20
Die Orgeltabulatur des Wolfgang de Nova Domo Author(s): Wolfgang Marx Source: Archiv für Musikwissenschaft, 55. Jahrg., H. 2. (1998), pp. 152-170 Published by: Franz Steiner Verlag Stable URL: http://www.jstor.org/stable/931120 . Accessed: 28/08/2014 17:31 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Franz Steiner Verlag is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Archiv für Musikwissenschaft. http://www.jstor.org This content downloaded from 193.1.170.40 on Thu, 28 Aug 2014 17:31:19 PM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

Die Orgeltabulatur des Wolfgang de Nova Domo

  • Upload
    ucd

  • View
    1

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Die Orgeltabulatur des Wolfgang de Nova DomoAuthor(s): Wolfgang MarxSource: Archiv für Musikwissenschaft, 55. Jahrg., H. 2. (1998), pp. 152-170Published by: Franz Steiner VerlagStable URL: http://www.jstor.org/stable/931120 .

Accessed: 28/08/2014 17:31

Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at .http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp

.JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range ofcontent in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new formsof scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected].

.

Franz Steiner Verlag is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Archiv fürMusikwissenschaft.

http://www.jstor.org

This content downloaded from 193.1.170.40 on Thu, 28 Aug 2014 17:31:19 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Die Orgeltabulatur des Wolfgang de Nova Domo

von

WOLFGANG MARX

Seit kurzer Zeit steht der Forschung eine seitJahrzehnten als verschollen geltende wichtige Quelle zur deutschen Orgelmusik des 15.Jahrhunderts, die ,,Orgeltabulatur des Wolfgang de Nova Domo", wieder zur Verfiigung. Sie enthilt Fundamentum-

Ubungen, Tenorliedbearbeitungen, Magnificatvertonungen und ein Praeambulum. Neben dieser Vielfalt des Repertoires ist auch die Tatsache, da13 es sich um eine der friihesten Niederschriften von Instrumentalmusik in weiBer Notation handelt, von

Bedeutung. Die bisher verfiigbaren Informationen tiber die Handschrift stiitzen sich im wesentlichen auf eine Beschreibung in Leo Schrades Habilitationsschrift von 1931 und eine 1963 erschienene Ubertragung von Willi Apel. Apel muBte seine Uber-

tragungjedoch anhand von Fotografien und Notizen anfertigen, da ihm das Original- manuskript nicht mehr zur Verfiigung stand. Durch die Riickkehr der Handschrift aus der damaligen UdSSR 1991 wurde nun eine Obertragung anhand der Quelle selbst und ein Vergleich mit Apels Edition m6glich. Ferner konnten die nichtmusika- lischen Texte, die etwa die Hilfte des Manuskripts ausmachen und bislang nie naher betrachtet wurden - bis heute haben ausschlieBlich Musikwissenschaftler Einsicht in die Handschrift genommen -, erstmals untersucht und in ihrer Bedeutung auch fiir die zeitliche und geographische Einordnung der Tabulaturen bewertet werden.

SchlieBlich konnte eine umfassende Quellenuntersuchung vorgenommen werden. Glasnost und Perestroika in der ehemaligen UdSSR hatten zumindest einige

Zeit lang auch fiir wissenschaftliche Forschungen groBe Auswirkungen: In den

Jahren nach 1989 konnten mehrere tausend seit dem Zweiten Weltkrieg als ver- schollen geltende Handschriften in die Staats- und Universitaitsbibliothek Ham-

burg zurtickgefiihrt werden. Darunter waren viele Musikhandschriften. 1991 kehr- ten allein 2200 von ihnen zuriick, vornehmlich aus Hamburgs Partnerstadt St.

Petersburg (damals noch Leningrad). Aus Moskau hingegen gelangte 1991 die als

,,Orgeltabulatur des Wolfgang de Nova Domo" bekannte Handschrift mit der Signa- tur ND VI 3225 nach Hamburg, wo sie zuna*chst restauriert wurde. Danach war es - beinahe 50 Jahre nach ihrem Verschwinden und knapp 60Jahre nach der letz- ten Einsichtnahme - erstmals wieder m6glich, mit der Quelle selbst zu arbeiten.

Die Oberlieferung des Manuskripts liBt sich nur bis ins 19. Jahrhundert zu-

riickverfolgen: In den (nicht originalen) Einband ist ein Zettel mit der Aufschrift

Archiv fiir Musikwissenschaft, Jahrgang LV, Heft 2 (1998) C Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart

This content downloaded from 193.1.170.40 on Thu, 28 Aug 2014 17:31:19 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Die Orgeltabulatur des Wolfgang de Nova Domo 153

,Aus A.J. Rambachs Bibliothek. 1851" eingeklebt. AugustJakob Rambach (1777- 1851) war Hauptpastor an der Hauptkirche St. Michaelis in Hamburg. Er machte sich als Hymnologe einen Namen und entfaltete eine rege Sammlertiitigkeit. Wann und wo er die jetzige Handschrift ND VI 3225 erworben hat, lieB sich allerdings nicht mehr feststellen. Seine Sammlung gelangte aufgrund einer testamentarischen Verfiigung an die damalige ,,Hamburgische Stadtbibliothek". In den 1876 (nach dem Erwerb der Bibliothek Friedrich Chrysanders) neu angelegten Musik-Katalo- gen der Bibliothek erscheint die Handschrift in der Kategorie ,,Instrumentalwer- ke-Tabulaturen" als erster Eintrag.

Erhalten geblieben und mit der Handschrift aus RuBland zuriickgekehrt ist ein Benutzerzettel, der die Einsichtnahmen vom Jahr 1905 bis zur kriegsbedingten Auslagerung der Handschrift nach Sachsen 1943 dokumentiert. Vor 1905 sind Einsichtnahmen nicht nachweisbar und, wie aus dem ersten Eintrag hervorgeht, auch unwahrscheinlich. Lediglich fiinf Personen sind verzeichnet:

- Max Seiffert, 1921, ,,eingesehen und erstmalig bestimmt", - Johannes Wolf, 1921, ,,eingesehen und Ausziige abgeschrieben", - Leo Schrade, Januar 1927, ,,vollstiindige Kopie der Musikwerke", - Leo Schrade, November 1927, ,,eingesehen", - Willi Apel, 1933, ,,eingesehen und teilweise abgeschrieben", - Friedr. Berger, 1935, ,,eingesehen, Musikstiicke kopiert". Seifferts Einsichtnahme schlug sich in seinen Schriften nicht nieder. Wolf jedoch nahm zwei Tabulaturseiten in seine ,,Musikalischen Schrifttafeln" auf1. Die wis- senschaftliche Auseinandersetzung mit den Tabulaturen begann mit ihrer Einbe- ziehung in Leo Schrades Dissertation, welche 1927 abgeschlossen wurde2. Inten- siver noch setzte er sich mit ihr in seiner 1931 erschienenen Habilitationsschrift auseinander, sie enthailt die bislang eingehendste Untersuchung und Beschreibung der Handschrift3. Vermutlich im Zuge dieser Untersuchungen lieB er die Tabula- turseiten abfotografieren. Willi Apels Einsichtnahme fand ersten Niederschlag in einem Aufsatz aus demJahr 19344. Fiir seine 1963 erschienene Ubertragung stan- den ihm dann Schrades Fotomaterial und seine eigenen, rund 30Jahre alten No- tizen zur Verfiigung5. UOber die Identitait Friedrich Bergers, des letzten Benutzers der Handschrift, lieB sich nichts ermitteln.

i J. Wolf, Musikalische Schrifitafeln, Biickeburg und Leipzig 1923, Tafel VIII. Wolf gibt fol. Iv und 2r wieder.

2 L. Schrade, Die altesten Denkmaler der Orgelmusik als Beitrag zu einer Geschichte der Toccata, Miinster/W 1928, S. 43.

3 L. Schrade, Die handschriftiliche Oberlieferung der altesten Instrumentalmusik, hg. von H.J. Marx, Tutzing 2/1968, S. 97-100.

4 W. Apel, Die Tabulatur des Adam Ileborgh, in: ZfMw XXVI, 1934, S. 193-212. 5 W. Apel, Keyboard Music of the Fourteenth & Fifteenth Centuries, Corpus of Early Keyboard Music (CEKM), Vol. 1. American Insitute of Musicology 1963, S. 22-27. Schrades Fotografien befinden sich heute mikroverfilmt im Basler Musikwissenschaftlichen Institut (Signatur Sf-520).

This content downloaded from 193.1.170.40 on Thu, 28 Aug 2014 17:31:19 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

154 Wolfgang Marx

Die Handschrift ND VI 3225 enthalt auf 38 (von bibliothekarischer Hand pagi- nierten) Seiten zwei Orgeltabulaturen, mehrere deutsche und lateinische Texte sowie drei Seiten mit lateinischen Zahlworten. Ihre MaBe sind 21,5x14,5 cm. Sie besteht heute aus drei, urspriinglich aber nur aus zwei Lagen. Im einzelnen vertei- len sich die Texte wie folgt:

A) I. Lage (Fol. 1-10) 1. Orgeltabulatur Ha (Nomenklatur von Schrade; entha*lt Capitula, Magnificat

primi toni, Magnificat octavi toni). Fol. Ir-5r. 2. Deutschsprachige Farbrezepturen. Fol. 5v-7r. 3. Lateinische Zahlenlehre. Fol. 7v-8r. 4. Geistliche lateinische Texte. Fol. 8v-10r.

B) II. Lage (Fol. 11-16) + III. Lage (Fol. 17-19) 5. Orgeltabulatur Hb (Tabulatur des Wolfgang de Nova Domo: Fundamenta, Pre-

ambulum super g, 2 Tenorliedbearbeitungen). Fol. 1 lr-15r. 6. Lateinische geistliche Texte. Fol. 15v-16r. 7. ,,Wie man unsers herren Rock hat erfunden". Fol. 16v-18r. 8. Lateinische Zahlenlehre. S. 19v.

Fol. 10v, 18v und 19r blieben frei. Die Untersuchung des Papiers *laBt vermuten, daB die Handschrift urspriinglich aus zwei voneinander unabhingigen Teilen be-

stand, die erst spiter zusammengefiigt wurden. Der erste Teil besteht aus der er-

sten, der zweite aus der zweiten und dritten Lage. Daftir sprechen neben den un- terschiedlichen Wasserzeichen aller drei Lagen auch der hohe Verschmutzungs- grad der AuBenseiten (fol. Ir, 10v, 1 ir und 19v). Ferner ergab sich, daB fol. 11 und fol. 19 urspriinglich als ein Bogen zusammengehorten, der spater zerriB (daftir spricht u.a. die gleichartige Rastrierung von fol. 1 ir und 19v). Fol. 17 und 18 sind daher eigentlich ein vor dem letzten Blatt eingelegter Bogen, die beiden letzten

Lagen also eine Einheit. Der Bogen wurde vermutlich deshalb eingelegt und nicht an-

gefiigt, weil auf der AuBenseite zu jenem Zeitpunkt bereits die lateinische Zahlen- lehre notiert war, die den letzten eingetragenen Text andernfalls unterbrochen hitte.

Beide Lagen sowie der in die zweite Lage eingelegte Bogen weisen eigene Was- serzeichen auf, die jedoch aufgrund ihrer Lage im Falz teilweise schwer zu bestim- men sind. In der ersten Lage sind zweimal gekreuzte Pfeile zu erkennen (fol. 3/8 und 1/10). Dieses Wasserzeichen kommt geographisch wie zeitlich zu hiufig und zu weit gestreut vor, um nihere Aufschliisse zu erm6glichen. Die zweite Lage ist

unvollstdindig: Fol. 13 ist ein Einzelblatt. Sein Gegenstiick, das sich zwischen fol. 15 und fol. 16 befinden miiBte, fehlt. Ob es vor oder nach der Beschriftung verlo-

renging, ist vorerst leider nicht zu kliren, da sich auf fol. 15v und 16r die mittella- teinischen Texte C und D (s.u.) befinden, die griBtenteils nicht zu entziffern wa-

ren. Es ist daher unklar, ob es sich um einen fortlaufenden Text handelt, in dem sich beim Seitenumbruch eine Liicke ergeben wiirde. Das Gegenstiick zu fol. 11 ist fol. 19, heute der dritten Lage zugehorig. Das Wasserzeichen der zweiten Lage

This content downloaded from 193.1.170.40 on Thu, 28 Aug 2014 17:31:19 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Die Orgeltabulatur des Wolfgang de Nova Domo 155

kommt einmal vollstandig (fol. 14/15) und einmal halb (fol. 13) vor. Seine Lesart ist unsicher, es ihnelt jedoch einem bei Briquet als ,Trois montes" benannten Zeichen, das zwischen 1394 und 1460 in Frankreich und Italien nachgewiesen ist6. Wahrend die Datierung mit der inhaltlichen Untersuchung vertraiglich waire, ist die geographische Zuordung problematisch. Angesichts der unsicheren Lesart erscheinen Spekulationen fiber eine italienische oder franz6sische Herkunft des Papiers jedoch miiBig. Die dritte Lage, d.h. der eingelegte Bogen fol. 17/18, weist ein noch schwerer erkennbares Wasserzeichen auf. Es fihnelt einem Wappenschild, bleibt aber zu unklar, um eine nihere Bestimmung zu versuchen. Dies wire nur m6glich, wenn man die Lagen aufschneiden und die B6gen einzeln betrachten wiirde. Bei der Restaurierung wurde dies leider versaumt.

Die Tabulaturen

Die beiden iltesten Eintrige in die Handschrift sind die Tabulaturen, die die bei- den Lagen eroffnen. Ihre wichtigste Gemeinsamkeit ist die Tatsache, daB beide in weiBer Notation abgefaBt sind, was im 15. Jahrhundert sonst kaum iiblich war7. Die bei Apel und im Grove (wohl auf Apel zurtickgehend) auftauchende Angabe, die Tabulaturen seien zum Teil in schwarzer Notation niedergeschrieben, ist nicht korrekt und moglicherweise auf Unklarheiten in Schrades Fotomaterial, nach dem Apel iibertrug, zurtickzufUihren8. Abgesehen von der weiBen Notation haben die beiden Tabulaturen jedoch wenig gemein: Zunichst sind sie in unterschiedlichen Handschriften abgefaBt. Ferner beruhen die capitula der Tabulatur Ha auf einer Skala von c bis c', das erste Fundamentum der Tabulatur Hb hingegen auf einer von H bis b (das zweite dann aber wieder auf der Skala c-c'). Sie diirften sich daher auch auf unterschiedliche Orgeln beziehen. Zunaichst sei hier niher auf die Tabulatur Ha eingegangen.

Die Tabulatur Ha beginnt mit einem (unbezeichneten) ascensus simplex sowie dem zugehorigen descensus. Dann folgen insgesamt sechs sogenannte capitula, sechs pausae und je ein Magnificat im ersten und im achten Ton. Der Tonumfang der Tabulatur reicht von H bis d". Es treten die Alterationen cis, fis und gis auf. Hin- gegen ist b - obwohl keine Alteration, sondern Bestandteil der Skala - regelmiBig durch h ersetzt. Der Ton b kommt in der Tabulatur Ha nicht vor. Der Terminus

6 Monumenta Chartae papyriceae Historiam Illustrantiam, Bd. IV, Briquets Opuscula, Hilversum 1953, Nrn. 450-458.

7 Eine Ausnahme bildet hier lediglich die Handschrift Miinchen, Bayerische Staatsbiblio- thek, Clm 29775/7. Vgl. Martin Staehelin: Miinchner Fragmente mit mehrstimmiger Musik des spiten Mittelalters. Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Gottingen, Philologisch-Histori- sche Klasse, 1988, Nr. 5.

8 Vgl. W. Apel, CEKM 1, S. VI, sowie: J. Caldwell, Sources of Keyboard Music to 1660, in: The New Grove Dictionary of Music and Musicians, Bd. 17, London 1981, S. 724.

This content downloaded from 193.1.170.40 on Thu, 28 Aug 2014 17:31:19 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

156 Wolfgang Marx

capitulum erscheint in keiner anderen Tabulatur, seine Bedeutung ist deshalb nicht

ganz klar. Schrade vermutet einen Zusammenhang mit der gleichnamigen Lesung im Matutinoffizium und halt deshalb eine liturgische Funktion der capitula fiir

m6glich9. Apel hingegen fiihrt iiber den Begriff aus:

,,In Wirklichkeit bedeutet er aber nur Kapitel im Sinne von Abschnitt. Auch handelt es sich offenbar nicht um Beispiele der Lehre des zweistimmigen Satzes, sondern lediglich der figurie- renden Ausschmiickung von Intervallfortschreitungen (...), die Buchstaben (bezeichnen) nicht eine selbstiindige Stimme, gegen welche die Oberstimme kontrapunktiert, sondern geben nur das Intervall an, welches in der Oberstimme figuriert wird (...). Somit diirften diese Beispiele nicht so sehr in Zusammenhang mit der Orgelkomposition als mit der Ornamentationslehre des 16.Jahr- hunderts (...) von Bedeutung sein."l?

In seiner Edition tibertrug Apel bei den capitula die Tenorbuchstaben nicht: Er hielt sie, wie aus dem Zitat hervorgeht, fiir keine eigenstaindige Stimme. Dies ist aber m6glicherweise tiberinterpretiert, wie sich beim Vergleich mit einigen (dort clausulae genannten) kurzen Lehrbeispielen im Breslauer Fragment IF 687 zeigt. Dort findet sich am Beginn eines jeden tactus wie bei den capitula eine Oktavkon- sonanz. Die clausulae sind dreistimmig (wobei die unteren beiden Stimmen in Buch- staben notiert sind), daher ist hier klar, daB die Buchstaben eigene Stimmen re-

praisentieren. Das wire auch bei den dann zweistimmigen Hamburger capitula denkbar. Allerdings wiirden sie in diesem Fall ein recht friihes Stadium der Ent-

wicklung, bei dem der Diskant noch sehr eng an den Tenor angelehnt ist, doku- mentieren. Selbst der am Beginn stehende ascensus samt descensus ist in dieser Hin- sicht weiter entwickelt: Neben Oktaven kommen auch Quinten, Quarten und so-

gar eine None vor.

Apel iibersetzt ,,c ut ut" als ,,c wie ut" usw. - neben dem systematischen Aufbau der capitula wird auch durch diese Angaben der didaktische Charakter der Tabu- latur deutlich: Sogar die Hexachordnamen der Tine werden erlaiutert.

An die capitula schlieBt sich eine Folge von sechs pausae an. Michael Kugler definiert diesen Terminus wie folgt:

,Es handelt sich um auswechselbare Modellstiicke fur auskolorierte Schlulklhinge, die aus zwei Tactus bestehen: Kolorierungsbewegung und Schlufklang.""

Die sechs Hamburger pausae sind absolut identisch aufgebaut (mit einer wohl griff- technisch bedingten Ausnahme im SchluBklang der vierten pausa), die erste wird in die iibrigen fiinf Tine des Hexachords transponiert. Der SchluBklang istjeweils dreistimmig, wobei die rechte Hand einen Dreiklang zu greifen hat, dessen tief- ster Ton mit dem Tenor zusammenfaillt. Die pausae lassen sich mit den pausae generales im bereits erwaihnten Breslauer Fragment IF 687 vergleichen:

9 Schrade, Oberlieferung, S. 99. 10 W. Apel, Geschichte der Orgel- und Klaviermusik bis 1700, Kassel-Basel 1967, S. 43. 1 M. Kugler, Die Musikfiir Tasteninstrumente im 15. und 16.Jahrhundert, Wilhelmshaven 1975,

S. 66.

This content downloaded from 193.1.170.40 on Thu, 28 Aug 2014 17:31:19 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Die Orgeltabulatur des Wolfgang de Nova Domo 157

Notenbeispiel 1: pausae aus der Tabulatur Ha, fol. 3v12:

O. A. 4a.

A II

er Fall die uinte von Beginn an erklingt, wihrend sie im Hamburger Beispiel J/.

Die erstendieser pausae generales ist in der Stimmfuhrung des Diskants eine genaue

Entsprechung der Hamburger pausae, der einzige Unterschied ist, daB im Breslau- er Fall die Quinte von Beginn an erklingt, wahrend sie im Hamburger Beispiel

12 Einige offenkundige Schreibfehler sind in dieser Obertragung (wie auch in den folgenden) korrigiert worden; so ist etwa der erste Ton im Diskant des siebten Tactus in der Handschrift als Semiminima statt als Minima notiert.

13 Wiedergabe nach der Obertragung von Willi Apel, Corpus of Early Keyboard Music, Vol. 1, American Institute of Musicology 1963, S. 20f.

This content downloaded from 193.1.170.40 on Thu, 28 Aug 2014 17:31:19 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

158 Wolfgang Marx

erst mit dem SchluBklang einsetzt. Es ist zu vermuten, daB beide Beispiele einem ahnlichen Entwicklungsstadium entstammen, wobei die Breslauer Beispiele auf-

grund ihres Reichtums an Varianten etwas jiingeren Ursprungs sein kinnten. Die

pausae in Paumanns Fundamentum sind noch variantenreicher. Mit den pausae schlieBt der ,,Fundamentum"-Teil des Tabulatur Ha. Er diirfte als

abgeschlossenes Ganzes eingetragen worden sein. Die folgende Seite blieb frei, da- nach wurde von einer zweiten Hand ein Magnificat im ersten und anschlieBend von der urspriinglichen Hand eines im achten Ton eingetragen. Ha diirfte also bis zu seiner Vollendung im EinfluBbereich eines Organisten verblieben sein. Das erste

Magnificat kinnte von einem Schiiler niedergeschrieben worden sein. Dadurch lieBe sich die sehr fliichtige Niederschrift und die fehlende Rhythmisierung erkliren. Auch wurden in zwei (im siebten und im nicht mehr abgeteilten letzten) tactus jeweils die Tenorbuchstaben vergessen. Schwer zu interpretieren und wohl ebenfalls ein Schreib- fehler ist ferner das unvermittelte Auftauchen von je zwei Tenortonen im dritten und vierten Tactus, da dies an keiner anderen Stelle in Ha der Fall ist. Im dritten tactus folgt auf ein e ein sehr schwaches c, das moiglicherweise unvollstiindig ge- loscht ist, wiihrend ein das System abschlieBendes d das zu friih eingetragene d des ersten tactus des Folgesystems sein koinnte: Es wurde moiglicherweise im Glauben

eingetragen, es gibe trotz des nahen Zeilenendes noch ausreichend Platz ftir den Diskant. Als sich dies als unzutreffend erwies, wurde das Ausl6schen dann vergessen.

Das Magnificat im achten Ton wird von Apel mit einer anderen friihen, in einer Miinchener Handschrift tiberlieferten und leider nicht nicht datierten Ver-

tonung verglichen: Wihrend das Hamburger Magnificat Semibreven, Minimen und Semiminimen aufweist, ist das Miinchener Beispiel quatuor notarum und somit

rhythmisch sehr gleichfoirmig notiert. Andererseits beginnen alle tactus des Ham-

burger Magnificat in der Oktave, wihrend im Miinchener hiufig Terzen und Sex- ten auftreten, es ist in dieser Hinsicht also fortschrittlicher. Die Praxis, stets von der Oktave auszugehen, war ja bereits in den Hamburger capitula zu beobachten. In der Kennzeichnung der pausae als solchen sehe ich ein weiteres Indiz fuir die

Einordnung der Tabulatur als ,,Orgelschule": Sie macht nur als Hinweis fiir Un-

kundige Sinn. Im Miinchener Magnificat ist die pausa nicht gesondert bezeichnet. Der Vergleich mit Apels Edition ergibt einige Abweichungen im Detail, die auf

Lesefehler zuriickgehen kinnten. Ferner hat Apel seine Erginzungen und Rhyth- misierungen nicht in jedem Fall kenntlich gemacht.

Sechs von neun Seiten der Tabulatur Ha sind am unteren Rand mit lateini- schen Textzeilen versehen, die sich offenbar auf die Musik beziehen. Leider ge- lang es mir nur sehr liickenhaft, sie zu entziffern (die erste Seite etwa ist zu ver-

schmutzt), so daB eine zusammenhangende UIbersetzung nicht m6glich ist. Auf fol. lv findet sich ein Hinweis, daB Praeambula in gleicher Weise wie die capitula auszufuihren seien. Auf den folgenden Seiten sind Hinweise zur Transponierbar- keit der jeweils auf den Seiten notierten Ubungen vom Hexachordum naturale in den Hexachordum molle niedergeschrieben. Der Text auf fol. 3v etwa lautet:

This content downloaded from 193.1.170.40 on Thu, 28 Aug 2014 17:31:19 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Die Orgeltabulatur des Wolfgang de Nova Domo 159

,Item C faut in alamire et faut in lasolre fit idem/ discantus (...?) C sol faut in alamire et alamire in/ faut et ffaut in alamire tactus valent idem (...?)/ (...?) semitonia"

Der Diskant iiber c-a entspricht also dem iiber f-d. Dann wird Bezug auf die Spriinge c'-a, a-f und f-a genommen. Hierffir ist der Diskant erst nach einer Alterierung verwendbar. Es handelt sich also bei Ha um eine Unterweisung in Noten und Text, wobei letztere m6glicherweise zum Memorieren gedacht war.

SchlieBlich weist die Tabulatur Ha eine weitere Besonderheit auf. Schrade schreibt:

,Uber der ersten Tabulaturzeile und auch sonst an anderen Stellen sind Zahlen und Zeichen eingetragen, die ich nicht zu deuten weiB, von denen ich aber vermuten muB, daB sie eine nicht unwesentliche Bedeutung haben."'4

Leider kann ich mich Schrade hier nur anschlieBen. In keiner Beschreibung oder Wiedergabe einer anderen Tabulatur konnte ich Hinweise auf iihnliche Zeichen finden, sie scheinen hier singular aufzutreten.

Beide Hamburger Tabulaturen werden im allgemeinen auf die Jahrhundert- mitte datiert15. Betrachtet man datierte Zeugnisse dieser Zeit wie etwa die Tabula- turen von Paumann und Ileborgh, so scheint zumindest Ha doch eher etwas frii- her zu liegen. Gollner schreibt iiber die Entwicklung der Orgelmusik in der ersten

Htilfte des 15. Jahrhunderts (mit Bezug auf Ileborgh):

,Die Tabulatur I zeigt somit einerseits Merkmale, die (...) zuriickweisen, so die Folge von Oktav- bzw. Quint-Gertistkl~ngen, die Auskolorierung in sich ruhender Klangkomplexe und die Auftei- lung der Klangverbindung in zwei Hilften; andererseits aber treten deutlich neue Zuige hervor, wie die Unabhangigkeit der Oberstimme von der Bewegungsrichtung des Tenors, die vollige Verselbstindigung von Terz und Sext, das Nebeneinanderstellen unkolorierter Kliinge und die Freiheit ihrer Verbindung."16

Im Fundamentum-Teil wie auch bei den Magnificatvertonungen dominieren in Ha die Oktav- und Quintkliinge, wiihrend Terzen und Sexten selten sind. Beson- ders in den Ubungen ist die Oberstimme eng an den Tenor gekniipft. Entwick- lungsgeschichtlich ist Ha zwischen das um 1430 datierte Saganer Fragment17 (wel- ches das friiheste fiberlieferte Fundamentum enthailt) auf der einen und Paumann, Ileborgh sowie das erwihnte Breslauer Fragment IF 687 (ebenfalls auf die Jahr- hundertmitte datiert) auf der anderen Seite einzuordnen. Als Datierung ergiibe sich somit der Zeitraum zwischen 1430 und 1450, jedoch ndiher an 1450 gelegen.

Die Tabulatur Hb beinhaltet das Fundamentum des Wolfgang de Nova Domo, welches der Handschrift den Namen gab. Der genaue Titel lautet ,,Sequitur fun- damentum bonum et utile pro cantu chorali valens videlicet octo notarum Wolff-

14 Schrade, Uberlieferung, S. 98. 15 W. Apel, Die Notation der polphonen Musik 900 bis 1600, Leipzig 1962/Wiesbaden 1989, S.

44; oder Schrade, Oberlieferung, S. 39. 16 Theodor G6llner, Formenfriiher Mehrstimmigkeit in deutschen Handschriften des spdten Mittelal-

ters, Tutzing 1961, S. 87. 17 Vgl. F. Feldmann, Musik und Musikpflege im mittelalterlichen Schlesien, Bd. 37 der Darstellun-

gen und Quellen zur schlesischen Geschichte, Breslau 1938, S. 11/4.

This content downloaded from 193.1.170.40 on Thu, 28 Aug 2014 17:31:19 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

160 Wolfgang Marx

gangi de nova domo". Der Ambitus von Hb erstreckt sich von H bis h', als Altera- tionen kommen fis, cis, gis und as (dies aber wahrscheinlich als Schreibfehler) vor. Anders als in Ha ist hier der Ton b fester Bestandteil der Skala der kleinen Oktave (auBer bei der Oktavbildung zur groBen Oktave). Die Verwendung von h als Aus-

gangston der Skala ist, soweit ich sehe, einzigartig unter den frfihen Fundamenta und spricht gegen Kuglers These, daB das c ,,offenbar in der Tastenmusik von

Anfang an den zentralen Bezugspunkt bildet."18 Das erste Fundamentum besteht aus einer Folge von sechs ascensus und den zugehirigen descensus. Anders als in den capitula in Ha, wo von einem Grundton aus immer grB3ere Intervalle ange- steuert werden, ist hier die Basis eine Oktavskala, deren einzelne Tone innerhalb der iObung immer gleiche Intervalle bilden. Notenbeispiel 3 zeigt als Beispiel ascen- sus und descensus in tertias mit dem Tenor ,,H in d", ,,c in e", ,,d in f" und ,,e in g", ,,f in a" und ,,g in b".

Notenbeispiel 3: ascensus und descensus in tertias, Tabulatur Hb, fol. 1 ir f.'9:

ascensus in tertias

K Esns0X. sm desmensus eiuslem AP ...,, , , j j jfj !• JJ -•-• JJ JJ ill ]!

H - -------

C yr,-__-

A.,

18 Kugler, a.a.O., S. 65. 19 Im fiinften Tactus des descensus ist die vorletzte Note des Diskants vermutlich versehent-

ich nicht caudiert worden, was in der Obertragung korrigiert wurde. Das as im Diskant dessel- )en Tactus diirfte ein Schreibfehler sein.

This content downloaded from 193.1.170.40 on Thu, 28 Aug 2014 17:31:19 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Die Orgeltabulatur des Wolfgang de Nova Domo 161

Die innerhalb eines tactus notierten Tenortone erklingen nacheinander und nicht etwa zugleich, da es ansonsten teilweise zu Dissonanzen kiime (etwa beim ascen- sus in septimas). Es handelt sich hier also nicht um das bei Kugler beschriebene Phainomen von Zweikliingen der linken Hand20.

octo notarum im Titel bedeutet, daB der Diskant in einem tactus den Wert von acht Minimen umfa8t. Haiufig wird dies jedoch nicht eingehalten, so stehen etwa gleich im ersten tactus des einleitenden ascensus simplex lediglich 7 Minimen. Apel lost dieses Problem entweder durch Einfuigung von weiteren Minimen oder durch Umwandlung von einzelnen Minimen in Semibreven. Auffiillig ist die hohe Schreibfehlerquote innerhalb dieser Tabulatur. Haiufig fehlen Noten, sind unge- nau plaziert oder falsch kaudiert bzw. alteriert. An einer Stelle wurden c- und g- Schliissel zunaichst im Terzabstand gesetzt und durch eine dazwischen nachgetra- gene ,,Hilfslinie" wieder in Quintabstand gebracht (fol. 12r). All dies liiBt darauf schlieBen, daB hier ein Kopist - m6glicherweise auch ein Schiiler nach Diktat - am Werk war, der von dem, was er schrieb, wenig verstand - anders, als es in der Tabulatur Ha der Fall ist.

An das erste Fundamentum octo notarum schlieBt sich ein zweites an, welches ,,Incipit fundamentum sub secunda mensura minoris prolacionis" iiberschrieben ist. Auf einen Tenorton entfallen hier drei Semibreven oder sechs Minimen, es handelt sich also um ein Fundamentum sex notarum. Apel schreibt zu diesem zwei- ten Fundamentum:

,,Es folgt dann noch ein Fundamentum (...), in dem die gleichen Tenorbildungen mit einer figu- rierten Oberstimme im 3/4-Takt versehen werden. Diese Taktart entspricht den fortschrittlichen Tendenzen, wie sie sich in der Orgelmusik um 1450 (...) zu erkennen geben. So klingt denn auch in diesem Fundamentum alles flussiger und weniger holprig als in dem ersten. Auch beginnen die Tenorbildungen nicht mehr mit der Stufe H, sondern mit c."21

In der Tat finden sich ,,3/4-Takte" zuerst in der auf 1448 datierten Tabulatur von Ileborgh und der Breslauer Handschrift IF 687. Satztechnisch fillt hier jedoch - wie schon in Ha - die Beschrainkung auf Oktav- und Quintkonkordanzen zu Be- ginn des tactus auf (mit Ausnahme des siebten tactus, den Apel darum wohl zu Recht korrigiert). Dies spricht erneut fiir eine vor derJahrhundertmitte liegende Entwicklungsstufe.

Auf das zweite Fundamentum folgt ein ,,Preambulum super g", das auf den letzten beiden Systemen von fol. 13r notiert ist:

20 Kugler, a.a.O., S. 59-60. 21 Apel, Klaviermusik, S. 44.

This content downloaded from 193.1.170.40 on Thu, 28 Aug 2014 17:31:19 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

162 Wolfgang Marx

Notenbeispiel 4: ,,preambulum super g", Tabulatur Hb, fol. 13r:

PJ - Ji if N i R A, I

"E-.: :

Das Praeambulum, die erste eigenstindige ,,Gattung" der Orgelmusik, taucht in den Quellen vor Paumann ansonsten nur noch bei Ileborgh auf22. Eine interes- sante Parallele zwischen Ileborgh und dem vorliegenden Praeambulum ist, daB bei beiden einige Tine des Tenors in Noten anstelle von Buchstaben ausgefiihrt sind. Apel schreibt hierzu:

,Weitere Ansitze zur ,Klavierpartitur" finden sich in der ,Neuhaus'-Tabulatur (...), wo auf S. 25 eine Reihe von Sext- und Oktavgriffen durch stilverbundene Notenk6pfe in ein System gebracht sind, ganz

a.hnlich tibrigens, wie bei Ileborgh in einigen Takten auf S. 9."23

22 Mehrere weitere Praeambula wurden von Martin Staehelin kUirzlich in der Orgeltabulatur des Ludolf Bbideker entdeckt und beschrieben. Vgl. M. Staehelin, Die Orgeltabulatur des Ludolf B6deker. Eine unbekannte Quelle zur Orgelmusik des mittleren 15.Jahrhunderts. Nachrichten der Aka- demie der Wissenschaften in Gattingen, Philologisch-historische Klasse, 1996, Nr. 5.

23 Apel, Ileborgh, S. 196.

This content downloaded from 193.1.170.40 on Thu, 28 Aug 2014 17:31:19 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Die Orgeltabulatur des Wolfgang de Nova Domo 163

Bei Ileborgh gibt es - wie auch in der Winsheimer Handschrift24 - Akkorde, die durch nebeneinandergestellte Buchstaben ausgedriickt sind. Offenbar war diese Art der Notation ausreichend bekannt, so daB es keines weiteren Hinweises auf die akkordische Ausftihrung bedurfte. Beim Hamburger Praeambulum hingegen wird ein Zweiklang deutlich mit ,,tene d in a" erlaiutert, die Notation ist offenbar noch weniger weit entwickelt (,,d in a" hatte demgegeniiber in der Tabulatur Haja eine Tonfolge und keinen Akkord bezeichnet). Der gleiche Zweiklang kommt spaiter noch einmal in der zweiten Liedbearbeitung vor und wird dort ebenfalls mit ,,tene d cum a" gewissermaBen ,,narrensicher" bezeichnet. Zur Stilistik des Stiickes schreibt Apel:

,Die Hamburger Handschrift enthalt ein Preambulum super g (...), in dem man einen ersten Schritt in Richtung auf stilistische Festlegung des Praludiums erkennen kann. Es beginnt mit einer kurzen Reihe von gleichlang gehaltenen T6nen, und erst in der SchluBkadenz treten freie Bildungen afhnlich denen der Ileborgh-Tabulatur auf (...). Viele Praludien des Buxheimer Orgel- buches sind nach dem gleichen Formprinzip gebaut, nur daB dem ,gefestigten' Abschnitt haufig noch eine freie Einleitung vorausgeht."25

Durch den Vergleich mit dem viel jiingeren Buxheimer Orgelbuch scheint Apel das Praeambulum zeitlich nach Ileborgh einzuordnen. Zumindest vom Entwick- lungsstand der Notation her scheint es aber eher vor Ileborgh zu liegen.

Abgeschlossen wird die Tabulatur Hb von zwei Liedtenorbearbeitungen. Sie spielen in der Literatur kaum eine Rolle, was damit zusammenhtingen mag, daB die Zahl der in anderen Handschriften fiberlieferten Bearbeitungen recht hoch und ferner der zugrundeliegende Tenor nicht bekannt ist. Beide Sticke sind Bear- beitungen des gleichen Tenors, das kiirzere zweite beruht jedoch nur auf seiner ersten Htilfte. Einige der vom wohl unkonzentrierten Kopisten vergessenen zahl- reichen Tone des Tenors lassen sich daher aus der ersten Bearbeitung ergainzen. Die Bearbeitungen werden eingeleitet vom Titel ,,sequitur tenor bonus duarum mensuarum vz. sub secunda mensura brevis prolationis". Dementsprechend ist das erst Stiick octo notarum und das zweite sex notarum notiert. Die ,,perfekte" Drei- teilung der tactus des zweiten Tenors ist ein weiteres Indiz fuir die fortschrittlichen Tendenzen um 1450. DaB hier wie in Ha notations- wie satztechnisch Neues und Alteres nebeneinanderstehen, spricht aber daftir, daB die beiden Tabulaturen doch etwas vor die Entwicklungsstufe von Ileborgh und Paumann zu datieren sind, etwa in das zweite Viertel des 15.Jahrhunderts.

Der namentlich genannte Wolfgang de Nova Domo ist leider nicht zu identifi- zieren. Die Ortsangabe ,,Nova Domo", also ,,Neuhaus", ist wenig hilfreich, da Orte dieses Namens auch schon im 15.Jahrhundert haufig und in verschiedenen Gegenden vorkamen. Schrade vermutet, es sei Neuhaus in Bohmen gemeint, bringt dafiirjedoch keine Begriindung. In Anbetracht der Fehlerquote und auch des aus-

24 Berlin, Staatsbibliothek PreuBischer Kulturbesitz, Ms. Theol. lat. quart. 290. 25 Apel, Klaviermusik, S. 41-42.

This content downloaded from 193.1.170.40 on Thu, 28 Aug 2014 17:31:19 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

164 Wolfgang Marx

fiihrlichen Titels diirfte es sich bei der Tabulatur Hb um eine zur weiteren Ver-

breitung von einem Schreiber angefertigte Kopie handeln. Wenn die Tabulatur aber nicht von Wolfgang de Nova Domos eigener Hand stammt, relativiert sich die Bedeutung dieses Ortsnamens noch weiter. Auch wenn man aufgrund der dialektalen Eigenheiten der deutschen Texte die Herkunft der Handschrift auf

Bayern oder Osterreich eingrenzen kann, kommt man nicht wesentlich weiter: In diesem Gebiet sind immer noch mindestens sieben Orte namens ,,Neuhaus" nach-

gewiesen26

Die Texte

Der erste der beiden deutschsprachigen Texte (fol. 5v-7r) gibt insgesamt zwilf Rezepte wieder, die mit der mittelalterlichen Farbenlehre in Zusammenhang ste- hen. Es diirfte sich um eine Abschrift eines

iilteren Textes handeln, da das ver-

wendete Mittelhochdeutsch auf die Mitte des 13.Jahrhunderts verweist27. Ergie- biger als die Datierung ist jedoch die dialektale Zuordnung: Der Text gehirt dem oberdeutschen Sprachraum an: Die Verwendung des Diminutionssuffix ,,-lin" anstelle von ,,-chen" weist auf den alemannisch-bairischen Dialekt hin. Weitere Details wie die Ersetzung von ,,p" durch ,,b" im Anlaut (,,per" statt,,ber" = Beere, ,,pley" anstelle von ,,bley") oder die Ersetzung von ,,w" durch ,,b" (,,grab" anstelle von ,,graw" = grau) sind typisch bairisch. Der bairische Sprachraum erstreckte sich ostlich und siidlich etwa einer Linie Augsburg - Niirnberg. In diesem Raum

diirfte der Text entstanden sein. Allerdings ist nicht gesichert, daB die Abschrift dort vorgenommen wurde. Der Text ist bis auf wenige Worte (vor allem unbe- kannte Fachtermini der Firberei) lesbar.

Die altesten erhaltenen Fairberezepte entstammen dem Ende des 13.Jahrhun- derts, die Vorlage der hier niedergeschriebenen diirfte also zu den iltesten ihrer Art geh6ren28. Die meisten ,,Fiirbebiicher" wurden in Klosterbibliotheken herge- stellt und fiberliefert. Viele von ihnen enthalten nicht nur Anleitungen zur Firbe- rei (sowie zu Textildruck und Malerei), sondern auch medizinische und alchimi- stische Rezepte. Die Disziplinen waren nicht eindeutig getrennt. Durch die Kreuz-

ziige gelangte die Kenntnis vieler ,,exotischer" Farbgrundstoffe nach Europa, was vielleicht die Niederschriften der ersten Rezeptsammlungen erklart. Die Rohstof- fe waren jedoch noch zu teuer und zu selten, um in der Fairberei eine groBere

26 H. Oesterley, Historisch-geographisches Worterbuch des deutschen Mittelalters, Neudruck der

Ausgabe von 1883, Aalen 1962, S. 478. 27 Fiir Auskiinfte zur dialektalen und zeitlichen Einordnung der deutschen Texte danke ich

Frau Dr. Beate Hennig, Leiterin der Hamburger Arbeitsstelle des Mittelhochdeutschen Wirter- buchs und Dozentin des Germanischen Seminars der Universittit Hamburg.

28 Alle folgenden Informationen iiber mittelalterliche Fiirberei aus: E. E. Ploss, Ein Buch von alten Farben, Miinchen 2/1967.

This content downloaded from 193.1.170.40 on Thu, 28 Aug 2014 17:31:19 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Die Orgeltabulatur des Wolfgang de Nova Domo 165

Rolle zu spielen. Dies iinderte sich erst mit der Entdeckung und Erforschung neu- er Handelswege im 15. Jahrhundert. Grundstoffe wie Indigo und Brasilholz ge- langten nun in griBerer Menge und zu erschwinglichen Preisen nach Europa, aus dem Luxusgut wurde ein alltdigliches Gebrauchsgut fiir den Fairber. Infolgedessen wurden im 15.Jahrhundert viele Fiirbelehren neu abgeschrieben und im Bedarfs- fall um Anleitungen im Umgang mit den asiatischen und afrikanischen Materiali- en erginzt. Bei den hier untersuchten Rezepten war eine solche Ergainzung aller- dings nicht notwendig, insbesondere das Brasilholz kommt unter der mundartli- chen Bezeichnung ,,prisilig" sehr hdiufig vor.

Bevor die einzelnen Rezepte fiir Tuchfarberei und Malerei kurz aufgezaihlt werden, sei hier eines der Rezepte (zur Aufbringung von Goldfarbe auf silbernem Untergrund, fol. 6r) in diplomatischer Umschrift wiedergegeben:

,,Wild du gold varib haben auf silber so nym/ Spench rot oder prisilig und sewd dy auf andert/ halber hor und seych es durch ain tuch und/ nym gewaikchtes ausgedrukges saffran darin und/ leichten leim darin und lazz es erhaissen und/ streichs mit ainem penslein auf das silber wo du/ es haben wild so hastu gold varib."

Die zwolf Rezepte leiten zur Herstellung folgender Farben bzw. Grundstoffe an: 1. Firnis, 2. Grundierung fiir Gold oder Silber auf Leinwand, 3. Goldfarbe auf

Silber (s.o.), 4. Grtin auf Silber, 5. Rot auf Silber, 6. Aufdrucken von Griin, 7. Aufdrucken von Rot, 8. Blau, 9. Grau, 10. Farbige Leinwand und Zwirn, 11. Grtin- firbung von Leinwand, Zwirn oder Fell, 12. Blau.

Ein Vergleich mit den bei Ploss wiedergegebenen Rezepten zeigt eine sprachli- che Verwandschaft zum ,,Oberdeutschen Firbebiichlein des 15. Jahrhunderts", welches er im Raum Siidbayern/Osterreich ansiedelt. Mehrere von ihm aufge- fiihrte Charakteristika treffen auch im Falle der Hamburger Rezepte zu29:

- Die Diphtongierung von i zu ei: Essig - ezzeich, - p fiir b: Beeren - per, - SproBvokal i in ,,prisilig" (statt ,,presilig"), - ch fuir k: Kohle - chol, erkalten - erchalten.

Die Zuordung zum bairischen Sprachraum wird hier nicht nur bestiitigt, sondern mit Siidbayern/Osterreich noch prizisiert. Wiahrend der Text fiir die Datierung der Handschrift wenig ergiebig ist, liefert er ein Indiz fiir die Herkunftsbestimmung.

,,Wie man unsers herren Rock hat erfunden" (fol. 16v-18r) ist der wohl letzte in die Handschrift eingetragene Text. Er bezieht sich auf ein historisches Ereignis: die Wiederauffindung und Zurschaustellung des Heiligen Rocks im Jahre 1512. Aus Anlal eines Reichstages in Trier wurde auf Drdingen Kaiser Maximilians I. der Hochaltar des Trierer Doms ge6ffnet. Darin fanden sich drei Truhen und ein kleinerer Behailter, die mit Reliquien verschiedener Heiliger angefiillt waren. Die bedeutendste dieser Reliquien war der Rock Christi.

29 Vgl. Ploss, S. 126.

This content downloaded from 193.1.170.40 on Thu, 28 Aug 2014 17:31:19 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

166 Wolfgang Marx

Zun~chst wird berichtet, wie die Reliquien von ErzbischofJohann I. 1196 bei der Weihe des Hochaltars darin verwahrt und verschlossen wurden. Dann schil- dert der unbekannte Chronist, wie sie auf GeheiB des Kaisers und in Anwesenheit des pipstlichen Nuntius zunichst heimlich ,,in den heiligen osterfeirtagen" (nach anderen Quellen genau am 14.4.1512) geborgen wurden, um dann im Hochamt am Tag der Auffindung des Heiligen Kreuzes (3.5.1512) in Anwesenheit zahlrei- cher geistlicher und weltlicher Fiirsten auf einem vorbereiteten Altar ausgestellt zu werden. Der Schwerpunkt des Textes liegt bei der detaillierten Schilderung der in den drei Truhen und dem Beutel enthaltenen Heiligttimer sowie in der ausfiihr- lichen Aufzahlung der bei ihrer Prisentation anwesenden geistlichen und weltli- chen Fiirsten und sonstigen Wiirdentrager. Es werden zwolf Personen namentlich sowie dreizehn ihrem Stand (Graf, Bischof) oder ihrer Funktion (Botschafter eines abwesenden Fiirsten) nach genannt, den BeschluB bilden die Botschafter ,,etlicher namhaftiger stett". Der Textautor muB angesichts seiner Detailfreudigkeit (so kennt er etwa die Sitzordnung der Teilnehmer der Messe) personlich Zeuge der Ereig- nisse gewesen sein. Interessant ist der Vergleich mit einer anderen Quelle zum Trierer Reichstag, dem Bericht Peter Maiers, eines Sekretirs des Trierer Kurftir- sten30. Maier schildert den Ablauf des gesamten Reichstages (bei dem es Maximi- lian vor allem um die Bewilligung von Geldern fiir einen m6glichen Krieg gegen Frankreich ging) bis zu seiner Verlegung nach Kiln und geht dabei auf den Heili-

gen Rock nur ganz am Rande ein. An der Messe am 3.5.1512 nahm er offenbar nicht teil, die Prisentation des Heiligen Rocks an diesem Tag wird bei ihm nicht

erwahnt, und die Beschaffenheit der Reliquie schildert er nur dem H6rensagen nach. Dadurch werden die Relationen ein wenig zurechtgertickt: Wahrend der Autor der Hamburger Quelle den Reichstag als den eigentlichen AnlaB der Zu- sammenkunft der Fiirsten nicht einmal erwahnt und den Eindruck erweckt, es

gehe nur um die Reliquien, zeigt sich bei Maier, daB die Aktion tatsfchlich weni-

ger bedeutsam war. Maximilian hatte vermutlich einen Propagandaeffekt im Sinn, durch den die Anwesenden geeint und vielleicht eine Art Kreuzzugsstimmung angefacht werden sollte. Dieser Effekt stellte sich bei den Fiirsten nicht ein, beim Volk wurde jedoch eine groBe Begeisterung entfacht: In den folgenden Jahren war der Trierer Rock ein beliebtes Ziel von Wallfahrten, die Papst Leo X. schlieB- lich institutionalisierte, indem er anordnete, daB die Reliquie zukiinftig alle sieben

Jahre zu zeigen sei. Die ,,Wallfahrt zum Heiligen Rock" fand daraufhin regelmi- Big in diesem Turnus statt.

Die Beschrinkung des Chronisten auf das geistliche Ereignis sowie seine dies-

beziigliche Detailfreudigkeit lassen vermuten, daB es sich um einen Geistlichen handelt. Die Sprache ist Frtihneuhochdeutsch, jedoch nicht im moselfrankisch-

ripuarischen Dialekt, wie man es fiir einen Text mit Bezug auf Trier vielleicht

30 Maiers Bericht ist wiedergegeben in: G. Kentemich, Geschichte der Stadt Trier, Trier 1915, S. 319-325.

This content downloaded from 193.1.170.40 on Thu, 28 Aug 2014 17:31:19 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Die Orgeltabulatur des Wolfgang de Nova Domo 167

vermuten kinnte. Vielmehr gibt es einige Indizien fiir eine Zuordnung in den bairischen Sprachraum, so etwa die Ersetzung von b durch w (,,wischof", ,,bran- denwurg") oder von b durch p (,,verplichen", ,,verporgen", ,,zwelfpotten"). Somit ergibt sich der Befund, daB die beiden deutschen Texte der Handschrift zwar zeitlich weit auseinanderliegen, dafiir aber dem gleichen Sprachraum entstam- men. Der Autor k6nnte ein geistliches Mitglied einer bayerischen Delegation ge- wesen sein (es waren mehrere bayerische Fiirsten anwesend). Terminus post quem der Abfassung ist natiirlich das Datum des zuletzt beschriebenen Ereignisses, also der 3.5.1512. Es ist anzunehmen, daB der Text nicht sehr viel spaiter niederge- schrieben wurde: Details wie die genaue Sitzordnung der Fiirsten oder die genaue Verteilung der einzelnen Objekte in den Truhen behalt wohl niemand iiberJahre hinweg im Kopf. Es kinnte so sein, daB ein Mitglied einer bayerischen Delegation kurze Zeit nach dem Ende des Reichstag einen Bericht uiber das Erlebte schrieb. Da er ein Manuskript mit nur noch wenigen freien Seiten wohl kaum als Schreib- material mit sich fiihrte, entschlof er sich wohl erst spater, das Geschehene schrift- lich zu fixieren, und fand - vielleicht in einer Klosterbibliothek - die vorliegende Handschrift mit noch zwei freien Seiten, deren Zahl er er durch Einlegen eines Bogens auf sechs erweiterte. ObermiBige Bedeutung kann dem Text nicht beige- messen worden sein, sonst wire vermutlich neues Papier verwendet worden. Die Niederschrift diirfte wenige Wochen bis Monate nach den geschilderten Ereignis- sen stattgefunden haben.

Die in beiden Faszikeln enthaltenen mittellateinischen Texte sind mit vielen Abbreviaturen versehen, undeutlich geschrieben, stark verblaBt und insgesamt sehr schwer lesbar. Eine vollstandige Obertragung war mir nicht m6glich und wiire, wie mir zwei Philologen der Universitat Hamburg bestatigten, auch sehr aufwendig. Die Handschrift weise jedoch auf die Mitte des 15. Jahrhunderts hin. Aus den genannten Griinden lieBen sich lediglich einzelne Worte oder Abschnitte entziffern. Als gesichert kann jedoch gelten, daB die Texte in keinem Zusammen- hang mit den Tabulaturen stehen.

Im alten Realkatalog der Hamburgischen Stadtbibliothek von 1876 sind die lateinischen Texte in vier Abschnitte untergliedert: - Verschiedene Bemerkungen, fol. 8v (im folgenden Text A genannt), - Exhortatus estJoh. Stadelmair 1475, fol. 9r-10v (B), - Lectio I und II ,,Ego sum", fol. 15v (C) und - Sermo, fol. 16r (D).

Schrade liest die mehrfach in den Texten B und C auftauchendeJahreszahl nicht als ,,1475", sondern als ,,1457" und wird darin von Apel unterstiitzt31. Denkbar ware meines Erachtens auch noch ,,1451", die Lesart ,,1457" ist jedoch die wahr- scheinlichste. Die Zahl ist insofern von Bedeutung, als die Texte in beiden Lagen

31 Vgl. Schrade, Uberlieferung, S. 98-99, und Apel, Klaviermusik, S. 30.

This content downloaded from 193.1.170.40 on Thu, 28 Aug 2014 17:31:19 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

168 Wolfgang Marx

auf die Tabulaturen folgen und dieJahresangabe somit einen Terminus ante quem fiir deren Niederschrift setzen wiirde. DaB die Texte sich zwar auf das genannte Jahr beziehen, aber spiter niedergeschrieben sein k6nnten, erscheint angesichts der auf dieJahrhundertmitte verweisenden Handschrift unwahrscheinlich. Zu den einzelnen Texten lassen sich folgende Anmerkungen machen:

Text A: Der Text umfaBt lediglich 18 Zeilen. Bedeutsam ist die Unterschrift ,,Castris propeJudenburk der Eppenstain", was auf die in der Steiermark gelege- ne OrtschaftJudenburg hindeuten kbnnte. In der dritten Zeile taucht ein Name auf: ,,Adam perdidi (?) in paradiso horto (?)", ein Indiz fiir einen geistlichen Kon- text.

Text B: Seltsamerweise gibt es deutsche Einsprengsel im lateinischen Text. Schra- de liest die UIberschrift ,,Exortatus est dominus ioannes Stadelmair magister Kmen- dus dominca trinitatis anno domini 1457"32. Der Name Stadelmair wie auch die

Jahreszahl tauchen mehrfach wieder auf, Namen wie Maria Magdalena deuten auf einen geistlichen Kontext hin. Schrade bezeichnet den Text als Predigt. Die Handschrift ist eine andere als in Text A. Das zweite Viertel von fol. 9v scheint in einer abweichenden Handschrift abgefaBt zu sein, worauf wieder die Schrift, in der Text B begann, folgt, jedoch sehr stark verblaBt.

Texte C und D: Die im Realkatalog als eigenstindige Texte aufgefiihrten fol. 15v und 16r scheinen, wie schon Schrade bemerkte, zu Text B zu gehoren. Die Handschrift von Text C sowie am Beginn des Textes D ihneln sehr derjenigen, in der Text B beginnt. Text D wird dann in einer Schrift fortgefiihrt, die der zweiten aus Text B iihnelt. Auch inhaltlich gibt es Beziige: Der Name Stadelmair und die

Jahreszahl 1457 tauchen mehrfach auf, so daB ein Zusammenhang der Texte B, C und D als gesichert erscheint. Es k6nnte so sein, daB mehrere Schreiber - vermut- lich zwei - an der Abfassung dieser Texte beteiligt waren, wobei sie sich mehrfach abwechselten. Daraus ergibt sich die Feststellung, daB die beiden Lagen der Hand- schrift zum Zeitpunkt der Niederschrift der Texte B, C und D (Text A steht fiir sich und war nicht weiter bestimmbar) bereits vereinigt waren oder aber aus An-

laB der Niederschrift vereinigt wurden. Der Zeitpunkt der Niederschrift liegt zwi- schen dem mehrfach genanntenJahr 1457 und der Aufzeichnung des in der zwei- ten Lage folgenden Textes iiber die Auffindung des Heiligen Rocks in Trier, also

wohl 1512. Aufgrund der Einschitzung der Handschrift neige ich einer friihen

Datierung innerhalb dieses Zeitraumes zu. In der ersten und der dritten Lage der Handschrift (fol. 7v-8r und 19v) befin-

den sich zwei Aufstellungen lateinischer Zahlworte, wie sie in einem Sprachlehr- buch enthalten sein k6nnen. In mehreren Kolonnen sind Cardinalia, Ordinalia und andere Formen aufgelistet. Es handelt sich um Gedichtnisstiitzen zum Aus-

wendiglernen oder Nachschlagen, wie sie sich auf unbenutzten letzten Seiten von Handschriften hiiufiger finden. Die Plazierung auf fol. 19v ist insofern typisch,

32 Schrade, Oberlieferung, S. 98.

This content downloaded from 193.1.170.40 on Thu, 28 Aug 2014 17:31:19 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Die Orgeltabulatur des Wolfgang de Nova Domo 169

diejenige auf fol. 7v-8r hingegen nicht: Nach dem Eintrag verblieben noch vier freie Seiten, die spiter fiir die lateinischen Texte A und B genutzt wurden. Diese erste Zahlenlehre ist zudem recht ausfiihrlich (Cardinalia, Ordinalia, Distributiva, Adverbia numeralia und temporalia) und wurde speziell vorliniert, um die Zahl- worte auf gleicher Hohe plazieren zu k6nnen.

Aufgrund der Betrachtung der Tabulaturen und Texte zeichnet sich folgende Entstehungsgeschichte der Handschrift ab: Die beiden ersten Lagen der Hand- schrift existierten zunichst getrennt. In beide wurde jeweils an den Beginn eine Orgeltabulatur eingetragen. Beide Tabulaturen entstanden vermutlich nicht weit voneinander entfernt in einem Gebiet, in dem bereits um die Mitte des 15.Jahr- hunderts die weiBe Notation fiir Tabulaturen verwendet wurde. Die stilistische Untersuchung liiBt mich fiir beide eine Datierung kurz vor der Tabulatur Breslau IF 687 und dem Fundamentum Paumanns annehmen, wohl auch etwas vor Ile- borgh. Die Papieruntersuchung ergab keine Hinweise zur Datierung. Die erste Tabulatur interpretiere ich als ein von einem Organisten fiir einen oder mehrere Schiiler angefertigtes Unterrichtswerk. Auf Fundamentum-Obungen folgt ein un- beholfenes Magnificat, das von einem Schiiler stammen kinnte, und darauf ein weiteres, wieder vom Lehrer niedergeschrieben. Die Notation wird durch textli- che Hinweise zu Transpositionsm6glichkeiten erginzt. Die zweite Tabulatur ist eine von einem recht unkundigen Schreiber angefertigte Kopie des Fundament- um des Wolfgang de Nova Domo sowie einiger weiterer Stiicke. Ober die Identi-

tit des Wolfgang de Nova Domo lassen sich keine Angaben machen. Sein Her- kunftsort Neuhaus kann (aufgrund der Herkunft der deutschen Texte) in Bayern, Bohmen oder Osterreich liegen.

Als nichstes wurde in die erste Lage eine Abschrift einer zu diesem Zeitpunkt bereits 100 bis 150Jahre alten Sammlung von Farbrezepten eingetragen, die sprach- lich siidbayerisch-bsterreichischer Herkunft ist. Dieser Eintrag kann wegen der folgenden lateinischen Texte nicht nach dem dritten Viertel des 15.Jahrhunderts erfolgt sein. Im Anschlu8 an die Farbrezepte wurden zwei Seiten fiir eine Zusam- menstellung von lateinischen Zahlworten verwendet. Auch der mittellateinische Text A mit der Erwahnung vonJudenburg (nach dem sprachlichen ein geographi- scher Hinweis auf den isterreichischen Raum) mu3 zu dieser Zeit niedergeschrie- ben worden sein.

Aus AnlaB oder kurz nach der Niederschrift der lateinischen Texte B, C und D wurden nun die beiden Lagen vereinigt. Zwar lielen sie sich nicht entschliisseln, aber ihr Zusammenhang scheint durch die wiederholt auftauchende, wohl ,,1457" zu lesende Jahreszahl sowie den Namen Johannes Stadelmair, den geistlichen Kontext und die ihnliche Handschrift gesichert. Der Eintrag erfolgte imJahr 1457 oder eine unbekannte Zeitspanne danach. Da die Schrift der Mitte des Jahrhun- derts entstammt, ist der Eintrag eher friiher anzusetzten. Vor ihrer Vereinigung existierten beide Lagen lingere Zeit - sicherlich einige Jahre - getrennt, wie der Verschmutzungsgrad der AuBenseiten belegt.

This content downloaded from 193.1.170.40 on Thu, 28 Aug 2014 17:31:19 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

170 Wolfgang Marx

Die erste Lage war nun bis auf ihre letzte Seite (die frei bleiben sollte) beschrif- tet, in der zweiten Lage war jedoch noch Platz fiir weitere Eintragungen. Zunichst wurde auf ihrer Riickseite eine weitere Aufstellung lateinischer Zahlworte, wie sie bereits in der ersten Lage existierte, notiert, die jedoch unvollstandig blieb. Schlie3- lich wurde wenige Wochen bis Monate nach dem 3. Mai 1512 eine Schilderung der Ereignisse um die Hebung des Heiligen Rocks zu Trier eingetragen. Zu die- sem Zweck wurde vor dem letzten Blatt ein zusitzlicher Papierbogen eingelegt, da der freie Platz nicht mehr ausreichte, die letzte Seite aber schon beschriftet war. Im Laufe der Zeit losten sich dieser zusatzliche Bogen und mit ihm das zur zweiten Lage gehorige letzte Blatt ab und bilden heute die dritte Lage. M6glicher- weise loste sich noch ein zweites Blatt mit lateinischen Texten aus der zweiten

Lage heraus und ging verloren, dies ist jedoch vor einer Entschliisselung dieser Texte nicht endgiiltig zu klaren. Auch das erste Blatt der ersten Lage loste sich ab, ging aber nicht verloren und wurde bei der Restaurierung 1992 wieder mit ange- bunden. Ein genauer Herkunftsort der Handschrift bzw. ihrer Teile war nicht zu ermitteln. Es ist jedoch zu vermuten, daB nicht nur die deutschen Texte, sondern die gesamte Handschrift in siidbayerisch-6sterreichischem Gebiet entstand.

Die Bedeutung der Handschrift liegt vor allem in den beiden Tabulaturen, die eine wichtige Quelle friihester Orgelmusik darstellen. DaB aus dem 15. Jahrhun- dert nur wenige Quellen erhalten sind - viele davon zudem als Fragmente -, stei-

gert ihre Bedeutung noch. Die beiden Tabulaturen enthalten Fundamenta, Bear-

beitungen liturgischer Stticke, Liedbearbeitungen und ein Praeambulum und sind durch diese Breite des Repertoires mit nahezu allen tiberlieferten Tabulaturen

vergleichbar. Sie reprasentieren ein spezielles Entwicklungsstadium friiher Orgel- musik: Den Obergang von der Musik der friihesten Quellen (Vorherrschen der Oktav- und Quintkonkordanzen, Verwendung fixierter rhythmischer Formeln) zur fortgeschritteneren Kunst derJahrhundertmitte (perfekte Mensuren, Ansitze zur Dreistimmigkeit), als deren herausragendster Vertreter Conrad Paumann zu nennen ist. Die beiden deutschen Texte sind fiir die jeweiligen Fachgebiete wohl von geringerem Interesse, gleichwohl stellen sie eine Erginzung des Quellenma- terials dar: Die Farbrezepte fiigen sich in den bereits bestehenden Kanon von

Rezeptesammlungen ein, die Schilderung der Auffindung des Heiligen Rocks diirfte

wegen ihrer Detailfreudigkeit fuir Historiker oder auch Theologen von besonde- rem Interesse sein. Die Bedeutung der lateinischen Texte muB bis auf weiteres im dunkeln bleiben.

Es ist als ein Gliicksfall anzusehen, daB die Handschrift von der damaligen UdSSR an die Staats- und Universitatsbibliothek Hamburg zurtickgegeben wur-

de, denn dadurch wurde dieses speziell fuir die Musikwissenschaft hochinteressan-

te und bedeutsame Dokument der Forschung wieder zug~inglich.

This content downloaded from 193.1.170.40 on Thu, 28 Aug 2014 17:31:19 PMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions