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Die Mit-Bewegung der menschlichen Existenz Zu Jan Patockas Phänomenologie der sozialen Welt Michael Staudigl Im Ausgang von seiner frühen Studie zur „Natürlichen Welt als philosophisches Problem“ (1936) erarbeitete der tschechische Philosoph Jan Patocka (1907-1977) im Verlaufe seines Denkweges eine eigenständige Position, die er als „phänomenologische Philosophie“ bezeichnete. Sein Bestreben bestand dabei in erster Linie darin, nicht nur dem „Husserlschen Subjektivismus“ zu entgehen, „der das Absolute im Menschen zu finden meint“, sondern auch dem – auf Heidegger gemünzten – „Irrationalismus jenes vorgängigen Seins, dem dann der Mensch auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist.“ Aus dieser doppelten Frontstellung gegen die von ihm kritisierten Tendenzen seiner Lehrer heraus und unter Aufnahme Merleau-Ponty’scher und auch Levinas’scher Motive entwickelte Patocka die Konzeption einer „a-subjektiven Phänomenologie“. Mit dieser versuchte er, der Autonomie der Phänomenalebene, dem „Erscheinen als solchen“, wie er formulierte, auf die Spur zu kommen. Dieses „phänomenale Feld“ ist für Patocka weder als unser „Entwurf“ bzw. unsere „Möglichkeit“, noch als das (kreative) „Werk“ der Subjektivität zu verstehen. Er versteht darunter vielmehr jenen ursprünglichen Möglichkeitsraum, in dem wir außer uns sind und uns allererst gegeben werden und empfangen. Patocka antizipiert mit dieser „a-subjektiven Phänomenologie“ zentrale Motive, die J.-L. Marion gegenwärtig unter dem Schlagwort eines „Primats der Gegebenheit“

Die Mit-Bewegung der menschlichen Existenz Zu Jan Patockas Phänomenologie der sozialen Welt

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Die Mit-Bewegung der menschlichen Existenz

Zu Jan Patockas Phänomenologie der sozialen Welt

Michael Staudigl

Im Ausgang von seiner frühen Studie zur „Natürlichen Welt als

philosophisches Problem“ (1936) erarbeitete der tschechische

Philosoph Jan Patocka (1907-1977) im Verlaufe seines Denkweges

eine eigenständige Position, die er als „phänomenologische

Philosophie“ bezeichnete. Sein Bestreben bestand dabei in

erster Linie darin, nicht nur dem „Husserlschen Subjektivismus“

zu entgehen, „der das Absolute im Menschen zu finden meint“,

sondern auch dem – auf Heidegger gemünzten – „Irrationalismus

jenes vorgängigen Seins, dem dann der Mensch auf Gedeih und

Verderb ausgeliefert ist.“

Aus dieser doppelten Frontstellung gegen die von ihm

kritisierten Tendenzen seiner Lehrer heraus und unter Aufnahme

Merleau-Ponty’scher und auch Levinas’scher Motive entwickelte

Patocka die Konzeption einer „a-subjektiven Phänomenologie“.

Mit dieser versuchte er, der Autonomie der Phänomenalebene, dem

„Erscheinen als solchen“, wie er formulierte, auf die Spur zu

kommen. Dieses „phänomenale Feld“ ist für Patocka weder als

unser „Entwurf“ bzw. unsere „Möglichkeit“, noch als das

(kreative) „Werk“ der Subjektivität zu verstehen. Er versteht

darunter vielmehr jenen ursprünglichen Möglichkeitsraum, in dem

wir außer uns sind und uns allererst gegeben werden und

empfangen. Patocka antizipiert mit dieser „a-subjektiven

Phänomenologie“ zentrale Motive, die J.-L. Marion gegenwärtig

unter dem Schlagwort eines „Primats der Gegebenheit“

systematisch entwickelt hat und denkt auch ähnlich wie Marion

das Subjekt als den „Adressaten des Erscheinens“, als mithin

nicht-ursprüngliche Instanz.1

Es ist meine Überzeugung, dass Patockas bekanntere Lehre

von der „Bewegung der menschlichen Existenz“ auf der Grundlage

dieser nicht-fundierenden Auffassung von Phänomenologie zu

verstehen bleibt. Er unterscheidet in dieser Konzeption drei

Bewegungen, die der affektiven „Verwurzelung“ in der Welt

mithilfe der anderen, die der objektivierenden

„Selbstverlängerung“ in Arbeit, Technik und allgemein in

gesellschaftlicher Organisation, und diejenige des

„Durchbruchs“, d.h. die einer Selbstgewinnung durch

Auslieferung an die Endlichkeit, die er u.a. in der berühmt

gewordenen Formel von der „Solidarität der Erschütterten“

festgehalten hat. Dieser Lehre ist zuletzt vermehrt

Aufmerksamkeit geschenkt worden. Gleichwohl wurde dabei kaum

bemerkt, dass Patocka seine Bewegungslehre durchgängig als eine

Mit-Bewegung in der Gegenseitigkeit und im Gegeneinander mit

anderen konzipiert hat; auch die dritte Bewegung des

Durchbruchs ist vor dieser Ambiguität nicht gefeit, im

Gegenteil. Vor diesem Hintergrund möchte ich Patockas

Konzeption der Bewegung der menschlichen Existenz als eine

Phänomenologie der sozialen Welt rekonstruieren, die auch

Phänomene „negativer Sozialität“ (wie Diskriminierung,

Ungerechtigkeit, Gewalt, etc.) in ihr Recht zu denken erlaubt,

ohne sie als bloße Mangelphänomene abzutun, die sich im

1 Ich kann hier die Nähe der Positionen Patockas zu entscheidendenEinsichten von J.-L. Marions „Phänomenologie der Gegebenheit“ nichtausführlich dartun. Vgl. dazu aber E. Tardivel, „La liberté commeexpérience du monde“ sowie Marions eigene Ausführungen in „La donation,dispense du monde“.

Horizont einer von Verantwortung, Gerechtigkeit und Anerkennung

etc. geprägten Gesellschaft letztlich aufheben lassen sollen.

Im vorstehenden Vortrag werde ich, um diesen Gedankengang

darzulegen, zunächst Patockas Idee einer „a-subjektiven

Phänomenologie“ skizzieren, wie sie bereits in seiner Analyse

des „natürlichen Weltbegriffs“ angedeutet wird. In einem

zweiten Schritt werde ich die Konzeption der drei Bewegungen

der menschlichen Existenz genauer vorstellen, um in einem

abschließenden dritten Teil die Eigenart dieser Phänomenologie

der sozialen Welt – als einer „Welt von Gut und Böse“ – zu

rekonstruieren, die Patockas Denken auszeichnet.

1. Der asubjektive Einsatz der Phänomenologie

Patockas Auffassung einer asubjektiven Phänomenologie kreist um

das Konzept des „Erscheinens als solchen“. Die zentrale Absicht

dieses Konzepts besteht darin, die Aufgabe der Phänomenologie

in die Beschreibung der „apriorischen Regeln des Erscheinens“

zu verlagern. Patocka versucht zu zeigen, wie sich diese

„Regeln“ in der Dynamik des „phänomenalen Feldes“ entfalten.

Diese Auffassung bezeugt seine grundsätzliche Kritik an der

Husserlschen Auffassung von Phänomenologie. Genauer gesagt

sieht er in Husserls transzendentalem Ansatz eine

(cartesianisch geprägte) „Fundierungsabsicht“ am Werk. Denn in

letzter Instanz setzt Husserls Projekt, auch wenn es in der

Praxis dieser Tendenz mitunter entgegenläuft, das Subjekt

respektive Ego als ein fundamentum inconcussum des

Konstitutionsgeschehens voraus, d.h. als eine „fundierende

Schicht“. Husserls „transzendentaler Idealismus“ wird also von

Patocka, und dies trotz seiner fraglos innovativen korre-

lationstheoretischen Artikulation, heftig kritisiert. Um mit

der Terminologie der Ideen I zu sprechen: Patocka versteht

Husserls Ansatz als ein reduktives Projekt, das alle sog.

„Einheiten des Sinnes“ auf ein „sinngebendes Bewusstsein“

zurückzuführen versucht. Patocka beabsichtigt im Gegenzug dazu

im Horizont einer universalisierten epoché, die auch die

„Transzendenz des Ego“ noch in Klammer setzt, das deskriptive

Potential der Phänomenologie von den darin wirksamen

Cartesianischen Interdikten zu befreien. Seiner Überzeugung

zufolge verführten diese Husserl dazu, den welthaften

Erscheinensprozess und den ihm eigenen Dynamismus aus den Augen

zu verlieren, d.h. jene offene Bewegung der Sinnbildung, die

die Welt ist. Da diese Bewegung offen ist, zieht sie das

Subjekt in sich hinein: Da sie offen ist, spricht uns ihr

jeweiliger Sinn an und fordert uns zu antworten auf. Dadurch

eröffnet der Erscheinensprozess in eins den Raum

geschichtlicher Existierens. In diesem Zusammenhang, d.h. im

Zuge der Einblicknahme in den offenen und unabschließbaren Feld-

Charakter des Erscheinens, erschließt sich uns Patocka zufolge

erst die Tragweite des „Prinzips der Prinzipien“; hier erst

stoßen wir mithin, um seine Formulierung im Artikel “Der

Subjektivismus der Husserlschen und die Forderung einer

asubjektiven Phänomenlogie“ aufzugreifen, auf die

„ursprünglichen Aufgaben der Phänomenologie“:

Das Ursprüngliche sind Dinge und dingliche Charaktere, dieaufgrund und mit anderen nichtdinglichen, aber genausogegenständlichen, ‘mir gegenüber’ befindlichen“, erscheinen.

Dasjenige, aufgrund dessen die Sache erscheint, ist selbstsachlich und nicht subjektiv da; dasjenige, was von Husserlgegen Natorp ins Feld geführt wird, das ‘Erlebte’, ist garnicht gegeben und es verstößt gegen das ‘Prinzip derPrinzipien’ (daß nämlich die letzte Instanz, auf welche manin Erkenntnissachen zu rekurrieren hat, das Gegebene ist,aber nur insofern, als es tatsächlich gegeben ist), bei derAnalyse des Erscheinenden die angebliche Erlebnisgrundlage,welche eben nicht gegeben ist, anzurufen. […]Das ‘Subjektive’ der thetischen Gegebenheitscharaktere istgenauso ‘draußen’ (mir gegenüber), wie die erscheinendenDinge selbst. Wenn es selbst nicht erschiene, könnte Husserles in seinen späteren Ausführungen ja nicht als noematischenCharakter ansprechen. Es sind ja diese Charaktere, die dasDing als dasjenige, was es ist, zum Anhalt und Zwecke haben,sie haben das Ding sozusagen im Blich, lassen es sich nähernoder entfernen, in Klarheit oder Verschleierung da sein,sich präsentieren; hier liegen die eigentlichen Aufgaben derPhänomenologie, in der Beschreibung dieser Vorgänge, diesesAufgehens der Dinge selbst. Wie dagegen das Erlebnis esanfängt, in sich selbst Ursprung des Erscheinens desTranszendenten zu sein, ist grundsätzlich unverständlich,auch nicht gegeben und kann nicht gegeben werden. Hierbesteht die Gefahr, daß die Phänomenologie sich selbst, ihreEntdeckungen auf dem Gebiet der Erscheinung, derGegebenheitsweisen, aufgibt und sich auf das Terrain einersubjektiven Konstruktion begibt. […]Es ist festzuhalten: Das phänomenale Feld ist auf eineandere Weise ‘subjektiv’ als das Ichliche, welches selber imphänomenalen Feld erscheint. Es ware dann zu fragen: Muß dasIchliche nicht doch in einer Weise gegeben sein, die esunmittelbar in seiner Originalität erfaßt? Ist es nichtdasjenige, was das cartesianische cogito beinhaltet? Gewißist das ‘ego’ in ‘ego cogito’ etwas unmittelbar Gewisses. DieseGewißheit ist aber keine Gewißheit eines Inhalts, sondernbloß eine Seinsgewißheit ohne jeden Inhalt, mit Ausnahme deseinen: Es ist dasjenige, dem das Erscheinen erscheint, dasErscheinen, das phänomenale Feld ist sein Erscheinen. Es gibtda nichts, was ‘objektiv’ zu erfassen ware, sondern einfacheine Realisierbarkeit der Forderungscharaktere, die sich imErscheinungsfeld an das Ich wenden und das Ichliche alsRealisator erscheinen lassen.” (“Forderung”; BME, 300-2)

Es zeigt sich hier deutlich, dass Patocka das „phänomenale

Feld“ als ein „Feld vorgegebener Möglichkeiten“ beschreibt. Nur

durch die Selektion einiger unter diesen und die Realisierung

anderer solcher Möglichkeiten gelangt das Subjekt in die

Position, sich über ein unaufhebbar anderes (sei es nun der

personal Andere, die Andersheit der Welt oder die seiner

selbst) auf sich zu beziehen. Mit dieser Einsicht aber stoßen

wir auf den Kern von Patockas Phänomenologie „endlicher

Freiheit“: auf die Konzeption eines Möglichkeitshorizonts

namens Welt, in den sich der Mensch gestellt (geworfen) findet,

ohne sich darüber stellen zu können:

“Weil die Existenz nun ihre Möglichkeiten nicht so entwirft,daß sie sie objektiv vor sich hätte,, daß sie sichvorstellte, sondern vielmehr so, daß sie sie realisiert, daßsie sie verwirklicht (oder nicht verwirklicht, sie aufgibt,sich von ihnen entfernt), läßt sich die Existenz alsBewegung definieren. […]” (“Was ist Existenz”, BME, pp. 254)

Es ist dem Menschen laut Patocka folglich nicht möglich, im

„Drama der Welt“ je das Widerspiel seiner Entwürfe aufzufinden,

und sei es seiner eigentlichsten, authentischsten. Denn dieses

Drama widerfährt dem Menschen vielmehr, affiziert ihn, bewegt

ihn und verlangt ihm mithin ab, die Wahrheit seines Seins als

Bewegung – ja genauer Mit-Bewegung – zu übernehmen, zu

erschließen und zu vertreten, doch dazu später.

Um noch genauer zu erfassen, was mit Patockas Idee einer

“asubjektiven Phänomenologie” auf dem Spiel steht, möchte ich

das Manuskript “Die Transzendentalphilosophie Husserls nach der

Revision“, das aus den Jahren 1969/70 stammt, zu Rate ziehen.

In diesem entwickelt Patocka nicht nur eine luzide Darstellung

seines Begriffs von „Subjektivität“, sondern unterstreicht in

eins auch die intrinsische Verflechtung dieser Konzeption mit

seiner Bewegungslehre:

“[1] Die Transzendentalphilosophie kann ihren Anspruch aufabsolute Begründung nicht aufrecht derhalten – absoluteBegründung in adäquater oder zumindester in apodiktischer(wenn auch nichtadäquater) Selbstgegebenheit derSubjektivität gibt es nicht.

Ist nun dadurch 1. die Phänomenologie, 2. dieTranszendentalphilosophie erledigt?

1. Phänomenologie gab es vor dem Transzendentalismus Husserlsund nach ihm - Heidegger, Ontologie, Denken des Seins undder Zeit, des endlichen Ereignisses.

2. Die transzendentale Philosophie muss dann eine Philosophieder Bedingungen der Möglichkeit des Erscheinens überhauptsein, nicht eine Begründung des transzendentalen Subjekts –sie wird asubjektiv – so eigentlich schon bei Husserl, obwohlhier Kant durch Descartes ersetzt wurde; wenn aber derabsolute Boden der Noesis, die Analogie zum absoluten BegriffHegels, wegfällt, bleibt da eine andere Möglichkeit übrigals der heideggersche Rückzug in die ersten Grundlagen desSeins?

Ist es umgekehrt nicht notwendig, auf einer neuen,asubjektiven Grundlage, d.h. auf der Grundlage von Zeit undderen Erhellung etc. eine Theorie der menschlichen Erfahrungals derjenigen Erfahrung darzustellen, die in denZusammenhag dieser ursprünglichen Erhellung gehört? D.h., ist es nicht notwendig, auf einer neuen Grundlage dasProblem der “fundamentalen Ontologie” zu wiederholen? [2] Und zwar so, dass die Hauptstrukturen der Erfahrung –Ich, Freiheit, Möglichkeit, Leiblichkeit, Wahrnehmung, derAndere … – nicht als Grund ausgelegt warden, sondern alsetwas, was auf dem ursprünglichen Geschehen der zeitlichenOffenheit gegründet ist: als das, dem sich diese Offenheitzuwendet und das sie erfüllt?Der ganze Gedanke der existenzialen Analytik muss dannanders – und doch phänomenologisch durchgeführt werden. Anthropologische Strukturen können nicht die Grundlage fürontologische ‘Wahrheit’ sein, aber die ontologische Wahrheitkann zur Grundlage für die Bewegung der Wahrheit der Existenzwerden.” 2

Zusammenfassend gesprochen ist der Hauptangriffspunkt von

Patockas Kritik an Husserl dessen Begriff der Konstitution.

2 J. Patocka, Vom Erscheinen als solchen, p. 52-3. Vgl. ders., „Was ist Existenz“,253: Die Bewegung der Wahrheit ist nur durch unsere Einsicht in und die Akzeptierung der ontologischen Wahrheit unseres Bewegungscharakters möglich.

Bedienen wir uns der neuerdings von Jean-Luc Marion

entwickelten Terminologie, so lässt sich sagen, dass Patocka

wohl der erste Phänomenologe war, der dem von Marion gegen das

Konstitutionsdenken herausgestellten „Primat der Gegebenheit“

auf der Spur war. Seine Analysen haben, in der Tat lange vor

Marions systematischer Beschäftigung mit dem Thema, die

Eigendynamik (élan, effet) der Gegebenheit im Phänomen der

Bewegung ins Auge zu fassen gesucht. Bewegung ist hier weder

objektiv, kosmologisch noch seinsgeschichtlich aufzufassen.

Vielmehr handelt es sich um eine umgreifende Bewegung, die sich

nicht zuletzt auf Seiten desjenigen ereignet, der sich für die

Gegebenheit der Phänomene öffnet, ohne noch auf ihrer

reflexiven Aneignung und Auslegung zu bestehen. Beide Denker

haben darüber hinaus das Prinzip der „Suspension des Prinzips

des zureichenden Grundes“ propagiert”3; beide sehen also,

anders gewendet, dass die Phänomene nicht von einem

vorausgehenden Grund abhängig gemacht werden dürfen. Das

besagt, dass weder ein „konstituierendes Ego“ noch ein

„vorgegebener Horizont“ (wie eben die Objektivität bei Husserl,

das Sein Heideggers, oder der Leib bei Merleau-Ponty) die

Intelligibilität des Phänomens, so wie dieses sich entfaltet,

vorherbestimmen dürfen.

Wir stoßen in diesem Kontext auf eine weitere

bemerkenswerte Ähnlichkeit zwischen den Auffassungen Patockas

und Marions. Beide konfrontieren die „Aporien des ‚Ssubjekts’“,

(cf., e.g., Being given, § 25) und verstehen das, was „nach dem3 J.-L. Marion, „Aspekte der Religionsphänomenologie. Grund, Horizont,Offenbarung“, 88: „Das ‚Prinzip aller Prinzipien‘ muss, weil es das ‚Zurückzu den Sachen selbst‘ ermöglicht, vielleicht als eine Suspension desPrinzips des zureichenden Grundes verstanden werden – das Phänomen stehtnicht mehr beim Grund in Schuld, weil seine Gegebenheit selbst als Grundgilt.“

Subjekt“ kommt, ganz ähnlich. Marion definiertjene instanz als

l’adonné, den „Hingegebenen“, denjenigen, der sich in der

Entfaltung der Gegebenheit selbst findet; Patocka wiederum

spricht über das Subjekt als „Resultat“ des

Erscheinensprozesses, versteht es als „Addressaten“ des

Erscheinens als solchen (Vom Erscheinen, p. 92). Es ist sich

mithin nie originär selbst gegeben, sondern mit-gegeben, es

erfährt sich im Akkusativ (ibid., pp. 98-9) angesichts des

Anspruchs der Gegebenheit, auf den es zu antworten bzw. dem es

zu entsprechen hat.

Für Patocka folgt hieraus, ich habe darauf schon

hingewiesen, dass wir unsere Selbstheit im Horizont der

Realisierung jener Möglichkeiten zu denken haben, die sich uns

in der Begegnung mit dem phänomenalen Feld eröffnen. Dieser

Aspekt scheint mir in Marions Werk nicht prominent zu sein, ist

aber von grundlegendster Bedeutung für Patocka, sofern dieser

unserer Verantwortung dem Erscheinen als solchen gegenüber

nachdenkt. Denn Patocka denkt in kritischer Wendung gegen

Heidegger das In-der-Welt-sein als wesensmäßig verleiblicht und

mithin die Realisierung der angesprochenen Möglichkeit als

Aufgabe unserer Praxis. Diese wiederum ereignet sich in der

„natürlichen Welt“, der „Welt von Gut und Böse“ (cf. BME, 325-

7), jener Welt also, in deren Werden wir von Anbeginn an mit

anderen verstrickt sind. Mit dieser Auslegung des Welthorizonts

als Möglichkeitsfeld aber ist die Verbindung von „asubjektiver

Phänomenologie“ und Bewegungslehre, auf die ich hinweisen

wollte, bereits angezeigt:

“Das ego ist also weiter nichts als der Seinscharakter einesSeienden, welches an seinem Sein interessiert ist, welches

zeitlich und bewegt existiert. Das weist dann noch weiterhinaus über die Sphäre der Ichlichkeit. Das in einerradikalen Analyse der phänomenalen Sphäre gewonnene Resultatzeigt in die Richtung einer ursprünglichen Zeit, keinesbloßen Zeiterlebens, sondern der Zeit als solcher.So steigt die asubjektive Phänomenologie in Dimensionen,

welche der subjektiven unzugänglich waren, in Dimensionen,welche nicht absperren, sondern öffnen [sc. the dimensionsof original time, MS]. Andererseits ist sie auch befähigt,hinunterzusteigen zur Analyse derjenigen Lebensbewegungen,welche unser ‘sum’ vollführt und in deren Verlauf diephänomenale Sphäre ihre konkrete Ausgestaltung gewinnt. Das‘ego sum’ muß unter den Dingen und Menschen festen Standgewinnen, sich einwurzeln, um eines Tages an dersubstanzverzehrenden Abwehr des Andrangs der Weltteilzunehmen, es muß in dieser Bewegung dem Verlust deseigenen Wesens zustimmen, um es vielleicht eines Tageswiederzugewinnen.” (“Möglichkeit”, BME, p. 284)

2. Rekapitulation der „Bewegung der menschlichen Existenz“

Patočkas zentrale Idee, die die Lehre von der Bewegung der

menschlichen Existenz beseelt, besagt, dass diese Bewegung weit

davon entfernt ist, als ein bloßer Prozess in der Welt

verstanden werden zu können. Er sieht darin vielmehr ein

selbstbezügliches und welterschließendes Geschehen. Zu dieser

Einsicht führte ihn das Studium der „natürlichen Welt“, deren

geschichtliche Bewegtheit er in seinem späteren Denken in der

„Bewegung des Weltwesens“4 – also jenes Wesens, das diese Welt

verschiedentlich versteht, aber nicht nur hat – verankert

sieht. Dies heißt anders formuliert, dass Patočka den

handelnden Menschen als Teil jenes umfassenden „Weltdramas“5

versteht, dessen mehrfältige Dynamik Heidegger im Hinblick auf

die fundamentalontologisch ausgezeichnete Möglichkeit eines

4 Jan Patočka, Die Bewegung der menschlichen Existenz, 227.5 Ebd. 115.

„eigentlichen Seinkönnens“ abblendet. Wenngleich der

Ansatzpunkt also zweifellos daseinsanalytisch ist, wendet sich

Patočka doch in ein und demselben Zuge auch gegen Heidegger. Er

tut dies dort, wo dieser die Entbergung des Seinsereignisses

gegen eine vorbehaltlose Deskription des konkreten

existentialen Beziehungsgeflechts ausspielt, in dem sich eine

umfassende Phänomenologie des menschlichen Lebens nur

auszusprechen vermag. Er tut dies, sofern er Heideggers Kritik

des Husserlschen Subjektivismus damit ihrerseits in den

„Irrationalismus eines vorgängigen Seins“ abgleiten sieht, in

„eine Bewegung ohne jeden menschlichen Abschluss, ohne einen

praktischen Wert“, in einen Prozess also, in dem es „völlig

nebensächlich wäre, was der Mensch dem Mensch bedeutet und

bedeuten kann.“6

Mit der Enthüllung des „phänomenalen Feldes“ als „Raum“

der Begegnung von Mensch, Mitmensch und Seiendem zielt Patočka

im Gegenzug auf etwas Umfassenderes. Das Ziel seiner

Reflexionen ist die dynamisch sich realisierende Einheit dieses

Feldes, die sich in den Mitbewegungen menschlicher Existenz

erschließt und in der Selbstbewegtheit gelebter Leiblichkeit fundiert

ist. Im Rückgang auf dieses Feld, das uns eine Welt anzeigt,

die sich in der Bewegung des Verstehens offenbart, zugleich

aber in ihrer unabschließbaren Nichtobjektivierbarkeit diese

Bewegung selbst trägt, beschreibt Patočka die Bewegung der

menschlichen Existenz; er zeichnet sie als eine dreifältige

Bewegung, deren welterschließenden Charakter er in Korrelation

zu den fundamentalen Zeitigungsweisen des Lebens denkt.7

6 Ebd. 229.7 Die wesentlichen Züge von Patočkas Konzeption finden sich erstmals ineinem 1965 zuerst in tschechischer Sprache erscheinen Aufsatz “ZurVorgeschichte von der Wissenschaft der Bewegung. Welt, Erde, Himmel und die

Der erste Modus dieser Bewegung besteht in der

vergangenheitsbezogenen, instinktiv-affektiven Bewegung der

„Verankerung“ oder „Verwurzelung“. In dieser grundsätzlich prä-

reflexiv verlaufenden Bewegung eignet sich der Mensch, als vom

Anderen ursprünglich angenommener, sich selbst, seine

Fähigkeiten und die Welt an und wird so in ihr heimisch. Das

notwendige horizontale Referens dieser Bewegung verortet

Patocka in der Erde, die im Sinne eines „universalen Körpers“,

„allgemeinen Objekts“ (Hegel) oder der Husserlschen „Ur-Arché“

den unbeweglichen Referenzpunkt leiblicher Bewegung schlechthin

ausmacht. Im Gegenzug zur ernährenden Macht und Nähe der Erde

wiederum versteht Patocka den Himmel als ein korrelatives

vertikales Referens, das den Menschen in den Grundunterschied

von Erreichbarem und Unerreichbaren einweiht und die generellen

Rhythmen des Lebens prädeterminiert. Die Welt, die sich in

dieser Bewegung nach Nähe und Ferne, Fremde und Heimat, Liebe

und Hass, aber auch nach den kosmischen Koordinaten zyklischer

Reproduktion gliedert, wird in dieser Bewegung zu einem

universalen Orientierungsraum. Das affektive Zentrum dieses

Raumes kann man mit Levinas die „Bleibe“ nennen8, d.h. jenen

Ort, an dem sich Subjekt und Welt in der „Geborgenheit des

Vorgefundenen“9 wechselseitig durchdringen. Patocka zufolge

bestimmt diese Bewegung der Verankerung das Leben in allen

seinen Sphären in umfassender und kontinuierlicher Weise.

Den zweiten Modus, der in der durch die Verankerung

ermöglichten Entwicklung und Beherrschung unserer Fähigkeiten

(und damit der Welt und der Anderen) im Horizont unserer

Bewegung des menschlichen Lebens” (in: Die Bewegung der menschlichen Existenz.A.a.O. 132-143). 8 Vgl. Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. A.a.O. 217-253.9 Jan Patočka, Die Bewegung der menschlichen Existenz. A.a.O. 256.

bedürfnisbedingten Selbsterhaltung ruht, bezeichnet Patočka als

„Selbstverlängerung“, „Reproduktion“ oder auch „Einschaltung in

die Sachverhältnisse.“ Dieser Modus ist gegenwartsbezogen und

betrifft die Notwendigkeit unserer „Konfrontation mit den

Dingen und den anderen Menschen in ihrem Austausch mit den

Dingen“10. Ohne die Reproduktion der Lebensbewegung in dieser

verallgemeinerten Mit-Bewegung, d.h. ohne den Aufschub der

ursprünglichen instinktiven Befriedigung desselben, wäre

menschliches Leben „im physischen Sinne nicht möglich“ (BCLW,

150). Zersplitterung des Lebens, serielles Rollenverhalten und

Zurichtung der Dinge bestimmen diese Bewegung in ihren

wesentlichen Zügen. Einem grundsätzlich instrumentellen

Weltverständnis korrespondiert hier ein Aufgehen leiblich-

bedürftiger Existenz in der Welt, d.h. eine Verdinglichung des

Menschen, die bis zu seiner Entfremdung führen kann11; es

handelt sich hierbei um eine Verdinglichung, in der sich das

ursprüngliche Miteinander tendenziell im Modus des

Gegeneinander respektive der Selbst-Kontrolle auslebt. Dennoch

darf man Patocka zufolge diese zweite Bewegung nicht rein

negativ als eine Verblendung des Selbst und der anderen

auffassen, als bloße Herrschaft sozialer Rollenzuschreibungen

und von Anoynmität, sondern auch als die „Konstitution eines

„anorganischen Körpers“ und eines „Sinnzusammenhangs“, in dem

wir primär leben und folglich als eine „Humanisierung der

Welt“, in der „Verstehen nur anheben kann“ (cf. BCLW, 150-1

resp. 157-8).

10 Ebd.11 Wie Patočka ausführt, handelt es sich hierbei jedoch nicht um eineMöglichkeit, der die Möglichkeit eines „eigentlichen Seinkönnens“entgegenzusetzen wäre, sondern vielmehr um eine in unserer leiblichenExistenzweise begründete Notwendigkeit.

Der dritte Modus der Lebensbewegung schließlich, der nur

auf der Grundlage der beiden bislang genannten möglich ist,

wird von Patočka als Bewegung des „Durchbruchs“ bezeichnet.

Durchbrochen wird in dieser „eigentlich menschlichen Bewegung“

die mit der Bewegung des Sich-Einschaltens geschaffene

„Zerstreutheit, ‚Verfallenheit’ an die Dinge und deren

Herrschaft“12, die uns in letzter Instanz unsere Endlichkeit

verbirgt. Sofern die festen Koordinaten unserer Verankerung in

dieser Bewegung auf ihr Jenseits hin überschritten werden,

ereignet sich hier ein Verlust unserer bisherigen

Sinnzuschreibungen und Selbstbilder. Die damit verbundene

Wendung nach außen, die den Kreis der Selbstvergessenheit

durchbricht, schließt sich jedoch nicht einfach in ein neues

Bild des Selbst. Als Einsicht nicht in das Seiende, sondern in

das, „was wesentlich vom Seienden verschieden ist und jegliche

Begegnung (sc. mit Seiendem; M.S.) erst möglich macht – die

Möglichkeit par excellence: die Welt (d.h. das Sein als

Sinnzusammenhang und Schlüssel zu allem Verstehen; M.S.)“13 impliziert

diese Bewegung vielmehr eine radikale Selbsthingabe. Patočka

beschreibt sie deswegen auch als eine Bewegung der

„Selbstgewinnung durch Selbstauslieferung“ (ebd.). Denn das

Leben gewinnt sich in ihr nur, um sich zu verschenken, d.h. um

die Freiheit der anderen zu ermöglichen.14

„Die dritte Lebensbewegung kann als Zugang zurSelbstgewinnung durch Selbstauslieferung charakterisiertwerden, durch das Bekenntnis zur Endlichkeit und durch ihreAnnahme. […] Hieraus folgt, dass sich der bisherige Sinn,die Richtung des Lebens, seiner Bewegung wendet. Er war in

12 Jan Patočka: Die Bewegung der menschlichen Existenz. A.a.O. 140.13 Ebd. 256.14 Vgl. ebd. 141.

sich selbst zurückgewendet, verlief im Kreis der Selbst-Aufhebung und Selbst-Vergessenheit. Es wendet sich nun nachaußen, dorthin, wo es sich selbst gewinnt. Und das heißtzugleich: es kann sich nichts anderem zuwenden als zu einemanderen Leben. Das Leben, das sich als Existent gewonnenhat, kann sich nicht verschließen, da es so wieder zurbloßen Selbstverlängerung herabsinken würde;das Leben, dassich zu seiner Endlichkeit bekannt hat, hat sich nurgewonnen, umsich zu schenken. Das bedeutet, das Leben muß anandere Leben appellieren, sich anderen Leben hingeben, abernicht um der Verlängerung ihrer bloßen Selbstverlorenheitwillen, sondern um die gemeinsame reine Innerlichkeit zufinden, um des gemeinsamen Durchdrungenseins, des Wunderseines inneren Zugangs zum Anderen willen. Denn das Erdbeben,mit dem der feste Boden erschüttert wurde, hat auch dasvernichtet, was uns trennt, was uns einander fremd macht.Die Bewegung des Geistes in seinen mannigfaltigenGestaltungen ist die Bewegung einer inneren gegenseitigenDurchdringung. Es ist also ein Sich-Überschreiten auf einHöheres hin, zugleich tiefer als die empirische Dauer unddas imaginäre Überleben.“ (BMW, 140-1)

So besteht die Aufgabe dieser dritten Bewegung also darin, eine

„durch Hingabe geeinte Gemeinschaft [zu] schaffen, eine

dienende Gemeinschaft, die die Einzelnen ebenso

überschreitet“15, wie die Macht der Verdinglichung, die ihre

Trennung zu besiegeln schien. Das wohl bekannteste Beispiel für

solch eine Gemeinschaft findet sich in Patockas Ketzerischen

Essays, die die Bewegungslehre geschichtsphilosophisch

konkretisieren, im Konzept der „Solidarität der Erschütterten“.

Er entwickelte diese Konzept im Rekurs auf die Fronterfahrung

im 1. Weltkrieg als die utopische Vision einer „ungeheuren

Umkehr, eines beispiellosen metanoien“, das angesichts der

„totalen Mobilmachung“ der „Kräfte des Tages“ freilich nur wie

der Abglanz einer schwachen Hoffnung wirkt, denn:

15 Jan Patočka, Die natürliche Welt als philosophisches Problem, a.a.O. 267.

„Der Krieg ist in diesem Jahrhundert die vollendeteRevolution der Alltäglichkeit. Hand in Hand mit ihmmarschieren die universale Befreiung und das universaleHappening, der Orgiasmus in neuen Formen. […] Der Krieg istzugleich das größte Unternehmen der industriellenZivilisation, das Produkt und das Werkzeug der totalenMobilisierung […] und die Freisetzung der orgiastischenPotenziale, denen nirgendwo anders das Extrem eines Rauschesgestattet ist, der sich durch Vernichtung herstellt.“ (KE:135)

Die Aufgabe der dagegen ins Felde geführten „Solidarität der

Erschütterten“ ist keine geringere, als die Eröffnung der

Möglichkeit, sich dieser Metaphysik der Kraft (der Kräfte des

Tages) und dem „imaginären Überleben“ (BME: 141), das diese

verspricht, zu entziehen:

„Die Solidarität der Erschütterten hat die Fähigkeit, ‚nein‘zu sagen zu allen Mobilisierungsmaßnahmen, die denKriegszustand verewigen. Sie wird keine positiven Programmeaufstellen, sondern sie wird, gleich dem daimon desSokrates, in Warnungen und Verboten sprechen […] DieSolidarität der Erschütterten bildet sich in Verfolgung undUngewißheit: das ist ihre Front, eine stille Front, ohneReklame und Sensation auch da, wo sich die herrschende Kraftunter Einsatz dieser Mittel ihrer zu bemächtigen sucht.“(KE, 158)

Patocka muss gleichwohl, um diese Solidarität ins Werk setzen

zu können, an die „Kräfte der Nacht“ appellieren:

„Die große, die tiefe Erfahrung der Front und ihrerFeuerlinie beruht jedoch darauf, dass sie die Nacht in ihrerDringlichkeit und Unabweisbarkeit beschwört. Frieden und Tagkönnen nicht anders herrschen, als dass sie Menschen in denTod schicken, um anderen einen künftigen Tag im Zeichen desFortschritts, einer langsamen und kontinuierlichenEntwicklung und heute noch nicht existierender Möglichkeitensicherzustellen. Von den Geopferten dagegen wird Ausdauer imAngesicht des Todes verlangt. Das bedeutet, man weiß dunkel,dass das Leben nicht alles ist, dass es sich selbst aufgeben

kann. Eben diese Selbstaufgabe, dieses Opfer wird gefordert.Es wird gefordert als etwas Relatives, als etwas, das aufFrieden und Tag bezogen ist. Die Fronterfahrung jedoch isteine absolute Erfahrung. Wie Teilhard [de Chardin] zeigte,erfahren die Frontkämpfer plötzlich eine überwältigendeabsolute Freiheit, eine Freiheit von allen Interessen desFriedens, des Lebens, des Tages. Damit hat das Opfer dieserGeopferten plötzlich nicht mehr nur relative Bedeutung, esist nicht mehr ein Beitrag zu den Programmen von Aufbau,Fortschritt und Erweiterung der Lebensmöglichkeiten,vielmehr hat es Bedeutung allein in sich selbst. […] “

3. Schlussbemerkung

Ich möchte nun abschließend das Augenmerk auf zwei Motive

lenken, die mir in Patockas Werk von besonderer

sozialphänomenologischer, ja sozialphilosophischer Relevanz zu

sein scheinen. Zum einen, und damit kehre ich auch zur

Bedeutung der asubjektiven Grundlegung seines Ansatzes zurück,

handelt es sich um die Eigenbedeutung vertikaler Erfahrungen und

Gegebenheitsweisen, denen er v.a. in seiner Analyse der

Bewegung des Durchbruchs, aber nicht nur bei dieser, auf die

Spur kommt. Den Begriff des Vertikalen übernehme ich von

Anthony Steinbock. Dieser hat ihn mit Bezugnahme auf Merleau-

Pontys Konzept der „vertikalen Welt“, Lévinas‘ Aufweis der

ethischen Dimension irreduzibler Höhe( wie sie sich in der

Epiphanie des Anderen bekundet), sowie Max Schelers und Michel

Henrys freilich divergierender Unterscheidung von Manifestation

und Offenbarung entwickelt. Steinbocks Ziel ist es,

verschiedene Formen vertikaler Erfahrung, die sich dem

traditionellen Begriff von Erfahrung, den er als presentation

fasst, entziehen:

„The mode of givenness that has dominated a philosophical(and especially a phenomenological) way of seeing, I callpresentation. Presentation is a type of givenness that ispeculiar to sensible and intellectual objects and is more orless dependent upon my power to usher things into appearancewithin a context of significance.“ (Steinbock, Phen. andMysticism, p. 7)

Im Gegenzug zu solch einer verengten Auffassung von Gegebenheit

propagiert Steinbock eine Dis-position oder epoché, die sich

der, wie er formuliert, economy of intentional presentation and

concealment, wie er sie in HusserlsPhänomenologie am Werk sieht,

zu entziehen vermag:

„Phenomenology can be understood as a methodological attemptto practice such a disposition for a possible dis-position.Such a practice can lead us, perhaps beyond our own efforts,to the forgetfulness of the self as the openness toperceptual and epistemic objects, but also to whatever givesitself in its own manner: to the epiphany of the Holy, to therevelation of human persons, to the manifestation of culturalproducts, to the disclosure of the Earth, and to the display ofelemental beings. All the givens that phenomenology istrying to track have in some sense been given all along, sothat the phenomenologist’s activity is just as much aresponse to such an initiated givenness.“ (ibid., p. )

Das Denken Patockas kennt, wiewohl es vom Erscheinen der Dinge

in der Welt ausgeht und all seine Einsichten hierauf

zurückbezieht, Instanzen solcher Vertikalität. Es wäre

natürlich naheliegend, hier nochmals die Erfahrung des

Durchbruchs aufzugreifen, die in der Beschreibung als metanoia

ja durchaus auch religiöse Töne ins Spiel bringt (und insofern

für Steinbocks eigenes Projekt relevant ist). Ich möchte dies

jedoch nicht tun, sondern knapp einen anderen Topos aufgreifen,

der sich bereits in seiner Beschreibung der „natürlichen Welt“

findet, dann in der Analyse der ersten Bewegung, jener der

Verankerung, noch verstärkt Berücksichtigung findet: Es handelt

sich um die Liebe. Die Liebe gibt, um einen zentralen Gedanken

Jean-Luc Marions aufzugreifen, der sich sehr ähnlich bereits

bei Patocka findet, „was sie nicht hat“. Sie gibt den Anderen

sich selbst und verausgabt sich dahingehend, von einem

Gegebenen angenommen zu werden, der sich dem Prinzip des

zureichenden Grundes entzieht. Diese Lesart der Liebe offenbart

die umgreifende vertikale Wahrheit der ersten Bewegung, die

aller Selbstverlängerung und Projektion vorhergeht und diese

trägt. Die Verankerung durch Liebe ist in diesem Sinne in eins

eine erste und in der Tat exemplarische Form des Durchbruchs.

Das zweite, in der Tat gegenstrebige Motiv bezieht sich

auf Patockas Einsicht in die Irreduzibilität der Nacht, des

Polemos (im Sinne eines „Bandes der Teilung“), d.h. in die

Unaufhebbarkeit negativer (Momente der) Sozialität. Diese

lassen sich mithin auch im Verlaufe der dreifältigen, offenbar

dialektisch angelegten Bewegung der menschlichen Existenz nicht

austreiben, wodurch diese Bewegung zu einer offenen und

unabschließbaren Dialektik gerät. Deutlich wird dies nicht nur

daran, dass die Gewalt einen konstitutiven Bestandteil der

zweiten Bewegung ausmacht, die Patocka ja unauflöslich als Mit-

und Gegeneinander fasst. Die Gewalt ist aber auch in der ersten

Bewegung der Verankerung nicht abwesend, im Gegenteil: Patocka

bringt sie hier mit der Macht der Erde in Zusammenhang, die in

ihrer horizontalen Immensität „die Vertikale des Lebens“

durchherrscht (BME, 137). Entscheidend erscheint letztlich

jedoch die Unaufhebbarkeit der Gewalt im Bereich der dritten

Bewegung, wo sie als die „Inauthentizität“ des Durchbruchs

begegnet, also als die Gefahr der „Blendung durch die

Endlichkeit“ (BCLW, 151). Die unaufhebbare Ambiguität des

Opfers etwa, das mit dieser Bewegung ja einhergeht, zeigt sich

deutlich in der folgenden Stelle:

„Im Bekenntnis zur Endlichkeit ereignet sich etwas anderes als die Deklaration der Nichtigkeit und des Nihilismus. Es ereignet sich darin die Bewältigung der Endlichkeit, die eine wahrhaftige Bewältigung im Sinne von bewältigen und erhalten darstellt. Das Leben vermag es nicht nur, sich durch Selbstberaubung zu verlängern, sondern auch sich durchSelbstaufgabe umzugestalten. Es vermag sich nicht nur für die höchste Gewalt, sondern auch für ohnmächtig zu erklären und sich so der Gewalt des höchsten, des primären Sinnes auszuliefern. Erst hier wird dem Leben die negative Kraft zueigen, sich zu geben, sich hinzugeben. Ein seiendes Wesen kann sich jedoch keinem sonst als dem Anderen hingeben. Die Kraft der Transsubstantiation des Lebens ist die Kraft der neuen Liebe, einer Liebe, die sich dem Anderen bedingungsloshingibt.“

Die Stoßrichtung ist klar. Doch dass Patocka hier vom Leben

spricht, sollte uns nachdenklich stimmen, zumal die Hingabe

durchaus auch darin bestehen kann, „zu töten und hinzurichten“,

ohne dadurch notwendig unmenschlich zu werden. Dies steht

sicherlich dem genannten „‚nein’ zu sagen zu allen

Mobilisierungsmaßnahmen, die den Kriegszustand verewigen“

gegenüber. Letztlich ist es aber zumindest auch die klare

Anerkenntnis, dass wir angesichts des Nihilismus nicht die

Position des „letzten Menschen“ annehmen können, der „sein

Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht hat.“

(Nietzsche, Also sprach Zarathustra, p. 20) Anzuerkennen bleibt

vielmehr, was Lévinas uns hinsichtlich der Gewalt ins Stammbuch

geschrieben hat:

„Das eigentliche Problem besteht für uns [andere]Abendländer nicht so sehr darin, die Gewalt abzulehnen, alsvielmehr darin, uns zu fragen, wie wir die Gewalt sobekämpfen sollen, dass wir – ohne in derWiderstandsverweigerung gegenüber dem Bösen zu verkümmern –die Institutionalisierung der Gewalt infolge ebendiesesKampfes verhindern können.“16

Mit dieser Frage gerungen zu haben, ohne vorschnelle

Etikettierungen vorzunehmen – Ricoeur erinnert uns etwa daran,

dass Patocka hinsichtlich des Krieges nie vom Bösen sprach –,

mit ihr also ernsthaft gerungen zu haben, davon zeugt das

Denken Patockas in ausgezeichnetem Maße.

16 Emmanuel Levinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. A.a.O.378.