17

’Die erheblichste Persönlichkeit unter den deutschen Künstlern’: Einstein über Klee

Embed Size (px)

Citation preview

CHARLES WERNER HAXTHAUSEN

"DIE ERHEBLICHSTE PERSÖNLICHKEIT UNTER DEN

DEUTSCHEN KÜNSTLERN": EINSTEIN ÜBER KLEE

"Solch ein Buch ist nicht ein Werk der Freude. Es ist eher eine destruktive Arbeit als eine rekonstruktive, die Epoche widerspiegelnd in der der große Krieg und seine Vorzeichen die markantesten Ereignisse waren." So schrieb ganz treffend der französische Rezensent Albert Dreyfus in seiner Besprechung der 1. Auflage von Carl Einsteins "Die Kunst des 20. Jahr­hunderts".1 Dreyfus verwies hier ganz zu Recht auf einen der noch heute geltenden Haupteindrücke von Einsteins Kunstgeschichte, und die "de­struktive" Tendenz dieser Arbeit wurde in der um fünf Jahre später er­schienenen 3. Auflage eher noch verschärft.2 Ganz wenige der von Ein­stein behandelten Künstler blieben von seiner ätzenden Kritik völlig ver­schont. Cézanne, beispielsweise, "scheiterte [...] letzten Endes an den Grenzen impressionistischer Reizbarkeit", "der Mensch ist wie ein Stilleben, Motiv, weiter nichts" (BA 5, 53). Van Gogh "bietet eine Art farbige Graphik, doch die Ekstase dringt kaum zu völliger Verwandlung; bei aller Lyrik verarmt die Gestalt" (BA 5, 56). Henri Matisse ging es nicht besser: Er "blieb in seiner Bildordnung Akademiker und im Malerischen raffinierter Dekorateur" (BA 5, 60). Piet Mondrian sei in seinen kahlen Abstraktionen der Prediger eines "protestantischen Vakuums" (BA 5, 237). In den Gemälden der russischen Konstruktivisten, meinte der engagierte Linke Einstein, "steckt mehr politische Gläubigkeit als Malerei", ihre Bil­der seien "hygienische Standardbilder [...][,] Exzesse pedantischer Ord­nung" (BA 5, 236, 238). Besonders hart ging Einstein mit den Deutschen

' Albert Dreyfus: Deux études allemandes sur l'art contemporain (1926): "Un tel livre n'est pas une œuvre de joie. C'est une étude destructive plus que reconstructive, reflétant l'épo­que dont la grande guerre et ses signes annonciateurs étaient les événements les plus mar­quants." (BA 5, 841)

" S. auch Einsteins Bemerkung an Daniel-Henry Kahnweiler (1922): "Meine Kunstge­schichte wird für manche Größe peinlich sein; man wird den Unterschied lernen zwischen dem peintre chameau aux couilles, dem peintre des gâteaux etc." (EKC, S. 130) Im De­zember gleichen Jahres bat er Kahnweiler, "[...] sprechen Sie nicht über meine Kunstge­schichte, die für allerhand Leute eine böse Sache werden wird." (EKC, 133)

132 CHARLES WERNER HAXTHAUSEN

um. Die Brücke "beginnt und endet in Eklektizismus, den man mit literari­scher Geschwollenheit, einer Tiefe der Banalität, umgibt [...]. [...]. Darum starb solche Bewegung, die nie bewegt war, rasch und verdient ab." (BA 5, 207, 208) Kokoschka charakterisierte er vernichtend als "ein Talent, das Genie sein will und solche Überanstrengung mit Eklektizismus bezahlt" (BA 5, 221). Bei den Arbeiten von Einsteins ehemaligem Kameraden George Grosz erhebe sich die Frage, "ob Kunst, die mit aktuellen Motiven arbeitet, jedoch diese konventionell verarbeitet, nicht letzten Endes reakti­onär ist" (BA 5, 228). In den Werken Franz Marcs und Wassily Kandins­kys, die ihre Motive allerdings nicht konventionell verarbeiteten, sah Ein­stein hingegen "eine gestaltverzehrende Mystik. Im Bild überspielt ekstati­sche Leere und Hingerissenheit die grobschwache Gestalt, und die meta­physische Abstraktion läuft etwas leer in schmückenden Ornamenten." (BA 5, 249)

Unter den Deutschen gebührten nach Einsteins Sicht lediglich Ernst Ludwig Kirchner und Paul Klee durchaus positive Urteile; im Falle Klee war dieses Verdikt, im Gegensatz zu Einsteins Bewertung der meisten Künstler, 1931 sogar positiver als 1926. Klee, erklärte Einstein in der 3. Auflage, sei "die erheblichste Persönlichkeit unter den deutschen Künst­lern", der "entscheidende Vertreter der neuen deutschen Romantik" (BA 5, 243 u. 244).

Bislang hat sich die Forschung über Einsteins Schriften zur modernen Kunst vorwiegend mit dessen Kubismus-Interpretation befasst - verständ­licherweise, denn seit seiner bahnbrechenden "Negerplastik" hat der Ku­bismus Einsteins Kunsttheorie grundlegend geprägt; überdies bilden Ein­steins Schriften zum Kubismus zusammen mit denen Daniel-Henry Kahn­weilers einen Höhepunkt in der frühen Rezeption dieser Bewegung. Etwas weniger hat man sich mit der "surrealistichen" Phase in Einsteins Kunst­theorie beschäftigt, einem Wandel, der sich ab Mitte der 20er Jahre entfal­tet und 1934 mit "Georges Braque", Einsteins letzter Veröffentlichung als Kunstkritiker, kulminiert. Seine selten beachteten Kommentare zur Kunst Paul Klees, die insgesamt nicht mehr als 12 Druckseiten umfassen, sind Schlüsseltexte dieser Entwicklung und verdienen näherer Untersuchung.3

3 Die bisher ausführlichste Diskussion findet man in Klaus H. Kiefer: Diskurswandel im Werk Carl Einsteins. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte der europäischen Avantgar­de, Tübingen: Niemeyer 1994 (Communicatio, Bd. 7), S. 380ff S. auch Liliane Meffre: Carl Einstein, 1885-1940: Itinéraires d'une pensée moderne, Paris: Presses de l'Université de Paris-Sorbonne 2002 (Monde germanique), S. 135-36, sowie die Einleitung von Uwe Fleckner und Thomas W. Gaehtgens in BA 5, 13. Christine Hopfengart (Klee. Vom Son­derfall zum Publikumsliebling: Stationen seiner öffentlichen Resonanz in Deutschland

"DIE ERHEBLICHSTE PERSÖNLICHKEIT" - EINSTEIN ÜBER KLEE 133

Jedoch bilden diese wenigen Seiten wichtige Momente in der Entwicklung der Einsteinschen Kunstheorie.

Obwohl Einstein kürzere Texte über Wilhelm Lehmbruck, George Grosz, Otto Dix, Wassily Kandinsky, Rudolf Belling und Rudolf Schlich­ter veröffentlichte, liegt kein gesonderter Text über Klee vor. Größere Klee-Projekte hat er allerdings in der ersten Hälfte der 20er und wieder Anfang der 30er Jahre geplant. In Einsteins Korrespondenz mit Tony Si­mon-Wolfskehl aus den Jahren 1922-23 ist mehrfach von einem Buch über Klee die Rede, in einem Brief sogar von zwei. Januar 1923 heißt es, das Kleebuch sei "gestartet" (CEA, E 10/43). Etwa anderthalb Jahre später schreibt Einstein an den Maler: "Ich habe das Kleebuch nicht vergessen und freue mich, dass es gemacht wird, wenn der Kunstrummel sich etwas gelegt hat." (PKJ, 218)4 In zwei späteren Briefen aus dem Herbst 1924 auf dem Briefkopf des Verlags "Die Schmiede" stellt es sich heraus, dass es sich um eine Veröffentlichung von Klees "Federzeichnungen" handelte, die wir, so Einstein, "sehr sorgfältig herausbringen möchten, denn es liegt mir viel daran, dass diese schönen Arbeiten irgendwo gesammelt erhalten bleiben und so geschlossen wirken können" (PKJ, 218). Jedoch, wie so viele andere Publikationspläne Einsteins, blieb auch dieser unrealisiert.

Nach seiner Übersiedlung nach Paris im Jahre 1928 hegte Einstein wie­der den Plan, einen ambitionierten Text über Klee zu schreiben, zu einem Zeitpunkt übrigens, in dem er, abgesehen von der letzten Auflage seines Propyläenbandes, nichts mehr über deutsche Künstler publizierte.5 Zwi­schen Januar 1929 und Februar 1930 schreibt Einstein wiederholt an Klee mit der Bitte um Fotos von unveröffentlichten Aquarellen, denn er möchte, so heißt es, "einen großen Kleeaufsatz" in der Zeitschrift "Documents" veröffentlichen.6 Dieser Text kam nicht zustande.7 Letzten Endes hat Ein-

1905-1960, Mainz: Philipp von Zabern 198, S. 82-86) betrachtet Einsteins Kunstgeschich­te im Rahmen der deutschen Klee-Rezeption.

4 Im Brief war auch von einem Beitrag Klees zu dem von Einstein und Westheim heraus­gegebenen "Europa-Almanach" die Rede. "Da macht Kiepenheuer ein Jahrbuch - West­heim und ich geben heraus. Da darf Klee nicht fehlen. Und zwar Zeichnungen, sagen wir 6 von Ihren schönen Federblättern und dann hätte ich eines gern. Ein Stück Text von Ih­nen." (PKJ, 218) Es ist keine Antwort von Klee erhalten. Im "Europa-Almanach" erschien kein Text von Klee; statt Federzeichnungen wurden drei Aquarelle aus den Jahren 1917-1921 abgebildet. Einsteins letzter Text - nur eine Druckseite lang - über einen deutschen Künstler war 1928 veröffentlicht: Les Fontaines de Rudolf Belling (BA 2, 526).

6 S. Briefe vom 15.06., 28.08. und 28.09.1929, 11.01. und 25.02.1930 sowie ein undatierter Brief, in dem Einstein sich bei Klee für die Übersendung von zwei Fotos bedankt, obwohl "eigentlich nur 2 Abbildungen nicht genügen" (PKJ, 266ff). In der Zeitschrift erschien lediglich ein kurzer Text über Klee: Georges Limbour: Chroni­que. Paul Klee (Doc 1 [1929], 53-54).

134 CHARLES WERNER HAXTHAUSEN

steins hohe Schätzung Klees außer in den drei Auflagen der Propyläen-Kunstgeschichte keinen Niederschlag gefunden.

In der Erstausgabe der Kunstgeschichte umfasst Einsteins Abschnitt ü-ber Klee dreieinhalb Seiten von 57 im Kapitel "Die Deutschen". Jedoch nimmt er einen Sonderstatus ein, denn hier finden wir interpretatorische Ansätze, die sonst nirgends im Buch vorkommen, Ideen, die in den späten 20er und frühen 30er Jahren Einsteins Kunsttheorie fundamental prägen werden. Einstein kennzeichnet Klee als "besonderen Fall des Romanti­schen" (K 1, 143; K 2, 156). Wie Klaus H. Kiefer bemerkt hat, gebraucht der frühe Einstein das Wort "Romantik" nur hin und wieder und dann "meist pejorativ oder wenigstens ambivalent".8 Letzteres trifft allenfalls auf eine Charakterisierung Klees um 1923 zu: in einem Brief an Tony Si­mon-Wolfskehl bezeichnete Einstein diesen als "Märchenknabe", den er als Künstler zwar mehr als Kandinsky schätze, doch beide seien "Roman­tiker mit karierter Blume und starkem Flair für Mode, zumindest für das Angenehme" (CEA, E 10/18).9

Immerhin, in der um drei Jahre später erschienenen 1. Auflage der Kunstgeschichte bleibt nichts von diesen Bedenken zu spüren. Dort bewer­tet Einstein Klees "romantische" Kunst durchaus positiv. Diese Hoch­schätzung überrascht gerade im Hinblick auf Klees bescheidene Vertre­tung im Bildteil; doch ist sie umso bedeutsamer, da Klee den Kriterien, nach denen Einstein alle anderen modernen Künstler - und zwar zumeist negativ - beurteilte, ganz offensichtlich indifferent war. Bei seiner Beurtei­lung verschiedener Künstler und Tendenzen, von den Impressionisten bis zu den Konstruktivisten, ging es Einstein konsequent in erster Linie um die Neugestaltung des Bildraumes, um die Veränderung des menschlichen Raumempfindens. Dies sei das große Manko des Impressionismus gewe­sen: "Man hatte eine Technik gefunden, eine Analyse des Lichts - doch eines fehlte: die Gestalt, die gründliche Durchformung des Bildraumes.[...] Die Farbe war gerettet, aber das Urmotiv bildender Kunst, die Raumglei­chung, war im Spezialistentum verloren gegangen." (K 1, 1 lf)10 Auch die Fauves und Expressionisten betrieben "zweidimensionale Farbsensation unter Ausschaltung der räum- und körperbildenden Momente." ( K l , 62) Es war laut Einstein das große Verdienst des Kubismus, nicht nur ein neu-

S. Kiefer: Diskurswandel im Werk Carl Einsteins, S. 367. Übrigens datiert diese Bemerkung aus der Zeit, in der Einstein zwei Klee-Publikationen

plante, vgl. den undatierten Brief an Simon-Wolfskehl, CEA, E 10/11. 10 Vgl. auch K 1, 31: "Es scheint uns gerade Aufgabe der Malerei zu sein, über die Farbe

als Zweck zur Raumbildung vorzustoßen [...]." Vgl. weiter K 1, 111: "[...] die Vitalität optischen Erlebens wird durch die 'Tiefe' des Raumerlebens und deren Einbeziehen und zwingende Gestaltung bestimmt."

"DIE ERHEBLICHSTE PERSÖNLICHKEIT"- EINSTEIN ÜBER KLEE 135

es Raumbild geprägt zu haben, sondern eine "Umbildung des Sehens" (EKC, 139).

Abb. 1: Paul Klee: Bildnis Mr. A. L., 1925, 96 (S6), 25,5 x 18 cm, Feder und Aquarell auf Papier, oben und unten Randstreifen mit Gouache und Feder auf

Karton, Kunsthaus Zürich, © VG Bild-Kunst, Bonn 2003

Bei Paul Klee ließe sich aber nur schwerlich behaupten, seine Kunst übe eine raumbildende Funktion aus. Im Gegenteil, Klee hat scheinbar fast alles getan, nicht nur formal, sondern auch in der Montierung und Be­schriftung seiner Bilder, um ihre zweidimensionale, materielle Dinglichkeit hervorzuheben; bei Zeichnungen und farbigen Blättern stehen Entste­hungsjahr, Werknummer und Bildtitel auf dem unterlegten Karton, wie in den von Einstein abgebildeten Beispielen zu sehen ist (Abb. 1). Vielmehr scheinen seine Bilder exemplarisch für jene "zweidimensionale Farbsensa­tion unter Ausschaltung der räum- und körperbildenden Momente". Be­merkenswert ist die Tatsache, dass der auf den Bildraum fixierte Einstein diese Qualität der Klee'schen Blätter überhaupt nicht für erwähnenswert hielt; es kommt in Einsteins Klee-Abschnitt das Wort "Raum" nicht einmal

136 CHARLES WERNER HAXTHAUSEN

vor. Hier scheint seltsamerweise diese für ihn wichtigste Aufgabe der Ma­lerei nicht mehr zu gelten.

An die Stelle des Bildraumes tritt zum ersten Mal im Klee-Abschnitt ein neuer Wert in Einsteins Kunsttheorie hervor: hier ist nicht vom Raum die Rede, sondern vom Traum. Das Wort "Traum" bzw. seine Kognate kom­men in Einsteins dreieinhalbseitiger Klee-Diskussion nicht weniger als 21 Mal vor, öfter als in sämtlichen sonstigen Teilen des Buches." Bei Klee gehe es um "Bewußtmachung der Träume":

Erinnerte Träume vielleicht, deren Wahrheit durch zeichnendes Wachsein gerettet wird, während man sonst diese Bezirke als angeblich wenig Handelsnützliches oder Peinliches zu vergessen strebt. Solch zutage gewecktem üblichen Bewußtseinsenthobenem ent­spricht fast unbewußtes graphisches Hinfahren, man folgt den Gesichten, bis man sie meistert und nach Willen hervorbringt. (K 1, 141)

Einsteins Betonung des Traums gibt den Eindruck, dass er Klee zum Teil unter dem Gesichtspunkt des 1924 erschienenen ersten surrealistischen Manifests von André Breton rezipiert. Breton zufolge, beruhe der Surrea­lismus "auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit gewisser, bis dahin vernachlässigter Assoziationsformen, an die Allmacht des Traumes, an das zweckfreie Spiel des Denkens". 12 Ferner suggeriert Einsteins Hinweis auf "unbewußtes graphisches Hinfahren", in dem man "den Gesichten" folge, eine Anspielung auf die von Breton mit dem Surrealismus gleichgesetze Praxis des psychischen Automatismus, "durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht".13

Der Klee-Abschnitt bildet also die früheste Spur von Einsteins Begeg­nung mit surrealistischen Ideen. Wie Klaus H. Kiefer dargelegt hat, war Einstein sicher bereits 1925 mit dem Surrealismus vertraut,14 doch in sei­ner Kunstgeschichte spürt man das einzig im Klee-Abschnitt. Hier werden Ideen angelegt, Aspekte bejahend festgestellt, Termini wie "halluzinativ" angewendet, die erst in der 3. Auflage völlig zur Geltung kommen (K 1, 140). Einsteins surrealistische Wende wird aber 1928 im umgeschriebenen

" Außerhalb des Klee-Abschnitts gebraucht Einstein das Wort zumeist kritisch, so z.B. in Bezug auf die Deutschen: "Der Romane gliedert in Bild und Natur, er differenziert das ästhetisch Formale, während der Deutsche ein traumhaft geistiges Schauen der Natur zum Bild schaffen will [...]. So empfindet und erlebt der Deutsche leicht viel Ungemei­nes in die Bilder hinein, das der Betrachter oft kaum erfühlt, da die Bildlösung zu schwach ist, um zur Intensität und Erfülltheit des Schaffensprozeß zurückzuführen." (K 1, Ulf.) Vgl. auch Einsteins Kommentar zu Giorgio de Chirico (K 1, 99) .

12 André Breton: Die Manifeste des Surrealismus, Reinbek/H.: Rowohlt 1968, S. 26f. "Ebd., S. 26. 14 S. Kiefer: Diskurswandel im Werk Carl Einsteins, S. 380f.

"DIE ERHEBLICHSTE PERSÖNLICHKEIT" - EINSTEIN ÜBER KLEE 137

und wesentlich erweiterten Picasso-Kapitel evident. Gerade diese Termini - Traum, Gesicht, Vision bzw. visionär, halluzinativ - , die in der Erstaus­gabe auf den Klee-Abschnitt beschränkt waren, durchdringen den für die Ausgabe 1928 neuverfassten Picasso-Abschnitt. Die surrealistische Bewe­gung selbst bleibt jedoch im Buch unerwähnt.

Erst in der 3. Auflage wird der Surrealismus als Bewegung berücksich­tigt, in einem neuen Kapitel. Bedeutsamerweise lautet der Titel dieses Ka­pitels nicht "Der Surrealismus", sondern wohlgemerkt "Die romantische Generation". Das mag daran liegen, dass Einstein, wie Klaus H. Kiefer feststellt, "den Begriff 'Surrealismus' viel weiter als die französischen Sur­realisten" fasst,15 so weit, darf man hinzufügen, dass in diesem Kapitel das Wort nirgends vorkommt, das Adjektiv "surrealistisch" nur einmal - mit Bezug auf die Dichtung.16 (Dagegen hat sich Einstein nie gescheut, den Terminus "Kubismus" zu gebrauchen!) Der Großteil dieses Kapitels stellt eine konzise Zusammenfassung von Einsteins zum Teil unter dem Einfluss des Surrealismus gewandelter Kunsttheorie dar. Erst auf der elften Seite des vierzehnseitigen Kapitels wird überhaupt ein Maler dieser Bewegung -André Masson - genannt; von André Breton, dem Gründer und geistigen Führer erfährt der Leser gar nichts.17 Nicht um Künstler, nicht um eine Bewegung geht es bei Einstein, sondern um eine Generation und mögli­cherweise, so hofft er, um einen durchgreifenden Epochenwandel. Diese "Wendung zur Romantik" ist Symptom eines Aufstands gegen die Hem­mungen und Verdrängungen einer von der Vernunft und Standardisierung beherrschten "technischen Zivilisation", ein Wiederfinden der "Gegenkräfte des Rationalen im Traum und Unbewußten" (BA 5, 158). "Eine ähnliche Regression zu einer Primitive", konstatiert Einstein, "beobachtet man bei den frühen Christen, die inneren Prozesse begannen zu dominieren und die technische Kultur der Römer brach zusammen. [...] So erscheint als eine der bedeutendsten Tendenzen heutiger Kunst die Primitivierung des Da­seins." (BA 5, 161) Nicht nur um einen möglichen Epochenwandel handelt es sich aber, sondern um einen entschiedenen Wandel in Einsteins Kunst­begriff, der in der Klee-Diskussion der 1. Auflage angelegt war.

15 Ebd., S. 367. 16 Einstein hatte mehrere der im ersten Surrealistischen Manifest zu Surrealisten ernannte

Dichter - Louis Aragon, Jacques Baron, Jospeh Delteil. Max Morise, Benjamin Péret, Philippe Soupault, Roger Vitrac - 1925 in dem von ihm mit Paul Westheim herausgege­benen "Europa-Almanach" veröffentlicht.

17 Bemerkenswert ist es, dass die Bezeichnung "surrealistisch" auch nicht in Einsteins 1929 in "Documents" veröffentlichten Artikel, "André Masson, étude ethnologique", vor­kommt.

138 CHARLES WERNER HAXTHAUSEN

Aus der Perspektive von 1931 betrachtet Einstein die Raumverwandlung der Kubisten als begrenzten Durchbruch. Das Schauen sei mit dem Ku­bismus "funktional geworden, jedoch noch in einen statischen Aufbau der Zeichen gebunden", in dem Einstein nun eine Verwandtschaft mit der klassischen Kunst sieht. Während der Kubismus den Prozess des Sehens als schöpferischen Akt veranschaulichte, war letzten Endes das Resultat immer noch "das bekannte Motiv". Nun galt es, "konkrete seelische Abläu­fe" mittels des psychischen Automatismus abzuzeichnen und diese "kraft der Bilder in die Wirklichkeit einzuschalten und der Vorstellung vom Wirklichen aufzuzwingen" (BA 5, 162). Es ging also um "einen neuen Vorstellungsinhalt" (BA 5, 164).

Schließlich schreibt Einstein jedoch so gut wie nichts über surrealisti­sche Künstler und deren Werke. Dies bekräftigt die Vermutung, er habe die Theorie des Surrealismus viel anregender gefunden als die Bilder der Surrealisten - wir kommen später auf den möglichen Grund zurück. Am einleuchtendsten und befriedigendsten wirkt das sogenannte Surrealismus-Kapitel nicht als Darstellung surrealistischer Malerei, sondern als Einlei­tung zu dem erst um 100 Seiten später eingesetzten Abschnitt über Klee, denn Paul Klee ist neben Picasso der Künstler, der diesen gewandelten Kunstbegriff Einsteins am konkretesten verwirklicht. Zuerst hatte Einstein Klees Kunst geschätzt, obwohl sie in seine vom Kubismus geprägte Kunst­theorie nicht hineinpasste; durch Einsteins Diskurswandel ergab sich jetzt ein theoretischer Rahmen für ihn. Klee, 1926 und 1928 ein "besonderer Fall des Romantischen", wurde jetzt, unter Einsteins neuem Romantik-Begriff zum romantischen Künstler schlechthin, zum "entscheidenden Vertreter der neuen deutschen Romantik" (BA 5, 244).

Klees Indifferenz der Problematik des Bildraumes gegenüber, die Ein­stein 1926/28 verschwieg, wird jetzt, ohne allerdings erwähnt zu werden, entwicklungsgeschichtlich gerechtfertigt, denn, so liest man im Klee-Kapitel, wo das Wort "Raum" im Zusammenhang mit Klee zum ersten Mal von Einstein gebraucht wird: "Nachdem man erkannt und erfühlt hatte, dass z.B. der Raum eine geradezu freie Schöpfung sein könne, fragte man allmählich, ob, wenn der Raum vom Menschen gebildet werde, es auch möglich sei, neue Gestalten zu schaffen." (BA 5, 260) Während Einstein früher Klees Kunst als "Gegenspiel von Wahrnehmung und gedichteter Form", als konkret gebliebenen Traum bezeichnete, fasst er sie nun als Beitrag zur "Verwandlung und Neubildung der Welt durch den Menschen" (BA 5, 261 f.). Mit anderen Worten, es ging um die Erfindung von neuen Gestalten, die zum Vorstellungsinhalt des Menschen werden und eine ver­änderte Realität bilden sollten.

"DIE ERHEBLICHSTE PERSÖNLICHKEIT" - EINSTEIN ÜBER KLEE 139

Abb. 2: Paul Klee: Sie brüllt, wir spielen, 1928, 70 (P10), 43,5 x 56,5 cm, Ölfarbe auf Leinwand; originale farbig gefasste Rahmenleisten, Paul-Klee-Stiftung,

Kunstmuseum Bern, © VG Bild-Kunst, Bonn 2003

Einstein, der bereits 1926 Klees Schaffen unter dem Gesichtspunkt des Traums erörtert hatte, baut nun diese Deutung differenzierter aus. Er stellt zwei scheinbar gegensätzliche Tendenzen bei Klee fest. Die eine bezeich­net er als "mediales Niederschreiben", d.h. "ungehemmtes Nachgeben gegenüber noch nicht angepaßten seelischen Prozessen, also Technik der Trance", womit der von André Breton beschriebene "psychische Automa­tismus" gemeint ist. Obwohl Einstein keine konkreten Beispiele nennt, hätte er vermutlich Werke wie "Narr in Trance" oder "Sie brüllt, wir spie­len" (Abb. 2), beide in der 3. Auflage abgebildet, unter diese Tendenz ein­gestuft; das sind Bilder, die in ihren fließenden Liniengebilden an die au­tomatischen Zeichnungen André Massons erinnern, die angeblich vermit­tels dieser Technik entstanden sind. Die andere Tendenz beschreibt Ein­stein als tektonisch, die "Erlebnisse dadurch hemmt und kontrolliert, dass man sie allgemeineren, verharrenden, bauhaft siedlerischen Formen ein­ordnet" (BA 5, 264). Abgebildete Werke wie "Monument im Fruchtland" (Abb. 3) und "Das offene Buch" (Abb. 4) vertreten wohl diesen Aspekt. Über diese theoretische Unterscheidung hinaus zeigt er einen ungemein feinen Sinn für die Qualitäten Klee'scher Bilder und deren eigentümliche Formenwelt, besonders in Bezug auf das, was er "metamorphotische Kraft" (BA 5, 262) nennt:

Form heißt nun mehr als nur ästhetische Erregung: nämlich Kraft des Sichverwandeins und Einheit des metamorphotischen Prozesses. Andererseits gewinnen nun aber auch

140 CHARLES WERNER HAXTHAUSEN

Pflanzen und Gesteine eine metamorphotische Gewalt, d.h. sie verwandeln sich und wirken in anderen und neuen Wesen und gewinnen somit eine gleichlebendige Kraft wie der Mensch. (BA 5, 265)

Einstein, der jegliche Bildbeschreibung prinzipiell ablehnt, bezieht solche Äußerungen nie auf einzelne abgebildete Werke, sondern bietet seinem Leser orientierende Ansätze zum eigenen Schauen.

Nach der Fertigstellung seines Klee-Textes schickte Einstein im Mai 1931 dem Künstler eine Kopie zu. Es interessiere ihn besonders, schrieb er im Begleitbrief, "von Ihnen zu hören, in welchem Maasse unsere Ansich­ten sich decken" (PKJ, 279). Keine Antwort von Klee ist erhalten, jedoch schrieb dieser Februar 1932 nach der Veröffentlichung des Buches an sei­ne Frau: "Ein außerordentlich gutes Buch, wenn auch die meisten Betrof­fenen das nicht zugeben werden und von mir sagen, ich habe gut reden. Aber so einfach ist mein Urteil nicht zu gewinnen."18 Früher hatte sich Klee in einem Entwurf zu einem Brief an Einstein sehr positiv zu seiner Behandlung in der 2. Auflage geäußert. Dort heißt es, Einstein sei seinem Oeuvre vollständig gerecht geworden und habe die Mittel, dieser Erkennt­nis die adäquate Form zu geben. "Welch eine Freude, das beizeiten erleben zu können." (PKJ, 280)

In der Tat stimmt vieles in Einsteins späterer Klee-Darstellung mit Klees künstlerischem Selbstverständnis überein, soweit man das anhand von dessen relativ zahlreichen eigenen Aussagen beurteilen kann. In sei­nem damals noch unveröffentlichten Jena-Vortrag (1924) präsentierte Klee einen Kunstbegriff, der dem des späteren Einsteins sehr nahe steht.

[...] es sah diese Welt anders aus, und es wird diese Welt anders aussehen. [...] Aus die­ser Einstellung heraus muß man ihm zugute halten, wenn er das gegenwärtige Stadium der ihn gerade betreffenden Erscheinungswelt für zufällig gehemmt erklärt. Für allzu begrenzt im Gegensatz zu seinem tiefer Erschauten und bewegter Erfühlten. [...] Außer­dem will ich den Menschen auch gar nicht geben, wie er ist, sondern nur so, wie er auch sein könnte. (PKJ, 65 u. 67)

Im Surrealismus-Kapitel von Einstein heißt es: "[...] man nimmt die Welt nicht mehr als etwas Fertiges, sondern durchaus Provisorisches und ver­sucht, ihr noch nicht ermüdete Erlebnisse und Sichten einzufügen [...]." (BA 5, 162) Auch das für den späteren Einstein wichtiges Konzept der Metamorphose findet nicht nur in Klees Werken, sondern auch in seinen Aussagen eine Parallele, in Klees Betonung der Genesis, der Auffassung der Kunst eher als Formbilden denn als Formprodukt.19

18 Karte von 10.02.1932, in: Felix Klee (Hg.): Paul Klee. Briefe an die Familie 1893-1940, Köln: DuMont 1979, Bd. 2, S. 1175.

S. Klees Beitrag zum Sammelband: Schöpferische Konfession, hg. v. Kasimir Edschmid, Berlin: Reiß 1920, in: PKJ, 120-123.

"DIE ERHEBLICHSTE PERSÖNLICHKEIT" - EINSTEIN ÜBER KLEE 141

1 — M .

Abb. 3: Paul Klee: Monument im Fruchtland, 1929, 41 (Nl), 45,7 x 30,8 cm, Aquarell und Bleistift auf Papier und Karton, Paul-Klee-Stiftung,

Kunstmuseum Bern, © VG Bild-Kunst, Bonn 2003

Abb. 4: Paul Klee: Offenes Buch, 1930, 206 (E 6), 45 x 42 cm, Wasserfarbe und Feder auf weißer Lackgrundierung auf Leinwand auf Keilrahmen,

Solomon R. Guggenheim Museum, New York, © VG Bild-Kunst, Bonn 2003

142 CHARLES WERNER HAXTHAUSEN

Doch in einem wichtigen Punkt hat Klee seinen Schaffensprozess an­ders aufgefasst. Es gibt erhebliche Evidenz dafür, dass diesem, anders als bei manchen Werken Massons, Ernsts und Miros, nicht mit dem Begriff des psychischen Automatismus beizukommen ist. Bei Klee waren die in­neren psychischen Prozesse, das Irrationale nicht der Ausgangspunkt. Im Gegenteil begann der Prozess als offenes Spiel mit bildnerischen Elemen­ten; dieses Spiel betrieb Klee aber bewusst nach bildnerischen Kriterien. Erst im Laufe des Prozesses tauchen dann Assoziationen oder Gleichnisse auf, die in das entstehende Bild einbezogen werden können. Klee hat aber wiederholt die Willkürlichkeit dieser Assoziationen betont; er hat sie kaum als "Aufzeichnungen seelischer Prozesse" verstanden. °

Die 3. Auflage von Einsteins Kunstgeschichte unterscheidet sich struk­turmäßig von den früheren nicht nur durch das neue Surrealismus-Kapitel, denn in der Tat gibt es zwei neue Kapitel und dazu eine veränderte Reihen­folge:

1926 und 1928 1931

Die Vorbedingungen Die Vorbedingungen

Beginn Beginn

Der Kubismus Der Kubismus

Der Futurismus Die romantische Generation

Die Deutschen Der Futurismus

Russen Die Deutschen

Zur Plastik Russen

Der Blaue Reiter

Zur Plastik

In den ersten beiden Auflagen war die Struktur allgemein gesprochen chronologisch. Die Geschichte begann mit dem Impressionismus, "Die Vorbedingungen", und endete mit "Russen nach der Revolution". Da die meisten Maler noch lebten, kann man natürlich nicht von Chronologie im strengsten Sinn reden, doch wird Impressionismus vor Fauvismus (Be­ginn), Fauvismus vor Kubismus, Kubismus vor Futurismus behandelt. Im Kapitel "Die Deutschen" werden einzelne Künstler mehr oder weniger nach der zeitlichen Abfolge der verschiedenen Tendenzen besprochen -Brücke, Blauer Reiter, Kokoschka, Neue Sachlichkeit. 1931 ist das nun anders. Mit dem abgesonderten Kapitel "Der Blaue Reiter" endet diese

S. Klee: Vortrag in Jena, 26. Januar 1924, in: PKJ, 47-69.

"DIE ERHEBLICHSTE PERSÖNLICHKEIT" - EINSTEIN ÜBER KLEE 143

Darstellung merkwürdigerweise mit einer Bewegung der Vorkriegsjahre, nachdem Maler der "Neuen Sachlichkeit" (Beckmann, Grosz, Dix) schon früher im Kapitel "Die Deutschen" behandelt worden waren. Ferner, der Surrealismus, der sich Mitte der 20er Jahre entfaltet, wird zwischen zwei Vorkriegserscheinungen - Kubismus und Futurismus - eingegliedert. Man nimmt an, Einstein hat sich für diese Struktur entschieden, weil sie einen Vergleich zwischen den die für ihn zwei bedeutsamsten Tendenzen der Moderne aufstellen ließ.

Aber warum hat Einstein die Abschnitte über Kandinsky, Marc und Klee aus dem "deutschen" Kapitel herausgetrennt und in ein neues Kapitel versetzt? Und schließlich: da Kandinsky und Klee noch lebten und wäh­rend der 20er Jahre als Bauhaus-Meister wirkten, warum hat er das Kapitel "Der blaue Reiter" und nicht "Das Bauhaus" betitelt? Abgesehen von den Arbeiten des 1916 im Krieg gefallenen Marc, entstand die überwiegende Mehrzahl der abgebildeten Werke von Kandinsky und Klee am Bauhaus -in der Tat datiert nur ein einziges Werk, ein Aquarell von Klee, aus der Zeit des Blauen Reiters! Die Rechtfertigung für diese kuriose Entschei­dung findet man in einem neuen Abschnitt, einer Einleitung für dieses Kapitel. Diese beiden "übergebliebenen Maler des 'blauen Reiters'" (1931 war Klee 52, Kandinsky 65) mussten "trotzdem und leider" den Jungen zugerechnet werden, denn die zahlenmäßig jüngeren Vertreter der neuen Sachlichkeit seien "graue Reaktionäre" (BA 5, 243). Nach der "Wendung zur Romantik", "zur halluzinativen Kunst", sieht Einstein nun den Blauen Reiter im Nachhinein als Vorläufer dieser aktuellsten Tendenz. Denn vor dem Kriege stellten diese Maler "das Problem der autonomen Malerei und der frei entwickelten halluzinativen Prozesse"; sie wagten, "entdeckte Ge­sichte rückhaltlos aufzuzeichnen" (BA 5, 241). "Wie später die Jungen in Frankreich entscheidet man sich zur Romantik und zur Darstellung freier, innerer Prozesse." (BA 5, 244) Dagegen sei das Bauhaus letzten Endes eine bloße "Handwerkschule", die zur Aufzeichnung neuer Erlebnisse nicht passte.

Bedeutsam ist es, dass in dieser neuen Struktur die Abschnitte über Kandinsky und Marc im Wesentlichen unverändert aus der 2. Auflage übernommen worden waren; überdies bringt Einstein in der Einleitung wieder gründliche Bedenken über ihre Kunst zum Ausdruck. Bei Klee ist das anders: Einstein schreibt in der Einleitung des Kapitels:

Von Paul Klee stellen wir fest, daß es ihm gelang, über ästhetische Probleme hinaus zu gegenständlicher Erfindung vorzudringen und die Figuren seines inneren Bildens in die Wirklichkeit einzuführen und somit mit jener zu konkurrieren. Wir sehen darum in Klee die erheblichste Persönlichkeit unter den deutschen Künstlern. Wir können uns durch keine kilometerlangen Leinwände davon abbringen lassen, die Kleeschen Miniaturen für wichtiger zu halten als die pathetisch aufgewichsten Monu­mente erregter Akademiker. (BA 5, 243)

144 CHARLES WERNER HAXTHAUSEN

Nach der vierseitigen Einleitung erfolgen dann, in gleicher Reihenfolge wie 1926/28, einzelne Texte über Marc, Kandinsky, und am Schluss, Klee, der Einsteins 200-seitige Darstellung der modernen Malerei als Coda dient. Das nächste und letzte Kapitel, ein kurzer, lediglich 13 Seiten um­fassender Text über moderne Plastik, wirkt antiklimaktisch, eher als An­hang denn als Schlusskapitel."1

Doch warum Klee und nicht Surrealismus als Abschluss? Natürlich kann man das nicht wissen, dennoch gibt uns vielleicht ein Passus in Ein­steins Klee-Diskussion indirekt Aufschluss darüber. Es handelt sich um das "Neubilden eines konkret Wirklichen" durch die Kunst. Dazu erschie­nen Einstein drei "Kräfte," d.h. drei Phasen notwendig:

1. das mediale Niederschreiben, d.h. ungehemmtes Nachgeben gegenüber noch nicht angepaßten seelischen Prozessen, also Technik des Trance: 2. die tektonischen Kräfte, d.h. die Kontrolle und Bewußtseinsmachung der Visionen und die Einordnung der iso­lierten Erlebnisse in kollektiv gültige Zeichen; 3. die Identifikation mit einer neuen Ges­talt, also die metamorphotische Kraft. Das heißt: ein Bild gerät zu seelischer Ganzheit, wenn es verschiedene, primäre seeli­sche Schichten enthält. (BA 5, 262)22

Eine Variante dieser Auffassung findet sich im Picasso-Kapitel:

Die kollektiven, tektonischen Formen erheben die subjektiven Gesichte zu normativer Geltung und führen über das Stadium unbewußter Besessenheit zur bewußten Formbil­dung. Aus der Zone des Leidens gelangt man zu aktiver, willensmäßiger Gestaltung, somit enthalten diese Arbeiten das Spiel der entgegengesetzten seelischen Grundkräfte. [...] Der Betrachter ist nun gezwungen, einem isolierten Bildereignis sich anzupassen, doch die kollektiv tektonischen Formen erleichtem ihm dieses Sichverwandeln. (BA 5, 116 u. 118)

Die zweite, tektonische, Phase ist also nötig, damit die halluzinativen, visionären seelischen Prozesse der ersten Phase aus der subjektiven Isolie­rung ausbrechen und "kollektive Geltung" gewinnen, und dies ist Vorbe­dingung zur dritten Phase, der Aneignung der neuen Gestalten im Vorstel­lungrepertoire des Betrachters. Denn nur so bildet die Kunst eine neue Realität: "[...] der Begabte wird sich auch kraft dieser Visionen durch Form und Gestaltung die Welt erobern und Gesichte als geahnte Typen eines künftigen Daseins aufzeichnen." (K 2, 69)

Gerade das Tektonische, scheint es, war aus Einsteins Sicht nur schwach präsent oder fehlte überhaupt in den Bildern der Surrealisten. In seiner

21 In den Auflagen 1926 und 1928 kam ein kurzer Abschnitt über August Macke nach dem über Marc; der Macke-Abschnitt fiel 1931 weg.

22 Später bezeichnete Einstein diese drei Phasen knapp als "Schreiben, bauhaftes Formen, und komplette Gestaltvorstellung" (BA 5, 264).

"DIE ERHEBLICHSTE PERSÖNLICHKEIT" - EINSTEIN ÜBER KLEE 145

"Etude ethnologique" über André Masson ist auch von der Einschaltung des Tektonischen die Rede, doch behauptet er nicht, dass Masson diesen Weg geht. Stattdessen überlässt sich Masson völlig dem Prozess des psy­chischen Automatismus, wobei ein Psychogramm entsteht - und im "Psy-chogramm gibt es keine äußere Ordnung" (BA 3, 542, frz. Orig. 27; vgl. BA 5, 162). Bei den jungen Franzosen, lesen wir in Einsteins Kunstge­schichte, lege man "keinen Wert auf die formale Ganzheit, man betreibt eine Art immanenten Impressionismus. Das Tektonische, das allzu rasch den Prozeß hemmt und eine vorgefaßte Auslese erzwingt, wird kaum noch gewertet." (BA 5, 167) Zwar fügt er hinzu, dass eine formale Angleichung und Vereinheitlichung zustande kommt, doch ist es klar, dass diese Maler, an Einsteins theoretischem Modell gemessen, zu kurz kommen.23 Diese Differenz ist wohl der Hauptgrund, warum er seinen kunsttheoretischen Wandel nicht allzu eng mit der Bezeichnung "Surrealismus" identifizieren wollte.24

In der Auflage von 1928 endet Einsteins Geschichte der Malerei mit dem Abschnitt "Russen nach der Revolution", und zwar in einem negati­ven Ton, indem er den gescheiterten Versuch der Kontruktivisten, eine sozial wirksame Kunst zu schaffen, kritisch beschreibt.

Man klammerte sich - marxistisch gestimmt - an die Typen architektonischer Nutzfor­men; Lissitzky notierte witzig das Drama der Quadrate. Im Grunde betrieb man kunst­gewerbliche Dekoration, ohne Architektur und Räume zu besetzen, und schrieb viel Manifeste. Eine große malerische Überlieferung zu bekämpfen, war in Rußland überflü-ßig. (K2, 175)

1931 schließt Einstein seinen Klee-Abschnitt und damit seine Darstellung der modernen Malerei optimistischer oder zumindest hoffnungsvoller ab:

Wir bemerken bei Klee einen Grundzug heutigen Daseins, die Primitivierung, d.h. Üb­erdruß an der allzu differenzierten Zivilisation. [...] Kunst bedeutet nicht nur ungehemm­tes Sichaussprechen, sie kann Tieferes sein, nämlich Selbstmord und Vernichtung des vorgefundenen Menschen zugunsten neuer und möglicher Formationen. So gewinnt die Kunst lang verwirkte Kraft zurück, nämlich die der Wahrsage und Traumdeutung, sie ist wieder zum Mittel erstarkt, das Wirkliche abzuändern und eine neue Realität, die dem Menschen näher steht und seiner ganzen Seele statt enger Vernunft entspricht, der ab-

Der Weg zum Kollektiven findet der surrealistische Künstler nicht durch die Tektonik, sondern er "kompensiert den starken Autismus durch eine Neigung zu kollektiver Poli­tik; man führt die Erlebnisse, und dies mit Recht, auf eine allgemeine Basis, nämlich das Sexuelle, zurück. Also instinktiv verteidigt man sich gegen die Abspaltung und bindet sich in kollektive Gruppen und Kräfte." (BA 5, 167)

24 Vgl. Einsteins "Pariser Salons. Inflation der Leinwände" (1931), in dem vom "verfallen­den Surréalisme" die Rede ist, obwohl Einstein noch Positives über Masson und Miro schreibt (BA 3, 186f).

146 CHARLES WERNER HAXTHAUSEN

sterbenden Wirklichkeit einzuzwingen. Kunst erkräftigte wieder zum magischen Mittel und zur Prophétie des Künftigen. (BA 5, 269)

Einsteins Optimismus war allerdings von kurzer Dauer. Bereits im Er­scheinungsjahr der 3. Auflage schrieb er an seinen Freund Ewald Was-muth:

das kunschtbuch, das ich noch machen muss [vermutlich "Georges Braque"], wird mein letztes sein. Ich habe genug davon, es kotzt mich an. Auch genug von theorien. Wir sind mit diesen tapeten lange genug ueberklebt. Entweder kommen dann ganz andere Sachen oder Herr Einstein schreibt nicht mehr. (DLA)

In seinem wohl um einige Jahre später entstandenen und zu Lebzeiten unveröffentlichten Manuskript "Die Fabrikation der Fiktionen" ist schließ­lich auch der Surrealismus seiner strengen Kritik zum Opfer gefallen:

Die Primitivierung weist Flucht aus dem Aktuell-Komplexen. Nun aktivieren die Mo­dernen seelisch wie formal, archaisch regressive Schichten. Diese jüngste Kunst ist in ihren Spitzenleistungen und allem Anspruch auf Modernität zum Trotz, negativ und re­aktionär. (FF, 54)

Aber bis Einstein diese strenge Abrechnung zog, hatte er in seinen Notizen zu seinem Romanfragment "Bebuquin II" bereits sowohl sich selber als auch die Grundvoraussetzung seiner kunstkritischen Tätigkeit zum Ge­genstand seiner destruktiven Arbeit gemacht. Dies tat er mit einer Schärfe, die den vernichtendsten Urteilen seiner Kunstgeschichte in nichts nach­steht:

Der ewige revoluzzer [und damit meint er sich selbst] wird voellig steril und bleibt hin­ter den wechselnden zeitumstaenden hoffnungslos zurueck, da er immer um die gleiche revolutionaere utopie kaempft, die er durch Wechsel der kunstform zu erreichen sucht. (CEA, B II, M. 35)