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FU Berlin, Institut für Philosophie, SS 08, Seminar zum Thema Philosophie des Hellenismus und der Spätantike, geleitet von Fr. Dr. Prof. Eusterschulte. Hausarbeit von Keyvan Sharifi Ethischer Aspekt der epikureischen Philosophie Inhalt Einführung Seite 2 - 4 Hintergrund 4 - 6 Natur 6 - 8 Naturmodel 8 - 11 Mensch 11 - 14 Lust 14 - 16 Telos 16 - 17 Lustarten 17 - 18

Ethic Aspect of Epicureian Philosopy

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FU Berlin, Institut für Philosophie, SS 08, Seminar zum Thema

Philosophie des Hellenismus und der Spätantike, geleitet von

Fr. Dr. Prof. Eusterschulte. Hausarbeit von Keyvan Sharifi

Ethischer Aspekt der epikureischen Philosophie

Inhalt

Einführung Seite

2 - 4

Hintergrund 4 -

6

Natur 6 -

8

Naturmodel 8 -

11

Mensch 11 - 14

Lust 14 - 16

Telos 16 -

17

Lustarten 17 - 18

Bedürfnisse 18 -

19

Existenz 19 - 20

Zusammenfassung 20 -

22

Literatur

Abkurzungen: BaH = Brief an Herodot BaM = Brief an Menoikos

Einführung

Die Menschen haben schon immer die Erfahrung machen müssen,

dass sie sich nicht beliebig und ohne Rücksicht auf ihre

Artgenossen verhalten können. Ihre Wünsche dürfen sich nur in

dem Maße verwirklichen, wie dies konform geht mit den zum Zweck

des Zusammenlebens entwickelten Verhaltensnormen. Diesem Zweck

mehr oder minder folgend, ordnen sich die Normen allmählich

einer Natur- oder Gottinstanz unter, um die Gelüste der

Menschen im Zaum zu halten. Insofern haben Verhaltensnormen

elementare Bedeutung für die gesamte Sozial- und

Gesellschaftskritik. So wie Werkzeug und Sprache zu den

Kulturleistungen der Menschen gehören, zählen die wertbildenden

und handlungsleitenden Wörter zu den ursprünglichsten

Leistungen der Sprache. Ohne Unterscheidung und Vermittlung der

Werte und Imperative in der Sprache wären die Menschen im

sozialen Zusammenleben orientierungslos gewesen, unabhängig

davon, was unter den gegebenen Werten verstanden worden wäre.

2

„So wundert es nicht, dass seit den Anfängen der griechischen

Philosophie die ethischen Grundsätze zu den Hauptprinzipien der

allgemeinen Welterklärung gehörten.“1

Die weitgehend theoriebezogene moderne Ethik wird von der

antiken Ethik der griechischen Kultur unterschieden, welche als

tendenziell praxisbezogen charakterisiert wird. Antike ethische

Schriften wirken moral- und weisheitslehrend, was unter anderem

mit dem Systematisierungsmangel der theoretischen

Wissenschaften zusammenhängt. Aus dieser Unterscheidung soll

keine gravierende Differenz zwischen dem antiken und dem

modernen Menschen geschlossen werden, wodurch sich einerseits

eine unüberbrückbare Kluft ergeben würde zwischen dem

theoretischen und praktischen Verständnis der ethischen

Zielvorstellung und zum anderen die Antike Ethik als veraltet

den Bezug auf die Moderne verlieren würde.

Das theoretische sowie das praktische Verständnis ethischer

Zielvorstellung entstammen demselben Boden; dienen direkt oder

indirekt einem menschlichen Existenzprinzip, das zu

verschiedenen Perioden unterschiedlich interpretiert wurde.

Auch die Wissenschaft lebt weitgehend vom Primat, der

Lebensgestaltung zu dienen. Was immer der Mensch denkt, sagt

oder tut; er wird die ethische Frage nicht los, kann sie nicht

komplett ausklammern.

Die Unterscheidung von Praxis- und Theoriebezug ethischer

Lebensfragen stellt einerseits die Vorteile der jeweiligen

Auffassung dar, so könnte z. B. der theoretischen Ethik ein

1 Griechische Atomisten, s. 46

3

Mangel an Praxisbezug und der antiken Ethik Vernachlässigung

der theoretischen Grundfragen sowie Beschränkung auf die

Einzelperspektive vorgeworfen werden, liefert andererseits die

Gründe für die immer wiederkehrende Diskussionen. Denn fast

alle grundlegenden Themen der antiken Philosophie haben ihre

Relevanz bis heute erhalten, wenn auch durch Wandel der Zeiten

mit begrifflicher Bedeutungsverschiebung zu rechnen ist.

Themenbereiche aus der hellenistischen Philosophie, wie der

Vergleich zwischen Medizin und Philosophie, die Frage der

Praxisbezug der Philosophie, der praktische Sinn der

theoretischen Disziplinen, die materialistische Auffassung der

Welt, die Entdeckung der Natur und die Geltung der

demokritischen Triade gutes Denken, gutes Sprechen und gutes

Handeln, wurden inzwischen in vielen verschiedenen und neueren

wissenschaftlichen Disziplinen eingegliedert und werden

weiterhin diskutiert. Eine für die griechischen Schulen des

klassischen und der hellenistischen Periode grundsätzliche

Frage war die des höchsten Gutes (Eudaimonie) im Leben. Darüber

lässt sich in adäquater Form diskutieren, wenn der ethische

Kontext herangezogen wird. Deshalb sind hellenistische

Fragestellungen aus der heutigen Standpunkt umso interessanter,

und dies scheint besonders für Epikur zu gelten, dem bekannten

Philosophen des Hellenismus.

4

Die grundlegende Frage der Ethik betrifft das Verhalten des

Individuums gegenüber der Welt. Über Epikurs Antwort auf diese

Frage wurde viel Umstrittenes geschrieben und dies zeigt, wie

leicht er hat missverstanden werden können. Verantwortlich

dafür scheint sein hedonistisches Lustkonzept zu sein, in dem

die Ethik in zentraler Rolle auftritt. „Dieser scheinbare

Gegensatz mag ebenso für die unverhältnismäßig geringe

Beachtung seiner ethischen Lebensanschauung verantwortlich

sein.“2 Epikur demonstriert, dass die hedonistisch-ethische

Form nicht gegensätzlich sein muss. Beide Elemente können nach

dem Prinzip der sich anziehenden Gegensätze komplementär und in

einem ausgewogenen Verhältnis, als Welt- Natur- oder

Lebensprinzip, sich gegenseitig befruchten und zur höchsten

Glückseligkeit führen.

Insgesamt sind Gegensätze für Epikurs philosophisches System

charakteristisch. So lassen sich in seinen überlieferten Texten

viele Gegensatzpaare finden wie: Lebenslust und Todesgenuss;

Askese und Freundschaften; Lust an Brot und Wasser (Darberei)

und Rat zu gelegentlich aufwendigen Mahlzeiten (Prasserei).

Deshalb handelt seine Philosophie hauptsächlich von

Bedürfnissen, womit Leben selbst und gesellschaftlichen Themen

umspannt werden, wie die Haltung gegenüber der Natur,

Lebenssinn, Lebensstil, der Tod, Sterbehilfe, Sexualität u.w.

Aus dem Spannungsfeld der Gegensätze versucht Epikur einen für

die Lebensführung geeigneten Leitfaden zu vermitteln.

Ziel dieser Arbeit ist, Epikurs philosophische System in

Verbindung mit seiner ethischen Auffassung zu untersuchen, um

2 Die Epikureische Ethik, s. 5

5

Anknüpfungspunkte aus seinem Atomismus herauszuarbeiten, die

einerseits die Universalität der epikureischen Ethik

unterstreichen und andererseits für Diskussionen heute

brauchbar gemacht werden könnten. Für diese Untersuchung habe

ich Die Epikureische Ethik von R. Müller unter kritischer

Beobachtung benutzt.

Hintergrund

Lange bevor der Mensch ins Zentrum der philosophischen

Reflexion der hellenistischen Periode rückte, diente der Kosmos

als Orientierungshilfe im Leben. Kosmische Organisation stand

für die Spiegelung gesellschaftlicher Ereignisse und umgekehrt.

In dieser evolutionären kosmischen Organisation erscheint der

Mensch als Glied einer Entwicklungskette zuerst mythisch wie im

Manichäismus, später mit logischem Anspruch wie in

atomistischen Theorien mit unteilbaren Teilchen beginnend, über

Pflanzen, Tiere, Menschen und Planeten.

Bis zum fünften Jahrhundert, bedingt durch die langfristigen

sozialen Entwicklungen in Griechenland veränderte sich dieses

Weltbild allmählich. Stufenweise und in fließenden Übergängen,

fokussierte sich das vorsokratische Weltbild der kosmischen

Organisation - vorwiegend spekulativ mit zunehmender

Wissenschaftlichkeit - auf kleinere Einheiten des Kosmos,

zuerst auf die Organisation der unmittelbaren Natur und später

auf den Staat (Polis), der selbst eine kleine Welt darstellte.

Mit der Sophistik im fünften Jahrhundert wurde schließlich der

Mensch als Individuum und als gesellschaftliches politisches

Wesen in zunehmenden Maße zum Hauptgegenstand philosophischer

6

Betrachtung. Neue Disziplinen wie politische Theorie, Ethik und

Rhetorik entwickelten sich im Sog der Bewegung. Die physischen

Merkmale sowie die materiellen und geistigen Interessen wurden

zunehmend in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt. „Die

Literatur heute spricht von der anthropologischen Wende der

attischen Aufklärungsbewegung im 5. Jh. v.u.Z.3

Den Menschen als Gesellschaftswesen aufzufassen, blieb in den

philosophischen Systemen des 4. Jh. v.u.Z., bei Platon und

Aristoteles, weiter bestimmend. In seiner teleologischen

Konzeption der Natur, bezeichnet Aristoteles den Menschen als

Staatswesen. Für ihn errang der Staat als Ziel des menschliches

Dasein eine so hohe Wertung, dass dafür sogar die Sklaverei in

Kauf genommen wurde. Andere Schulen dieser Zeit, wie die

Kyniker und die Kyrenaiker, strebten zu kosmopolitischen

Lehren. Sie erklärten den Menschen einerseits als Individuum

mit seinen Bedürfnissen, andererseits als Gattungswesen der

Natur.

In der darauf folgenden Periode der Hellenismus, gesellte sich

zu den sozialen Krisen der Polis der Verlust der Autonomie

unter den Diadochenkämpfen, in deren Folge die Polis ihre

bindende Kraft für die Bürger verlor. Diese Umstände führten im

4. Jh. v.u.Z zur Orientierung auf die individuellen, mehr

materiell bedingten Interessen. Durch die Auflösung der Polis

als Sprecher für den Einzelnen, entstand ein bereites Feld zur

Entwicklung individueller Fähigkeiten. Die Philosophie sah sich

nun vor das Problem gestellt, neue Lösungen für die gewandelte

3 Die Epikureische Ethik, s. 10

7

Welt anzubieten und wurde so zur Orientierungshilfe und

Lebenskunst in den Krisen einer durch soziale Gegensätze und

langwährende Kriege geprägten Zeit. 4

Der Mensch musste jetzt sein Weltbild in sich selbst suchen und

den Sinn seines Daseins aus eigener Sichtweise zu beantworten

versuchen. Dafür musste er notwendigerweise das eigene Denken

und Tun beobachten; sich selbst reflektieren. Sein Denken wurde

zu seiner Handlung. Die entscheidende Verlagerung des

Weltbildes im neuen Medium Mensch hatte die Verschiebung der

Zielsetzung der Philosophie von der Theorie auf die Praxis zur

Folge.

Die Priorität der praktischen Philosophie als Orientierungs-

und Lebensanleitung wird von Epikur in der Einleitung seines

Briefes an Menoikos zur unabdingbaren Voraussetzung für die

Gestaltung eines guten Lebens erklärt.

Weder soll, wer noch ein Jüngling ist, zögern zu philosophieren, noch soll, wer schon

Greis geworden, ermatten im Philosophieren. Denn weder ist jemand zu

unerwachsen noch bereits entwachsen im Blick auf das, was in der Seele gesunden

lässt. Wer aber sagt, zum Philosophieren sei noch nicht das rechte Alter, oder,

vorübergegangen sei das rechte Alter, ist dem ähnlich, der sagt, für das Glück sei das

rechte Alter noch nicht da oder nicht mehr da. Philosophieren muss also der Jüngling

wie der Greis, der eine, um alternd jugendfrisch zu bleiben an seinen Gütern aus

Dankbarkeit für das Vergangene, der andere, um zugleich jung und altersweise zu

sein aus mangelnder Furcht vor dem Künftigen. Zu beherzigen gilt es denn, was das

Glück verschafft; denn ist es anwesend, haben wir alles, ist es abwesend, tun wir

4 Die Epikureische Ethik, s. 11

8

alles, damit wir es haben. 123 Wozu ich dich beständig mahnte, dies tu und übe ein,

weil du darin die Elemente des vollkommenen Lebens klar erfasst.

Hier handelt es sich in erster Linie um die Bedeutung der

Philosophie für das Gelingen des glücklichen und vollkommenen

Lebens, das zugleich als Lebensziel angegeben wird und das

entscheidende Prinzip epikureischer Weltanschauung ist. Aber

auch die enorme Bedeutung der Ethik für die Menschen offenbart

sich aus diesen Grundsätzen. Der Begriff der Vollkommenheit

gilt in der Regel für Theologie oder Metaphysik reserviert,

aber in Verbindung mit dem Lebensziel deutet Epikurs Anspielung

auf ein ethisches im Diesseits erreichbares Ziel. Vorerst ist

der Frage nachzugehen, was sich hinter seiner Auffassung

verbirgt, die Philosophie für die ethische Lebensführung als

unentbehrlich vorzustellen.

Natur

In seinem Brief an Herodot, legt Epikur die wesentlichen Punkte

seiner Naturtheorie dar. Ausgangspunkt ist das unendliche

Universum. Außer Körper und Raum existiert nichts, wobei das

Nichts unvorstellbar ist. Deshalb kann nicht etwas aus Nichts

entstehen oder sich ins Nichts auflösen. Neben diesen beiden

(Körper und Raum) lässt sich nicht einmal etwas ausdenken – weder imaginativ

fassbar noch analog dem imaginativ fassbaren -, weil beide als allumfassende

Elemente aufgefasst und nicht als deren zufällige oder stetige Eigenschaften

bezeichnet werden. (BaH 39-40)

Für Epikur besteht die Welt aus zahllosen, ins Unendliche

teilbaren aber nicht auflösbaren und damit nicht vergänglichen

9

Atomen. Demnach bestehen sichtbare oder unsichtbare Materien in

der Natur aus Vereinigungen von Atomverbindungen mit

unfassbaren Gestaltformen. Die Atommasse des Universums

befindet sich in ewigem freiem Fall und dabei driften die Atome

ziellos, vibrieren, prallen aufeinander, schleudern umher,

stoßen mit anderen Atomen zusammen, prallen zurück, verflechten

sich oder fallen in Verflechtungen. Dadurch wird die

Voraussetzung für Bewegung und somit Entstehung und Untergang

von unendlich vielen Welten geschaffen, von denen sich manche

unserer Welt ähneln können. Es gibt keinen Ursprung dieser

ziellosen Vorgänge. Die objektiven Ursachen sind die Atome

(Körper) und das Leere (Raum). (BaH 41-44) Auch die Menschen und

deren Seelen bestehen aus Atomen. Zwar unterscheiden sich die

Seelenatome von den Atomen seelenloser Gegenstände, aber beide

Seelenarten sind in ihrem Urstoff eins. (BaH 63)

Das Universum ist die einzige mögliche Existenz, die durch

Bewegung veränderlich aber im seinem atomaren Kern

unveränderlich bleibt und bis ins letzte Teilchen physikalisch,

vollständig und deterministisch definiert wird. Das Fehlen

einer Erklärung für das ziellose Driften der Atome betrifft nur

ihre primäre Bewegung. Die nachfolgenden Entwicklungen sind

nicht mehr ziellos, sondern beruhen auf dem Gesetz von Ursache

und Wirkung. In seinem Kommentar zu Aristoteles’ Physik

berichtet Simplikios über Demokrits Vorstellung bezüglich der

Bewegung der Atome, dessen Atomtheorie in wesentlichen Punkten

mit der von Epikur übereinstimmt: ...Bei den mehr ins einzelne gehenden

Erscheinungen behauptet er allerdings, für keine von ihnen sei der Zufall Ursache,

10

sondern führt sie auf andere Ursachen zurück. So sei die Ursache dafür, dass man

einen Schatz findet, das Graben... 5

Diese entscheidende Erkenntnis des Universums, die durch lange

und intensive Beobachtung der Naturzusammenhänge -

philosophische Reflektion - und nicht durch exakte Laboranalyse

Zustande gekommen ist, schließt Götter und Mythen aus der Welt

aus und beweist sowohl die Absurdität der irrationalen Angst

vor ihnen als auch die Nichtigkeit von Glaube und Hoffnung zur

Erlangung der Glückseligkeit im Jenseits. Die physiologische

Erkenntnis vom Aufbau der Materie, dem Ursamen alles Seienden,

ist die erste Voraussetzung für die innere Ruhe des Menschen

auf dem Weg zur Erlangung der Glückseligkeit.

Daraus wird die Unentbehrlichkeit der philosophischen

Naturbeobachtung für die Zwecke der Lebenspraxis und ihre

Priorität gegenüber der theoretischen Naturwissenschaft

ersichtlich. Indem die Naturwissenschaft ihren Sinn im Dienst

der Naturphilosophie findet, muss sie letzterer untergeordnet

werden, behält aber ihre fundamentale Bedeutung, so dass sie

sogar in einer Erlösungsrolle auftritt. Trotz ihrer großartigen

Rolle ist die Naturwissenschaft keine Wissenschaft mit eigenem

Zweck, wie in der modernen Bedeutung, sondern im Sinne Epikurs

rationale Naturbetrachtung; Naturphilosophie. Als solche

befasst sie sich ausschließlich mit den Strukturen der Welt,

aus denen Prinzipien und Erfahrungsdaten abzuleiten sind. Damit

hat sie ihre Aufgabe erledigt. Wenn wir nicht durch den verdacht

beunruhigt würden, die Himmelserscheinungen und der Tod könnten uns vielleicht

5 Griechische Atomisten, Demokrit Fragmente 74, s. 130

11

doch etwas angehen, ferner durch die unwissenheit über die Grenzen der Schmerzen

und Begierden – dann bedürfen wir keiner Naturerkenntnis. 6

Naturmodel

Epikurs Naturmodell fordert die Menschen zum Nachdenken über

die Allgesetzlichkeit des Seienden auf. In diesem umfassenden

Model lässt sich alles mit Hilfe von Begriffen bis zur letzten

Klarheit auf einfache Elementarsätze und Formeln aufspüren.

Hierfür stehen Verstand, Wahrnehmungen, Reitzempfindungen und

andere Urteilsinstanzen zur Verfügung. (BaH 36-38) „Für die

Erklärung dieses Naturmodels bieten sich philosophische

Ausprägungen, die in der Regel Weltdeutung und

Handlungsnormierung leisten und die Welt in vorgegebenen,

vorausgesetzten oder angenommenen Sinnkonstruktionen

darstellen. Die Verwicklung von Sinn und Sein verweist auf drei

Funktionen dieser Philosophien; die Erklärungs-, die Deutungs-

und die Trostfunktion. Diese drei Funktionen bildeten zusammen

in der Antike eine Einheit, die auch für die epikureische

Weltanschauung charakteristisch ist.“ 7

Im weltdeutenden Sinne hält Epikur an der Möglichkeit der exakten

Erklärung der fundamentalen Gesetzmäßigkeiten des Universums

fest und lässt die Bedingung der Möglichkeit weiterer

Erklärungen für die Erlangung der Gewissheitsruhe nicht gelten.6 Griechische Atomisten, s. 286, HL 117 Epikur zur Einführung, s. 33

12

Es ist Aufgabe der Naturforschung - so muß man annehmen -, den

Ursachenzusammenhang für die entscheidendsten Gesetzmäßigkeiten genau zu

erklären; ... Des weiteren gelten in der gleichen Zusammenhängen die Ausdrücke “ in

mehrfacher Weise“ und „es kann sich auch irgendwie anders verhalten“ nicht;

vielmehr gilt für ein unvergängliches und glückseliges Wesen schlechthin nichts von

dem, was Zwiespalt oder Erschütterung hervorruft: dass dies schlechthin gilt, lässt

sich mit dem Verstand erfassen. (BaH 78)

Aber es ist nicht immer und allein die wissenschaftliche

Erkenntnis, die die Wahrheit der Aussage ausdrückt. Nachdem die

wissenschaftliche Erklärung, je nach ihrer sinnlichen Mittel-

bzw. Unmittelbarkeit offen liegt, muss sie noch der Prüfung

weiterer Urteilsinstanzen unterzogen und kann erst durch

naturphilosophische Gesamtbetrachtung gedeutet werden. Anhand

der Wahrnehmungen muss man alles prüfen und überhaupt anhand der

unmittelbaren Zugriffe, sei es des Verstandes, sei es irgendeiner anderen

Urteilsinstanz, ebenso anhand der gegenwärtigen Reizempfindungen, damit wir

Indizien haben, mit denen wir sowohl den mittelbar bestätigungsfähigen als auch

den sinnlich unfassbaren Zusammenhang erschließen können, wenn wir diese

Zusammenhänge unterschieden haben, ist es schließlich erforderlich, einen Überblick

über die sinnlich unfassbaren Zusammenhänge zu gewinnen. (BaH 38)

Schließlich gibt es Fälle, in denen Erkenntnisgewinn unmöglich

ist, wofür der Aspekt des Trostes oder der Intuitionsaspekt in

Frage käme. Die primäre zufällige Bewegung der Atome ist allein

auf dem wissenschaftlichen Weg nicht zu erklären. Deshalb muss

der Zufall im Einklang mit der philosophischen Naturbeobachtung

angenommen werden.

13

Die Einheit des epikureischen Systems gilt auch hinsichtlich

der Handlungsnormierung. In der Literatur wird das Weltbild der

Menschheit auf zweifache Weise betrachtet. Es gibt Vertreter

der Aszendenztheorie, die an den allmählichen Aufstieg der

Menschen aus schwierigen anfänglichen Bedingungen glauben. In

dieser, von der materiellen Not gezeichneten Welt, ohne weit

entwickelte spezialisierte Fähigkeiten im Gegensatz zu den

Tieren, befindet sich der Mensch im Existenzkampf gegen die ihm

feindliche gesonnene Natur. Dagegen blicken die Anhänger der

Deszendenztheorie auf ein Zeitalter vor dem Sündenfall, in der

die freundliche Erde reichlich Nahrung spendete und es

materielle Not und Zwang zur Arbeit nicht gab. Nach dem

Sündenfall wurde die Muttererde zur Stiefmutter. 8

Dass es auch eine Mischform der beiden Weltanschauungen geben

kann, wird in Lukrez’ Kulturentstehungslehre bezeugt. Auch in

diesem Sinne stellt Epikur die Einheit seines Systems vor,

insofern als er trotz der Verwerfung der göttlichen Vorsehung

die Natur als erhaben und die Menschen als fähig und würdig der

Vollkommenheit erklärt. Mann müsse der Natur bei allen Gedanken Würde

erweisen, sofern man aus seinen Naturbetrachtungen keine falsche Schlusse zieht.

Lukrez Verse, in denen die epikureische Weltanschauung

weitgehend gespiegelt wird, führen eine rauhe aber versöhnliche

Natur vor Augen. Die Menschen führen ein primitives Leben, aber

es gibt keine ernsthafte Gefährdung durch die Natur. Und das

Menschengeschlecht war dort auf den Fluren um vieles härter, wie sich’s gehört, da

hartes Land es geboren, und auf mächtigern mehr und festen Knochen gegründet,

8 Die Kulturentstehungslehre des Lukrez, s. 10

14

innen, hindurch durch das Fleisch mit kräftigen Sehnen versehen, und derart, dass

leicht es sich weder von Hitze und Kälte schaden ließ noch wieder von Neuheit der

Nahrung und Seuche.

Viele Lustern der Sonne am Himmel kamen und gingen, während sie führten nach Art

der schweifenden Tiere das Leben. Und es war noch keiner ein starker Lenker des

krummen Pfluges, keiner verstand mit Eisen die Scholle zu wenden, keiner ein neues

Reis in die Erde zu graben und keiner altes Geäst dem hohen Baum mit der Hippe zu

schneiden. Was ihnen regen und Sonne geschenkt, was Erde getragen selber, dieses

Geschenk befriedigte reichlich die Herzen. (Lukrez V, 925 - 940)

Das kulturgeschichtliche Werk handelt von dem zyklischen

Kreislauf des Niedergangs und der Wiedergeburt des Kosmos über

die Entstehung von Pflanzen, Tieren und Menschen bis zur

Entwicklung von Sprache und Schrift. „Die Spannweite des

Naturbegriffs umfasst die Gesetzmäßigkeiten der Natur, des

Menschen und die seiner kulturellen Schöpfungen in einem

einheitlichen System, in dem der Evolutionsprozess als eine

kausale Stimmigkeit, beruhend auf dem Prinzip trial and error und

survival of the fittest, in der ganzen Natur sichtbar ist, in das sich

der Mensch einordnen muss.“ 9

9 Die Epikureische Ethik, s. 28-29

15

Als einziges Wesen mit uneingeschränktem Denkvermögen hat der

Mensch eine besondere Stellung in der Natur; er ist ihre

prominente Schöpfung. Seine Wahrnehmungssinne sowie seine

spezifische Denkfähigkeit ermöglichen die Projektion

(Spiegelung) und Entstehung des Naturabbildes in sich selbst,

auf das er reflektiert; als stünden sich Mensch und Natur

gegenüber und wären für einander geformt. Dabei offenbart sich

der Mensch als eine zweite Natur, eine kleine Natur, ein

Mikrokosmos. Für ihn erweist sich die Natur als die einzige

Quelle des Lernens und des Schöpfens, wodurch ihm der Zugang

zum Wesen der Materie ermöglicht wird. Es gibt unendlich viele

Zusammenhänge, Gesetze und Gesetzmäßigkeiten des Universums,

deren Entdeckung den Menschen nicht nur Freude bereitet,

sondern ihm auch die Einsicht bringt, die für die Entfaltung

seiner Natur und den Aufbau eines glücklichen Lebens von

größter Bedeutung ist. (BaH 78)

„Die Einsicht in das Wesen des unendlichen Prozesses des

Werdens und Vergehens versetzt den Menschen in der Lage, seine

Natur zu verwirklichen und seinem Dasein Sinn zu verleihen. Die

Beobachtung des Kosmos lehrt ihn, sein einsichtvolles Verhalten

in der Natur zu optimieren, die unvermeidliche Beschränktheit

seines Lebens zu ertragen und das einmalige Leben als höchsten

Besitz zu betrachten und voll auszuschöpfen. Alle geistigen

Interessen der Menschen werden diesem Ziel untergeordnet.“10

10 Die Epikureische Ethik, s. 30

16

Mensch

Der Bezug auf den Menschen und seine Lebensführung war in der

griechischen Philosophie anfangs allgemein und drückte sich in

einer Theorie von der Synthese der Welt aus. „Mit dem

Wissensfortschritt und der begleitenden Formierung des

Individuums nahm das Bewusstsein über die Beziehung von Welt

und Leben und über die Differenzierung von Sein und Schein

sowie von Leib und Seele zu. Neue gesellschaftliche Bedingungen

förderten diese Entwicklung. Die wachsende Rolle des Geldes,

einerseits fortschrittfördernd andererseits eine Kluft zwischen

die Gesellschaftsgruppen treibend, brachte der breiten Schicht

Not und Sklaverei. Als Lebenshilfe und letzten Trost breitete

sich in solchen Situationen der Glaube an eine Seele aus, die

im Jenseits entschädigt werden kann. Womöglich war Sklaverei

ein den Leib-Seele-Dualismus fördernder Faktor, denn der Leib

der Sklaven war zwar fremdes Eigentum, nicht aber deren

Geist.“11 Diese Entwicklung, die im 7. und 6. Jh. v.u.Z.

einsetzte, brachte die anthropologische Wende in der Aufklärung

des 5. Jh. mit sich.

„Verschiedene Systeme der Naturerklärung förderten die

Entfaltung von Astronomie, Logik, Mathematik, Physik und

sozialwissenschaftlichen Disziplinen wie Politik, Kunst und

Ethik. In Folge dieser Strömungen entstanden auch die ersten

Formen des Materialismus von Demokrit und des Idealismus von

Platon. Als selbständiger Teil der Philosophie, entwickelte

sich die Ethik in zwei Richtungen: der historisch-soziologischen

Betrachtungsweise, die von der Theorie der Rechtsnormen auf die

11 Geschichte des wissenschaftlichen Denkens im Altertum, s. 82

17

der ethischen übergriff und der anthropologisch-naturalistischen, die

erst in der hellenistischen Zeit aufblühte. Für diese Mensch-

Natur- Orientierung gab es im 5. Jh. drei Quellen: die Medizin,

die Sophistik und die Atomistik.“12

„In der Medizin trat an die Stelle der vier Bauelemente der

Welt die Theorie der vier Säfte als Baustoffe des menschlichen

Organismus auf. Diese Physistheorie orientierte sich an der

Individualnatur. Denn unter den möglichen Mischungsverhältnissen

der Säfte, sollte jeweils das zum Individuum passende zur

Grundlage einer Theorie werden. Nach den Perserkriegen, in der

Periode der Sophistik, begleitet von demokratischer Staatsform

mit wachsendem Wohlstand, nahm das Bedürfnis nach Bildung zu.

In deren Folge entfachte sich die Diskussion um die Rolle des

Geistes als Befreier bzw. als Fessel des Körpers, und der Weg

der Atomistik mündete in die naturalistische Ethik.“13

Das entscheidende Merkmal des Atomismus mit seinem besonderen

Vertreter, Demokrit, ist die materielle Einheit von Leib und

Seele. Als Lebensträger und Steuerungsorgan, muss die Seele im

Körper in einem ausgewogenen Verhältnis verteilt sein, um

dessen Stabilität und Ruhe zu gewährleisten. Die materielle

Seele erscheint in diesem Fall wie ein Doppelgänger, wie ein

Schatten im Körper. Über Demokrit hat Aristoteles Folgendes

überliefert: Demokrit behauptet, der Körper werde von der Seele bewegt...

Wenn nun die Seele in dem ganzen Körper verteilt ist, befinden sich in ihm mit

Notwendigkeit zwei Körper, sofern nämlich auch die Seele eine Art Körper ist.14

12 Die Epikureische Ethik, s. 3313 ebd. s. 3314 Griechische Atomisten, Fr. 153, s. 154 - Aristoteles, Über die Seele 1,3.406b 15ff.

18

Die Deckungsgleichheit der Körperatome und deren Schatten

(Seelenatome) d.h. die ausgewogene Verteilung der Seelenatome

im Körper versetzt das Individuum in eine glückselige

Verfassung, die von ihm als Wohlgemütheit - Befreiung von

leiblichen und seelischen Leidenschaften - empfunden wird.15

„Die Wohlgemutheit entspricht dem idealen Mischungsverhältnis

der individuellen körperlichen Säfte und wird als der

maßgerechte Idealzustand, dessen seelisch-geistige Struktur vom

Individuum durch Übung und Erziehung weitgehend mitgeprägt

werden kann, vom Demokrit in Gattung- und Individualnatur

vorgestellt. Damit ist ihm die Aufgabe für die Gestaltung

seiner Individualnatur auferlegt.“16 Indem der Mensch seine

Individualnatur formt, entwirft er auch die äußere Natur nach

seinen Vorstellungen mit. Die Natur und die Erziehung sind etwas Ähnliches.

Denn die Erziehung formt zwar den Menschen um, aber durch diese Umformung

schafft sie Natur.17 Diese Lehre von der Selbsterziehung ist nur auf

der Grundlage möglich, dass Handeln, Denken und Sprechen die

atomare Struktur der Seele positiv beeinflussen. ...Aus dem Klugen

erwächst aber dies Dreierlei: wohl denken, untadelig reden und handeln, wie es Not

ist.18

15 ebd. Fr. 25,151-54, 248-5016 Die Epikureische Ethik, s. 3517 Fragmente der Vorsokratiker, DK Fr. 3318 Griechische Atomisten, Fr.270

19

Auch bei Epikur sichert die Seele das Funktionieren des

Organismus, da die Seelenatome im ganzen Körper mit den

Körperatomen in Kontakt stehen. (BaH 63) Gegenüber der Betonung

der Individualnatur bei Demokrit, tritt bei Epikur die

Gattungsnatur des Menschen in den Vordergrund. „Während

Demokrit mit der Betonung der materiellen Seelenstruktur eine

rein funktionelle Beziehung zwischen Naturphilosophie und Ethik

herstellt, bemüht sich Epikur um die Vertiefung des

naturalistischen Ansatzes. Möglich wird es für ihn, indem er

die ethischen Prinzipien der Lebensführung weitgehend auf die

Erfüllung der leiblich-seelischen und angeborenen

Grundbedürfnisse des Menschen einstellt.“19 Für beide, Demokrit

und Epikur, ist die sinnliche Wahrnehmung die grundlegende

kognitive Beziehung zur Erlangung von Information. Der

Unterschied ihrer Auffassungen bezieht sich auf die Instanzen,

die die Qualität der Erkenntnis bestimmen.

Für Demokrit ist die einfache Wahrnehmung der Bereich der

dunklen Erkenntnis, die sich von der echten Erkenntnis dadurch

unterscheidet, dass für die Entstehung der letzteren der

Verstand zuständig ist. Die sinnlich empfangenen Daten sind an

sich unverständlich und werden erst durch die Analyse des

Verstandes erschlossen. Trotz der Differenzierung der

Sinnesdaten in primäre wie Größe, Schwere, Bewegung und in

sekundäre wie Farbe, Ton, Geruch, Geschmack, scheint Demokrit

zwischen zwei Arten der Wahrheit zu unterscheiden: eine der

Natur inhärente Wahrheit, die sich in der Objektivität von Atom

und Leere ausdrückt, sowie eine durch den Verstand produzierte

19 Die Epikureische Ethik, s. 39

20

echte Erkenntnis der Naturzusammenhänge, die allerdings die

Wahrheit der ersteren niemals sicher überprüfen kann. Deshalb

gelangt er zu Aussagen wie In Wirklichkeit wissen wir nichts, denn die

Wahrheit ist in der Tiefe.20 Offenbar liegt hier die von Demokrit

beabsichtigte Differenzierung von Verstand und Vernunft,

ersterer als Instanz zur aposteriorischen logischen

Schlussfolgerung, letztere als Instanz zum Befragen der

apriorischen Urgrund von Erfahrungen. In Verbindung mit dem

Konzept der Unendlichkeit des Raums, verweisen solche Aussagen

auf metaphysische Spuren in seinem System. Bei Epikur sind

solche metaphysische Spuren deutlich schwächer.

Epikur lehnt die Differenzierung der Wahrnehmungsdaten ab und

disqualifiziert den Verstand als Instanz der sicheren

Erkenntnis. Der Irrtum wäre nicht möglich, wenn es den Verstand nicht gäbe.

(BaM 51) Für Epikur liegt die Wahrheit in der Natur selbst; in

der unangetasteten Natur, deren entsprechender Bereich bei den

Menschen der der Sinnen ist. Hier geschiet die Rezeption der

Sinnesdaten in der ersten Instanz ohne Einmischung des

Versandes.

„Während für Demokrit das Sinnliche und Rationale eine komplexe

Totalität darstellen, weshalb die Aktivitäten der Sinne im

Erkenntnisprozess niemals isoliert von den Leistungen des

Verstandes auftreten, ist Epikur bemüht, die Bereiche von

Wahrnehmung und Denken sauber zu trennen.“21 Insofern ist

Demokrits Auffassung der Wahrheit offen und aus heutiger Sicht

differenzierter und wissenschaftlicher. Er stellt sich nicht20 Griechische Atomisten, Fr. 181-18621 Die Epikureische Erkenntnistheorie, s. 49

21

außerhalb seiner Vernunfterkenntnis. Dagegen scheint Epikurs

Erkenntniskonzept geklärt, weil er die Natur selbst als rein

objektiv erachtet, als hätte er durch die Abschaffung der

Mythen und Götter aus der Welt das Erkenntnisdilema ein für

allemal gelöst. Deshalb birgt sein erkenntnistheoretischer

Ansatz Probleme, deren Disskution im Rahmen einer spezifischen

Arbeit stünde.

Die Betonung der Individualnatur bei Demokrit und der

Gattungsnatur bei Epikur wird in ihre unterschiedliche Haltung

bezüglich der Leistung des Geistes deutlich. Für Demokrit ist

er die Instanz zur Analyse der echten Erkenntnis, die das

Individuum für die Regulierung seiner Beziehung zur Außenwelt

braucht. Epikur erkennt den Geist als Überprüfunginstanz des

Wahren nur bedingt an, wenn er die als stets wahr geltenden

sinnlichen Wahrnehmungen im Zusammenhang der Naturprinzipien

richtig erkennt und naturphilosophisch auslegt. Diese

sinnlichen Naturprinzipien gelten für alle Individuen, für die

Gattung Mensch.

Lust

Mit der Ethik sind Fragen bezüglich der Aufgaben des Geistes,

der moralischen Bedeutung des Lebens und des rechten Umgangs

mit der Lust verbunden. Die Leib-Seele-Einheit des Atomismus

thematisierte auch die körperliche Lust, die anfänglich

deutlicher als die geistige Lust im Fokus der philosophischen

Betrachtungen stand und meist negativ gedeutet, davor gewarnt

oder ganz abgelehnt wurde. „Beispielsweise lehnten Heraklit und

die Pithagoreer die Lust ab und erklärten den Leib, analog zum

22

Herrscher-Diener Verhältnis, zum Gefängnis der Seele. Sie

warnten vor Leibeslust. Die Aufklärung des 5. Jh. v.u.Z.

brachte in der Analyse der Lust insofern eine Wendung, als die

Unmittelbarkeit der Beziehung zwischen Psyche und

physiologischer Bedingung deutlicher wurde.“ 22

Für den Philosoph und Arzt Alkmaion bedeutete die Gesundheit

das Gleichgewicht der Kräfte und Krankheit das Vorherrschen

eines einzigen Elements im Körper. Gesundheitsbewahrend sei die

Gleichberechtigung der Kräfte, des Feuchten, Trockenen, Warmen, Bitteren, Süßen

usw., die Alleinherrschaft dagegen sei bei ihnen krankheitserregend. Denn

verderblich wirke die Alleinherrschaft des einen Gegensatzes. Und zwar ließen sich

die Krankheiten, was die Ursache angehe, auf das Übermaß von Hitze oder Kälte

zurückführen, was die Veranlassung, auf Übermaß oder Mangel an Nahrung, was die

Örtlichkeit, so würden Blut, Mark oder Hirn betroffen; doch entstünden hier auch

Krankheiten aus äußeren Veranlassungen, z.B. durch bestimmte (?) Wässer oder

Gegend oder Anstrengung oder Folterqual oder dergl.. Die Gesundheit dagegen

beruhe auf der gleichmäßigen Mischung der Qualitäten. 23

„In Übereinstimmung mit dieser Analyse wird über die Auffassung

Empedokles berichtet, dass der Normalzustand des Körpers durch

das Gleichgewicht der Kräfte bedingt sei. Der Mangel an einem

der Elemente führe zu einer Störung, deren Aufhebung durch

dessen Wiederauffüllung subjektiv als Lust empfunden werde. Die

Ableitung der Lust und Unlust aus dem leiblichen Fülle und

Mangel, sei ein Ergebnis der anhaltenden Entwicklung der

medizinischen Forschung dieser Zeit, in deren Verlauf Epikurs

22 Fragmente der vorsokratiker, bnd II, Fr. 32, s. 152 u. die Epikureische Ethik, s. 4423 Fragmente der Vorsokratiker, Bnd. I, Fr. 4

23

hedonistischer Lust-Unlust Gegensatz seinen Ursprung hatte.“24

In jedem Fall ließ sich daraus eine stärkere Betonung des

Gesichtspunktes von Nützlichkeit und Schädlichkeit bestimmter

Einwirkungen auf Körper und Seele herleiten.

Die Zustände von Schaden und Nutzen bezogen sich nach

Auffassung von Demokrits auf objektive Gegebenheiten, die in

der Atomstruktur der individuellen Seele begründet waren. Für

alle Menschen ist dasselbe gut und wahr: angenehm ist dem einen dies, dem

anderen das.25 „Das Maß an Lust bzw. an deren Mangel stellt die

Norm für den Einzelnen dar, die sich in ihrer allgemeinen Form

auf die Gattungsnatur des Menschen bezog. Ihre konkrete

inhaltliche Bestimmung variierte in den unterschiedlichen

Individualnaturen.“26 Die Grenze zwischen Zuträglichem und Abträglichem ist

Lust und Unlust. 27 Die Verbindung zwischen Demokrit und Epikur

zeigt sich in Epikurs Warnung sowohl vor jedem Überfluss als

auch vor Ablehnung sinnlicher Genüsse; in der Orientierung auf

das von der Natur zu bestimmende Maß zwischen Armut und

Reichtum. Armut, deren Maß vom naturgemäßen Endziel bestimmt ist, ist ein

großer Reichtum. Reichtum, der keine Grenze hat, ist große Armut. 28

Eine interessante antihedonistische Position, eingenommen von

Speusippos, dem Schüler Platons, lässt sich dem Lustkonzept von

Epikur gegenüber stellen. Speusippos Argument: „Lust und

Schmerz seien gleichermaßen Übel. Zwischen dem Zuviel und dem

24 Die Epikureische Ethik, s. 45 – Das entspr. Fragment von Empedekles (A 95D-K) war leider nicht zu finden.25 Ebd. Fr. 6926 Die Epikureische Ethik, s. 48-4927 Fragmente der Vorsokratiker, bdn II, Fr. 18828 Griechische Atomisten, Fr. 26, s. 296

24

Zuwenig liege der indifferente Mittelzustand als das eigentliche

Gute.“29 Ideal ist für ihn die Freiheit von Lust und Unlust.

Die beiden scheinbar gegensätzlichen Standpunkte erweisen sich

in ihrer Zielsetzung als kohärent. Sie bestreiten zwei Wege,

die zum selben Ziel führen. Der Unterschied liegt in der von

beiden Philosophen vorgenommenen begrifflichen Bestimmung der

Lust. Beide halten den Schmerz für ein Übel. Es ist das Maß der

Inanspruchnahme der Lust, das als das verbindende Kriterium,

ihre Standpunkte im Bezug auf den indifferenten Mittelzustand vereint.

Was Speusikos mit der Freiheit von Lust meint gleicht der Freiehit

von Übermaß an Lust aus der Sicht Epikurs. Es ist unmöglich, lustvoll zu

leben, ohne einsichtvoll, vollkommen und gerecht zu leben. Ebensowenig einsichtvoll,

vollkommen und gerecht zu leben, ohne lustvoll zu leben. Wem aber jener Maßstab

nicht zu Gebote steht, mit dessen Hilfe es möglich ist, einsichtvoll, vollkommen und

gerecht zu leben, der vermag auch nicht lustvoll zu leben.30 Der indifferente

Mittelzustand wird von Speusikos durch die negative und von

Epikur durch positive Bestimmung der Lust charakterisiert. Für

beide ist der indifferente Mittelzustand in jedem Fall eine zu

erstrebende Erfülltheit. Müller bezeichnet an anderer Stelle

die Lust Epikurs wieder als negativ!31

Telos

Trotz Unterschiede im ethischen Denken der antiken

philosophischen Schulen von Platon, Aristoteles, Stoa und

Epikur, orientierten sich deren ethische Werte auf ein höchstes

Ziel, die Eudaimonie. Platon verband dieses Ziel mit dem

Begriff der Tugend und der Auffassung eines Guten an sich,

29 Die Epikureische ethik, s. 5330 Griechische Atomisten, Hauptlehrsatz 5, s. 28431 Die Epikureische Ethik, s. 65, 71

25

hervorgegangen aus seiner Ideenlehre. Möglicherweise kam für

Epikur die Idee eines der Natur inhärenten Guten an sich in

Frage, was sich u.a. im folgenden Zitat antizipieren lässt. Die

Natur ist schwach gegenüber dem Übel, nicht gegenüber dem Guten. Denn durch

Lustempfindungen erhält sie sich, durch Schmerzen wird sie zerstört.32 Das

Respekt und Ehrfurcht, die er der Natur entgegenbringt sowie

seine konsequente Lebensbejahung sprechen für diese Überlegung.

Andererseits spricht die Tatsache, daß Epikur der Materie

keinen ideelen Wert beimißt, gegen die Idee des Guten an sich.

Außerdem können die Welten ja auch zugrunde gehen. Dennoch

ließe sich die Idee eines temporären Guten an sich denken, d.h.

solange die unmittelbare Natur für die Menschen existiert.

Idealisierte Werte wie Tugend, Tapferkeit oder Gerechtigkeit

haben keinen Eigenwert und Selbstzweck. Für Epikur stehen sie

im Dienst der Lust. Wegen der Lust wähle man auch die Tugenden, nicht um

ihrer selbst willen, wie man sich der Heilkunst bedient im Interesse der Gesundheit.33

Telos ist der Endzweck, um dessentwillen alles andere

geschieht. Der Endzweck kann als transzendental (Zielvorgabe von

außen) oder als immanent (Zielvorgabe im Objekt existent)

betrachtet werden. Nach bisherigen Erläuterungen kann für

Epikur einen Telos immanenter Art in Frage kommen. Für ihn

konstituiert sich dieser im glückseligen Leben, für das wir

alles tun, um weder Schmerz noch Unruhe zu empfinden. „Die

Beobachtung aller Zusammenhänge zwischen Notwendigkeit,

Ziellosigkeit und Natürlichkeit der Begierden zeigt, dass alle

auf die Gesundheit des Körpers und die Unerschütterlichkeit der

Seele zielen, auf das glückselige Leben. Gerade deshalb ist die Lust,32 Griechische Atomisten, Vatikanische Spruchsammlung 37, s. 29833 Griechische Atomisten, Fr. 38, s. 314

26

wie wir sagen, Ursprung und Ziel des glückseligen Lebens. Denn sie haben wir als

erstes und angeborenes Gut erkannt.“ (BaM 127-128)

Für Epikur hängt die Grundvoraussetzung für eine gute leiblich-

seelische Gesamtverfassung von den physischen Bedingungen ab.

Aber die nach Naturprizipien maßgerecht dosierten sinnlichen

Lüste sind ebenso von größer Bedeutung für die

Lebensgestaltung: Ich wenigstens weiß nicht, was ich mir als das Gute

vorstellen soll, wenn ich die Lust des Geruchs, die Lust der Liebe, die Lust des Gehörs

und auch die lustvollen Bewegungen beim Anblick einer schönen Gestalt beiseite

lasse.34 Müller sieht hier die Hervorhebung eines umfassenden

ästhetischen Aspektes, auf den im letzten Abschnitt näher

eingegangen wird.

Lustarten

Bedingt durch tieferen naturalistischen Ansatz, in dem das

ethische Fundament von Epikur in die Erfüllung der physischen

Grundbedürfnisse gelegt wird, entsteht der Schmerz u.a. durch

Substanzverlust im Körper. Die Nahrungsaufnahme beseitigt ihn

und stellt den ruhigen Normalzustand wieder her. Das in diesem

Zustand empfundene physische Gleichgewicht ist die katastematische

Lust d.h. der Höhepunkt des Verteilungsprozesses der Stoffe im

Körper.35 Der Verteilungsprozess ruft zuerst die sich

steigernde kinetische Lust – quantitative Bewegungslust – hervor,

die im Augenblick der Sättigung in die katastematische Lust

umschlägt. Danach kann eine qualitative Art der Bewegungslust

in Form von Lustvariationen eintreten. Das ist der Fall, wenn der

gesättigte Mensch verschiedene sinnliche und geistige Lüste34 Griechische Atomisten, Fr. 11, s. 30835 Die Epikureische Ethik, s. 58

27

durch verschiedene Tätigkeiten oder Erlebnisse empfindet. In

Verbindung mit den beiden Lustarten übernimmt der Geist zwei

Funktionen. Er kontrolliert und koordiniert die körperlichen

Bewegungen und ist zugleich Dreh- und Angelpunkt zwischen

körperlichen und geistigen Dispositionen, die bestimmte

Leistungen des Geistes bezüglich der Erhaltung der Lust

erfordern, um dem Telos der Glückseligkeit gerecht zu werden.

Auch die Errinnerung an Vergangenes gehört zu den

unerlässlichen Leistungen des Geistes.

Die letzten Worte Epikurs sagen aus, dass ein in die Lehren der

Natur eingewiesener Geist sogar starke Schmerzen seines Körpers

kompensieren kann. Darüber hinaus sind körperliche Empfindungen

und Sinnesorgane lokal begrenzt und haben unterschiedliche

ausdehnung, im gegensatz zur geistigen Aktivität. Diese und

weitere Argumente bezeugen, daß dem Geist eine übergeordnete

Fähigkeit und Tätigkeit gegenüber dem Körper zugeschrieben

werden soll; eine Art Überlegenheit und Autonomie, die auch von

Lukrez überliefert wird. Jetzt sag ich, daß Seele und Leben verbunden sich

halten untereinander und aus sich bilden ein einziges Wesen, daß das Haupt aber sei

und im ganzen Körper regiere lenkender Rat, den Geist wir und Seele mit Namen

benennen. (Lukrez III, 145)

Wie bei Lebensfragen, die die geistige Existenz hervorheben,

spricht Epikur der geistigen Tätigkeit eine Form von Lust zu,

die sich von allen anderen abhebt: Bei den übrigen Tätigkeiten stellt sich

der Ertrag bestenfalls erst ein, wenn sie vollendet worden sind, bei der Philosophie

28

läuft der Reiz mit dem Erkenntnisvorgang zusammen. Denn nicht nach dem Lernen

kommt der Genuß, sondern zugleich mit dem Lernen stellt sich auch der Genuß ein.36

Bedürfnisse

Im Brief an Menoikos 127 klassifiziert Epikur die Begierden in

zwei Gruppen, denen zwei Kriterien zu Grunde liegen:

Natürlichkeit und Notwendigkeit. Die Berücksichtigung der

beiden Kriterien stellt den Menschen vor die Aufgabe, zwischen

ihnen stets das bestimmende Kriterium des Maßes im Blick zu

behalten. Durch vergleichendes Messen und den Blick auf Zuträgliches und

Unzuträgliches ist dies alles zu beurteilen. (BaM 130)

Mit der Befriedigung der Grundbedürfnisse wird die

Funktionstüchtigkeit des Körpers gewährleistet. Dies kann sogar

mit einfachen Mitteln wie Brot und Wasser erreicht werden. Die

einfache Lebensart bringt die Menschen in eine bessere

Verfassung, verleiht ihnen Tatkraft gegenüber den

unumgänglichen Anforderungen des Lebens, sichert sie für den

Notfall ab und erhöht ihre Genussfähigkeit und die Gesundheit.(BaM 131)

Im Zusammenhang der autarken Lebensart wirft Müller Epikur vor,

einem prinzipiellen Irrtum zu unterliegen. Der Ausgangspunkt

aller Epikurs Schlussfolgerungen sei die Auffassung, dass sich

die Gegenstände der notwendig-natürlichen und natürlichen

Begierden zu allen Zeiten gleich blieben, d. h. Epikur erkenne

nicht, dass die Bedürfnisse relativ seien und nicht nur am

physischen Existenzminimum gemessen werden könnten. Da Epikur der

Begriff der sekundären Bedürfnisse fremd sei. Gegen diese These

36 Epikur Briefe, Sprüche Fragmente, SV 27

29

spricht die Tatsache, daß Epikur nirgendwo eine Grenze für das

Existenzminimum gezogen hat. Ihm wird es schwerlich unbemerkt

geblieben sein, dass diese Maßsetzung stets situationsbedingt

beurteilt werden muss zumal große Teile epikureischer Schriften

der Nachwelt verschlossen geblieben sind.

Das Unfassbare der atomaren Formen mit ihren Zufällen und

Kausalitäten, begleitet vom zyklischen Untergang und

Wiederentstehung des Lebens und der Welten, lässt das

epikureische System offen sein gegenüber den in die

Unendlichkeit reichenden zukünftigen Entwicklungen.

Existenz

Die Fragen des Todes und des damit verbundenen Lebenssinnes

löst Epikur einfache und konsequent. Da die Seele mit dem

Körper vergeht, wird die Reflexion über das Dasein zum Anlass

für eine sinnvolle Lebensgestaltung. Es geht darum, die

richtigen Konsequenzen aus der zeitlichen Existenzbegrenzung zu

ziehen, um Raum für ein lustvolles Leben zu schaffen. Die

Freude an einem unbeschwerten Leben soll nicht aufgeschoben

werden wegen der Hoffnung auf ein jenseitiges Dasein.

Sinnerfüllung bedeute Leben unter ständiger Beachtung seiner

Maße und Möglichkeiten. Wer diesen Sinn erfüllt, verabschiedet

sich einsichtsvoll und sogar mit Freude von dieser Welt. Wer

nun aber verkündet, der junge Mensch solle ein schönes Leben haben, der alte

dagegen einen schönen Tod, ist einfältig, nicht nur, weil das Leben an sich

wünschenswert, sondern auch, weil die Sorge um ein schönes Leben zugleich auch

die Vorbereitung auf ein schönen Tod ist. BaM 126

30

Der Tod markiert das Ende eines sinnvollen Lebens, das sich

auch über Notwendigkeit und Zufall erhebt. Zufall und Notwendigkeit

sind Seinsprinzipien, denen sich der Mensch nicht entziehen

kann. Aber er ist ihnen auch nicht ausgeliefert. Die Notwendigkeit

ist ein Übel, aber es besteht keine Notwendigkeit, unter Notwendigkeit zu leben.37

Durch seinen freien Willen und die philosophische Erkenntnis

der Welt überwindet der Mensch die von der Natur gesetzten

Grenzen und wird auch für den Zufall vorbereitet. Das alles

sollte ihn daran nicht hindern, das Maßhalten in der Relation

von Glück und Unglück zum notwendigen Prinzip seiner

Lebensführung zu erheben.

Zusammenfassung

Epikurs Phlosophie liegt der Idee zugrunde, daß ein

glückliches, vorteilhaftes und ethisches Leben mit Hilfe

praktischer Übungen sowie durch Aneignung einer rationalen

Weltanschauung erreichbar ist. Besonders im Sinne der

Hellenismus bedeuted dies lebenslange und auf Maßhalten bezogene Übung

und Askese (askein), mit der verbalen und positiv konnotierten

Bedeutung von etwas intensiv bearbeiten,38 anders als in den folgenden

Jahrhunderten verändertes Verständnis von Verzicht und

Bekämpfung triebhafter Neigungen. Ziel der Askese im

Hellenismus war die Konzentration auf die wichtigsten Aspekte

des Lebens, die Reduzierung der Lebensart auf minimale,

37 Griechische Atomisten, SV 9, s. 24938 Antike Lebenskunst, s. 31- 32, Die Auffassung von Askese im Sinn einer Selbstbeschränkung ergab sich erst in der Neuzeit aufgrund der christlichenAskesetradition – eine Bedeutungsverschiebung, die bereits der Kirchenhistoriker v. Harnak (1916, 153) beobachtet hat. Es lässt sich nachverfolgen, wie unter dem Eindruck der christlichen Gnadenkonzeption derAskesebegriff allmählich den Sinn von regelgeleiteter Verzichtleistung und strikter Enthaltsamkeit annahm; eine „intellektualistische Ertüchtigungsaskese“ (v. Harnak) verlor durch die Vorstellung göttlicher Gnade weitgehend ihren Sinn.

31

einfache und essenzielle Güter, die ein genussvolles Leben

ermöglichen sollte. Dabei kam dem Geist eine bedeutende Rolle

zu, welcher seine Kraft aus einem Körper schöpfte, dessen Ruhe

und Funktionstüchtigkeit aus der Erziehung seiner Natur

gewonnen wurde. Die Verachtung der Lust ist, wenn man sich einmal darin geübt

hat, selbst die größte Lust. (Diogenes, DL VI 71) 39

Dieser Auffassung, deren Parallelle sich in modernem Spruch von

weniger ist mehr antizipieren lässt, gewinnt aus der heutigen

Sicht um so mehr Relevanz als die Bestimmung des Lebensmaßes

zunehmend aus dem Verantwortungsbereich des Individuums zu

gleiten scheint. Die Thematisierung von begrifflichen

Bedeutungsverschiebungen kann sich als gewinnbringend erweisen,

da durch die Wiederbelebung der veralteten Bedeutungen eines

Begriffes das Bedeutungsfeld des betroffenen Begriffes erweitern

und somit eine mehr differenzierte Sicht der Welt im Sinne der

antiken Atomismus ermöglichen.

Als weiterer Eckpunkt der epikureischen Philosophie kann die

atomistische Auffassung des Universums herangezogen werden. Diese

für die damalige Zeit erstaunliche und in der modernen

Wissenschaft noch lebendige Sicht der Natur birgt wichtige

ethische Momente. Die Vorstellung von einer Welt der

unendlichen Zusammenhängen und einer eingeschränkten Existenz

gibt jedem Augenblick Sinn und Bedeutung. Jede Handlung, jedes

Wort, jeder Schritt erscheint in gewissen Kontexten wichtig. Es

geht im Leben darum, der Welt gegenüber neugierig und suchend

eingestellt zu sein, ihr mit Respekt begegnen, denn durch das

39 Antike Lebenskunst, s. 32

32

Gute erhält sich die Natur, durch das Schlechte geht sie

zugrunde. Nur auf diesem Weg kann der Mensch mehr und mehr

relevante Ereignissen und Augenblicke der atomaren Welt

wahrnehmen, auf Differenzierungen und kausalen Relationen

achten, um dem eigenen Erfahrungsschatz auf dem Weg der

Glückseligkeit mehr lustvolle Momente einzuverleiben.

Als eine winzige Atommasse bewegt sich der Mensch im der Welt

und studiert die anderen Atommassen in unzähligen Gestalten. Er

kann Beobachtung, dass es in der Unfassbarkeit der

Atomgestalten keinen ideellen Wert gesucht werden muss, um

ideelle Unterschiede zwischen einem Griechen und Barbaren bzw.

zwischen Sklaven und Herren zu finden. Der ideele Wert besteht

in der Suche selbst. Die Wahrnehmung solcher Feinheiten führt

zur zunehmenden Erkenntnis, zum besseren Verständnis, zur

intensiveren Antizipation der Naturzusammenhängen und folglich

zur Erhöhung der Lust- und Lebensqualität.

Epikur spricht weit mehr über Ethik als über Lust, was beim

Studium seiner Texte unschwer auffällt. So würde der Ruf als

eines Ethikers ihm eher zukommen als der eines Hedonisten. Dies

ist, wie schon erwähnt, u. a. auf die anfängliche Lustpolemik

zurückzuführen. Es ist besonders darauf Rücksicht zu nehmen, daß in Ansätzen

schon bei Demokrit und in systematischer Form bei Epikur die Ethik sich an den

Prinzipien der atomistischen Naturlehre orientierte, ja daß der antike Atomismus in

der Ausprägung, die er durch Epikur erhielt, der Ethik sogar den Vorrang vor der

Naturlehre und damit vor der eigentlichen Atomtheorie gab.40 In ethischem

Kontext lässt sich der ästhetische Aspekt in Epikurs

40 Griechische Atomisten, s. 6

33

Naturauffassung als ein weiterer Eckpunkt heranziehen. Auch

wenn in Epikurs Schriften wenige und nur vereinzelte Aussagen

über Kunst zu finden sind, gibt ein Gesammtblick seiner

Schriften ein klares äethetisches Bild des Universums frei.

Ästhetk ist hier im umfassenden Sinne und in mannigfaltigen

Anschauungen der Natur, aber auch in der Wandelbarkeit und

Unbestimmbarkeit des Ästhetik-Begriffs zu verstehen, die es in

unterschiedlichen Verbindungen wie Freiheit und

Gesetzmäßigkeit, Spontaneität und Notwendigkeit,

Fremdbestimmung und Autonomie, Partikularität und Universalität

erscheinen lässt. In den emphatischen Verszeilen von Lukrez

über die Natur wird dieses Konzept veranschaulicht. Die reine

Natur als das objektive Sein, als die dem Menschen beiwohnende

kleine Natur und als Lehrmeister des Menschen appeliert

ununterbrochen an die Sinne, das Vorstellungsvermögen und an

das Empfinden. Sie befriedigt die essenziellem Bedürfnisse und

ist das unerschöpfliche Reservoir der Sinnlichkeit und

Anschauung. Aus der würdevollen und erhabenen Naturgewalt

schöpft Epikur seine materialistische Naturethik. Sie ist die

Urquelle der ethischen Lust, des Guten.

Ästhetik, um hier noch Wittgensteins Einheit der Ästhetik und

Ethik41 anzudeuten, ist die richtige Sicht der Natur. Im

Zusammenwirken der Sinneswahrnehmungen, des lustvollen Leib-

Seele-Zustandes, der ethischen Lebenseinstellung und bei

entsprechender Erziehung und Selbsterziehung im Maßhalten,

gelangt das Individuum zur richtigen Perspektive der Welt und

zur Glückseligkeit.

41 Tractatus logico-philosophicus, 6.421

34

Literatur1. Epikur Briefe-Sprüche-Werkfragmente, Übers. u. Hrg. H. W.

Krautz, Stuttgart 2001 (Brief an Herodot 36-44, 63, 78, 122-

123, brief an Menoikos 51, 126-128, 130-131, SV 27)

2. Griechische Atomisten, Übers. u. Hrg. F. Jürss, R. Müller, E.G.Schmidt, Leipzig 1977 (Fr. 11, 25, 26, 38, 74, 151-154, 181-186, 248-250, 270, HL 5, 11, SV 9, Aristoteles, Über die Seele 1,3. 406b 15ff., Vatikanische Spruchsammlung 37)

3. Lukrez Welt aus Atomen, Übers. K. Büchner, Zürich 1956 (Lukrez

V 925-40, Lukrez III 145)

4. F. Jürss, Die Epikureische Erkenntnistheorie, Berlin 1991 (s.

49)

5. R. Müller, Die Epikureische Ethik, Berlin 1991 (s. 5, 11, 28-

30, 33, 35, 39, 45, 48-49, 53, 58, 65, 71)

6. Der Philosoph und der Lust, Hrg. P. Kondylis Frankfurt a. M.

1991

7. H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, Bnd. I-II, Hrg. W.

Kranz, Berlin 1956 (DK Fr. 4, 32, 33, ?A 95 D-K, 69, 188)

8. Geschichte des wissenschaftlichen Denkens im Altertum, Bnd

XIII, Hrg. J. Herrman, Berlin 1982, s. 182

9. K. Westphalen, Die Kulturentstehungslehre des Lukrez,

Disertation, 1957 München, s. 10

10. C. F. Geyer, Epikur zur Einführung, Hamburg 2000, s. 33

11. C. Horn, Antike Lebenskunst, München 1998, s. 31-32

(Diogenes, DL VI 71)

12. L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Suhrkamp,

Frankfurt a. M. 1984, (6.421)

35