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EKKEHARD KÖNIG / PETER SIEMUND Identität und Alterität: Zur Semantik von fremd und ähnlichen Ausdrücken 1. Einleitung Die Analyse von Etymologie, Bedeutung und Sinn von Ausdrücken wie dt. fremd und ähnlichen Ausdmcken in anderen Sprachen ist nur unter Rückgriff auf elementare sprachliche Phänomene wie Deixis und elementare lexikalische Elemente wie ander-, anders, gleich, eigen, selbst, etc. möglich. Sowohl die Beiträge in Naguschewski & Trabant (1997) als auch die Beiträge des vorliegenden Bandes machen dies deutlich. Fast alle Beiträge dieser beiden Bände weisen auf den essentiell - oder zumindest in typischen Kontexten - deiktischen Cha- rakter der Bedeutung von fremd und seinen Gegenstücken in anderen Sprachen hin ('einem anderen Ort, Land, Volk angehörig, als die Person, die das Orientierungszentrum bildet') und zeigen, wie diese lokal-deiktische Bedeutung durch verschiedene stereotypische Cha- rakterisierungen ('unvertraut', 'neu', 'unbekannt', 'ungewohnt', etc.) angereichert werden kann, die eine epistemische Einschätzung von Sprechern bezeichnen (vgl. Jostes 1997: 45). Außerdem spielen in vielen dieser Diskussionen Oppositionen wie fremd vs. eigen, wir vs. andere, Identität vs. Alterität, etc. eine wesentliche Rolle. Das Denken in Oppositionen ist ein wesentliches Merkmal menschlicher Kognition und somit auch der lexikalischen Organisation aller Sprachen. We- sentliche semantische Aspekte von Ausdmcken wie fremd, derldieldas Fremde, etc. werden erst durch eine Analyse der Sinnrelationen (An- tonymie, Komplementarität, Konversheit, Synonymie, etc.) deutlich, die sie mit anderen Ausdmcken des Deutschen verbinden. Die Zielsetzung des vorliegenden Aufsatzes ist es, Ideen früherer Beiträge zur semantischen Analyse von fremd, insbesondere der von Hermanns (1996) und Jostes (1997), weiterzuentwickeln und zu präzi- sieren. Der Aufsatz versteht sich als Beitrag zu den Gmndbegriffen

Identität und Alterität

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EKKEHARD KÖNIG / PETER SIEMUND

Identität und Alterität: Zur Semantik von fremd und ähnlichen Ausdrücken

1. Einleitung Die Analyse von Etymologie, Bedeutung und Sinn von Ausdrücken wie dt. fremd und ähnlichen Ausdmcken in anderen Sprachen ist nur unter Rückgriff auf elementare sprachliche Phänomene wie Deixis und elementare lexikalische Elemente wie ander-, anders, gleich, eigen, selbst, etc. möglich. Sowohl die Beiträge in Naguschewski & Trabant (1997) als auch die Beiträge des vorliegenden Bandes machen dies deutlich. Fast alle Beiträge dieser beiden Bände weisen auf den essentiell - oder zumindest in typischen Kontexten - deiktischen Cha-rakter der Bedeutung von fremd und seinen Gegenstücken in anderen Sprachen hin ('einem anderen Ort, Land, Volk angehörig, als die Person, die das Orientierungszentrum bildet') und zeigen, wie diese lokal-deiktische Bedeutung durch verschiedene stereotypische Cha-rakterisierungen ('unvertraut', 'neu', 'unbekannt', 'ungewohnt', etc.) angereichert werden kann, die eine epistemische Einschätzung von Sprechern bezeichnen (vgl. Jostes 1997: 45). Außerdem spielen in vielen dieser Diskussionen Oppositionen wie fremd vs. eigen, wir vs. andere, Identität vs. Alterität, etc. eine wesentliche Rolle. Das Denken in Oppositionen ist ein wesentliches Merkmal menschlicher Kognition und somit auch der lexikalischen Organisation aller Sprachen. We-sentliche semantische Aspekte von Ausdmcken wie fremd, derldieldas Fremde, etc. werden erst durch eine Analyse der Sinnrelationen (An-tonymie, Komplementarität, Konversheit, Synonymie, etc.) deutlich, die sie mit anderen Ausdmcken des Deutschen verbinden.

Die Zielsetzung des vorliegenden Aufsatzes ist es, Ideen früherer Beiträge zur semantischen Analyse von fremd, insbesondere der von Hermanns (1996) und Jostes (1997), weiterzuentwickeln und zu präzi-sieren. Der Aufsatz versteht sich als Beitrag zu den Gmndbegriffen

petersiemund
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König, Ekkehard and Peter Siemund (2001) ‘Identität und Alterität: Zur Semantik von fremd und ähnlichen Ausdrücken’, in: Jürgen Trabant and Brigitte Jostes (eds.) Fremdes in fremden Sprachen. München: Wilhelm Fink Verlag, 109-129.

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und zu den elementaren Ausdrücken (Gmndvokabular), die zu einer Analyse von Etymologie, Bedeutung und Sinn von Ausdmcken wie fremd und seinen Entsprechungen in anderen Sprachen notwendi-gerweise heranzuziehen sind. Im Mittelpunkt der folgenden Ausfüh-rungen steht somit nicht der Hinweis auf die Paraphrasierbarkeit von wesentlichen Aspekten der Bedeutung von fremd durch das Adjektiv ander- oder anders, sowie auf die Opposition zwischen fremd und eigen, sondern eine Analyse dieser partiell synonymen bzw. gegen-sätzlichen Begriffe und Ausdrücke. Dabei ist vor allem herauszu-arbeiten, welche semantischen Eigenschaften und Aspekte von fremd zu unterscheiden sind und in welchen Domänen des Vokabulars diese Eigenschaften noch eine Rolle spielen. Mit dem bedeutungsähnlichen Ausdruck ander-, anders treten Begriffe wie Identität, Komplementa-rität und Vergleich in den Blickpunkt. Bei dem Adjektiv ander- ist eine attributive von einer prädikativen Verwendung zu unterscheiden (vgl. Jostes 1997: 45). Es ist im wesentlichen die deiktische Kompo-nente von fremd, die durch ein attributives ander- umschrieben werden kann ('einem anderen Land, etc. zugehörig'). Es geht hier um referentielle (Nicht)identität und Komplementarität. Die stereotypen Charakterisierungen, die mit den Personen oder Objekten assoziiert werden, die aus einem anderen Land sind ('unbekannt', 'neu', 'unver-traut', etc.), sind dagegen mit einem prädikativ verwendeten anders umschreibbar ('B ist anders als wir'). Ein prädikativ gebrauchtes anders ist der allgemeinste Komparativ, durch den zwei Personen oder Objekte differenziert werden können, ohne daß - im Gegensatz zu größer, älter, freundlicher, etc. - die Dimension oder der Aspekt angegeben wird, durch die die Differenziemng erfolgt.

(1 a) B ist aus einem anderen Land als wir. (=> B ist hier fremd) (1 b) B ist anders als wir. (=> B ist uns fremd)

Wie die beiden Beispiele in (1) zeigen, geht es einmal um einen Vergleich und eine Differenzierung von Personen, d. h. um eine refe-rentielle Differenzierung, und einmal um einen Vergleich und eine Differenziemng von Eigenschaften, d. h. um eine qualitative Differen-ziemng. Daß im Deutschen und anderen Sprachen der gleiche Ausdmck, nämlich ander-, für diese beiden Operationen verwendet

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wird, weist auf einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Opera-tionen hin.1

Die Gegensätzlichkeit von fremd und eigen zeigt sich insbesondere bei der attributiven Verwendung dieser Adjektive sowie bei Kom-posita: (2a) fremde Kinder die eigenen Kinder (2b) in einem fremden Land im eigenen Land (2c) Wenn ein fremdes Auto vor seinem Haus parkt, gibt es Krach.

('nicht das eigene Auto') (Jostes 1997: 52)

(3 a) Fremdkapital Eigenkapital (3b) Fremdleistungen Eigenleistungen (3c) fremdbestimmt eigenverantwortlich (3d) Fremdverschulden Eigenverschulden

Gelegentlich finden sich auch syntagmatische Gegenüberstellungen von^rem^und eigen in authentischen Texten: (4) Nun brannt' ich vor Begierde, unsere Unterhaltung, dem Tode zu Trutz,

fortzusetzen, seine Gedanken, Ansichten und Absichten bis ins einzelne zu bewahren und ein herkömmliches Zusammenarbeiten bei Redaktion eigener und fremder Stücke hier zum letztenmal auf ihrem höchsten Gipfel zu zeigen. (Goethe, Tag^und Jahreshefte, Hamburger Ausgabe, Band 10, S. 472)

Dagegen scheinen die zwei Adjektive in ihrer prädikativen Verwen-dung keinen polaren Gegensatz auszudrücken und nahezu als 'Syno-nyme' charakterisierbar zu sein (so Jostes 1997: 46): (5a) Karl ist sehr eigen. (5b) Karl ist uns sehr fremd.

Wie später zu zeigen sein wird, bemht diese scheinbare kontextuelle Neutralisierung einer lexikalischen Opposition auf dem bereits er-wähnten Zusammenhang von referentieller und qualitativer Diffe-renzierbarkeit. Nur wer von anderen verschieden, d. h. eigen ist (besondere ihm eigene Merkmale, d. h. Eigenschaften besitzt), kann als separates Individuum gezählt werden.2 Wesentlich ist hier noch, daß die deiktische Dimension der relevanten Verwendung von fremd keine lokal-deiktische (Karl ist hier fremd), sondern eine personal-

1 Montagues bekannte Analyse von Nominalphrasen als Menge von Eigen-schaften erscheint im Lichte solcher Phänomene sehr plausibel (vgl. Dowty 1979).

2 Vgl. auch A und B sind verschieden vs. Verschiedene Leute behaupten ...

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deiktische ist (Karl ist ihm/uns/mir fremd). Durch die Gegenüber-stellung von fremd und seinen Gegenbegriff eigen wird das Wortfeld der Intensifikatoren (emphatischen Pronomina) in die Analyse einbe-zogen, zu dem außer eigen auch selbst, persönlich, leibhaftig und viele andere Ausdrücke gehören. Da eigen in vielen Kontexten in Oppo-sition zu fremd steht, sind von seiner Analyse auch wesentliche Aufschlüsse über die Bedeutung von fremd zu erwarten.

Da die vorliegende Untersuchung im wesentlichen von Analysen zum Adjektiv fremd angeregt wurde, steht das Deutsche auch im Mittelpunkt der folgenden Diskussion. Wir werden jedoch gelegent-lich andere europäische Sprachen in unsere Untersuchung einbeziehen und auf unterschiedliche lexikalische Differenzierungen hinweisen.

2. Differenzierung von Personen oder Eigenschaften

Natürlich sind die Eintragungen in den großen Wörterbüchern zur deutschen Sprache neben den darauf aufbauenden Spezialanalysen wie Hermanns (1996) und Jostes (1997) auch für die folgende Analyse ein wertvoller Ausgangspunkt. Im Wörterbuch der deutschen Gegen-wartssprache (WDG) von Klappenbach & Steinitz (1964-1977) werden z. B. die folgenden Bedeutungen von fremd unterschieden:

1. einem anderen Land, Volk, Ort, einer anderen Gegend angehörend; aus einem anderen Land, Volk, Ort, aus einer anderen Gegend stammend;

2. nicht sein eigen; einem anderen gehörend; einen anderen angehend; ...; 3. nicht bekannt; nicht vertraut; nicht zu etwas, zu jemandem passend;

nicht in etwas gehörig

An diesen Einträgen ist zunächst einmal bemerkenswert, daß die Bedeutung von fremd z. T. durch ander- paraphrasiert wird und z. T. durch das oppositive Verhältnis zu eigen beschrieben wird. Was die einzelnen Formulierungen der vier unterschiedenen Bedeutungen an-belangt, so können sie - wenn man von dem Problem der allgemeinen Verständlichkeit von Wörterbucheinträgen einmal absieht - einerseits vereinfacht werden, verlangen aber auch wesentliche Ergänzungen. Bei Eintrag 1. ist sicherlich die Aufzählung von verschiedenen Orten (loci) unnötig, ebenso wie die Unterscheidung zwischen angehören und stammen. Die relevante Lesart von fremd ist unbestimmt in bezug auf solche Differenzierungen und wir können daher folgendermaßen vereinfachen: 1. 'von einem anderen Ort'. Allerdings fehlt hier die

II Identität und A Iterität 113

explizite Erwähnung von etwas, was bei dem Eintrag des WDG mitgedacht ist. Wie bereits oben erwähnt, ist ander- die (differenzie-rende) Komparativform eines inhaltlich völlig unbestimmten Adjek-tivs, also das Gegenstück von so bei den equativen Komparativen. Zu ergänzen ist somit der Vergleichsstandard: 1. 'von einem anderen Ort als dem Ort, den das Orientierungszentrum bildet'. Erst durch die explizite Nennung dieses zweiten Vergleichsterms (Standard of comparison) wird der (häufig) deiktische Charakter der relevanten Bedeutung von fremd adäquat paraphrasiert. Ob der Sprecher/die Sprecherin notwendigerweise immer das Orientierungszentrum bilden muß, wird später noch zu klären sein.3

Die zweite der vier im WDG unterschiedenen Bedeutungen von fremd wird durch die Gegenüberstellung zum Komplementärausdmck eigen und durch die Negation dieses Komplementärbegriffs umschrie-ben. Die weiteren Angaben dienen der Erläutemng der Bedeutung des Possessivadjektivs eigen. Die relevanten Possessivverhältnisse können natürlich durch die Verben gehören oder angehen, aber auch durch den Genitiv ausgedrückt werden. Wir können also vereinfacht zu 2. sagen: 'nicht jemandes eigen-'. Nun gibt es aber neben einem deutlichen Unterschied auch eine deutliche Verwandtschaft zwischen der ersten und der zweiten Lesart, dem die vorschnelle Annahme von Polysemie nicht Rechnung trägt. Der Unterschied besteht offensicht-lich darin, daß bei der ersten Lesart Personen und Gegenstände als fremd bezeichnet werden, die niemandem gehören, denen man aber angehören kann (B gehört A an), während es bei der zweiten Lesart tatsächlich um Besitzverhältnisse im weiteren Sinne des Wortes geht (A gehört B). Abgesehen davon sind beide Lesarten gleich. Der erwähnte Unterschied ergibt sich generell aus Weltwissen über die relevanten Objekte. Bei der dritten Bedeutung handelt es sich um eine Anreichemng der ursprünglichen und sicherlich primären deiktischen Bedeutung von fremd durch stereotypische epistemische Einschät-zungen der Betrachter. Etwas, was von anderswo kommt, erscheint uns unvertraut, ungewohnt, neu, etc., d. h. es ist nicht Teil des Wissens, bzw. Bekannten. Eine weitere mit der o. g. dritten Lesart ver-wandte Bedeutungsnuance wird gesondert im Deutschen Wörterbuch

Die relevante, auf ein Orientierungszentrum bezogene perspektivische Be-deutung, ist auch bei dem Adjektiv fern zu finden, das mit fremd etymo-logisch verwandt ist.

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von Wahrig (1986) aufgeführt: 'andersartig, fremdartig, seltsam'. Hier handelt es sich nicht mehr um epistemische Haltungen, sondern um affektive Haltungen zu etwas Unbekanntem. Bei der vierten der o.a. Lesarten geht es um normative Urteile von Betrachtern, die insbeson-dere bei adjektivischen Komposita wie sachfremd, fachfremd, wesens-fremd, zweckfremd, etc. eine zentrale Rolle spielen.

3. Komplementbildung

Wie bereits oben erwähnt, bezeichnet die semantisch völlig unspezi-fische Komparativform ander- bzw. anders die Operation der Bildung eines Komplements A' zu einer Basismenge A bezüglich einer Ober-menge. Da diese Obermenge in fast allen Fällen kontextuell einge-schränkt ist, kann man sie als Universum der Rede bezeichnen. Es handelt sich somit um ein relatives Komplement. In einem Satz wie (6a) wird durch die NP andere Bundesländer als Bayern das Komple-ment zur Basismenge 'Bayern' bezüglich der Obermenge (bzw. Universums der Rede) gebildet, die alle Bundesländer oder nur einen Teil davon umfassen könnte. Das Komplement wäre dann etwa folgende Menge: {Berlin, Baden-Württemberg, Brandenburg, Bremen, Hessen, etc.}. In (6b) handelt es sich bei der Obermenge um alle oder bestimmte menschliche Eigenschaften, so daß sich als Komplement hier die Eigenschaften ergeben, die Karl nicht hat:

(6a) Andere Bundesländer als Bayern hätten auf den LVS-Skandal mit weiteren Maßnahmen reagiert.

(6b) Peter ist anders als Karl.

Diese Eigenschaft der Komplementbildung teilt ander(s) mit vielen anderen Ausdrücken wie z. B. sonst, ansonsten, ausgenommen, außer, abgesehen von sowie der Negation.4 Unter Berücksichtigung des bis-her Gesagten ergeben sich somit für Nominalisierungen wie der/die Fremde folgende Paraphrasen bzw. Analysen:

Die gelegentlich geäußerte Auffassung, anders sei ein Negationswort (Her-manns 1996: 42), beruht auf dieser gemeinsamen Eigenschaft der Komple-mentbildung.

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(7a) ein Fremder - 'ein Mann, der an einem anderen Ort ist, als seinem (eigenen) / als dem, dem er angehört / als dem, aus dem er stammt'

(7b) die Fremde - 'ein Ort, der ein anderer ist, als der (eigene) Ort des Orientierungszentrums / der Ort, aus dem das Orientie-rungszentrum stammt bzw. angehört'

Diese Paraphrasen zeigen zum einen, daß die Basismenge durch den mit als eingeleiteten Standard des Vergleichs ausgedrückt wird. Außerdem zeigen sie, daß ein Orientierungszentmm die Basismenge bestimmt, das je nach Äußerung unterschiedlich ist. Nur wenn die Koordinaten der Sprechsituation dieses Orientierungszentrum bilden ('ein anderer Ort als der Ort des Sprechers/der Sprecherin') liegt eine deiktische Verwendung von fremd vor. Schließlich zeigen diese Para-phrasen noch, daß verschiedene Umschreibungen für die Beziehungen zwischen der Person, die das Orientiemngszentrum bildet, und dem Ort des Orientierungszentrums möglich sind: Diese Beziehungen kön-nen durch Verben wie stammen, angehören aber auch den Genitiv, Possessivpronomina und das Adjektiv eigen bezeichnet werden. Die verschiedenen Bedeutungen, die in den Wörterbüchern unterschieden werden, beruhen auf der Eignung der einen oder anderen Umschrei-bung. Letztlich aber handelt es sich wohl um eine generelle, vage Bedeutung, für die wir im Deutschen keinen geeigneten Terminus haben, so daß wir höchstens von einer allgemeinen Possessivrelation bzw. 'Assoziation' sprechen können.

Wie oben gezeigt, wird bei ander(s) die für die Komplementbildung wesentliche Basismenge durch den zweiten Terminus oder Standard des Vergleichs ausgedrückt. Was bisher aber noch nicht angesprochen wurde, ist die Frage der Kennzeichnung der Basismenge bei dem Adjektiv fremd. Zwei Möglichkeiten einer solchen expliziten Kenn-zeichnung werden durch die folgenden Beispiele illustriert. Die Basis-menge kann einmal durch eine Dativergänzung ausgedrückt werden, insbesondere bei der prädikativen Verwendung, oder sie kann durch ein Lokaladverb gegeben sein:

(8a) Die Ansichten von Herrn H. sind mir/uns/ihm sehr fremd. (d. h. 'sind ein Komplement dessen/anders als das, was mir/uns/ihm ver-traut ist')

(8b) Ich bin hier fremd. Dort ist er fremd. ('Ich bin von einem anderen Ort als dem Sprecherort, etc.')

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In vielen Fällen der attributiven Verwendung von fremd ist jedoch eine solche explizite Kennzeichnung der relevanten Basismenge nicht erkennbar: (9a) Peter tanzte den ganzen Abend mit fremden Frauen.

('nicht mit seiner eigenen') (9b) Ich fahre ungern mit einem fremden Auto, ('nicht mein eigenes') (9c) Sind das fremde Kinder, auf die du hier aufpaßt, oder deine eigenen?

Es handelt sich offenbar um die Kontexte, in denen fremd in Oppo-sition zu eigen steht. Das Komplement ist in diesen Fällen offensicht-lich durch 'nicht die eigenen des ...' beschreibbar, d. h. es wird durch die Teilmenge der Entitäten gebildet, die durch das Bezugswort des Adjektivs fremd bezeichnet wird und nicht in einem Possessivverhält-nis zu einem Satzargument steht.

4. Deixis

Für die Auflösung der Bedeutung des Adjektivs/rewc/ benötigt man in der Regel einen Orientiemngspunkt und entsprechend wird gewöhn-lich von einem „deiktischen" Charakter dieses Ausdmcks gesprochen. Völlig gerechtfertigt ist diese Terminologie in Beispielen wie in (10), wo im a-Satz die Nichtzugehörigkeit von Menschen in Hinblick auf den Sprecherort und im b-Satz die Beziehung bestimmter Objekte zum Sprecher ausgedrückt wird.

(10a) Hier gibt es viele fremde Menschen. (1 Ob) Ich trage keinen fremden Schmuck.

(d. h. 'Schmuck, der mir nicht gehört')

Wenn es sich in Sätzen ohne deiktische Adverbien oder Pronomina um erlebte Rede handelt oder allgemein das Wahmehmungszentrum in eine Person verlegt wird, von der in der dritten Person erzählt wird, kann man auch hier noch von Deixis sprechen: (IIa) „Mag kommen, wer will," sagte der Junge, „ich fürchte mich nicht: ich

bin aber so müde, daß ich nicht weiter kann," streckte sich auf eine Bank und schlief ein. Bald hernach kamen die Räuber und fragten zornig, was da für ein fremder Knabe läge. (Grimm, Kinder- und Hausmärchen, Der Teufel mit den drei goldenen Haaren, S. 193)

(IIb) In aller Eile zog es das Kleid an und ging zur Hochzeit. Seine Schwestern aber und die Stiefmutter kannten es nicht und meinten, es müsse eine fremde Königstochter sein, so schön sah es in dem goldenen Kleide aus. (Grimm, Kinder- und Hausmärchen, Aschenputtel, S. 158)

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Jostes (1997: 47ff.) unterscheidet zwischen deiktischen Verweisen wie in (10a, b) und anaphorischen Verweisen (vgl. (12)). Der Unterschied zu den Beispielen in (10) besteht darin, daß das Orientiemngszentrum durch einen textuell eingeführten Referenten gebildet wird. Das Kriterium für diese Unterscheidung besteht also in der Art des Gege-benseins des Referenten, auf den fremd verweist. Ist dieser Referent kontextuell eingeführt, also durch die Diskurssituation, dann handelt es sich um Deixis; übernimmt dagegen der Kotext diese Aufgabe, dann wird der Verweis anaphorisch hergestellt.

(12) In diesem Krieg kamen die Inselbewohner zum ersten Mal mit Fremden in Berührung.

Die Interpretation von fremd und allen davon abgeleiteten Wortbil-dungen ist also stets auf ein Orientierungszentmm bezogen und somit kontextabhängig. Dieses Orientierungszentmm wird jedoch nicht immer durch die Koordinaten der Sprechsituation bestimmt, sondern kann auch durch den Kotext geliefert werden, so daß man wie bei vielen primär deiktischen Ausdrücken sowohl von deiktischen als auch anaphorischen Verwendungen von fremd sprechen kann.

Allerdings liegt im Gegensatz zu typischen Fällen von Deixis (ich, hier, jetzt, dies, ...) oder Anaphorik bei fremd die referentielle Abhän-gigkeit nicht im Ausdruck selbst, sondern in einer von diesem Adjektiv eröffneten Leerstelle: 'X ist fremd relativ zu Y': (13) Verzeihung, daß ich so sehr auf Wind und Wetter achthabe: der Reisende

zu Lande, fast so sehr als der Schiffer, hängt von beiden ab, und es wäre ein Jammer, wenn mein Herbst in fremden Landen so wenig begünstigt sein sollte als der Sommer zu Hause. (Goethe, Italienische Reise, Ham-burger Ausgabe, Band 11, S. 12)

Diese Leerstelle kann explizit durch eine Dativergänzung oder eine Lokaladverb ausgefüllt werden, aber auch lediglich semantisch gebun-den sein.

5. Opposition zu eigen

Wenn wesentliche Züge der Bedeutung eines attributiv verwendeten fremd durch das kontradiktorische Oppositonsverhältnis zu eigen deutlich werden, ist es sicherlich sinnvoll, an dieser Stelle einen kurzen Blick auf das possessive Adjektiv eigen zu werfen. Auf der Basis seiner semantischen Eigenschaften kann man eigen zur Klasse

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der sog. „Emphatika" oder „Intensifikatoren" zählen, die im Deut-schen die folgenden Ausdrücke umfaßt: (14) Intensifikatoren: {selbst, persönlich, leibhaftig, höchstpersönlich, von

selbst, von sich aus eigen}

Für die meisten dieser Ausdrücke sind zwei oder drei Verwendungen zu unterscheiden, die etwa durch folgende Beispiele mit selbst verdeutlicht werden können: (15a) Der Präsident selbst wird uns empfangen, (adnominal) (15b) Der Präsident ist selbst etwas unsicher, (adverbial, inklusiv) (15c) Der Präsident schreibt alle seine Reden selbst, (adverbial, exklusiv)

Wenn wir uns allein auf die adnominale Verwendung von Intensifi-katoren beschränken, dann läßt sich deren Bedeutung in etwa wie folgt beschreiben (vgl. König 1991; Baker 1995): Ein adnominales selbst interagiert mit einem Fokus. Eine solche Fokussiemng ist jeweils auf der nominalen Konstituente zu finden, an die der Intensifikator rechts adjungiert wird. Durch diese Fokussiemng werden Alternativen ins Spiel gebracht, in (15a) z. B. die Leute, die uns sonst in Vertretung empfangen könnten. Was durch den Intensifikator selbst geschieht, ist eine Charakterisiemng des gegebenen Werts als zentral und eine Charakterisierung der ins Spiel gebrachten Alternativen als peripher. Mit anderen Worten, durch einen adnominalen Intensifikator werden einem als Zentrum charakterisierten Wert X eine Peripherie Y von Alternativen zugeordnet (s. nebenstehende Graphik). Wie Baker (1995) gezeigt hat, kann sich eine Strukturierung nach Zentrum und Peripherie in unterschiedlicher Weise manifestieren. Wie im Beispiel (15a) kann eine Person aufgmnd von hierarchischen Verhältnissen zentral sein (vgl. (16a)). Eine solche zentrale Stellung in einer Gruppe kann auch zeitlich begrenzt und situationsspezifisch gegeben sein. In der Situation eines chirurgischen Eingriffs ist der Patient zentral (16b), nicht aber über diese spezifische Situation hinaus. Zentralität kann sich weiterhin über einen perspektivischen Zugriff ergeben. Wenn Eva über ihre Beziehung zu Adam als Adams Frau identifiziert wird, ist Adam das Zentrum in dem hier diskutierten Sinne. Eine Umkehrung des Verhältnisses von Zentrum und Peripherie ergibt sich dann, wenn auf Adam durch den Ausdruck Evas Mann referiert wird (vgl. (16c)). Schließlich kann eine Person zentral in dem Sinne sein, daß sie das

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Wahrnehmungszentrum bildet, von dem aus eine Situation präsentiert wird (vgl. (16d)). Die folgenden Beispielsätze illustrieren die vier ge-nannten Fälle: (16a) Dies ist eine Angelegenheit für den Kanzler selbst. (16b) Während der gesamten Vorbereitung des Eingriffs blieb der Patient

selbst erstaunlich ruhig. (16c) Adams Frau und Adam selbst wurden aus dem Paradies vertrieben./

Evas Mann und Eva selbst... (16d) Oskar wunderte sich, daß ihn alle so anstarrten. Er selbst hatte sich

nichts vorzuwerfen.

Für die kategoriale Einordnung von eigen zusammen mit selbst in die Gmppe der Intensifikatoren oder Emphatika sprechen eine ganze Reihe von Gründen. Die für selbst nötige Unterscheidung zwischen einer adnominalen und zwei adverbialen Verwendungen hat bezüglich der semantischen Eigenschaften dieser Verwendungen eine klare Parallele in den Gebrauchsweisen von eigen, wie die folgenden Para-phrasemöglichkeiten verdeutlichen:

(17a) Um es mit Einsteins eigenen Worten zu formulieren. - Um es mit Einstein selbst zu formulieren, (adnominal)

(17b) Wir haben unsere eigene Kirche. - Wir haben selbst eine Kirche. (adverbial, inklusiv)

(17c) Ich backe mein eigenes Brot. - Ich backe mein Brot selbst. (adverbial, exklusiv)

Wenn wir uns wiederum auf die adnominale Verwendung von selbst beschränken, dann lassen sich für die durch (16) illustrierten verschie-denen Möglichkeiten der Strukturierung einer Menge nach Zentrum und Peripherie klare Parallelen in Sätzen mit eigen finden: (18a) Mit Einsteins eigenen Worten, (hoher Rang) (18b) Wir hatten vom Tode des Vaters von Karl gehört, aber die Nachricht von

seinem eigenen Tod erreichte uns nur zwei Wochen später. (Zentrum für Identifikation anderer)

Ebenso wie selbst in Fällen überraschender Koreferenz zwischen Subjekt und Objekt, d. h. emphatischer Reflexivität, an ein Reflexiv-pronomen adjungiert wird, wird in analogen Fällen eigen mit Posses-sivpronomina verbunden. Ohne dieses emphatische Adjektiv würde in den folgenden Beispielen das Possessivpronomen nicht als koreferent mit dem Subjekt interpretiert werden:

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(19a) Karl trainiert sich selbst. - Karl ist sein eigener Trainer. (19b) Am meisten lacht er über sich selbst. - Am meisten lacht er über seine

eigenen Witze.

Die genannten Argumente, denen weitere hinzugefügt werden könnten, zeigen, daß eigen als attributives bzw. possessives Gegen-stück zu selbst aufgefaßt werden kann, d. h. als „possessiver Intensifi-kator". Nun stellt sich allerdings noch die Frage, wie bei possessiven Intensifikatoren die Strukturierung einer Menge nach Zentmm und Peripherie erfolgt. Eine mögliche Erweitemng der o. g. Analyse für adnominales selbst auf eigen wäre die Auffassung, daß im Falle von possessiven Intensifikatoren Mengen von Possessoren strukturiert werden. Dem durch eine Genitivphrase oder durch ein Possessivpro-nomen bezeichneten Possessor werden alternative Possessoren gegen-übergestellt, also andere Physiker als Einstein im Falle von (18a) und andere Verstorbene als Karl in (18b). Im zuletzt genannten Fall wird ja mit Karls Vater auch solch ein alternativer Possessor im Kontext gege-ben. Possessor ist wie bei der Analyse der Bedeutung des Kasus Geni-tiv und bei Possessivpronomina allgemein natürlich sehr weit zu ver-stehen und nicht auf materiellen Besitz beschränkt. Ein Satz wie (18a) wäre dann in etwa durch selbst folgendermaßen zu paraphrasieren:

(20) Mit den Worten von Einstein selbst...

Nun wird aber bei eigen offensichtlich nicht nur und vielleicht auch nicht einmal primär eine Menge von Alternativen zum genannten Possessor ins Spiel gebracht und mit dem genannten Wert in ein Verhältnis von Zentmm und Peripherie gebracht. Einstein ist sicher-lich im Falle von Beispielen wie (18) gegenüber anderen Physikern zentral aufgrund seines Ranges. Gleichzeitig werden aber bei eigen auch immer die Possessa, die den einzelnen Possessoren zugeordnet werden können, d. h. die Formulierungen all dieser Physiker struktu-riert, wobei natürlich die Formulierung des ranghöchsten Autors zentral ist. In vielen Fällen scheint sogar die Strukturierung von Possessa und nicht von Possessoren wesentlich zu sein, denn im folgenden Beispiel ist kein Grund für die Zentralität von Karl gegenüber anderen Autofahrern erkennbar:

(21) Am liebsten fährt Karl mit seinem eigenen Auto.

Identität und Alterität 121

Dagegen lassen sich die Autos nach Zentmm und Peripherie gemäß ihrem Verhältnis zum genannten Possessor ordnen: Zentral für einen Possessor ist das Objekt, zu dem er in einem Besitzverhältnis steht.

Damit ist in großen Zügen die Bedeutung eines Lexems analysiert, zu dem fremd in einem kontradiktorischen (komplementären) Opposi-tionsverhältnis steht. Wie bereits erwähnt, kann man die Bedeutung von fremd in ihrer Beziehung zu der von eigen wie folgt beschreiben: attributives fremd bezeichnet die Teilmenge an Entitäten, die von seinem Bezugswort bezeichnet werden können, die in keinem Besitz-verhältnis zu einem im jeweiligen Satz genannten Possessor stehen. Auch hier finden wir die mengentheoretische Operation der Komple-mentbildung: Es ist die Teilmenge der potentiellen Possessiva, die nicht im Besitz einer genannten Person sind, die ausgewählt werden.5

In der eben beschriebenen attributiven Verwendung von fremd kann neben dem erwähnten Oppositionsverhältnis zu eigen auch noch die im WDG als 3. Lesart aufgeführte Bedeutung 'nicht bekannt, nicht vertraut, neu, ungewohnt' präsent sein. Sehr häufig fehlt jedoch diese Komponente. Fremde Kinder, auf die ich aufpasse, können mir sehr wohl bekannt und vertraut sein und wenn jemand fremd geht, ist die zweite Person keine Unbekannte für ihn bzw. sie.

6. Komposita

Mit Hilfe der bisher entwickelten Analyse von fremd sowie einiger zusätzlicher Annahmen lassen sich auch die Vorkommen dieses Ausdrucks in Komposita wie Fremdwort, Fremdkapital, Fremd-leistung, etc. erklären. Hilfreich für eine adäquate Analyse ist weiterhin die Einbeziehung der auf selbst und eigen basierenden Komposita (z. B. Selbstverwaltung, Eigenbedarf). Ausgliedern kann man gleich zu Beginn der Diskussion die mit dem Plural Fremden gebildeten Komposita, wie z. B. Fremdenführer, Fremdenlegion,

5 Daß sich die eben beschriebene Komplementarität in der Bedeutung von fremd und eigen nicht in einer völlig parallelen Syntax dokumentiert, hat u. a. seinen Grund darin, daß es sich bei dem Eigenen immer um eine bestimmte Menge handelt, die im Rahmen eines frames oder Scripts auch immer gegeben ist und somit durch den bestimmten Artikel bzw. das weitgehend in den Sprachen der Welt alternativ gebrauchte Possessivpronomen beschreib-bar ist, während die Komplementärmenge nicht in dieser Weise begrenzt oder bestimmt ist. Im Englischen ist own nur mit einem Possessivpronomen kombinierbar: ein eigenes Heim - a house ofyour own.

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Fremdenzimmer, da für das Verständnis dieser Ausdrücke hauptsäch-lich die Bedeutung des Substantivs Fremden geklärt sein muß. Wie in Abschnitt 3 „Komplementbildung" gezeigt wurde, ist der Fremde jemand, der sich an einem Ort befindet, mit dem er nicht prototy-pischerweise assoziiert ist. Ein Fremdenzimmer ist somit ein Zimmer für nicht Ortsansässige, eine Fremdenlegion eine Legion, die aus ausländischen Soldaten rekrutiert wird, etc. Die genaue Beziehung zwischen Modifikator und Modifikatum ist wie bei allen Nominal-komposita relativ unbestimmt und kann von Fall zu Fall variieren, d. h. unterschiedlich lexikalisiert sein. In allen Beispielen ist Fremden jedoch der modifizierende Bestandteil.6

Interessanter sind diejenigen Fälle, bei denen gewisse stereotype Zugehörigkeitsverhältnisse des Modifikatums mit ins Spiel kommen. So kann man z. B. bei Bluttransfusionen davon ausgehen, daß der Blutempfänger das Blut von einem Spender erhält. Die Bildung eines Kompositums wie Fremdblut erscheint deshalb auf den ersten Blick unnatürlich, obwohl solche Belege in authentischen Texten zu finden sind. Im Gegensatz dazu ist es in diesem Zusammenhang vollkommen plausibel, von Eigenblut zu sprechen, denn eine solche Art von Blut-transfusion stellt gemäß unserem Weltwissen den markierten Fall dar. An diesem Beispiel wird auch ersichtlich, warum die Ausdrücke eigen und selbst so wichtig für die Diskussion sind. Mit eigen wird die Komplementmenge zu fremden Entitäten gebildet und umgekehrt. Die Summe aus Eigen- und Fremdblut, um im gegenwärtigen Beispiel zu bleiben, ergibt sozusagen die Gesamtblutmenge und innerhalb eines solchen Kontexts wird ein Kompositum wie Fremdblut auch ver-ständlich. Im Gegensatz zu Fremdblut ist das Tragen von fremden Organen (nach einer Transplantation) als der markierte Fall zu be-trachten, weswegen Prägungen wie Fremdorgane, Fremdleber, Fremdniere (vgl. Spenderniere), etc. unmittelbar plausibel erscheinen, nicht jedoch die entsprechenden Komposita mit eigen: * Eigenleber, etc. Der von diesen Spezialfällen abstrahierte allgemeinste Fall wird durch Fremdkörper (*Eigenkörper) bezeichnet.

Asymmetrien (d. h. Markiertheitsmuster) lassen sich auch und besonders bei solchen Nominalen beobachten, die Vorgänge bezeich-nen, semantisch also Verben nahestehen. Dabei erscheint es wiederum

6 Das folgt aus der Tatsache, daß Komposita im Deutschen kopffinal sind.

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angebracht, mit den Nominalen zu beginnen, die für Komposita-bildung mit fremd nicht geeignet sind. Schließlich kann es kein Zufall sein, daß verschiedene Lexeme systematisch Komposita mit fremd ausschließen, mit eigen jedoch erlauben: *Fremdkritik - Eigenkritik, * Fremdliebe - Eigenliebe, * Fremdhaß - Eigenhaß, * Fremdangriff -Eigenangriff, *Fremdhilfe - Eigenhilfe, etc. Die semantische Kompo-nente, die Nominale wie Kritik, Liebe, etc. gemeinsam haben, ist, daß sie Handlungen bezeichnen, die vom Ausgangspunkt der Handlung (Agens) weggerichtet sind. Kritisieren, lieben, etc. tun wir gewöhnlich andere Menschen und nicht uns selbst. Aus der entgegengesetzten Perspektive betrachtet heißt das, daß Kritik, Liebe, etc. im stereotypen Fall von außen kommt, d. h. man wird kritisiert, geliebt, etc. Aufgrund der Eigenschaft, von außen zu kommen, ist nun unmittelbar ersicht-lich, warum die Kompositabildung mit fremd blockiert wird. Kompo-sita mit eigen sind dagegen ohne weiteres möglich, wobei man eigen in diesen Fällen als Reflexivierungsstrategie für Nominale betrachten kann. Schließlich heißt Eigenliebe nichts anderes, als daß jemand sich selbst liebt. Im Zusammenhang mit Reflexivierung kann man eine interessante Parallele im verbalen Bereich beobachten: Für die Kenn-zeichnung von atypischen reflexiven Relationen spielt ein Ausdruck eine große Rolle, der eigen (und damit auch fremd) semantisch sehr nahe steht, nämlich selbst. Im Zusammenhang mit einem Verb wie waschen ist das Reflexivpronomen sich zur Kennzeichnung der Rück-bezüglichkeit völlig ausreichend. Bei einem stark nach außen gerichteten Verb wie betrügen ist dagegen der Zusatz von selbst sehr wahrscheinlich, obwohl dieser Kontrast im Deutschen nicht gramma-tikalisiert (d. h. obligatorisch) ist.

(22a) Paul wäscht sich. (22b) Paul betrügt sich selbst.

In den skandinavischen Sprachen (vgl. das schwedische Beispiel in (23)) ist das entsprechende Gegenstück zu selbst in solchen Kontexten dagegen obligatorisch:

(23a) Han angrep sig själv/*sig. 'Er griff sich an.' (23b) Hanforsvaradesig(sjäh). 'Er verteidigte sich.'

Wichtig ist in diesem Zusammenhang, sich über die semantische Nähe oder sogar Äquivalenz von eigen und selbst im klaren zu sein (vgl.

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Abschnitt 5. „Opposition zu eigen"). Im Bereich der Nominale kann man selbst und eigen als alternative Reflexivierungsstrategien auf-fassen: Selbstkritik, Selbstherrschaft, Selbstvertrauen, etc. Obwohl es relativ kompliziert ist, die genaue Verteilung von selbst und eigen in diesem Bereich zu erklären, scheint es eine gewisse Tendenz zu geben, eigen nicht mit deverbalen Nomina zu verwenden.

Die Außengerichtetheit von lieben, hassen, etc. ist in starkem Maße durch unsere Einstellungen zu diesen Handlungen determiniert und fällt damit in den Bereich der Pragmatik. Dagegen kann man davon ausgehen, daß bei einem Verb wie, beeinflussen und dem davon abgeleiteten Nominal Einfluß die disjunktive Interpretation der beiden Argumente auf der Ebene der Semantik festgelegt ist. Wie die Beispiele in (24) zeigen, ist die reflexive Interpretation von Einfluß höchst unwahrscheinlich. Beide Sätze werden so verstanden, wie es der Zusatz auf andere explizit kennzeichnen würde.

(24a) Paul hat keinen Einfluß. (24b) Wir freuen uns über unseren großen Einfluß.

Das erklärt, wamm Komposita wie * Eigeneinfluß oder * Selbsteinfluß nicht lexikalisiert und kaum interpretierbar sind. Ganz ähnlich ver-halten sich auch einwirken I Einwirkung, anbieten I Anbieter, (beauf-tragen I Auftrag, etc. Entgegen unseren impliziten Voraussagen ist bei diesen Nominalen jedoch die Bildung von Komposita mit fremd durchaus möglich: Fremdeinfluß, Fremdeinwirkung, Fremdanbieter, Fremdauftrag. Sinnvoll sind diese Bildungen in Situationen, in denen diese Relationen etabliert sind und mit alternativen Relationen desselben Typs konkurrieren. So könnte man z. B. neben seiner haus-eigenen Dmckerei Fremdanbieter mit dem Dmck des Vorlesungsver-zeichnisses beauftragen.

Schließlich bleibt noch darauf hinzuweisen, daß es auch eine große Klasse von Nominalen gibt, die mit Hinblick auf Eigen- und Außen-gerichtetheit nicht spezifiziert sind. Wie man vermuten würde, sind von diesen Nominalen sowohl eigen- als auch /re/w^-Komposita bildbar: Fremdanteil - Eigenanteil, Fremdleistung ~ Eigenleistung, Fremdkapital - Eigenkapital, etc.

Die in Abschnitt 5. „Opposition zu eigen" beschriebene semantische Relation der kontradiktorischen Opposition zwischen fremd und eigen macht es sinnvoll, Komposita mit fremd- in Beziehung zu den

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entsprechenden Komposita mit eigen- zu setzen. Dabei fällt auf, daß es zwar in vielen Fällen Parallelen und die entsprechenden Opposi-tionen gibt (Fremd-1 Eigenkapital), aber auch deutliche Asymmetrien. Die vorausgegangenen Beobachtungen haben gezeigt, daß Weltwissen über stereotype Situationen von Identität und Alterität für diese Asym-metrien verantwortlich ist. Komposita mit eigen- I selbst- bezeichnen Entitäten oder Situationen, bei denen Identität von Agens und Patiens, Spender und Empfänger, etc. konventionell nicht besteht. Für Komposita mit fremd- gilt das Umgekehrte: Solche Komposita sind lexikalisiert, wenn die Identität den stereotypen Normalfall bildet.

7. Zusammenfassung

Die wesentlichen Komponenten der Bedeutung des Adjektivs fremd und verwandter Ausdrücke lassen sich u. E. somit als Komplement-bildung, Perspektivierung und Nicht-Possession umschreiben. Zu den zentralen Punkten der vorangegangenen Analyse gehört außerdem die Zurückweisung der Auffassung, fremd sei vielfach polysem. Die Bedeutung dieses Adjektivs läßt sich unserer Auffassung nach am ehesten als radiale Struktur darstellen, in der eine durch die o. g. Komponenten beschreibbare deskriptive Kernbedeutung in verschie-dener Weise (metonymisch) angereichert oder ausdifferenziert werden kann. Diese Kembedeutung läßt sich als Komplementbildung charak-terisieren, die von einer Basismenge ausgeht, die durch eine Art possessive Relation ('(an/zujgehören') in Bezug auf ein Orientie-mngszentmm bestimmt ist. Diese Kembedeutung, die wir auch bei Ausdrücken wie Ausländer und seinen Gegenstücken in anderen Sprachen finden,7 kann angereichert werden durch die Charakteri-sierung des Wissensstandes der Beobachter ('unvertraut', 'unge-wohnt', 'unbekannt', etc.), durch normative Urteile ('nicht dazu-gehörig', 'nicht passend') und durch affektive Einstellungen ('seltsam', 'ungewöhnlich'). Eine zusätzliche Variation ergibt sich noch durch die unterschiedlichen possessiven bzw. assoziativen Relationen, die zwischen Orientiemngszentmm und den als fremd

7 Manzelli (in diesem Band) zeigt, daß in den Finno-Ugrischen Sprachen das Wort für engl, foreigner mit folgenden Grundbegriffen verwandt ist: 'other', 'out(er)', 'edge', Tand', 'ethnic', 'newcomer'.

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bezeichneten Entitäten bestehen können. Insgesamt läßt sich unsere Analyse wie in der folgenden Übersicht zusammenfassen.8

Deskriptive Bedeutung Bildung des relativen Komplements A zu einer Basismenge A. die durch ein Onentierungszentrum B und eine possessive Relation G bestimmt wird (G 2 B gehört A an v A gehört B)

epistemische Haltung (unbekannt, ungewohnt, unvenraut)

affektive Haltung (seltsam, ungewöhnlich, erstaunlich)

normative Haltung (A gehört/paßt nicht zu B)

Bedeutungsstruktur von fremd

Bei dieser Stmktur handelt es sich u. E. nicht um einen Fall von Polysemie, sondern um eine generelle Bedeutung, bei der neben dem deskriptiven Kern alle oder einzelne Komponenten je nach Kontext profiliert bzw. aktiviert sein können. Für die Profilierung oder Akti-vierung einzelner Komponenten kann allein schon das Nomen relevant sein, mit dem fremd attributiv verknüpft wird. In der Verwendung von Ausdrücken wie Fremde, fremde Menschen, fremde Sitten können alle Komponenten präsent sein, bei fremder Schmuck, fremdes Auto oder fremde Kinder ist es unwahrscheinlicher, daß die affektive und die normative Haltung zum Ausdruck kommt. Daneben spielt der Rest des Satzes natürlich noch eine wesentliche Rolle. Wenn ich auf ein Angebot meines Freundes mit der Äußerung Ich fahre nicht gern mit fremden Autos reagiere, werden andere Komponenten profiliert sein als im Falle einer Äußemng wie Auf meinem Parkplatz stand ein fremdes Auto. Natürlich sind in anderen Sprachen andere lexikalische Differenzierungen zu finden. So werden z. B. it. straniero und engl. stranger hauptsächlich in der deskriptiven Bedeutung von fremd verwendet (für den Fall G = B gehört A an), während it. strano und engl, stränge vor allem der epistemischen und affektiven Bedeutung

8 Herrmanns (1996) spricht auch von „kognitiven", „affektiven" und „deonti-schen" Bedeutungskomponenten, ohne jedoch diese Komponenten klar zu charakterisieren. Zudem ist seine Annahme vielfacher Polysemie an mögli-chen Paraphrasen und unterschiedlichen Extensionen von A am konkreten Sprachgebrauch orientiert.

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von fremd entsprechen. Wenn somit aber die wesentlichen Aspekte der Bedeutung von

fremd (a) in der mengentheoretischen Operation der Komplementbil-dung, (b) in der Perspektiviemng von einem Orientiemngszentmm aus (die Komplementbildung erfolgt von einer perspektivisch gegebenen Basismenge) und (c) in einem Verhältnis der Nicht-Possession bzw. Nicht-Assoziation (es werden Entitäten ausgewählt, die nicht im Verhältnis des Besitzes oder der Zugehörigkeit zu einem Orientie-mngszentmm stehen), dann stellt sich natürlich die Frage, worin die politische Brisanz des Ausdrucks fremd und aller von diesem Adjektiv abgeleiteten Ausdrücke liegt. Welche Bedeutungskomponenten, Kon-notationen oder Assoziationen sind es, die uns veranlassen, Fremd-arbeiter durch Gastarbeiter zu ersetzen und Bezeichnungen wie Fremde für ausländische Gäste zu vermeiden?

Eine Quelle für die politische Inkorrektheit oder sogar Brisanz dieser Ausdrücke wird sicherlich durch die vierte der im WDG aufgeführten Lesarten von fremd angesprochen: 'nicht zu etwas/ jemandem passend', 'nicht in etwas gehörig'. In solch einer Umschrei-bung wird ein faktisches Verhältnis des Nicht-Angehörens in ein normatives Verhältnis des Nicht-Hingehörens, Nicht-Zusammen-passens reinterpretiert (B gehört nicht dieser Stadt an => B gehört nicht in diese Stadt). Wie Hermanns (1996) zeigt, ist diese Lesart sicherlich bei adjektivischen Komposita wie sachfremd, fachfremd, wesensfremd, zweckfremd, etc. eine dominante Lesart. Sie kann sich aber wohl auch als zusätzliche Implikation beim einfachen Adjektiv fremd und anderen davon abgeleiteten Lexemen einstellen. Ein wei-terer Grund für die politische Brisanz der o. g. Ausdrücke ist schließ-lich darin zu sehen, daß uns alles Neue, Unbekannte, Ungewohnte Angst und Besorgnis vermitteln kann und somit zu den bekannten Reaktionen Ablehnung und Vorurteil führen kann. In den Derivaten befremden, befremdlich und fremdeln wird das besonders deutlich.

Insgesamt werden durch die vorliegende Analyse sicherlich viele Probleme nicht gelöst. Wir hoffen jedoch, daß wir gegenüber Formu-lierungen wie „Fremdheit ist ein Interpretament von Andersheit" (Weinrich (1985), zitiert in Hermanns (1996)) und ähnlichen in der Literatur zur Begriffsexplikation des Fremden häufig anzutreffenden blumigen und vagen Formulierungen einen deutlichen Fortschritt erzielt haben.

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