine Zu-
ständigkeit, dass ein wirksamer Schutz der Grundrechte der Einwohner Deutsch-
lands auch gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell sichergestellt
ist und dieser dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz
im wesentlichen gleich zu achten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte ge-
nerell verbürgt. Allerdings übt das BVerfG seine Gerichtsbarkeit über die Anwend-
barkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht in einem Kooperationsverhältnis
zum EuGH aus, in dem der EuGH den Grundrechtsschutz im Einzelfall für das ge-
samte Gebiet der Europäischen Gemeinschaften garantiert, das BVerfG sich deshalb
auf eine generelle Gewährleistung des unabdingbaren Grundrechtsstandards be-
schränken kann.“
Mit der Maastricht-Entscheidung reklamiert des BVerfG wieder ein Stück eigener Kontrolle. Es hält sich für berechtigt, in Deutschland unmittelbar geltendes Recht
der Gemeinschaft grundsätzlich zu kontrollieren. Die Formulierung des Art. 23 Abs. 1 GG (eingefügt durch Gesetz v. 12.12.1992) hat diese Rechtsprechung bekräf-
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tigt. Der Kontrollmaßstab ist dabei die Frage, ob der Grundrechtsschutz als im We-
sentlichen vergleichbar betrachtet werden kann.
Für die Zulässigkeit von Vorlagen der Fachgerichte zum BVerfG oder von Verfas-
sungsbeschwerden bedeutet dies: Bezogen auf das europäische Sekundärrecht und
seine Auswirkungen für die deutschen Grundrechte ist eventuell zu prüfen, ob eine
Unterschreitung des gem. Art. 23 I GG festgelegten Grundrechtsstandards fest-
zustellen ist. Wenn also der Grundrechtsstandard auf Gemeinschaftsebene mit dem
durch das deutsche Grundgesetz vorgeschriebenen Grundrechtsschutz im Wesentli-
chen nicht vergleichbar ist, wird die Prüfungskompetenz des BVerfG aktiviert. Da-
bei hat das BVerfG das Kooperationsverhältnis zum EuGH bei Grundrechtsfragen so
festgelegt, dass das BVerfG durch seine Zuständigkeit generell gewährleistet, dass
ein wirksamer Schutz der Grundrechte für die Einwohner Deutschlands auch gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften sichergestellt ist. Dies bedeu-
tet gleichzeitig, dass der EuGH in jedem Einzelfall für das gesamte Gebiet der Euro-
päischen Gemeinschaften den Grundrechtsschutz garantiert. Bei dieser Umschrei-
bung dieses Kooperationsverhältnisses erweist sich aber die Abgrenzung der Auf-gaben von BVerfG und EuGH und ihre Zuordnung als nicht ganz eindeutig. Zum
anderen blieb auch ungeklärt, was unter der Formel „dem vom Grundgesetz als un-
abdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleich zu achten zu ver-
stehen ist.“ Aufschluss darüber gibt indirekt der
Bananenmarktbeschluss, BVerfG, 2 BvL 1/97, NJW 2000, S. 3124:
„Vorlagen entsprechend Art. 100 GG (…) sind nur dann zulässig, wenn ihre Begrün-dung im Einzelnen darlegt, dass die gegenwärtige Rechtsentwicklung zum
Grundrechtsschutz im europäischen Gemeinschaftsrecht, insbesondere die Recht-
sprechung des EuGH, den jeweils als unabdingbar gebotenen Grundrechts-schutz generell nicht gewährleistet.“
Demnach trägt der Beschwerdeführer die Darlegungslast dafür, ob der Grund-
rechtsschutz in dem betreffenden Lebensbereich generell unterschritten ist. Dies er-
fordert eine Gegenüberstellung des Grundrechtsschutzes auf nationaler und auf Gemeinschaftsebene. Es muss demzufolge eine negative Entwicklung des Grund-
rechtsstandards in der Rechtsprechung des EuGH seit der Solange-II-Entscheidung
dargelegt werden und damit einhergehend das durch den EuGH gewährleistete
Schutzniveau mit dem Schutzniveau, welches durch das Grundgesetz und die
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Rechtsprechung des BVerfG erreicht ist, verglichen werden. Unabhängig von der
Frage, nach welchen materiellrechtlichen Kriterien ein im wesentlichen vergleichba-
rer Grundrechtsschutz zu beurteilen ist, trägt das Vorlagegericht oder der Beschwer-
deführer bei der Verfassungsbeschwerde eine Darlegungslast dafür, dass nicht nur
im Einzelfall, der z.B. Gegenstand der Normenkontrolle ist, der Grundrechtsschutz
unterschritten ist, sondern dass der Grundrechtsschutz in dem betreffenden Le-bensbereich generell unterschritten ist.
Wenn dies dem vorlegenden Gericht oder dem Beschwerdeführer nicht gelingt, ist
die Verfassungsbeschwerde oder die konkrete Normenkontrolle von vorneherein un-zulässig. So erklärte das BVerfG im Bananenmarktbeschluss die Vorlage des Ver-
waltungsgerichtes für unzulässig, da das Gericht seiner Darlegungspflicht nicht
nachgekommen war. Sachlich ging es um die Vereinbarkeit der Bananenmarkt-verordnung (VO 404/93 EWG) mit den Gewährleistungen der Art. 12, 14 GG. Die
Bananenmarktverordnung hatte der EuGH zuvor im Vorlageverfahren gem. Art 279
AEUV (Art. 243 EG a. F.) für europarechtkonform erklärt. Die Entscheidung des
BVerfG zeigt auf, dass der Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden und Normen-
kontrollverfahren gegen europäisches Sekundärrecht eine hohe, kaum zu erfüllen-de prozessuale Hürde entgegensteht.
Dabei ist anzunehmen, dass bei der Würdigung der Erfüllung dieser Darlegungslast
die Einschätzung der materiell rechtlichen Lage durch das BVerfG durchscheint. Da-
raus folgt aber auch, dass die Prüfungskompetenz des BVerfG bei Herabsinken des
durch den EuGH gewährleisteten Grundrechtsniveaus zu jeder Zeit wiederaufleben
kann. In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, dass das BVerfG aufgrund
der von vorneherein existierenden hohen Darlegungslast die Kriterien des „im we-
sentlichen vergleichbaren Grundrechtsstandards“ nicht fest umreißen muss. In sei-
nem Solange-II-Beschluss geht das BVerfG auf den Wesensgehalt der Grundrechte
ein, deren unantastbarer Kern nicht ausgehöhlt werden darf. Daraus folgt, dass
überhaupt ein dem deutschen Grundrecht vergleichbares Grundrecht existieren
muss. Aus der Bananenmarktentscheidung geht hervor, dass die „Verkennung“ eines (oder mehrerer) Gemeinschaftsgrundrechte durch den EuGH im Einzelfall auch künftig nicht zum Aufleben der Prüfungskompetenz des BVerfG führt. Das
BVerfG nimmt eine hinter der deutschen Grundrechtsprüfung zurückbleibende In-
haltsbestimmung einzelner Gemeinschaftsgrundrechte oder Abweichungen des
EuGH von der ausgefeilten deutschen Schrankensystematik hin, weil der Grund-
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rechtsschutz auf der Gemeinschaftsebene seiner Konzeption, seinem Inhalt und sei-
ner Wirkungsweise nach dem Grundrechtsstandard des Grundgesetzes im Wesentli-
chen gleichzustellen ist. So hat der EuGH bei der Prüfung der Bananenmarktordnung
auf ihre Vereinbarkeit mit den Gemeinschaftsgrundrechten einen Eingriff in das Ei-
gentumsrecht verneint, da es lediglich um die Beschneidung von Marktanteilen gin-
ge. Hier hätte das BVerfG unter Umständen eine andere Wertung vorgenommen,
genauso wie das BVerfG eine ausgefeilte Grundrechtsdogmatik entwickelt hat. Dies
betrifft vor allem die drei Stufen der Grundrechtsprüfung Schutzbereich, Eingriff und
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Die Schwachstellen der Grundrechtsprüfung durch
den EuGH wurden in der Literatur vielfach kritisiert. Auf der anderen Seite darf nicht
außer Acht gelassen werden, dass von der EU als supranationaler Organisation, die
den Grundrechtsschutz aus den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten ableitet,
kein dem deutschen Grundgesetz identischer, sondern ein durchschnittlicher Grund-
rechtsschutz erwartet werden kann. So betont auch das BVerfG, dass ein de-ckungsgleicher Schutz in den einzelnen Grundrechten des Grundgesetzes durch das europäische Gemeinschaftsrecht und die darauf fußende Recht-sprechung des EuGH nicht gefordert ist.
Die Rechtsprechung des BVerfG zur Grundrechtskontrolle europäischer Rechtsakte
anhand von Art. 23 GG ist in der Literatur auf Zustimmung und bei Kritikern gegen-
über einem zu tiefen Eingriff in die Souveränitätsrechte der Nationalstaaten auf Ab-
lehnung gestoßen. Abschließend lässt sich sagen, dass das BVerfG mit Maastricht
und dessen Konkretisierung durch den Bananenmarktbeschluss eine europarechts-freundliche, wenn auch theoretische Lösung gefunden hat, sich die Grundrechts-
kontrolle bei gravierenden Grundrechtsverletzungen durch die Gemeinschaftsorgane
anhand von Art. 23 GG vorzubehalten.
IV. Die Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten und die Kompe-tenzüberschreitung der Union
1. Lissabon-Urteil BVerfG vom 30.6.2009
„Das Grundgesetz ermächtigt den Gesetzgeber zwar zu einer weitreichenden Über-
tragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union. Die Ermächtigung steht aber
unter der Bedingung, dass dabei die souveräne Verfassungsstaatlichkeit auf der
Grundlage eines Integrationsprogramms nach dem Prinzip der begrenzten Ein-zelermächtigung und unter Achtung der verfassungsrechtlichen Identität als Mit-
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gliedstaaten gewahrt bleibt und zugleich die Mitgliedstaaten ihre Fähigkeit zu
selbstverantwortlicher politischer und sozialer Gestaltung der Lebensverhält-nisse nicht verlieren.“
Mit dem Urteil vom 30.06.2009 hat das Bundesverfassungsgericht über die Verein-
barkeit des Zustimmungsgesetzes zum Vertrag von Lissabon und der dazu ergange-
nen Begleitgesetzgebung mit dem Grundgesetz entschieden. Prüfungsmaßstab des
Urteils ist Art. 38 Absatz 1 Satz 1 GG, der Art. 1 Absatz 1 GG entspringt und damit
Teil der Ewigkeitsklausel nach § 79 Absatz 3 GG ist. Das Demokratieprinzip steht
einer Abwägung also grundsätzlich nicht offen. Dessen Ausgestaltung ist für die In-
tegration Deutschlands nach Europa jedoch offen. Eine Grenze bleibt jedoch die un-
verfügbare Verfassungsidentität nach Art. 79 Abs. 3 GG. Dies bedeutet, dass die
souveräne Verfassungsstaatlichkeit der Bundesrepublik erhalten bleiben muss.
Demnach muss die EU auch weiterhin auf dem Prinzip der begrenzten Einzeler-
mächtigung aufgebaut sein und darf keine Kompetenz-Kompetenz besitzen. Darüber
hinaus muss das Integrationsprogramm hinreichend bestimmt sein. Die EU darf kei-
ne Blankettermächtigung zur Ausübung öffentlicher Gewalt haben, demokratisch le-
gitimiert ist nämlich nur – wenn nicht das Volk selbst unmittelbar zur Entscheidung
berufen wurde – was parlamentarisch zu verantworten ist. Die Integrationsschritte
müssen sachlich begrenzt und grundsätzlich widerruflich sein.
Die Wahl der Abgeordneten des Deutschen Bundestages durch das Volk erfüllt nur
dann ihre tragende Rolle im System föderaler und supranationaler Herrschaftsver-
flechtung, wenn der das Volk repräsentierende Deutsche Bundestag einen gestal-
tenden Einfluss auf die politische Entwicklung in Deutschland behalten. Der Bundes-
tag muss deshalb eigene Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht be-
halten, insbesondere für Sachbereiche, die die Lebensumstände der Bürger, vor al-
lem ihren von den Grundrechten geschützten privaten Raum der Eigenverantwortung
und der persönlichen und sozialen Sicherheit prägen. Daraus folgt, dass eine Über-
tragung von Kompetenzen im Bereich des Strafrechts nur begrenzt möglich ist und
der Parlamentsvorbehalt für Auslandseinsätze der Bundeswehr, sowie das Budget-
recht des Bundestages erhalten werden müssen. Das Gleiche gilt für wesentliche
sozialpolitische Entscheidungen (z.B. Existenzsicherung des Einzelnen) und kulturel-
le Belange (z.B. Schulsysteme, Sprache, Familienrecht, Status von Kirchen). Auch
diese müssen innerhalb der Kompetenz des Bundestages verbleiben. Die EU muss
demnach also angemessen demokratisch ausgestaltet sein, wobei jedoch keine
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Kongruenz zum Grundgesetz erforderlich ist, sondern verschiedene Legitimations-
formen möglich sind, unter Einhaltung der eben dargelegten Grundsätze.
Das Bundesverfassungsgericht behält sich zudem vor Rechtsakte der EU dahinge-
hend zu überprüfen, ob sie sich in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheits-
rechte bewegen und diese Rechtsakte dann gegebenenfalls für unanwendbar erklä-
ren.
Das Zustimmungsgesetz entspricht diesen Anforderungen:
Die EU ist nicht staatsanalog aufgebaut
Es ist auch keine staatsanaloge demokratische Legitimation erforderlich
Eine Gleichheit der Wahl besteht
Das europäische Parlament ist bloße Vertretung der Völker der EU
Die souveräne Staatsgewalt der Mitgliedstaaten wird auch im Lissabon-
Vertrag gewahrt
Das Staatsgebiet der BRD bleibt erhalten
Das Staatsvolk bleibt erhalten
Die begrenzte Einzelermächtigung bleibt Grundprinzip der Kompetenzab-
grenzung
Es besteht ein Recht auf Austritt aus der EU
Das Bundesverfassungsgericht hat das Letztentscheidungsrecht, wenn es um
die Frage geht, ob die EU im Rahmen ihrer Kompetenzen handelt
Das Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und
des Bundesrates in Angelegenheiten der EU entspricht den Anforderungen des De-
mokratieprinzips nicht. Dem Bundestag und Bundesrat wurden in dem Gesetz keine
hinreichenden Beteiligungsrechte im Rahmen von Vertragsänderungs- und Recht-
setzungsverfahren eingeräumt.
Die Rechtsfolge des Urteils des Bundesverfassungsgerichts ist demnach: Die Ratifi-
kationsurkunde der Bundesrepublik Deutschland zum Vertrag von Lissabon durfte
erst nach der gesetzlichen Ausgestaltung der Beteiligungsrechte hinterlegt werden.
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2. Honeywell-Entscheidung des BVerfG vom 6.7.2010
Eine Ultra-vires-Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht, also die Kontrolle, ob
die EU ihre Kompetenzen überschritten hat, kommt nach der Honeywell-
Entscheidung vom 6. Juli 2010 nur in Betracht, wenn ein Kompetenzverstoß der eu-
ropäischen Organe hinreichend qualifiziert ist. Das setzt voraus, dass das kompe-tenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt
im Kompetenzgefüge zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zulasten der Mitgliedstaaten führt.
Bevor ein deutsches Gericht zu dem Ergebnis kommt, die Union sei aus ihren Kom-
petenzen "ausgebrochen", habe also ihre Kompetenzen offensichtlich überschritten,
ist dem Gerichtshof der Europäischen Union im Rahmen eines Vorabentscheidungs-
verfahrens nach Art. 267 AEUV die Gelegenheit zur Vertragsauslegung sowie zur
Entscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der fraglichen Handlungen zu
geben, soweit er die aufgeworfenen Fragen noch nicht geklärt hat.