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In welchem Sinn sind Herrschaftsbeziehungen objektiv und/oder abhängig von den Einstellungen der untergeordneten Akteure? Paper für den Workshop “Critical Theory and Social Ontology: Power”, Berlin 03.-04. Mai 2013 Von Dimitri Mader, Uni Jena Vortragsmanuskript. Nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Autors zitieren! Im Folgenden möchte ich einer Frage nachgehen, die mich in meiner Beschäftigung mit Macht und Herrschaft immer wieder verfolgt, nämlich ob oder inwiefern sich soziale Herrschaft als etwas bestimmen lässt, das sich objektiv, d.h. aus der sozialwissenschaftlichen Beobachterperspektive, ohne Bezug zu den subjektiven Erfahrungen, Wünschen und Wissen der untersuchten beherrschten Subjekte bestimmen lässt. 1 Oder ob wir, um überhaupt sagen zu können, hier liegt ein Herrschaftsverhältnis vor oder nicht, Bezug nehmen müssen auf die Subjektivität der Beherrschten. Um eine Analogie zu benutzen: Im ersten Fall wäre Herrschaft vergleichbar mit sozialer Ungleichheit. Die Ungleichheit der Vermögen und Einkommen etwa lässt sich objektiv erfassen, unabhängig davon ob die Betroffenen Wissen von der Ungleichheit haben, ob sie diese für legitim halten oder nicht und unabhängig davon, ob sie in ihrem Alltagsleben diese Ungleichheit irgendwie erfahren, z.B. darunter leiden. Im zweiten Fall wäre Herrschaft vergleichbar mit Resonanz, ein Konzept das Hartmut Rosa verwendet um eine bestimmte Qualität der subjektiven Weltbeziehung zu charakterisieren: ob Menschen unter bestimmten sozialen Bedingungen resonante Weltbeziehungen haben (d.h. die Welt als „antwortend“ erfahren, sich in ihr wieder finden), lässt sich nur durch Rekurs auf die subjektive Erfahrung ermitteln, und damit auch nicht als eine (rein) objektive soziale Relation analysieren. Ich verstehe diese Frage nach der Objektivität von Herrschaft hier nicht als Problem sozialwissenschaftlicher Methodologie und auch nicht der bloßen Begriffsanalyse, sondern als eins das mit dem Gegenstand selbst zu tun hat. Die Frage, was wir über soziale Beziehungen und Subjekte wissen müssen, um von Herrschaft sprechen zu können, hängt davon ab, was Herrschaft ist: welche Aspekte oder Teilphänomene gehören zum Phänomen „Herrschaft“? Ich werde zu zeigen versuchen, dass in die Analyse von Herrschaft sowohl objektive als auch subjektive Elemente eingehen müssen. Zu klären ist, an welchen Stellen genau die Subjektivität der Akteure eine Rolle spielt. Macht-über: eine scheinbar objektiv bestimmbare soziale Beziehung In der Debatte um den Herrschaftsbegriff besteht größtenteils Einigkeit darüber, dass Herrschaft als Sonderfall von Macht, genauer von Macht-über, zu begreifen ist. (vgl. 1 Vgl. zur Unterscheidung von Akteurs- und Beobachterperspektive im Kontext der Diskussion um Macht: Strecker (2012). 1

In welchem Sinn sind Herrschaftsbeziehungen objektiv und/oder abhängig von den Einstellungen der untergeordneten Akteure?

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In welchem Sinn sind Herrschaftsbeziehungen objektiv und/oder abhängig von den Einstellungen der untergeordneten Akteure?

Paper für den Workshop “Critical Theory and Social Ontology: Power”, Berlin 03.-04. Mai 2013

Von Dimitri Mader, Uni Jena

Vortragsmanuskript. Nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Autors zitieren!

Im Folgenden möchte ich einer Frage nachgehen, die mich in meiner Beschäftigung mit Macht und Herrschaft immer wieder verfolgt, nämlich ob oder inwiefern sich soziale Herrschaft als etwas bestimmen lässt, das sich objektiv, d.h. aus der sozialwissenschaftlichen Beobachterperspektive, ohne Bezug zu den subjektiven Erfahrungen, Wünschen und Wissen der untersuchten beherrschten Subjekte bestimmen lässt.1 Oder ob wir, um überhaupt sagen zu können, hier liegt ein Herrschaftsverhältnis vor oder nicht, Bezug nehmen müssen auf die Subjektivität der Beherrschten. Um eine Analogie zu benutzen: Im ersten Fall wäre Herrschaft vergleichbar mit sozialer Ungleichheit. Die Ungleichheit der Vermögen und Einkommen etwa lässt sich objektiv erfassen, unabhängig davon ob die Betroffenen Wissen von der Ungleichheit haben, ob sie diese für legitim halten oder nicht und unabhängig davon, ob sie in ihrem Alltagsleben diese Ungleichheit irgendwie erfahren, z.B. darunter leiden. Im zweiten Fall wäre Herrschaft vergleichbar mit Resonanz, ein Konzept das Hartmut Rosa verwendet um eine bestimmte Qualität der subjektiven Weltbeziehung zu charakterisieren: ob Menschen unter bestimmten sozialen Bedingungen resonante Weltbeziehungen haben (d.h. die Welt als „antwortend“ erfahren, sich in ihr wieder finden), lässt sich nur durch Rekurs auf die subjektive Erfahrung ermitteln, und damit auch nicht als eine (rein) objektive soziale Relation analysieren.

Ich verstehe diese Frage nach der Objektivität von Herrschaft hier nicht als Problem sozialwissenschaftlicher Methodologie und auch nicht der bloßen Begriffsanalyse, sondern als eins das mit dem Gegenstand selbst zu tun hat. Die Frage, was wir über soziale Beziehungen und Subjekte wissen müssen, um von Herrschaft sprechen zu können, hängt davon ab, was Herrschaft ist: welche Aspekte oder Teilphänomene gehören zum Phänomen „Herrschaft“? Ich werde zu zeigen versuchen, dass in die Analyse von Herrschaft sowohl objektive als auch subjektive Elemente eingehen müssen. Zu klären ist, an welchen Stellen genau die Subjektivität der Akteure eine Rolle spielt.

Macht-über: eine scheinbar objektiv bestimmbare soziale Beziehung

In der Debatte um den Herrschaftsbegriff besteht größtenteils Einigkeit darüber, dass Herrschaft als Sonderfall von Macht, genauer von Macht-über, zu begreifen ist. (vgl.

1 Vgl. zur Unterscheidung von Akteurs- und Beobachterperspektive im Kontext der Diskussion um Macht: Strecker

(2012).

1

u.a. Weber (1985), Wartenberg (1990), Lovett (2010), Schuck (2012)). Der Minimalkonsens (von dem auch ich im Folgenden erstmal ausgehen werde) ist, Herrschaft als verstetigte oder dauerhafte Macht von Menschen über andere Menschen zu fassen. Davon ausgehend wird kontrovers diskutiert, anhand welcher weiterer Kriterien genau sich Herrschaft von Macht-über abgrenzen lässt. Vorgeschlagen wird z.B., dass Herrschaft nur diejenige Macht bezeichnet, die sich gegen die objektiven Interessen der Beherrschten richtet (Lukes), die zum Schaden der Beherrschten ist (Wartenberg, Allen), oder die Willkürlichkeit auf Seiten der Herrschenden beinhaltet (Lovett).2 Dabei scheint mir das darunter liegende Problem nicht wirklich aufgeklärt, nämlich wie sich überhaupt von Macht-über sprechen lässt.

Macht-über ist ein interessantes Konzept, weil es im Gegensatz zu einer quantitativen Perspektive auf Macht, die sich auf die ungleiche Verteilung von Handlungsmacht (bzw. Macht-zu) in der Gesellschaft fokussiert, eine Qualität der Beziehung zwischen Menschen beschreibt: Sie fragt danach, ob soziale Beziehungen ein Verhältnis der Unter- und Überordnung konstituieren bzw. eines der Reziprozität oder, vom einzelnen Subjekt aus gedacht, ob es in seiner Beziehung zu Anderen fremdbestimmt ist oder nicht. Dieser Vorteil führt aber – anscheinend zwangsläufig – einen Nachteil mit sich: Eine ungleiche Verteilung von Handlungsmacht lässt sich „objektivistisch“ bestimmen, weil es hier um quantitative Größenrelationen geht. Das Hauptproblem besteht dabei darin, das zu relationierende „Gut“ irgendwie zu operationalisieren. Sobald wir festgelegt haben, was wir unter Handlungsmacht subsumieren wollen (z.B. ökonomische, soziale, inkorporierte Machtressourcen), können wir deren quantitative Verteilung objektiv bestimmen (A hat soundso viel mehr Einkommen/soziale Kontakte/Bildung als B). Bei Macht-über ist die Möglichkeit einer solchen objektiven Betrachtung aber viel weniger klar.

Das Problem wird sichtbar, sobald man versucht anzugeben, was es denn genau heißt, dass ein Akteur Macht über einen anderen Akteur hat. Als Ausgangspunkt möchte ich die Definition von Thomas Wartenberg, bzw. die sehr ähnliche von Amy Allen heranziehen, die ich im Wesentlichen für tragfähig halte: Wartenberg definiert Macht-über folgendermaßen: „A social agent A has power over another social agent B if and only if A strategically constrains B’s action environment.“ (Wartenberg 1990, 85). Weil Allen auf Seiten der herrschenden Akteure keine bewusste Strategie voraussetzen und zudem dem dispositionalen Charakter von Macht Rechnung tragen will, wandelt sie diese Definition leicht ab: “I shall define power-over as the ability of an actor or set of actors to constrain the choices of others in a nontrivial way.” (Allen 1999, 123)3. Wichtig ist mir hier, dass beide Autor_innen Macht-über als (Vermögen zur) Einschränkung des Handlungsraumes eines anderen Akteurs bestimmen. Handlungsraum (oder action environment bei Wartenberg) meint hier das Set an möglichen Handlungsstrategien die einem Akteur in einer sozialen Situation offen stehen. Das umfasst sowohl die tatsächlich möglichen Handlungsalternativen, als auch die vom Akteur überhaupt als echte Handlungsalternativen wahrgenommenen Optionen. Macht-über liegt somit dann vor, wenn ein Akteur in der Lage ist, die

2 Vgl. zum Überblick Koch (2009) und Schuck (2012)

3 Dass Macht nicht auf Ausübung von Macht verkürzt werden darf, sondern als Disposition zu verstehen ist, hat zuletzt

Hartwig Schuck (2012) sehr präzise Herausgearbeitet.

2

tatsächlich möglichen Handlungsoptionen eines anderen (Sanktionsmacht) oder dessen Wahrnehmung und Bewertung möglicher Optionen (Manipulation, Autorität) einzuschränken. Oder etwas paraphrasiert: A hat Verfügung über den Handlungsraum von B.

Auf den ersten Blick scheint eine akteursunabhängige Bestimmung von Macht-über möglich, wobei ich mit akteursunabhängig hier meine: unabhängig von der Kenntnis der subjektiven Einstellungen des untergeordneten Akteurs. Ob A das Vermögen hat, B‘s mögliche Handlungsoptionen einzuschränken, scheint nicht davon ab zu hängen, was B denkt, fühlt oder will: ob er sich freiwillig A unterordnet oder widerwillig, oder was auch immer er sich dabei denkt, es ändert daran nichts, dass A objektiv das Vermögen hat, über bestimmte potenzielle Handlungsoptionen zu verfügen. Z.B. hat der Staat objektiv die Macht, die Handlungsstrategie „ein ruhiges Leben mit gutem Auskommen basierend auf Banküberfällen“ zu blockieren. Aufgrund der Macht des Staates gibt es diese Handlungsoption objektiv einfach nicht.

Entscheidend ist hier, dass A tatsächlich Macht hat, d.h. einerseits über subjektinterne (oder bei Kollektivakteuren organisationsinterne) Machtressourcen verfügt (bestimmte vom Akteur nicht trennbare Fähigkeiten) und andererseits eine machtvolle soziale Position besetzt, so dass andere periphäre Akteure seine Macht anerkennen. Dadurch werden seine Drohungen (und Anreize) gegenüber B glaubwürdig. Ob A also ein bestimmtes Vermögen hat, über Dinge und andere Menschen zu verfügen, ist aus der Sicht von B tatsächlich objektiv. Damit ist aber noch nicht gesagt, ob sich diese Macht auch 1. auf B’s Handlungsraum erstreckt und 2. eine mögliche Einschränkung dessen darstellt.

Zu 1.: Wann bezieht sich Macht auf den Handlungsraum?

A’s Macht muss sich auf Handlungsoptionen beziehen, die für B relevant sind. Wenn A’s Macht sich nur auf Dinge/Menschen erstreckt, die für B nicht relevant sind, hat A keine Macht über B.4

Drei Beispiele um das zu verdeutlichen:

a) Ein Monopol über Gut x verleiht A keine Macht über B, wenn B gar kein Interesse an Gut x hat (z.B. ein Monopol über Zigaretten, wenn B Nichtraucherin ist)

b) Die (glaubwürdige) Androhung einer Sanktion, die für B weder als Strafe noch als Anreiz wirkt (z.B. die Drohung einer Lehrerin mit schlechten Noten, wenn diese für den Schüler völlig irrelevant ist, weil er davon ausgeht, dass ein Schulabschluss keinerlei Verbesserung seiner Lage darstellt)

c) Die Verfügung über Methoden zur Beeinflussung der Kaufentscheidung von Konsumgütern, wenn B eine „postmateriellen“ Selbstidentität hat (z.B. Marketingstrategie eines Automobilkonzerns, die suggeriert, dass seine Autos unabdingbar für einen bestimmten sozialen Status sind, wenn in B’s Lebensentwurf Statusgüter keine Relevanz haben.)

4 Diesen Punkt hat auch Heiner Koch in seiner Magisterarbeit präzise herausgearbeitet (Koch 2009).

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Wann ist A‘s Vermögen zur Verfügung über Handlungsoptionen für B relevant? Das hängt natürlich von B ab. In Anlehnung an Margaret Archer würde ich sagen, Macht wirkt nur in Relation zu bestimmten subjektiven „concerns“ (Archer 2003, 135)

Im Falle von Sanktionsmacht oder „äußerer Macht“ in Relation zu B’s spezifischen körperlichen und psychischen Verletzbarkeiten und Bedürftigkeiten5 und im Falle von „innerer Macht“ in Relation zu seinen spezifischen subjektiven „Formbarkeiten“, die sich aus seinen unbewussten Dispositionen und expliziten Wertvorstellungen ergeben.

Um ein Bild von Thomas Wartenberg zu verwenden (vgl. Wartenberg 1990, 71-75): Man kann sich A’s Macht in Analogie zum Kraftfeld eines Magneten vorstellen. Innerhalb der Reichweite des Kraftfeldes werden alle magnetischen Teile angezogen. Ob aber ein bestimmtes Teil x angezogen wird oder nicht, hängt davon ab, ob x ferromagnetisch oder unmagnetisch ist. Ebenso ist die Existenz, Ausdehnung und Kraft von A’s Macht aus Sicht von B objektiv und hängt nicht davon ab, was B denkt oder will. Aber ob das Feld Macht über B hat, hängt von B’s Beschaffenheit ab, von seinen subjektiven (bewussten wie unbewussten) Wünschen und Ängsten.

Ist damit die Existenz von Mach-über aus Sicht der untergeordneten Akteure subjektiv? Das hängt davon ab, wie man „subjektiv“ hier versteht. Die Antwort ist ja, wenn subjektiv bedeutet, es kommt auf die Beschaffenheit der untergeordneten Subjekte an. Sie ist nein, wenn subjektiv bedeutet, dass die Akteure bewusst und freiwillig darüber entscheiden können: A hat in dem Maße objektiv Macht über B, in dem B keine willkürliche Verfügung über seine subjektiven Verletzbarkeiten, Bedürftigkeiten und Formbarkeiten hat. Der „Hebel“ an dem Macht-über ansetzt und aus dem sie ihre Härte und Objektivität bezieht, ist das subjektiv Unverfügbare der unterworfenen Akteure. Weil B es sich nicht aussuchen kann, ob sie essen muss, ob sie soziale Anerkennung braucht, ob ihr Geschlecht oder auch ihr beruflicher Status konstitutiv für ihre Identität ist usw., kann sie es sich nicht aussuchen, ob andere Akteure Macht über sie haben und erfährt diese Macht daher als objektiv.

Zu 2.: Wann wird Macht zu einer Einschränkung bzw. zu einer Verfügung über den Handlungsraum?

Das genügt aber noch nicht um Macht als Macht-über zu bestimmen. Wenn man Macht-über als das Vermögen zur Einschränkung des Handlungsraumes fassen

5 Vgl. hierzu auch Popitz 2009

4

Power-„field“ over action-alternatives in relation to the concern „smoking“ smoker Part-time smoker non-smoker

möchte, was ich für sinnvoll halte, dann muss noch geklärt werden, was hier Einschränkung bedeutet. Nicht jede relevante Beeinflussung von B’s Handlungsraum ist eine Einschränkung. Beeinflussungen können auch ermöglichenden Charakter haben. Hier scheint ein weiteres „Einfallstor“ für die Subjektivität der untergeordneten Akteure zu sein. Hängt das Vorhandensein von Macht-über möglicherweise davon ab, ob B die Macht als einschränkend erfährt? Was ist wenn a) B so beschaffen ist, dass seine Bedürfnisse und Wünsche komplett mit den von A vorgegebenen Handlungsoptionen übereinstimmen oder wenn b) seine Bedürfnisse und Wünsche erst durch die Macht von A entstehen? In beiden Fällen würde er A‘s Macht überhaupt nicht subjektiv als Einschränkung erfahren. Mit welchem Recht kann man dann noch von einer Einschränkung des Handlungsraums sprechen?

Können wir die Einschränkung nicht einfach aus der Definition von Macht-über rausnehmen? Ich denke nein, aber der Versuch ist instruktiv. Einen Ansatz, der das versucht, liefert Foucault in seiner Bestimmung von Macht in „Die Macht und das Subjekt“: Macht ganz allgemein wird von Foucault bestimmt als „eine Form handelnder Einwirkung auf andere.“ Oder „Eine handelnde Einwirkung auf Handeln, auf mögliches oder tatsächliches, zukünftiges oder gegenwärtiges Handeln.“ (Foucault 2005, 285). Sehen wir von Foucaults aktualistischer Verkürzung des Machtbegriffs ab und fügen hinzu, dass Macht sich nicht auf eine tatsächliche Einwirkung beschränkt, sondern ein Vermögen zur Einwirkung darstellt, dann wäre Macht hier ein Vermögen, Wirkungen auf anderes Handeln ausüben zu können oder ein Vermögen andere in ihren Handlungen beeinflussen zu können. Nun ist diese Definition von Macht so weit gefasst, dass sie koextensiv mit sozialem Handeln überhaupt ist: Menschen beeinflussen ständig das Handeln anderer. Wann wird dieses Vermögen zur Beeinflussung zu Macht-über? Im Sinne Foucaults kann man sagen, Macht-über (bzw. Herrschaft, wenn die Macht-über dauerhaft ist) liegt dann vor, wenn das Vermögen zur Verhaltenseinwirkung zwischen zwei Akteuren asymmetrisch verteilt ist.6 Eine „Foucaultsche“ Definition von Macht-über würde dann folgerndermaßen lauten:

A hat Macht über B, wenn A die für B relevanten Handlungen mehr beeinflussen kann, als B die von A

Was ist nun das Problem an einer solchen Bestimmung von Macht-über? Das Problem ist, dass diese Definition zu weit gefasst ist und nicht die Arten von Macht herausfiltert, die gemeinhin als Macht-über verstanden werden. Sie unterscheidet nicht zwischen Fällen, in denen eine Beeinflussung auch gegen den Willen oder die Urteilsfähigkeit eines Akteurs durchgesetzt werden kann und solchen, in denen eine Beeinflussung nur mit Zustimmung oder durch eigene Urteilskraft eines Akteurs möglich ist. In den Worten von Steven Lukes: „To speak of power as domination is to suggest the imposition of some significant constraint upon an agent or agent's desires, purposes or interests, which it frustrates, prevents from fulfillment or even

6 In einem späten Interview unterscheidet Foucault Macht im allgemeinen Sinn von Herrschaft: „Mir scheint, dass man unterscheiden muss auf der einen Seite zwischen Machtbeziehungen als strategischen Spielen zwischen Freiheiten, also Spielen, in denen die einen das Verhalten der anderen zu bestimmen versuchen, worauf die anderen mit dem Versuch antworten, sich darin nicht bestimmen zu lassen oder ihrerseits versuchen, das Verhalten der anderen zu bestimmen, und auf der anderen Seite Herrschaftszuständen […]“ (Foucault 2005, 900). Herrschaft existiert, wo die „Machtbeziehungen derart verfestigt [sind], dass sie auf Dauer asymmetrisch sind und der Spielraum der Freiheit äußerst beschränkt ist“ (Ebd., 891). Interessant ist hier, dass Foucault selbst von einer Beschränkung des Freiheitsspielraumes spricht. Diese Intuition hat er allerdings nicht mehr ausgearbeitet. Das ändert auch nichts daran, dass viele, die sich auf Foucault berufen, Herrschaft einfach als verfestigte asymmetrische Machtbeziehungen fassen.

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from being formulated. Power in this sense, thus marks a distinction between an imposition, thus understood, and other influences.“ (Lukes 2005, 113) Es ist genau dieser Unterschied zwischen imposition und other influences, den die an Foucault angelehnte Definition nicht fassen kann.

Zur Verdeutlichung drei Beispiele, bei denen zwar eine asymmetrische Verteilung der Macht zur Verhaltensbeeinflussung, aber kein Macht-über-Verhältnis vorliegt:

a) Die Versorgung mit Informationen durch eine Zeitung (die Zeitung kann mich mehr beeinflussen, als ich die Zeitung)

b) Beeinflussung durch bessere Argumente

c) Autoritätsverhältnis das auf Freiwilligkeit beruht

In allen drei Fällen kann A B mehr beeinflussen als umgekehrt, in allen drei Fällen ist die Beeinflussung relevant für B. Dennoch liegt kein (zumindest nicht notwendig) Macht-über-verhältnis vor. Warum?

Einschränkung der äußeren Selbstbestimmungsfähigkeit

Im dritten Beispiel, dem freiwilligen Autoritätsverhältnis, lässt sich das am einfachsten zeigen: Nehmen wir an es handelt sich um eine arbeitsteilige Organisation, die ihre Arbeitsteilung durch autoritative Weisungsbefugnis organisiert. Z.B. gibt es in einem Bereich eine Expertin A, die Aufgaben autoritätiv an B delegiert, wobei das Verhältnis nicht reziprok ist. Worauf auch immer diese Autorität beruht (Vorsprung in Kompetenz oder Satzung durch die Organisation), A hat dann keine Macht über B, wenn B jederzeit (ohne Schaden zu nehmen) die Möglichkeit hätte nein zu sagen. Hier gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten: B könnte die Organisation verlassen und in eine andere wechseln, oder B könnte die Regeln der Organisation verändern, bzw. durch gleichberechtigte Mitsprache signifikanten Einfluss auf diese Regeln nehmen und z.B. eine andere Arbeitsteilung einfordern. Andersherum formuliert: A hat Macht über B, wenn die relevante Asymmetrie im Vermögen zur Verhaltensbeeinflussung im Zweifelsfall auch gegen B’s Zustimmung möglich ist. Max Webers klassische Definitionen von Macht-Über trifft genau diesen Punkt:

„Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eignen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“ (Weber 1921, 28, Hervh. DM)

Dabei ist das „auch“ zu beachten: Die Macht zur Beeinflussung möglicher Handlungen anderer muss nicht notwendig gegen einen artikulierten Willen gerichtet sein um Macht zu sein. Sie muss aber im Zweifelsfall auch gegen den Willen durchgesetzt werden können. D.h. nicht jede mögliche Verhaltensbeeinflussung ist Macht-über, sondern nur diejenige, für die letztlich kein Einverständnis, keine Freiwilligkeit der beeinflussten Person notwendig ist. Lovett gibt dazu folgendes Beispiel: “The state has power over its citizens, even if they happen to prefer doing what the law commands anyway, as many do. The point is simply that, if particular citizens did not want to obey, the state has the power to overcome their reluctance and compel them.

6

When exercising this power is unnecessary, the state is not less powerful – it is simply lucky.” (Lovett 2010, 74f.)

Die „Einschränkung“ in der Definition von Macht-über bezieht sich also nicht (notwendig) auf tatsächlich subjektiv erlebte Einschränkungen, sondern auf die Blockierung der Möglichkeit zur Selbstbestimmung7. Ob B die Beeinflussung begrüßt oder nicht, ob er sie als Einschränkung oder als Ermöglichung erlebt, spielt dabei keine Rolle. Entscheidend ist, dass er tatsächlich keine Wahl hat, dass er nicht anders könnte, wenn er wollte. Und das ist eine Qualität der sozialen Beziehung, der Organisation oder Institution, in deren Rahmen sein Handeln stattfindet, sowie des sozialen Kontextes, in dem diese stehen. Wie bereits angedeutet lassen sich hinsichtlich der Frage der Möglichkeit zur Selbstbestimmung zwei Dimensionen unterscheiden:

1) B hat keine Möglichkeit zur Selbstbestimmung, weil er keine Möglichkeit hat, die Beziehung zu verlassen, d.h. er ist gezwungen in der Beziehung zu bleiben und bleibt daher der Machtasymmetrie ausgesetzt.

2) B hat keine Möglichkeit zur Selbstbestimmung, weil er keine Möglichkeit hat, gleichberechtigt Einfluss auf die Gestaltung der Beziehung zu nehmen und bleibt daher der Machtasymmetrie ausgesetzt.

In der bekannten Unterscheidung von Albert O. Hirschmann: Die Möglichkeit zur Selbstbestimmung ist eingeschränkt, wenn ein Akteur in einer sozialen Beziehung entweder keine Exit- oder keine Voice-Option hat.8

Einschränkung der inneren Selbstbestimmungsfähigkeit

Nun ist aber auch diese Bestimmung von Macht-über noch unvollständig, denn sie bezieht sich nur auf äußere Sanktionsmacht. In dem Organisationsbeispiel könnte es ja auch sein, dass B zwar objektiv Exit- oder Voice-Optionen hat, diese aber nicht als Optionen in Betracht zieht, weil seine Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit in der Macht von A oder der Organisation ist. Die Einbeziehung von „innerer“ Macht in die Bestimmung von Macht-über, also von Macht über die Wahrnehmung und Bewertung seiner Selbst, der Welt sowie seiner Position in der Welt, bereitet bekanntermaßen

7 Die Idee, diesen Sachverhalt mit dem Begriff der Selbstbestimmung zu verbinden habe ich von Heiner Koch (vgl.

Koch 2012).

8 Frank Lovett löst das Problem, wann die Macht relevant ist, mit dem Konzept der Abhängigkeit von einer sozialen

Beziehung, wobei er Abhängigkeit über hohe exit-costs definiert (Lovett 2012, 49-52). Diese Bestimmung ist nicht ganz

falsch (Macht ist für mich relevant, wenn ich abhängig von der Beziehung bin) aber zu undifferenziert. Abhängigkeit

enthält eigentlich zwei Momente: 1. Die aus bestimmten Bedürftigkeiten und Verletzlichkeiten resultierende Relevanz

im engeren Sinn und 2. Die Durchsetzungsfähigkeit der Macht auch gegen eine freiwillige Zustimmung. Letztere

entsteht dadurch, dass Akteure eine soziale Beziehung nicht ohne Nachteile verlassen können. Erst aus beiden

Momenten zusammengenommen entsteht Abhängigkeit. Ich sehe zwei Probleme mit Lovetts Abhängigkeits-Kriterium:

Erstens kann Macht für den untergeordneten Akteur auch relevant sein, auch wenn er gute Exit-Optionen hat. Wir

können also Relevanz auch ohne Abhängigkeit haben. Zweitens wird die Durchsetzungsfähigkeit auch gegen freiwillige

Zustimmung nur über die nicht vorhandenen Exit-Optionen gedacht und nicht auch über nicht vorhandene Voice-

Optionen.

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erhebliche Schwierigkeiten. Es ginge darum, ein Kriterium zu finden, anhand dessen sich unterscheiden ließe, wann eine Beeinflussung des Denkens, Wollens und Fühlens gegen die subjektinterne Eigenlogik oder Urteilsfähikgeit verstößt, diese blockiert, verzerrt oder manipuliert und wann die Beeinflussung nur durch diese Eigenlogik vermittelt wirkt, so dass die Wünsche und Entscheidungen des Subjekts „seine“ blieben. Lukes hat hierfür eine ebenso wunderbar treffende wie vage Formulierung Spinozas hervorgeholt: diejenigen, die einer Einschränkung ihrer inneren Selbstbestimmungsfähigkeit ausgesetzt sind, „are rendered less free, in Spinoza's phrase, to live as their nature and judgment dictate.“ (Lukes 2005, 114). Und weiter heißt es bei Lukes: “Domination can induce and sustain internal constraints upon self-determination – ways of undermining and distorting people's confidence in and sense of self and of misleading and subverting their judgment as to how best to advance their interests.“ (Ebd., 122) Auch wenn diese Bestimmung hier vage bleiben muss, halte ich dennoch die Grundidee für tragfähig: Macht-über liegt dann vor, wenn A Macht über das Zustandekommen der Bedürfnisse, Überzeugungen und letztlich Entscheidungen von B hat. Aufgeschlüsselt heißt das: Macht-über liegt vor, wenn in einer sozialen Beziehung das Vermögen zur Beeinflussung des Zustandekommens von Bedürfnissen, Überzeugungen und Entscheidungen asymmetrisch verteilt ist und dieses auch gegen oder in Umgehung oder durch Verzerrung der subjekteigenen Verarbeitungslogik oder Urteilsfähigkeit durchgesetzt werden kann. Worin genau diese subjektive Eigenlogik bestehen soll und wann sie als verletzt gelten kann müsste natürlich herausgearbeitet werden. Ich denke, hier müssten sowohl anthropologisch- perfektionistische, wie auch sozio-kulturelle Elemente eingehen, bzw. beide müssten in ihrer Vermittlung berücksichtigt werden. Interessant wäre es, von kulturspezifischen Niveaus von Selbstbestimmungsfähigkeit auszugehen. Welche Arten von Einwirkung auf das Entstehen von Wünschen als Einschränkung und welche als Ermöglichung (oder irgendwas dazwischen) gelten, ließe sich dann zwar nicht objektiv im transhistorischen Sinn bestimmen, aber zumindest im Sinne (historisch spezifischer) institutionell erzeugter Selbstbestimmungsniveaus.

Die Zweistufigkeit von Macht-über

Es genügt also offenbar nicht, Macht-über als asymmetrische Verteilung von (für den jeweils anderen relevanter) Macht zu bestimmen. Für beide Formen von Macht – äußere Einwirkung auf Handeln durch Sanktionsmacht und innere Einwirkung durch Beeinflussung oder Manipulation – gilt dies in strukturähnlicher Weise: Beide werden erst dann wirklich zu Macht-über, wenn sie sich auf objektive oder subjektive Handlungsfähigkeiten zweiter Ordnung beziehen. Die Handlungsfähigkeit, die im Falle von Sanktionsmacht eingeschränkt wird, besteht nicht nur darin, zwischen gegebenen Alternativen wählen zu können (Wahlfreiheit oder Handlungsfähigkeit erster Ordnung), sondern darin, auch über das Set gegebener Handlungsalternativen selbst (mit-)bestimmen zu können (Verfügung über die Handlungsbedingungen oder Handlungsfähigkeit zweiter Ordnung). Dies setzt voraus, dass Menschen die Fähigkeit haben, auch die Bedingungen unter denen Handlungsalternativen zustande kommen (mit-)bestimmen zu können. Sanktionsmacht besteht somit nicht darin, dass einem Akteur durch das Einwirken

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Anderer eine bestimmte Handlungsalternative genommen oder gegeben wird. Dies ist ja bei jeder Form von Einwirkungen durch andere der Fall. Zur Macht-über wird diese Einwirkung, wenn sich der Akteur ihr nicht entziehen kann und d.h., wenn er keine Verfügung darüber hat, ob oder welchen Einwirkungen er ausgesetzt ist. Bei „innerer“ Macht besteht die Einschränkung der Handlungsfähigkeit nicht nur in der Änderung gegebener Wünsche, sondern in einer Einwirkung auf den Prozess der Genese dieser Wünsche. Dies setzt eine Fähigkeit zu einer gewissen unverzerrten oder „authentischen“ Genese der eigenen Wünsche voraus. Die eigenen Wünsche und Urteile müssen vom Subjekt als ihm zugehörig erfahrbar sein und d.h. in einem Reflexionsprozess mit seinen identitätskontituierenden Handlungsprizipien (oder Wünschen zweiter Ordnung) in positive Beziehung gesetzt werden können. Es handelt sich auch hier um eine Handlungsfähigkeit 2. Ordnung, insofern das Subjekt nicht nur die Fähigkeit hat, Wünsche zu entwickeln, und kognitiv und emotional zu repräsentieren, sondern diese Wünsche in einem reflexiven Prozess in Beziehung zueinander und zu seinen identitätsstiftenden Wünschen zweiter Ordnung zu setzen. „Innere“ Macht besteht somit darin, dass der subjektinterne Reflexionsprozess, in dem das Subjekt sich seine Wünsche als seine aneignen kann, umgangen oder blockiert wird. Die Bedingungen der Genese seiner Wünsche sind in der Macht eines anderen. Macht-über lässt sich somit als Einschränkung der Fähigkeit zur Selbstbestimmung beschreiben, wobei Selbstbestimmungsfähigkeit nichts anderes ist als Handlungsfähigkeit zweiter Ordnung (im doppelten, äußeren und inneren Sinn).

Diese zweistufige Struktur von Handlungsfähigkeit bzw. Macht-über lässt sich auch als Hintergrundfolie verwenden, um ein „radikales“ von einem „liberalen“ Machtverständnis (Lukes) abzugrenzen. Macht im liberalen Verständnis besteht, wenn

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einem Akteur bestimmte Handlungsalternativen gegen seine aktuell gegebenen Wünsche aufgezwungen werden. Macht im radikalen Sinn besteht, wenn ein Akteur keine Verfügung über die Bedingungen der Genese seiner Handlungsbedingungen oder seiner Wünsche hat. Meiner Argumentation zufolge erfasst nur letzteres Machtverständnis was Macht-über tatsächlich ist.

Zusammenfassung: Subjektive und Objektive Elemente von Macht-über

Ein Machtverhältnis von A über B enthält aus der Sicht von B sowohl objektive als auch subjektive Elemente und kann demnach weder als rein objektives noch rein subjektives Phänomen angemessen verstanden werden. Worin nun genau die subjektiven Elemente bestehen, habe ich versucht herauszuarbeiten durch eine Explikation dessen, was implizit in der Bestimmung von Macht-über als Vermögen zur Einschränkung des Handlungsraumes enthalten ist.

Die Macht von A ist dann Macht-über B, d.h. ein Vermögen zur Einschränkung des Handlungsraumes, wenn sie sich auf für B relevante Handlungsoptionen erstreckt und wenn sie auch gegen die freiwillige Zustimmung von B oder auch unter Verletzung oder Umgehung von B’s subjektinternen Deliberationsprozessen durchgesetzt werden kann.

Wenn wir soziale Beziehungen oder Institutionen danach untersuchen wollen, ob Macht-über-verhältnisse vorliegen, müssen wir nach folgenden Kriterien Ausschau halten (Schaubild):

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Für die Frage nach der Subjektivität von Herrschaft heißt das:

Die Subjektivität des beherrschten Akteurs spielt an zwei Stellen eine Rolle für die Frage nach der Existenz und Wirkmächtigkeit von Macht-über:

1) Äußere Macht oder Sanktionsmacht braucht einen Hebel am Subjekt, sie muss sich auf dessen „Haushalt von Befürchtungen und Hoffnungen“ (Popitz) beziehen. Macht kann nur über verletzliche, bedürftige Wesen ausgeübt werden. Bei gleichbleibender Macht eines herrschenden Akteurs nimmt seine Macht über seine Untergebenen in dem Maße zu, in dem deren Bedürftigkeit und Verletzlichkeit zunimmt.

2) Innere Macht kann nur über Wesen ausgeübt werden, die einerseits durch äußere Einflüsse formbar sind und andererseits über diesen Einflüssen gegenüber eigensinnige Verarbeitungs- und Aneignungsweisen verfügen, die blockiert werden können.

In beiden Fällen erhält die Macht ihre potenzielle Wirkung also nur in Relation zur Beschaffenheit der Subjekte. Sie ist dadurch aber nicht einfach subjektiv in dem Sinne, dass sie damit steht und fällt, was ein Subjekt gerade glaubt und will9. Ihre Existenz und Stärke hängt nicht davon ab, ob sie gegen einen artikulierten Willen durchgesetzt wird. Ob ein Akteur sich freiwillig unterwirft oder widerwillig spielt für die Frage, ob hier eine Macht-über-Beziehung vorliegt überhaupt keine Rolle. A hat Macht über B, auch wenn B diese Macht als gut und in seinem Interesse empfindet, wenn

1) A die Macht auch dann weiter hätte, wenn B seine Einstellung dazu ändern würde (d.h. wenn B keine exit oder voice Option hat) oder

2) wenn die Überzeugung dass die Macht richtig und gut ist unter fremdbestimmten Bedingungen entstanden ist.

Der zweite Punkt führt natürlich zum notorisch schwierigen Ideologieproblem. Hier ist tatsächlich ein Bezug zur Subjektivität der Akteure notwendig. Um zu wissen, wann die Genese von Wünschen und Einstellungen als selbst- und wann als fremdbestimmt gelten kann, müssen wir etwas über die Subjekte wissen. Hier passt David Streckers Intervention, dass eine Beobachterperspektive mit einer Akteursperspektive ergänzt werden muss. Das Problem lässt sich aber doch einigermaßen eingrenzen, so dass die Diagnose der Herrschaftsförmigkeit sozialer Beziehungen sich keinesfalls auf die Frage nach dem ideologischen/nicht-ideologischen Charakter der Einstellungen der Beherrschten reduziert. Der ideologiekritischen Frage gewissermaßen vorgelagert ist die Frage nach der objektiven Verfügung über Handlungsmöglichkeiten. Wenn ein Akteur im Rahmen einer Organisation über Sanktionsmacht über andere verfügt, dann besteht objektiv ein Macht-über-Verhältnis, unabhängig davon, ob die Unterordnung mit freiwilligen oder erzwungenen Motiven der Fügsamkeit zustande kommt. Erst wenn objektiv gesehen Freiwilligkeit besteht, also keine Sanktionsmacht vorliegt und die Subjekte sich dennoch unterordnen, wird die Frage nach der Genese der subjektiven Wünsche relevant.

9 Damit ist allerdings noch nichts darüber gesagt, was die an Herrschaftsverhältnissen beteiligten Subjekte kollektiv

glauben müssen, damit Herrschaft existieren und sich reproduzieren kann. Diese Frage bedarf einer eigenständigen

Bearbeitung.

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Weiterführendes: Machtverständnis zu individualistisch und voluntaristisch?

Ist das hier vorgestellte Verständnis von Macht

1) zu individualistisch, weil es durch seine Fokussierung auf eine Macht-dyade zwischen zwei Akteuren strukturelle Macht nicht fassen kann?

2) zu voluntaristisch, weil es durch den Bezug zur Selbstbestimmungsfähigkeit ein kontrafaktisches (und letztlich unrealistisches) freies Subjekt voraussetzt?

Zu 1: Ich würde auf jeden Fall verteidigen, dass Macht-über und damit auch Herrschaft immer Macht von Menschen über andere Menschen bezeichnet. Einerseits muss diese Macht aber als bedingt durch soziale und kulturelle Strukturen gedacht werden. Insofern sind Macht-über-Relationen eingebettet in Strukturen gesellschaftlich ungleich verteilter Handlungsmacht. Soziale Positionen in der gesamtgesellschaftlichen Ressourcenverteilung und soziale Rollen in Institutionen und Organisationen verleihen bestimmten Akteuren Macht über andere. Gegenüber Handlungsmacht oder Macht-zu verweist Macht-über aber auf die intrinsische Relationalität von sozialen Positionen und Rollen: Über-/Unterordnungsverhältnisse sind in die Positionen und Rollen eingebaut. Andererseits lassen sich mit dem Konzept von Macht-über nicht alle Formen von sozial bedingter Heteronomie oder Ohnmacht fassen. Hier werden andere Konzepte benötigt.

Zu 2: Das vorgeschlagene Macht-konzept reflektiert gerade die Bedürftigkeit, Verletzlichkeit und Formbarkeit von Subjekten und macht klar, dass nicht schon die Einwirkung auf Subjekte oder Formung von Subjekten Macht-über konstituiert. Selbstbestimmung bedeutet nicht Freiheit von Abhängigkeiten, sondern – als Handlungsfähigkeit zweiter Ordnung gefasst - vielmehr eine reziproke und gleichberechtigte Gestaltung der Beziehungen von denen Menschen abhängig sind. Selbstbestimmung ist daher relational zu fassen: „Der individuelle Mensch kann über seine eigenen Lebensbedingungen ... nur verfügen, indem er an der kollektiven Verfügung über gesellschaftliche Lebensbedingungen durch gegenständliche Weltveränderung teilhat.“ (Holzkamp 1997, 11) Herrschaft wäre demzufolge der (partielle) Ausschluss bestimmter Menschen aus der kollektiven Verfügung über gesellschaftliche Lebensbedingungen.

Gleichwohl bleibt die Annahme eines gewissen individuellen Vermögens zur Selbstbestimmung semantisch Voraussetzung, um von Macht-über/Herrschaft sprechen zu können. Wer Selbstbestimmung aus seinem theoretischen Vokabular streicht, eliminiert damit auch die Möglichkeit, sinnvoll über Herrschaft sprechen zu können. Das heißt nicht, dass wir ein unhistorisch gegebenes selbstbestimmungsfähiges Subjekt voraussetzen müssen. Selbstbestimmung sollte als offenes Konzept gedacht werden: Es bezeichnet eine Form von Handlungsfähigkeit zweiter Ordnung, deren konkrete Qualität – sowohl in der sozial-relationalen, als auch intrasubjektiven Dimension - jedoch als historisch spezifische näher bestimmt werden müsste.

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