Upload
univie
View
0
Download
0
Embed Size (px)
Citation preview
Die Mit-Bewegung der menschlichen Existenz
Zu Jan Patockas Phänomenologie der sozialen Welt
Michael Staudigl
Im Ausgang von seiner frühen Studie zur „Natürlichen Welt als
philosophisches Problem“ (1936) erarbeitete der tschechische
Philosoph Jan Patocka (1907-1977) im Verlaufe seines Denkweges
eine eigenständige Position, die er als „phänomenologische
Philosophie“ bezeichnete. Sein Bestreben bestand dabei in
erster Linie darin, nicht nur dem „Husserlschen Subjektivismus“
zu entgehen, „der das Absolute im Menschen zu finden meint“,
sondern auch dem – auf Heidegger gemünzten – „Irrationalismus
jenes vorgängigen Seins, dem dann der Mensch auf Gedeih und
Verderb ausgeliefert ist.“
Aus dieser doppelten Frontstellung gegen die von ihm
kritisierten Tendenzen seiner Lehrer heraus und unter Aufnahme
Merleau-Ponty’scher und auch Levinas’scher Motive entwickelte
Patocka die Konzeption einer „a-subjektiven Phänomenologie“.
Mit dieser versuchte er, der Autonomie der Phänomenalebene, dem
„Erscheinen als solchen“, wie er formulierte, auf die Spur zu
kommen. Dieses „phänomenale Feld“ ist für Patocka weder als
unser „Entwurf“ bzw. unsere „Möglichkeit“, noch als das
(kreative) „Werk“ der Subjektivität zu verstehen. Er versteht
darunter vielmehr jenen ursprünglichen Möglichkeitsraum, in dem
wir außer uns sind und uns allererst gegeben werden und
empfangen. Patocka antizipiert mit dieser „a-subjektiven
Phänomenologie“ zentrale Motive, die J.-L. Marion gegenwärtig
unter dem Schlagwort eines „Primats der Gegebenheit“
systematisch entwickelt hat und denkt auch ähnlich wie Marion
das Subjekt als den „Adressaten des Erscheinens“, als mithin
nicht-ursprüngliche Instanz.1
Es ist meine Überzeugung, dass Patockas bekanntere Lehre
von der „Bewegung der menschlichen Existenz“ auf der Grundlage
dieser nicht-fundierenden Auffassung von Phänomenologie zu
verstehen bleibt. Er unterscheidet in dieser Konzeption drei
Bewegungen, die der affektiven „Verwurzelung“ in der Welt
mithilfe der anderen, die der objektivierenden
„Selbstverlängerung“ in Arbeit, Technik und allgemein in
gesellschaftlicher Organisation, und diejenige des
„Durchbruchs“, d.h. die einer Selbstgewinnung durch
Auslieferung an die Endlichkeit, die er u.a. in der berühmt
gewordenen Formel von der „Solidarität der Erschütterten“
festgehalten hat. Dieser Lehre ist zuletzt vermehrt
Aufmerksamkeit geschenkt worden. Gleichwohl wurde dabei kaum
bemerkt, dass Patocka seine Bewegungslehre durchgängig als eine
Mit-Bewegung in der Gegenseitigkeit und im Gegeneinander mit
anderen konzipiert hat; auch die dritte Bewegung des
Durchbruchs ist vor dieser Ambiguität nicht gefeit, im
Gegenteil. Vor diesem Hintergrund möchte ich Patockas
Konzeption der Bewegung der menschlichen Existenz als eine
Phänomenologie der sozialen Welt rekonstruieren, die auch
Phänomene „negativer Sozialität“ (wie Diskriminierung,
Ungerechtigkeit, Gewalt, etc.) in ihr Recht zu denken erlaubt,
ohne sie als bloße Mangelphänomene abzutun, die sich im
1 Ich kann hier die Nähe der Positionen Patockas zu entscheidendenEinsichten von J.-L. Marions „Phänomenologie der Gegebenheit“ nichtausführlich dartun. Vgl. dazu aber E. Tardivel, „La liberté commeexpérience du monde“ sowie Marions eigene Ausführungen in „La donation,dispense du monde“.
Horizont einer von Verantwortung, Gerechtigkeit und Anerkennung
etc. geprägten Gesellschaft letztlich aufheben lassen sollen.
Im vorstehenden Vortrag werde ich, um diesen Gedankengang
darzulegen, zunächst Patockas Idee einer „a-subjektiven
Phänomenologie“ skizzieren, wie sie bereits in seiner Analyse
des „natürlichen Weltbegriffs“ angedeutet wird. In einem
zweiten Schritt werde ich die Konzeption der drei Bewegungen
der menschlichen Existenz genauer vorstellen, um in einem
abschließenden dritten Teil die Eigenart dieser Phänomenologie
der sozialen Welt – als einer „Welt von Gut und Böse“ – zu
rekonstruieren, die Patockas Denken auszeichnet.
1. Der asubjektive Einsatz der Phänomenologie
Patockas Auffassung einer asubjektiven Phänomenologie kreist um
das Konzept des „Erscheinens als solchen“. Die zentrale Absicht
dieses Konzepts besteht darin, die Aufgabe der Phänomenologie
in die Beschreibung der „apriorischen Regeln des Erscheinens“
zu verlagern. Patocka versucht zu zeigen, wie sich diese
„Regeln“ in der Dynamik des „phänomenalen Feldes“ entfalten.
Diese Auffassung bezeugt seine grundsätzliche Kritik an der
Husserlschen Auffassung von Phänomenologie. Genauer gesagt
sieht er in Husserls transzendentalem Ansatz eine
(cartesianisch geprägte) „Fundierungsabsicht“ am Werk. Denn in
letzter Instanz setzt Husserls Projekt, auch wenn es in der
Praxis dieser Tendenz mitunter entgegenläuft, das Subjekt
respektive Ego als ein fundamentum inconcussum des
Konstitutionsgeschehens voraus, d.h. als eine „fundierende
Schicht“. Husserls „transzendentaler Idealismus“ wird also von
Patocka, und dies trotz seiner fraglos innovativen korre-
lationstheoretischen Artikulation, heftig kritisiert. Um mit
der Terminologie der Ideen I zu sprechen: Patocka versteht
Husserls Ansatz als ein reduktives Projekt, das alle sog.
„Einheiten des Sinnes“ auf ein „sinngebendes Bewusstsein“
zurückzuführen versucht. Patocka beabsichtigt im Gegenzug dazu
im Horizont einer universalisierten epoché, die auch die
„Transzendenz des Ego“ noch in Klammer setzt, das deskriptive
Potential der Phänomenologie von den darin wirksamen
Cartesianischen Interdikten zu befreien. Seiner Überzeugung
zufolge verführten diese Husserl dazu, den welthaften
Erscheinensprozess und den ihm eigenen Dynamismus aus den Augen
zu verlieren, d.h. jene offene Bewegung der Sinnbildung, die
die Welt ist. Da diese Bewegung offen ist, zieht sie das
Subjekt in sich hinein: Da sie offen ist, spricht uns ihr
jeweiliger Sinn an und fordert uns zu antworten auf. Dadurch
eröffnet der Erscheinensprozess in eins den Raum
geschichtlicher Existierens. In diesem Zusammenhang, d.h. im
Zuge der Einblicknahme in den offenen und unabschließbaren Feld-
Charakter des Erscheinens, erschließt sich uns Patocka zufolge
erst die Tragweite des „Prinzips der Prinzipien“; hier erst
stoßen wir mithin, um seine Formulierung im Artikel “Der
Subjektivismus der Husserlschen und die Forderung einer
asubjektiven Phänomenlogie“ aufzugreifen, auf die
„ursprünglichen Aufgaben der Phänomenologie“:
Das Ursprüngliche sind Dinge und dingliche Charaktere, dieaufgrund und mit anderen nichtdinglichen, aber genausogegenständlichen, ‘mir gegenüber’ befindlichen“, erscheinen.
Dasjenige, aufgrund dessen die Sache erscheint, ist selbstsachlich und nicht subjektiv da; dasjenige, was von Husserlgegen Natorp ins Feld geführt wird, das ‘Erlebte’, ist garnicht gegeben und es verstößt gegen das ‘Prinzip derPrinzipien’ (daß nämlich die letzte Instanz, auf welche manin Erkenntnissachen zu rekurrieren hat, das Gegebene ist,aber nur insofern, als es tatsächlich gegeben ist), bei derAnalyse des Erscheinenden die angebliche Erlebnisgrundlage,welche eben nicht gegeben ist, anzurufen. […]Das ‘Subjektive’ der thetischen Gegebenheitscharaktere istgenauso ‘draußen’ (mir gegenüber), wie die erscheinendenDinge selbst. Wenn es selbst nicht erschiene, könnte Husserles in seinen späteren Ausführungen ja nicht als noematischenCharakter ansprechen. Es sind ja diese Charaktere, die dasDing als dasjenige, was es ist, zum Anhalt und Zwecke haben,sie haben das Ding sozusagen im Blich, lassen es sich nähernoder entfernen, in Klarheit oder Verschleierung da sein,sich präsentieren; hier liegen die eigentlichen Aufgaben derPhänomenologie, in der Beschreibung dieser Vorgänge, diesesAufgehens der Dinge selbst. Wie dagegen das Erlebnis esanfängt, in sich selbst Ursprung des Erscheinens desTranszendenten zu sein, ist grundsätzlich unverständlich,auch nicht gegeben und kann nicht gegeben werden. Hierbesteht die Gefahr, daß die Phänomenologie sich selbst, ihreEntdeckungen auf dem Gebiet der Erscheinung, derGegebenheitsweisen, aufgibt und sich auf das Terrain einersubjektiven Konstruktion begibt. […]Es ist festzuhalten: Das phänomenale Feld ist auf eineandere Weise ‘subjektiv’ als das Ichliche, welches selber imphänomenalen Feld erscheint. Es ware dann zu fragen: Muß dasIchliche nicht doch in einer Weise gegeben sein, die esunmittelbar in seiner Originalität erfaßt? Ist es nichtdasjenige, was das cartesianische cogito beinhaltet? Gewißist das ‘ego’ in ‘ego cogito’ etwas unmittelbar Gewisses. DieseGewißheit ist aber keine Gewißheit eines Inhalts, sondernbloß eine Seinsgewißheit ohne jeden Inhalt, mit Ausnahme deseinen: Es ist dasjenige, dem das Erscheinen erscheint, dasErscheinen, das phänomenale Feld ist sein Erscheinen. Es gibtda nichts, was ‘objektiv’ zu erfassen ware, sondern einfacheine Realisierbarkeit der Forderungscharaktere, die sich imErscheinungsfeld an das Ich wenden und das Ichliche alsRealisator erscheinen lassen.” (“Forderung”; BME, 300-2)
Es zeigt sich hier deutlich, dass Patocka das „phänomenale
Feld“ als ein „Feld vorgegebener Möglichkeiten“ beschreibt. Nur
durch die Selektion einiger unter diesen und die Realisierung
anderer solcher Möglichkeiten gelangt das Subjekt in die
Position, sich über ein unaufhebbar anderes (sei es nun der
personal Andere, die Andersheit der Welt oder die seiner
selbst) auf sich zu beziehen. Mit dieser Einsicht aber stoßen
wir auf den Kern von Patockas Phänomenologie „endlicher
Freiheit“: auf die Konzeption eines Möglichkeitshorizonts
namens Welt, in den sich der Mensch gestellt (geworfen) findet,
ohne sich darüber stellen zu können:
“Weil die Existenz nun ihre Möglichkeiten nicht so entwirft,daß sie sie objektiv vor sich hätte,, daß sie sichvorstellte, sondern vielmehr so, daß sie sie realisiert, daßsie sie verwirklicht (oder nicht verwirklicht, sie aufgibt,sich von ihnen entfernt), läßt sich die Existenz alsBewegung definieren. […]” (“Was ist Existenz”, BME, pp. 254)
Es ist dem Menschen laut Patocka folglich nicht möglich, im
„Drama der Welt“ je das Widerspiel seiner Entwürfe aufzufinden,
und sei es seiner eigentlichsten, authentischsten. Denn dieses
Drama widerfährt dem Menschen vielmehr, affiziert ihn, bewegt
ihn und verlangt ihm mithin ab, die Wahrheit seines Seins als
Bewegung – ja genauer Mit-Bewegung – zu übernehmen, zu
erschließen und zu vertreten, doch dazu später.
Um noch genauer zu erfassen, was mit Patockas Idee einer
“asubjektiven Phänomenologie” auf dem Spiel steht, möchte ich
das Manuskript “Die Transzendentalphilosophie Husserls nach der
Revision“, das aus den Jahren 1969/70 stammt, zu Rate ziehen.
In diesem entwickelt Patocka nicht nur eine luzide Darstellung
seines Begriffs von „Subjektivität“, sondern unterstreicht in
eins auch die intrinsische Verflechtung dieser Konzeption mit
seiner Bewegungslehre:
“[1] Die Transzendentalphilosophie kann ihren Anspruch aufabsolute Begründung nicht aufrecht derhalten – absoluteBegründung in adäquater oder zumindester in apodiktischer(wenn auch nichtadäquater) Selbstgegebenheit derSubjektivität gibt es nicht.
Ist nun dadurch 1. die Phänomenologie, 2. dieTranszendentalphilosophie erledigt?
1. Phänomenologie gab es vor dem Transzendentalismus Husserlsund nach ihm - Heidegger, Ontologie, Denken des Seins undder Zeit, des endlichen Ereignisses.
2. Die transzendentale Philosophie muss dann eine Philosophieder Bedingungen der Möglichkeit des Erscheinens überhauptsein, nicht eine Begründung des transzendentalen Subjekts –sie wird asubjektiv – so eigentlich schon bei Husserl, obwohlhier Kant durch Descartes ersetzt wurde; wenn aber derabsolute Boden der Noesis, die Analogie zum absoluten BegriffHegels, wegfällt, bleibt da eine andere Möglichkeit übrigals der heideggersche Rückzug in die ersten Grundlagen desSeins?
Ist es umgekehrt nicht notwendig, auf einer neuen,asubjektiven Grundlage, d.h. auf der Grundlage von Zeit undderen Erhellung etc. eine Theorie der menschlichen Erfahrungals derjenigen Erfahrung darzustellen, die in denZusammenhag dieser ursprünglichen Erhellung gehört? D.h., ist es nicht notwendig, auf einer neuen Grundlage dasProblem der “fundamentalen Ontologie” zu wiederholen? [2] Und zwar so, dass die Hauptstrukturen der Erfahrung –Ich, Freiheit, Möglichkeit, Leiblichkeit, Wahrnehmung, derAndere … – nicht als Grund ausgelegt warden, sondern alsetwas, was auf dem ursprünglichen Geschehen der zeitlichenOffenheit gegründet ist: als das, dem sich diese Offenheitzuwendet und das sie erfüllt?Der ganze Gedanke der existenzialen Analytik muss dannanders – und doch phänomenologisch durchgeführt werden. Anthropologische Strukturen können nicht die Grundlage fürontologische ‘Wahrheit’ sein, aber die ontologische Wahrheitkann zur Grundlage für die Bewegung der Wahrheit der Existenzwerden.” 2
Zusammenfassend gesprochen ist der Hauptangriffspunkt von
Patockas Kritik an Husserl dessen Begriff der Konstitution.
2 J. Patocka, Vom Erscheinen als solchen, p. 52-3. Vgl. ders., „Was ist Existenz“,253: Die Bewegung der Wahrheit ist nur durch unsere Einsicht in und die Akzeptierung der ontologischen Wahrheit unseres Bewegungscharakters möglich.
Bedienen wir uns der neuerdings von Jean-Luc Marion
entwickelten Terminologie, so lässt sich sagen, dass Patocka
wohl der erste Phänomenologe war, der dem von Marion gegen das
Konstitutionsdenken herausgestellten „Primat der Gegebenheit“
auf der Spur war. Seine Analysen haben, in der Tat lange vor
Marions systematischer Beschäftigung mit dem Thema, die
Eigendynamik (élan, effet) der Gegebenheit im Phänomen der
Bewegung ins Auge zu fassen gesucht. Bewegung ist hier weder
objektiv, kosmologisch noch seinsgeschichtlich aufzufassen.
Vielmehr handelt es sich um eine umgreifende Bewegung, die sich
nicht zuletzt auf Seiten desjenigen ereignet, der sich für die
Gegebenheit der Phänomene öffnet, ohne noch auf ihrer
reflexiven Aneignung und Auslegung zu bestehen. Beide Denker
haben darüber hinaus das Prinzip der „Suspension des Prinzips
des zureichenden Grundes“ propagiert”3; beide sehen also,
anders gewendet, dass die Phänomene nicht von einem
vorausgehenden Grund abhängig gemacht werden dürfen. Das
besagt, dass weder ein „konstituierendes Ego“ noch ein
„vorgegebener Horizont“ (wie eben die Objektivität bei Husserl,
das Sein Heideggers, oder der Leib bei Merleau-Ponty) die
Intelligibilität des Phänomens, so wie dieses sich entfaltet,
vorherbestimmen dürfen.
Wir stoßen in diesem Kontext auf eine weitere
bemerkenswerte Ähnlichkeit zwischen den Auffassungen Patockas
und Marions. Beide konfrontieren die „Aporien des ‚Ssubjekts’“,
(cf., e.g., Being given, § 25) und verstehen das, was „nach dem3 J.-L. Marion, „Aspekte der Religionsphänomenologie. Grund, Horizont,Offenbarung“, 88: „Das ‚Prinzip aller Prinzipien‘ muss, weil es das ‚Zurückzu den Sachen selbst‘ ermöglicht, vielleicht als eine Suspension desPrinzips des zureichenden Grundes verstanden werden – das Phänomen stehtnicht mehr beim Grund in Schuld, weil seine Gegebenheit selbst als Grundgilt.“
Subjekt“ kommt, ganz ähnlich. Marion definiertjene instanz als
l’adonné, den „Hingegebenen“, denjenigen, der sich in der
Entfaltung der Gegebenheit selbst findet; Patocka wiederum
spricht über das Subjekt als „Resultat“ des
Erscheinensprozesses, versteht es als „Addressaten“ des
Erscheinens als solchen (Vom Erscheinen, p. 92). Es ist sich
mithin nie originär selbst gegeben, sondern mit-gegeben, es
erfährt sich im Akkusativ (ibid., pp. 98-9) angesichts des
Anspruchs der Gegebenheit, auf den es zu antworten bzw. dem es
zu entsprechen hat.
Für Patocka folgt hieraus, ich habe darauf schon
hingewiesen, dass wir unsere Selbstheit im Horizont der
Realisierung jener Möglichkeiten zu denken haben, die sich uns
in der Begegnung mit dem phänomenalen Feld eröffnen. Dieser
Aspekt scheint mir in Marions Werk nicht prominent zu sein, ist
aber von grundlegendster Bedeutung für Patocka, sofern dieser
unserer Verantwortung dem Erscheinen als solchen gegenüber
nachdenkt. Denn Patocka denkt in kritischer Wendung gegen
Heidegger das In-der-Welt-sein als wesensmäßig verleiblicht und
mithin die Realisierung der angesprochenen Möglichkeit als
Aufgabe unserer Praxis. Diese wiederum ereignet sich in der
„natürlichen Welt“, der „Welt von Gut und Böse“ (cf. BME, 325-
7), jener Welt also, in deren Werden wir von Anbeginn an mit
anderen verstrickt sind. Mit dieser Auslegung des Welthorizonts
als Möglichkeitsfeld aber ist die Verbindung von „asubjektiver
Phänomenologie“ und Bewegungslehre, auf die ich hinweisen
wollte, bereits angezeigt:
“Das ego ist also weiter nichts als der Seinscharakter einesSeienden, welches an seinem Sein interessiert ist, welches
zeitlich und bewegt existiert. Das weist dann noch weiterhinaus über die Sphäre der Ichlichkeit. Das in einerradikalen Analyse der phänomenalen Sphäre gewonnene Resultatzeigt in die Richtung einer ursprünglichen Zeit, keinesbloßen Zeiterlebens, sondern der Zeit als solcher.So steigt die asubjektive Phänomenologie in Dimensionen,
welche der subjektiven unzugänglich waren, in Dimensionen,welche nicht absperren, sondern öffnen [sc. the dimensionsof original time, MS]. Andererseits ist sie auch befähigt,hinunterzusteigen zur Analyse derjenigen Lebensbewegungen,welche unser ‘sum’ vollführt und in deren Verlauf diephänomenale Sphäre ihre konkrete Ausgestaltung gewinnt. Das‘ego sum’ muß unter den Dingen und Menschen festen Standgewinnen, sich einwurzeln, um eines Tages an dersubstanzverzehrenden Abwehr des Andrangs der Weltteilzunehmen, es muß in dieser Bewegung dem Verlust deseigenen Wesens zustimmen, um es vielleicht eines Tageswiederzugewinnen.” (“Möglichkeit”, BME, p. 284)
2. Rekapitulation der „Bewegung der menschlichen Existenz“
Patočkas zentrale Idee, die die Lehre von der Bewegung der
menschlichen Existenz beseelt, besagt, dass diese Bewegung weit
davon entfernt ist, als ein bloßer Prozess in der Welt
verstanden werden zu können. Er sieht darin vielmehr ein
selbstbezügliches und welterschließendes Geschehen. Zu dieser
Einsicht führte ihn das Studium der „natürlichen Welt“, deren
geschichtliche Bewegtheit er in seinem späteren Denken in der
„Bewegung des Weltwesens“4 – also jenes Wesens, das diese Welt
verschiedentlich versteht, aber nicht nur hat – verankert
sieht. Dies heißt anders formuliert, dass Patočka den
handelnden Menschen als Teil jenes umfassenden „Weltdramas“5
versteht, dessen mehrfältige Dynamik Heidegger im Hinblick auf
die fundamentalontologisch ausgezeichnete Möglichkeit eines
4 Jan Patočka, Die Bewegung der menschlichen Existenz, 227.5 Ebd. 115.
„eigentlichen Seinkönnens“ abblendet. Wenngleich der
Ansatzpunkt also zweifellos daseinsanalytisch ist, wendet sich
Patočka doch in ein und demselben Zuge auch gegen Heidegger. Er
tut dies dort, wo dieser die Entbergung des Seinsereignisses
gegen eine vorbehaltlose Deskription des konkreten
existentialen Beziehungsgeflechts ausspielt, in dem sich eine
umfassende Phänomenologie des menschlichen Lebens nur
auszusprechen vermag. Er tut dies, sofern er Heideggers Kritik
des Husserlschen Subjektivismus damit ihrerseits in den
„Irrationalismus eines vorgängigen Seins“ abgleiten sieht, in
„eine Bewegung ohne jeden menschlichen Abschluss, ohne einen
praktischen Wert“, in einen Prozess also, in dem es „völlig
nebensächlich wäre, was der Mensch dem Mensch bedeutet und
bedeuten kann.“6
Mit der Enthüllung des „phänomenalen Feldes“ als „Raum“
der Begegnung von Mensch, Mitmensch und Seiendem zielt Patočka
im Gegenzug auf etwas Umfassenderes. Das Ziel seiner
Reflexionen ist die dynamisch sich realisierende Einheit dieses
Feldes, die sich in den Mitbewegungen menschlicher Existenz
erschließt und in der Selbstbewegtheit gelebter Leiblichkeit fundiert
ist. Im Rückgang auf dieses Feld, das uns eine Welt anzeigt,
die sich in der Bewegung des Verstehens offenbart, zugleich
aber in ihrer unabschließbaren Nichtobjektivierbarkeit diese
Bewegung selbst trägt, beschreibt Patočka die Bewegung der
menschlichen Existenz; er zeichnet sie als eine dreifältige
Bewegung, deren welterschließenden Charakter er in Korrelation
zu den fundamentalen Zeitigungsweisen des Lebens denkt.7
6 Ebd. 229.7 Die wesentlichen Züge von Patočkas Konzeption finden sich erstmals ineinem 1965 zuerst in tschechischer Sprache erscheinen Aufsatz “ZurVorgeschichte von der Wissenschaft der Bewegung. Welt, Erde, Himmel und die
Der erste Modus dieser Bewegung besteht in der
vergangenheitsbezogenen, instinktiv-affektiven Bewegung der
„Verankerung“ oder „Verwurzelung“. In dieser grundsätzlich prä-
reflexiv verlaufenden Bewegung eignet sich der Mensch, als vom
Anderen ursprünglich angenommener, sich selbst, seine
Fähigkeiten und die Welt an und wird so in ihr heimisch. Das
notwendige horizontale Referens dieser Bewegung verortet
Patocka in der Erde, die im Sinne eines „universalen Körpers“,
„allgemeinen Objekts“ (Hegel) oder der Husserlschen „Ur-Arché“
den unbeweglichen Referenzpunkt leiblicher Bewegung schlechthin
ausmacht. Im Gegenzug zur ernährenden Macht und Nähe der Erde
wiederum versteht Patocka den Himmel als ein korrelatives
vertikales Referens, das den Menschen in den Grundunterschied
von Erreichbarem und Unerreichbaren einweiht und die generellen
Rhythmen des Lebens prädeterminiert. Die Welt, die sich in
dieser Bewegung nach Nähe und Ferne, Fremde und Heimat, Liebe
und Hass, aber auch nach den kosmischen Koordinaten zyklischer
Reproduktion gliedert, wird in dieser Bewegung zu einem
universalen Orientierungsraum. Das affektive Zentrum dieses
Raumes kann man mit Levinas die „Bleibe“ nennen8, d.h. jenen
Ort, an dem sich Subjekt und Welt in der „Geborgenheit des
Vorgefundenen“9 wechselseitig durchdringen. Patocka zufolge
bestimmt diese Bewegung der Verankerung das Leben in allen
seinen Sphären in umfassender und kontinuierlicher Weise.
Den zweiten Modus, der in der durch die Verankerung
ermöglichten Entwicklung und Beherrschung unserer Fähigkeiten
(und damit der Welt und der Anderen) im Horizont unserer
Bewegung des menschlichen Lebens” (in: Die Bewegung der menschlichen Existenz.A.a.O. 132-143). 8 Vgl. Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. A.a.O. 217-253.9 Jan Patočka, Die Bewegung der menschlichen Existenz. A.a.O. 256.
bedürfnisbedingten Selbsterhaltung ruht, bezeichnet Patočka als
„Selbstverlängerung“, „Reproduktion“ oder auch „Einschaltung in
die Sachverhältnisse.“ Dieser Modus ist gegenwartsbezogen und
betrifft die Notwendigkeit unserer „Konfrontation mit den
Dingen und den anderen Menschen in ihrem Austausch mit den
Dingen“10. Ohne die Reproduktion der Lebensbewegung in dieser
verallgemeinerten Mit-Bewegung, d.h. ohne den Aufschub der
ursprünglichen instinktiven Befriedigung desselben, wäre
menschliches Leben „im physischen Sinne nicht möglich“ (BCLW,
150). Zersplitterung des Lebens, serielles Rollenverhalten und
Zurichtung der Dinge bestimmen diese Bewegung in ihren
wesentlichen Zügen. Einem grundsätzlich instrumentellen
Weltverständnis korrespondiert hier ein Aufgehen leiblich-
bedürftiger Existenz in der Welt, d.h. eine Verdinglichung des
Menschen, die bis zu seiner Entfremdung führen kann11; es
handelt sich hierbei um eine Verdinglichung, in der sich das
ursprüngliche Miteinander tendenziell im Modus des
Gegeneinander respektive der Selbst-Kontrolle auslebt. Dennoch
darf man Patocka zufolge diese zweite Bewegung nicht rein
negativ als eine Verblendung des Selbst und der anderen
auffassen, als bloße Herrschaft sozialer Rollenzuschreibungen
und von Anoynmität, sondern auch als die „Konstitution eines
„anorganischen Körpers“ und eines „Sinnzusammenhangs“, in dem
wir primär leben und folglich als eine „Humanisierung der
Welt“, in der „Verstehen nur anheben kann“ (cf. BCLW, 150-1
resp. 157-8).
10 Ebd.11 Wie Patočka ausführt, handelt es sich hierbei jedoch nicht um eineMöglichkeit, der die Möglichkeit eines „eigentlichen Seinkönnens“entgegenzusetzen wäre, sondern vielmehr um eine in unserer leiblichenExistenzweise begründete Notwendigkeit.
Der dritte Modus der Lebensbewegung schließlich, der nur
auf der Grundlage der beiden bislang genannten möglich ist,
wird von Patočka als Bewegung des „Durchbruchs“ bezeichnet.
Durchbrochen wird in dieser „eigentlich menschlichen Bewegung“
die mit der Bewegung des Sich-Einschaltens geschaffene
„Zerstreutheit, ‚Verfallenheit’ an die Dinge und deren
Herrschaft“12, die uns in letzter Instanz unsere Endlichkeit
verbirgt. Sofern die festen Koordinaten unserer Verankerung in
dieser Bewegung auf ihr Jenseits hin überschritten werden,
ereignet sich hier ein Verlust unserer bisherigen
Sinnzuschreibungen und Selbstbilder. Die damit verbundene
Wendung nach außen, die den Kreis der Selbstvergessenheit
durchbricht, schließt sich jedoch nicht einfach in ein neues
Bild des Selbst. Als Einsicht nicht in das Seiende, sondern in
das, „was wesentlich vom Seienden verschieden ist und jegliche
Begegnung (sc. mit Seiendem; M.S.) erst möglich macht – die
Möglichkeit par excellence: die Welt (d.h. das Sein als
Sinnzusammenhang und Schlüssel zu allem Verstehen; M.S.)“13 impliziert
diese Bewegung vielmehr eine radikale Selbsthingabe. Patočka
beschreibt sie deswegen auch als eine Bewegung der
„Selbstgewinnung durch Selbstauslieferung“ (ebd.). Denn das
Leben gewinnt sich in ihr nur, um sich zu verschenken, d.h. um
die Freiheit der anderen zu ermöglichen.14
„Die dritte Lebensbewegung kann als Zugang zurSelbstgewinnung durch Selbstauslieferung charakterisiertwerden, durch das Bekenntnis zur Endlichkeit und durch ihreAnnahme. […] Hieraus folgt, dass sich der bisherige Sinn,die Richtung des Lebens, seiner Bewegung wendet. Er war in
12 Jan Patočka: Die Bewegung der menschlichen Existenz. A.a.O. 140.13 Ebd. 256.14 Vgl. ebd. 141.
sich selbst zurückgewendet, verlief im Kreis der Selbst-Aufhebung und Selbst-Vergessenheit. Es wendet sich nun nachaußen, dorthin, wo es sich selbst gewinnt. Und das heißtzugleich: es kann sich nichts anderem zuwenden als zu einemanderen Leben. Das Leben, das sich als Existent gewonnenhat, kann sich nicht verschließen, da es so wieder zurbloßen Selbstverlängerung herabsinken würde;das Leben, dassich zu seiner Endlichkeit bekannt hat, hat sich nurgewonnen, umsich zu schenken. Das bedeutet, das Leben muß anandere Leben appellieren, sich anderen Leben hingeben, abernicht um der Verlängerung ihrer bloßen Selbstverlorenheitwillen, sondern um die gemeinsame reine Innerlichkeit zufinden, um des gemeinsamen Durchdrungenseins, des Wunderseines inneren Zugangs zum Anderen willen. Denn das Erdbeben,mit dem der feste Boden erschüttert wurde, hat auch dasvernichtet, was uns trennt, was uns einander fremd macht.Die Bewegung des Geistes in seinen mannigfaltigenGestaltungen ist die Bewegung einer inneren gegenseitigenDurchdringung. Es ist also ein Sich-Überschreiten auf einHöheres hin, zugleich tiefer als die empirische Dauer unddas imaginäre Überleben.“ (BMW, 140-1)
So besteht die Aufgabe dieser dritten Bewegung also darin, eine
„durch Hingabe geeinte Gemeinschaft [zu] schaffen, eine
dienende Gemeinschaft, die die Einzelnen ebenso
überschreitet“15, wie die Macht der Verdinglichung, die ihre
Trennung zu besiegeln schien. Das wohl bekannteste Beispiel für
solch eine Gemeinschaft findet sich in Patockas Ketzerischen
Essays, die die Bewegungslehre geschichtsphilosophisch
konkretisieren, im Konzept der „Solidarität der Erschütterten“.
Er entwickelte diese Konzept im Rekurs auf die Fronterfahrung
im 1. Weltkrieg als die utopische Vision einer „ungeheuren
Umkehr, eines beispiellosen metanoien“, das angesichts der
„totalen Mobilmachung“ der „Kräfte des Tages“ freilich nur wie
der Abglanz einer schwachen Hoffnung wirkt, denn:
15 Jan Patočka, Die natürliche Welt als philosophisches Problem, a.a.O. 267.
„Der Krieg ist in diesem Jahrhundert die vollendeteRevolution der Alltäglichkeit. Hand in Hand mit ihmmarschieren die universale Befreiung und das universaleHappening, der Orgiasmus in neuen Formen. […] Der Krieg istzugleich das größte Unternehmen der industriellenZivilisation, das Produkt und das Werkzeug der totalenMobilisierung […] und die Freisetzung der orgiastischenPotenziale, denen nirgendwo anders das Extrem eines Rauschesgestattet ist, der sich durch Vernichtung herstellt.“ (KE:135)
Die Aufgabe der dagegen ins Felde geführten „Solidarität der
Erschütterten“ ist keine geringere, als die Eröffnung der
Möglichkeit, sich dieser Metaphysik der Kraft (der Kräfte des
Tages) und dem „imaginären Überleben“ (BME: 141), das diese
verspricht, zu entziehen:
„Die Solidarität der Erschütterten hat die Fähigkeit, ‚nein‘zu sagen zu allen Mobilisierungsmaßnahmen, die denKriegszustand verewigen. Sie wird keine positiven Programmeaufstellen, sondern sie wird, gleich dem daimon desSokrates, in Warnungen und Verboten sprechen […] DieSolidarität der Erschütterten bildet sich in Verfolgung undUngewißheit: das ist ihre Front, eine stille Front, ohneReklame und Sensation auch da, wo sich die herrschende Kraftunter Einsatz dieser Mittel ihrer zu bemächtigen sucht.“(KE, 158)
Patocka muss gleichwohl, um diese Solidarität ins Werk setzen
zu können, an die „Kräfte der Nacht“ appellieren:
„Die große, die tiefe Erfahrung der Front und ihrerFeuerlinie beruht jedoch darauf, dass sie die Nacht in ihrerDringlichkeit und Unabweisbarkeit beschwört. Frieden und Tagkönnen nicht anders herrschen, als dass sie Menschen in denTod schicken, um anderen einen künftigen Tag im Zeichen desFortschritts, einer langsamen und kontinuierlichenEntwicklung und heute noch nicht existierender Möglichkeitensicherzustellen. Von den Geopferten dagegen wird Ausdauer imAngesicht des Todes verlangt. Das bedeutet, man weiß dunkel,dass das Leben nicht alles ist, dass es sich selbst aufgeben
kann. Eben diese Selbstaufgabe, dieses Opfer wird gefordert.Es wird gefordert als etwas Relatives, als etwas, das aufFrieden und Tag bezogen ist. Die Fronterfahrung jedoch isteine absolute Erfahrung. Wie Teilhard [de Chardin] zeigte,erfahren die Frontkämpfer plötzlich eine überwältigendeabsolute Freiheit, eine Freiheit von allen Interessen desFriedens, des Lebens, des Tages. Damit hat das Opfer dieserGeopferten plötzlich nicht mehr nur relative Bedeutung, esist nicht mehr ein Beitrag zu den Programmen von Aufbau,Fortschritt und Erweiterung der Lebensmöglichkeiten,vielmehr hat es Bedeutung allein in sich selbst. […] “
3. Schlussbemerkung
Ich möchte nun abschließend das Augenmerk auf zwei Motive
lenken, die mir in Patockas Werk von besonderer
sozialphänomenologischer, ja sozialphilosophischer Relevanz zu
sein scheinen. Zum einen, und damit kehre ich auch zur
Bedeutung der asubjektiven Grundlegung seines Ansatzes zurück,
handelt es sich um die Eigenbedeutung vertikaler Erfahrungen und
Gegebenheitsweisen, denen er v.a. in seiner Analyse der
Bewegung des Durchbruchs, aber nicht nur bei dieser, auf die
Spur kommt. Den Begriff des Vertikalen übernehme ich von
Anthony Steinbock. Dieser hat ihn mit Bezugnahme auf Merleau-
Pontys Konzept der „vertikalen Welt“, Lévinas‘ Aufweis der
ethischen Dimension irreduzibler Höhe( wie sie sich in der
Epiphanie des Anderen bekundet), sowie Max Schelers und Michel
Henrys freilich divergierender Unterscheidung von Manifestation
und Offenbarung entwickelt. Steinbocks Ziel ist es,
verschiedene Formen vertikaler Erfahrung, die sich dem
traditionellen Begriff von Erfahrung, den er als presentation
fasst, entziehen:
„The mode of givenness that has dominated a philosophical(and especially a phenomenological) way of seeing, I callpresentation. Presentation is a type of givenness that ispeculiar to sensible and intellectual objects and is more orless dependent upon my power to usher things into appearancewithin a context of significance.“ (Steinbock, Phen. andMysticism, p. 7)
Im Gegenzug zu solch einer verengten Auffassung von Gegebenheit
propagiert Steinbock eine Dis-position oder epoché, die sich
der, wie er formuliert, economy of intentional presentation and
concealment, wie er sie in HusserlsPhänomenologie am Werk sieht,
zu entziehen vermag:
„Phenomenology can be understood as a methodological attemptto practice such a disposition for a possible dis-position.Such a practice can lead us, perhaps beyond our own efforts,to the forgetfulness of the self as the openness toperceptual and epistemic objects, but also to whatever givesitself in its own manner: to the epiphany of the Holy, to therevelation of human persons, to the manifestation of culturalproducts, to the disclosure of the Earth, and to the display ofelemental beings. All the givens that phenomenology istrying to track have in some sense been given all along, sothat the phenomenologist’s activity is just as much aresponse to such an initiated givenness.“ (ibid., p. )
Das Denken Patockas kennt, wiewohl es vom Erscheinen der Dinge
in der Welt ausgeht und all seine Einsichten hierauf
zurückbezieht, Instanzen solcher Vertikalität. Es wäre
natürlich naheliegend, hier nochmals die Erfahrung des
Durchbruchs aufzugreifen, die in der Beschreibung als metanoia
ja durchaus auch religiöse Töne ins Spiel bringt (und insofern
für Steinbocks eigenes Projekt relevant ist). Ich möchte dies
jedoch nicht tun, sondern knapp einen anderen Topos aufgreifen,
der sich bereits in seiner Beschreibung der „natürlichen Welt“
findet, dann in der Analyse der ersten Bewegung, jener der
Verankerung, noch verstärkt Berücksichtigung findet: Es handelt
sich um die Liebe. Die Liebe gibt, um einen zentralen Gedanken
Jean-Luc Marions aufzugreifen, der sich sehr ähnlich bereits
bei Patocka findet, „was sie nicht hat“. Sie gibt den Anderen
sich selbst und verausgabt sich dahingehend, von einem
Gegebenen angenommen zu werden, der sich dem Prinzip des
zureichenden Grundes entzieht. Diese Lesart der Liebe offenbart
die umgreifende vertikale Wahrheit der ersten Bewegung, die
aller Selbstverlängerung und Projektion vorhergeht und diese
trägt. Die Verankerung durch Liebe ist in diesem Sinne in eins
eine erste und in der Tat exemplarische Form des Durchbruchs.
Das zweite, in der Tat gegenstrebige Motiv bezieht sich
auf Patockas Einsicht in die Irreduzibilität der Nacht, des
Polemos (im Sinne eines „Bandes der Teilung“), d.h. in die
Unaufhebbarkeit negativer (Momente der) Sozialität. Diese
lassen sich mithin auch im Verlaufe der dreifältigen, offenbar
dialektisch angelegten Bewegung der menschlichen Existenz nicht
austreiben, wodurch diese Bewegung zu einer offenen und
unabschließbaren Dialektik gerät. Deutlich wird dies nicht nur
daran, dass die Gewalt einen konstitutiven Bestandteil der
zweiten Bewegung ausmacht, die Patocka ja unauflöslich als Mit-
und Gegeneinander fasst. Die Gewalt ist aber auch in der ersten
Bewegung der Verankerung nicht abwesend, im Gegenteil: Patocka
bringt sie hier mit der Macht der Erde in Zusammenhang, die in
ihrer horizontalen Immensität „die Vertikale des Lebens“
durchherrscht (BME, 137). Entscheidend erscheint letztlich
jedoch die Unaufhebbarkeit der Gewalt im Bereich der dritten
Bewegung, wo sie als die „Inauthentizität“ des Durchbruchs
begegnet, also als die Gefahr der „Blendung durch die
Endlichkeit“ (BCLW, 151). Die unaufhebbare Ambiguität des
Opfers etwa, das mit dieser Bewegung ja einhergeht, zeigt sich
deutlich in der folgenden Stelle:
„Im Bekenntnis zur Endlichkeit ereignet sich etwas anderes als die Deklaration der Nichtigkeit und des Nihilismus. Es ereignet sich darin die Bewältigung der Endlichkeit, die eine wahrhaftige Bewältigung im Sinne von bewältigen und erhalten darstellt. Das Leben vermag es nicht nur, sich durch Selbstberaubung zu verlängern, sondern auch sich durchSelbstaufgabe umzugestalten. Es vermag sich nicht nur für die höchste Gewalt, sondern auch für ohnmächtig zu erklären und sich so der Gewalt des höchsten, des primären Sinnes auszuliefern. Erst hier wird dem Leben die negative Kraft zueigen, sich zu geben, sich hinzugeben. Ein seiendes Wesen kann sich jedoch keinem sonst als dem Anderen hingeben. Die Kraft der Transsubstantiation des Lebens ist die Kraft der neuen Liebe, einer Liebe, die sich dem Anderen bedingungsloshingibt.“
Die Stoßrichtung ist klar. Doch dass Patocka hier vom Leben
spricht, sollte uns nachdenklich stimmen, zumal die Hingabe
durchaus auch darin bestehen kann, „zu töten und hinzurichten“,
ohne dadurch notwendig unmenschlich zu werden. Dies steht
sicherlich dem genannten „‚nein’ zu sagen zu allen
Mobilisierungsmaßnahmen, die den Kriegszustand verewigen“
gegenüber. Letztlich ist es aber zumindest auch die klare
Anerkenntnis, dass wir angesichts des Nihilismus nicht die
Position des „letzten Menschen“ annehmen können, der „sein
Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht hat.“
(Nietzsche, Also sprach Zarathustra, p. 20) Anzuerkennen bleibt
vielmehr, was Lévinas uns hinsichtlich der Gewalt ins Stammbuch
geschrieben hat:
„Das eigentliche Problem besteht für uns [andere]Abendländer nicht so sehr darin, die Gewalt abzulehnen, alsvielmehr darin, uns zu fragen, wie wir die Gewalt sobekämpfen sollen, dass wir – ohne in derWiderstandsverweigerung gegenüber dem Bösen zu verkümmern –die Institutionalisierung der Gewalt infolge ebendiesesKampfes verhindern können.“16
Mit dieser Frage gerungen zu haben, ohne vorschnelle
Etikettierungen vorzunehmen – Ricoeur erinnert uns etwa daran,
dass Patocka hinsichtlich des Krieges nie vom Bösen sprach –,
mit ihr also ernsthaft gerungen zu haben, davon zeugt das
Denken Patockas in ausgezeichnetem Maße.
16 Emmanuel Levinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. A.a.O.378.