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Diskussion Walter Sperling, Bochum „Schlafende Schöne“? Vom Sinn und Unsinn der Begriffsgeschichte Russlands. Ein Diskussionsbeitrag * „Die Gesamtgeschichte bleibt unvernünftig. Vernünftig ist höchstens ihre Analyse.“ 1 R. Koselleck, Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, 1997 Am Anfang steht ein Begriff vom Begriff und das Bestreben, eine Vielzahl von Bedeutun- gen zu ordnen. Begriffshistoriker arbeiten mit Zetteln. Darauf haben sie Zitate aufge- schrieben, in denen das gesuchte Wort verwendet, umschrieben oder verschwiegen wird. Der Zettelkasten ist voll und schlecht sortiert. Doch die Unordnung verunsichert Begriffs- historiker nicht, denn sie haben von Anfang an eine Vorstellung davon, was der einzelne Ort wert ist, aus dem eine zitierte Stelle entspringt: Lexika, Enzyklopädien und Handbü- cher bündeln Bedeutungen; Standardwerke großer Denker liefern die abschreibbare Refle- xion; Reden und Memoranden der Großen zeigen, wie das Gesagte in der Welt wirkt, und was Wissenschaftler, Schriftsteller und andere Autoren geschrieben haben, gilt als Beleg für die politische Reichweite und die soziale Dimension. Auch Begriffshistoriker müssen klassifizieren, einteilen und abtrennen, um die Unordnung der Schreibtische zu verschlei- ern und die Mehrdeutigkeit der Vergangenheit zu bändigen. 2 Begriffshistoriker sind moderne Historiker. Daher dient ihnen die Chronologie neben der Quellenhierarchie als ein zentrales Ordnungsverfahren. Neues kommt, Altes vergeht und hinter dem Wandel verbirgt sich ein Prozess, der Begriffe und Formen grundlegend verändert. Bedeutungen sind in der Vorstellung von Begriffshistorikern gefangen in der Zeit, die kontinuierlich voranschreitet oder sich katalysiert durch „Schwellenjahre“ fortbe- wegt. Daher können sich diese Historiker leicht für Entwicklungen und kaum für Un- gleichzeitigkeiten begeistern, wie sie für frühneuzeitliche Staaten wie auch vormoderne und moderne Imperien insbesondere prägend gewesen sind. Es sind diese beiden Verfah- ren, das der Hierarchisierung und das der Verzeitlichung, mit denen Begriffshistoriker Eindeutigkeit schaffen. Spätestens, wenn eine Begriffsgeschichte geschrieben wird, wer- den die Widersprüche zum Schweigen gebracht, unpassende und weniger prägnante Zitate beiseite gelegt. Die gewünschte Entwicklung kann nunmehr erzählt, die Intrige der Erklä- rung durch Narration eingefädelt werden. 3 Die Praxis der Begriffsgeschichte hat viel mit den Bestrebungen der Moderne gemein, Ambivalenzen zu begradigen und stattdessen eine Ordnung zu errichten, die aus einem Regime der Eindeutigkeit besteht. 4 Wie die Enzyklopädie Diderots und d’Alemberts gel- ten die Nachschlagewerke der Begriffsgeschichte als Errungenschaften. Sie scheinen * Letzte Aktualisierung: 22. Juli 2011. 1 KOSELLECK Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, S. 16. 2 CHARTIER Die unvollendete Vergangenheit. Wie Begriffshistoriker dabei Welten übersehen, hat Gadi Algazi beispielhaft gezeigt: ALGAZI Herrengewalt und Gewalt der Herren. 3 Zur Historischen Semantik als einer „theoretisch reflektierten Narration“ vgl. KONERSMANN Kul- turelle Tatsachen, S. 324. 373 Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012

"Schlafende Schöne?" Vom Sinn und Unsinn der Begriffsgeschichte Russlands, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 60 (2012), H. 3

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Diskussion

Walter Sperling, Bochum

„Schlafende Schöne“? Vom Sinn und Unsinn der Begriffsgeschichte Russlands.

Ein Diskussionsbeitrag*

„Die Gesamtgeschichte bleibt unvernünftig. Vernünftig ist höchstens ihre Analyse.“1

R. Koselleck, Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, 1997

Am Anfang steht ein Begriff vom Begriff und das Bestreben, eine Vielzahl von Bedeutun­gen zu ordnen. Begriffshistoriker arbeiten mit Zetteln. Darauf haben sie Zitate aufge­schrieben, in denen das gesuchte Wort verwendet, umschrieben oder verschwiegen wird. Der Zettelkasten ist voll und schlecht sortiert. Doch die Unordnung verunsichert Begriffs­historiker nicht, denn sie haben von Anfang an eine Vorstellung davon, was der einzelne Ort wert ist, aus dem eine zitierte Stelle entspringt: Lexika, Enzyklopädien und Handbü­cher bündeln Bedeutungen; Standardwerke großer Denker liefern die abschreibbare Refle­xion; Reden und Memoranden der Großen zeigen, wie das Gesagte in der Welt wirkt, und was Wissenschaftler, Schriftsteller und andere Autoren geschrieben haben, gilt als Beleg für die politische Reichweite und die soziale Dimension. Auch Begriffshistoriker müssen klassifizieren, einteilen und abtrennen, um die Unordnung der Schreibtische zu verschlei­ern und die Mehrdeutigkeit der Vergangenheit zu bändigen.2

Begriffshistoriker sind moderne Historiker. Daher dient ihnen die Chronologie neben der Quellenhierarchie als ein zentrales Ordnungsverfahren. Neues kommt, Altes vergeht und hinter dem Wandel verbirgt sich ein Prozess, der Begriffe und Formen grundlegend verändert. Bedeutungen sind in der Vorstellung von Begriffshistorikern gefangen in der Zeit, die kontinuierlich voranschreitet oder sich katalysiert durch „Schwellenjahre“ fortbe­wegt. Daher können sich diese Historiker leicht für Entwicklungen und kaum für Un­gleichzeitigkeiten begeistern, wie sie für frühneuzeitliche Staaten wie auch vormoderne und moderne Imperien insbesondere prägend gewesen sind. Es sind diese beiden Verfah­ren, das der Hierarchisierung und das der Verzeitlichung, mit denen Begriffshistoriker Eindeutigkeit schaffen. Spätestens, wenn eine Begriffsgeschichte geschrieben wird, wer­den die Widersprüche zum Schweigen gebracht, unpassende und weniger prägnante Zitate beiseite gelegt. Die gewünschte Entwicklung kann nunmehr erzählt, die Intrige der Erklä­rung durch Narration eingefädelt werden.3

Die Praxis der Begriffsgeschichte hat viel mit den Bestrebungen der Moderne gemein, Ambivalenzen zu begradigen und stattdessen eine Ordnung zu errichten, die aus einem Regime der Eindeutigkeit besteht.4 Wie die Enzyklopädie Diderots und d’Alemberts gel­ten die Nachschlagewerke der Begriffsgeschichte als Errungenschaften. Sie scheinen

* Letzte Aktualisierung: 22. Juli 2011.1 KOSELLECK Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, S. 16. 2 CHARTIER Die unvollendete Vergangenheit. Wie Begriffshistoriker dabei Welten übersehen, hat

Gadi Algazi beispielhaft gezeigt: ALGAZI Herrengewalt und Gewalt der Herren. 3 Zur Historischen Semantik als einer „theoretisch reflektierten Narration“ vgl. KONERSMANN Kul­

turelle Tatsachen, S. 324.

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Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012

SPERLING „Schlafende Schöne“? Sinn und Unsinn der Begriffsgeschichte Russlands

überall dort notwendig zu sein, wo es sie noch nicht gibt. Erschüttert über den Mangel an Aufklärung, predigen manche die Stunde der Tat. „Jeder noch so kleine Mosaik- und jeder noch so bescheidene Baustein ist willkommen, ja unverzichtbare Voraussetzung für späte­re Bilanzwerke“, erklärt der Slawist Peter Thiergen und spricht dabei vielen Osteuropahis­torikern aus der Seele. Der emeritierte Ordinarius gibt sich bescheiden, denn vor ihm liegt ein „Forschungsdesiderat“.5 Die Welt ist voller Dinge, von denen wir nichts verstehen. Wer aber lange die deutsche Begriffsgeschichte vor Augen hatte, sieht Nachholbedarf. „Die russische Begriffsgeschichte“, klagt Peter Thiergen, „ist vielfach ein Tummelplatz für dilettierende Klischeetransporteure und kommt allzu häufig über den Florilegienstatus nicht hinaus.“6 Daher fordert er, nachzuholen und aufzuholen, was längst fällig zu sein scheint.

Der Sinn der Geschichtswissenschaft liegt aber nicht im Nachholen, sondern in der Analyse. Die Vernunft der Vergangenheit wird in der Zeit, im Raum und in der Gesell­schaft begründet, in der sich die Historiker und ihre Leser bewegen.7 Schließlich gehen wir „davon aus, dass zwischen geschichtlichen Sachverhalten und ihrer sprachlichen Er­fassung eine immer wieder neu aufbrechende Spannung besteht, die zwangsläufig dazu führt, dass eine einmal niedergeschriebene und so festgelegte Geschichte umgeschrieben werden muss“.8 Auch die Begriffsgeschichte hat, wie die übrige Geschichte, keinen Sinn, der in ihr ruht. „Rückstände“, wie sie Peter Thiergen und andere diagnostizieren, liefern ein Argument, das benannt, aber nicht weiter begründet zu werden braucht. Wer sich auf ein Desiderat beruft, befreit sich von der Pflicht, eigene Fragen so zu stellen und seine Analyse so zu entfalten, wie sie uns heute sinnvoll erscheinen. Und wir brauchen Fragen, die keine Leerstellen füllen, sondern historische Wirklichkeiten so zum Ausdruck bringen, dass sie uns über Vergangenes, Verlorenes und Verdrängtes etwas offenbaren, was wir nicht ohnehin geahnt oder gar gewusst haben.

Darum gebeten, ein Desiderat zu bearbeiten, eine Begriffsgeschichte von „Imperium“ im Zarenreich zu entwickeln, stellte ich mir die Frage, wer denn, abgesehen von den Her­ausgebern eines begriffshistorischen Bandes, eine solche Analyse heute noch braucht. Zweifelsohne, das Nachdenken über Begriffe dient, wie Nikolaj Koposov und Melvin Richter hervorheben, der eigenen Reflexion.9 Aber was erfahren wir Neues über das russi­sche Imperium, wenn wir die Belegstellen des Begriffs Imperium in einer Narration bän­digen? Die Zweifel, die bei mir aufkamen, veranlassten mich dazu, meine Frage grund­sätzlich zu stellen. Welchen Nutzen haben wir von einer Geschichte politischer und sozia­ler Begriffe des neuzeitlichen Russland heute zu erwarten? Sollten wir Osteuropahistori­ker mit vereinten Kräften und den Möglichkeiten, die eine Verbundforschung bietet, Peter Thiergen folgen und gemeinsam etwas hervorbringen, was sich mit den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ Otto Brunners, Werner Conzes und Reinhart Kosellecks ansatzweise messen ließe?

4 FOUCAULT Die Ordnung der Dinge; BAUMAN Moderne und Ambivalenz; BABEROWSKI Auf der Su­che nach Eindeutigkeit.

5 THIERGEN Begriffsgeschichte, S. XXVI.6 THIERGEN Begriffsgeschichte, S. XVII.7 KOSELLECK Vom Sinn und Unsinn der Geschichte; KRACAUER Geschichte, S. 81 f; BABEROWSKI Ge­

schichte ist immer Gegenwart.8 KOSELLECK Die Geschichte der Begriffe und Begriffe der Geschichte, S. 12.9 KOPOSOV Istorija ponjatij; RICHTER More Than a Two-Way Traffic.

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Diskussion

In meinem Diskussionsbeitrag werde ich argumentieren, dass wir von einer enzyklopä­disch angelegten Begriffsgeschichte keine grundsätzlich neue Erkenntnis zu erwarten ha­ben. Weder die USA, noch Frankreich, noch Großbritannien kennen eine Begriffsge­schichte von deutschem Format. Im ersten Schritt möchte ich daher zeigen, inwiefern die Begriffsgeschichte in der alten Bundesrepublik Sinn gemacht hat. Ausgehend von der wis­senschaftsphilosophischen Überlegung, dass alle Erkenntnis stets an ihren Standort gebun­den ist, werde ich im zweiten Schritt das Kernanliegen der „Geschichtlichen Grundbegrif­fe“, nämlich die Herausbildung der neuzeitlichen „Bewegungsstrukturen“, nachzeichnen, sie durch Historisierung aus ihrer Selbstverständlichkeit herauslösen und sie mit der grundsätzlich anderen Konstellation von heute in Verbindung bringen. Auf der Grundlage von vorliegenden Pionierstudien und einer breiten historischen Literatur möchte ich be­haupten, dass das neuzeitliche Russland nichts Anderes als eine Variation der Entwicklun­gen in Europa darstellen kann. Über Russlands verschobene Taktung der „Bewegungs­strukturen“ sind wir inzwischen gut informiert. Aus der Begriffsgeschichte können wir da­her nicht noch mehr für die Zukunft lernen. Ohne diesen Mehrwert ist die Begriffsge­schichte als Methode jedoch zu eingeschränkt und unbeweglich, um historische Zusam­menhänge so fassen zu können, wie es uns heute möglich und notwendig erscheint.

Am Beispiel des Sprechens über das Imperium und die Eisenbahn im ausgehenden Za­renreich werde ich im letzten Schritt zeigen, inwiefern die Geschichte von einzelnen Be­griffen zu kurz greift, wenn es darum geht, Bedeutungen als Bedingungen und Möglich­keiten menschlichen Handelns zu verstehen. Dies sollte jedoch nicht in einem Plädoyer münden, die Begriffsgeschichte gänzlich über Bord zu werfen. An einer konkreten histori­schen Situation werde ich andeuten, inwieweit die auf Worte und Begriffe fixierte Ge­schichtsschreibung Sinn ergibt, und zeigen, wo neue Wege gegangen werden müssen. Wenn man verstehen will, in welcher Weise Bedeutungen wirkungsmächtig wurden, so bieten sich die Historische Semantik als inzwischen etablierte und die Metaphern­geschichte als akzeptierte Methoden der Begriffsgeschichte an.10 Doch die Geschichte geht nicht im Sprechen von Menschen auf. Daher möchte ich an die neue, von Bruno La­tour angeregte Akteur-Netzwerk-Forschung anknüpfen, die vorschlägt, die Dichotomie von Handeln und Struktur, von Diskurs und Kontext aufzugeben und stattdessen das kom­plexe Zusammenspiel von Menschen, ihren Vorstellungen und den Dingen in den jeweili­gen Konstellationen zu ergründen. Die Akteur-Netzwerk-Theorie verspricht, die Frontstel­lung zwischen Begriffs- und Sozialgeschichte aufzulösen und historische Erklärungen zu liefern, die dem Einzug der Moderne in Form von Institutionen, Wissen, Technik und All­tagsgegenständen auch ins neuzeitliche Russland Rechnung tragen.11

10 Zur Historischen Semantik allgemein vgl. etwa BÖDEKER Ausprägungen der historischen Seman­tik in den Kulturwissenschaften; STEINMETZ Neue Wege einer historischen Semantik des Politi­schen, v. a. S. 16–26. Zur Metapherngeschichte seien zwei gelungene Essays genannt: STOLLEIS Das Auge des Gesetzes; BERG Luftmenschen.

11 LATOUR Reassembling the Social. Latour lehnt zwar eine Theorie der Moderne ab (wir sind nie modern gewesen), doch zugleich bietet die Akteur-Netzwerk-Theorie ein hervorragendes In­strumentarium, um die Veränderungen des Sozialen durch den Einzug von neuen Techniken und Technologien zu beschreiben.

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Standortbindung der Begriffsgeschichte: Bundesrepublik nach 1945

Die reflektierende Begriffsgeschichte beruft sich auf eine Philosophie, die das Sein in der Sprache verortet. Geschrieben und gelesen wurde sie zwar nicht nur in Deutschland, doch groß wurde die Begriffsgeschichte erst in der frühen Bundesrepublik. Denn nur, wer die Wahrheit der Begriffe kannte, war vor eindimensionalen Deutungen des Fortschritts ge­feit, hatte der „Blindheit der angelsächsischen Sozialwissenschaft gegenüber den Kosten der Moderne“ etwas entgegenzusetzen.12 Angeregt durch den Heidelberger „Gesprächs­kreis“, konnten sich die in Begriffsgeschichte Geschulten in der „verfehlten“ deutschen Geschichte anders bewegen als Vertreter der „kritischen Theorie“ in Frankfurt, München und Berlin. Keine Frage, die Geschichtlichkeit von Worten und Begriffen ist keine Erfin­dung westdeutscher Historiker und Philosophen. Vielmehr bildet sie einen festen Bestand­teil des historischen Denkens, wie es sich um 1800 in Europa ausgeprägt hat.13 Wenn bei­spielsweise Historiker wie Boris Čičerin oder Nikolaj Čečulin das Russland des 17. und 18. Jahrhunderts beschrieben, so griffen sie selbstverständlich auf historische Begriffe zu­rück – wie etwa oblast’ oder obščestvo – Begriffe, die in ihrer jeweiligen Zeit eine spezifi­sche Bedeutung zugesprochen bekamen.14 Doch nicht der Sinn für den Wandel von Sein und Sprache hat die Begriffsgeschichte zur Disziplin werden lassen, sondern die Situation, in der die bundesrepublikanische Intelligenz sich nach dem Ende des Nationalsozialismus befand. Diese Intelligenz war gezwungen, das Erbe des Wilhelminischen Westskeptizis­mus, des Weimarer Antimodernismus und des Holocausts zu schultern und dabei ein neu­es Selbstbewusstsein zu finden, denn vor der Haustür lauerte der Feind. Gemeinsam mit den Siegermächten des Westens befand man sich im Kalten Krieg. Aufklärung und Zivili­sation, die Errungenschaften des Abendlandes, mussten verteidigt und mit neuen Bollwer­ken abgesichert werden.

Reinhart Koselleck, der wohl prominenteste Vertreter der Begriffsgeschichte, mag zwar in der westdeutschen Geschichtswissenschaft ein „Quergänger“ gewesen sein.15 Doch in den Fragen, die ihn beschäftigten und in den Erfahrungen, die seinen Thesen Gewissheit verliehen, glich er vielen Intellektuellen der Bundesrepublik – „in der Tradition verwurzelt und zugleich aufgeschreckt aus ihr angesichts der Katastrophen, die sie gerade am eigenen Leib erfahren“ haben.16

In seiner Dissertationsschrift „Kritik und Krise: Eine Studie zur Pathogenese der bür­gerlichen Welt“ nahm er sich die Aufklärung als Ganzes vor. Angeregt unter anderem durch Carl Schmitt, zeichnete er nach, wie die Aufklärer am Vorabend der Französischen Revolution am Absolutismus Kritik übten, die Vernunft des Fortschritts gegen die All­macht des Staates bemühten und Gewalt, Terror und Bürgerkrieg herbeiredeten. Die Kritik, argumentierte Koselleck, habe die Krise heraufbeschworen, dies aber durch die Berufung auf die Moral verdeckt. Die Kritiker seien zwar gegenüber den Vertretern der

12 DIPPER Die „Geschichtlichen Grundbegriffe“, S. 289.13 FRITZSCHE Stranded in the Present.14 ČIČERIN Oblastnye učreždenija Rossii; ČEČULIN Russkoe provincial’noe obščestvo.15 STEINMETZ Nachruf auf Reinhart Koselleck. Siehe auch: VAN LAAK Gespräche in der Sicherheit

des Schweigens, S. 271‒272.16 MEIER Geschichte als Leib gewordene Erfahrung. Vgl. auch KOSELLECK Glühende Lava, zur Er­

innerung geronnen; HETTLING/ULRICH Formen der Bürgerlichkeit; HOFFMANN Zur Anthropologie geschichtlicher Erfahrungen.

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absolutistischen Ordnung schwach gewesen. Die von der göttlichen Vorsehung losgelöste Geschichtsphilosophie mit ihrem Konzept der abgeschlossenen Vergangenheit und der of­fenen Zukunft habe sie indessen stark gemacht. Doch gegenüber der Revolution waren auch die Aufklärer machtlos, denn die Politik lag nunmehr in den Händen von denen, die sich der Moral und der Geschichte zu bedienen verstanden.17 Die 1959 publizierte Schrift betrachteten manche als eine „deutsche Abrechnung“ mit der Aufklärung.18 Doch sie kann nicht anders verstanden werden denn als eine Kritik an der Blindheit der Utopie, dem „un­gedeckten Wechsel auf die Zukunft“.19 Es ist gewiss auch eine Suche nach einer Erklärung dafür, warum die Moderne in Europa die Gewalt entfesseln konnte.20

Während die konservative Intelligenz der frühen Bundesrepublik keinen Anlass sah, sich Fragen nach ihrem eigenen Anteil am braunen Terror und dem Zweiten Weltkrieg zu stellen, wurde sie in den späten 1960er Jahren von einer diskussionsfreudigen jungen Ge­neration herausgefordert.21 Im Schulterschluss mit Vertretern der Kritischen Theorie rief diese nach einer gesellschaftlichen Erneuerung und wies der Geschichtswissenschaft da­bei die Aufgabe zu, die „missratene“ Geschichte Deutschlands, der bürgerlichen Gesell­schaft und des Kapitalismus schlechthin zu „bewältigen“. Geschichte spielte somit denje­nigen in die Hände, die mit dem „Establishment“ abrechnen wollten, um zu einer neuen, utopischen Form der Gesellschaft zu gelangen.22 Den Gipfel der Wissenschaft erklommen, sah sich Reinhart Koselleck auf dem Historikertag 1970 in Köln gezwungen, auf die Re­duktion der Geschichtswissenschaft als Medium der Kritik zu reagieren. Als Heidelberger Historiker hielt er auf dem Historikertag den Abschlussvortrag, der zumindest nach den Regeln der dramaturgischen Kunst im Gedächtnis der Teilnehmer bleiben sollte. Erneut werde die Geschichte bemüht, klagte Koselleck, um den „ungedeckten Wechsel“ der Uto­pie einzulösen.23 Im Unterschied zur lautstarken APO wollte Koselleck nicht über sich und andere urteilen. Stattdessen forderte er eine grundsätzliche Reflexion des Historismus ein und führte die Begriffsgeschichte als eine der wichtigsten Methoden der „Ideologiekritik“ ins Feld.

In seinem Vortrag arbeitete Koselleck heraus, dass „Geschichte“ ein neuzeitliches Kon­zept sei, das sich von den res gestae der Antike und den Chroniken des Mittelalters grund­legend unterscheide: „Erst seit 1770 kann man den früher unaussprechbaren Gedanken formulieren: die Geschichte an sich.“24 Insbesondere seit der Französischen Revolution werde der Lauf der Welt nicht mehr als göttliche Vorsehung verstanden. Geschichte habe sich zu einer „subjektiven Bewußtseinskategorie“ entwickelt, hob Koselleck hervor und beeilte sich hinzuzufügen, „wie übrigens auch die Begriffe ‚Revolution‛ und ‚Fort­

17 KOSELLECK Kritik und Krise.18 Vgl. etwa die Rezension des deutsch-tschechischen Historikers Bedrich Löwenstein in Journal

of Modern History 48 (1976), S. 122–124. 19 KOSELLECK Kritik und Krise, S. 157.20 Allgemein zur Nachkriegssituation in der BRD vgl. u. a. FULDA (Hg.) Demokratie im Schatten

der Gewalt.21 Vgl. dazu jetzt VERHEYEN Diskussionslust, S. 244‒245.22 SCHMIDTKE Der Aufbruch der jungen Intelligenz, S. 143–169; KOENEN Das rote Jahrzehnt; FREI

1968. Jugendrevolte und globaler Protest; JUDT Postwar.23 KOSELLECK Wozu noch Historie?, S. 1. Vgl. auch die Eröffnung des Historikertags durch Theo­

dor Schieder: 28. Versammlung deutscher Historiker, S. 10‒11. 24 28. Versammlung deutscher Historiker, S. 7.

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schritt‛.“25 Geschichte wurde aber nicht nur zu einem Begriff, ohne den die Gebildeten weder ihre Gegenwart noch ihre Vergangenheit noch ihre Zukunft denken konnten. Viel­mehr habe sie die Bedeutung eines „Wirkungszusammenhangs“ erlangt, der das Hier-und-Jetzt mit Vergangenem verband und zugleich ins Transzendentale hinauswies. Wer nun­mehr die Zukunft gestalten wollte, habe sich dazu berechtigt gesehen, in den Lauf der Ge­schichte einzugreifen. Je weiter der Historismus um sich gegriffen habe, desto leichter sei es gewesen, die Geschichte anzurufen, um den neuen Staat, die neue Gesellschaft oder den neuen Menschen zu rechtfertigen. Wer Großes vorhatte, habe die Opfer mit Berufung auf „die“ Geschichte begründen können.26 Koselleck hielt seinen Vortrag vor Historikern der Bundesrepublik. Neben Schriftstellern und Historikern wie Ernst Moritz Arndt, Treitschke und Droysen wartete er nicht zufällig mit Hitler auf, aus dessen Reden er zi­tiert.

Nicht allein Liberalismus, Nationalsozialismus und Sozialismus hätten mit Geschichte argumentiert, legte Koselleck in seiner Schlussfolgerung nahe. Vielmehr schöpfe jede Ideologie ihre Überzeugung daraus, „Geschichte machen zu können“. Die Ideologen hät­ten sich nur deshalb auf die Geschichte berufen können, „weil die Geschichte selber nicht kritisch in Frage“ gestellt wurde.27 Und damit sprach Koselleck das Kernanliegen einer wahrhaft „kritischen“ Geschichtswissenschaft an – einer Wissenschaft, die sich nicht als „Weltgericht“ verstehe, die nicht die „wirkliche“ Geschichte an einer „wünschbaren“ mes­se, sondern sich darum bemühe, die „substantiellen Handlungseinheiten“ der Gegenwart wie „Staat, Volk, Klasse […] und was sie wollen“, zu historisieren und sie somit zu „ver ­zeitlichen“.28 Mit anderen Worten, die Geschichtswissenschaft sollte nicht der einen oder anderen Ideologie die Steigbügel halten, sondern sich jenes Bedeutungsüberschusses ver­gewissern, der den Begriffen der Gegenwart innewohnt.29 Diese Vergewisserung nahm nicht die Aufklärung zynisch aufs Korn, sondern griff die kritische Vernunft wieder auf, setzte ihre Bewegung auch in der höchsten Form der Aufklärung fort – dem enzyklopädi­schen Nachschlagewerk, in das die „Grundbegriffe“ aufgenommen werden sollten. Schließlich sprach vieles dafür, wie Koselleck viel später formulierte, dass die Geschichte langfristig den Besiegten gehöre, also denen, die sich nicht für ihren Sieg rühmen und den Weg dahin glorifizieren, sondern die gezwungen werden, zu überdenken, warum „alles anders gekommen ist als geplant oder erhofft“.30 Aus der Geschichte sollte man lernen, auch aus der Geschichte der Bundesrepublik.

Die Vergewisserung mündete offenbar in eine neue Selbstgewissheit, die aus den Tex­ten von Koselleck förmlich herausspringt. In Otto Brunners Aufruf zur Historisierung von Wissenschaftsbegriffen wie „Ökonomie“ ist der melancholische Grundton nicht zu über­hören und ebenso die Angst, in der fortschritts- und konsumfixierten frühen Bundesrepu­blik an den Rand gedrängt zu werden. Das begriffshistorische Plädoyer für das Konzept des „ganzen Hauses“ als grundlegende Ordnungsvorstellung der Vormoderne ist in Wahr­

25 28. Versammlung deutscher Historiker, S. 6. Vgl. auch KOSELLECK Revolution als Begriff und Metapher.

26 KOSELLECK Wozu noch Historie? Vgl. auch KOSELLECK Über die Verfügbarkeit der Geschichte, S. 260–277.

27 KOSELLECK Wozu noch Historie?, S. 8 u. 9.28 KOSELLECK Wozu noch Historie?, S. 9 u. 15.29 KOSELLECK Wozu noch Historie?, S. 14.30 KOSELLECK Erfahrungswandel und Methodenwechsel, S. 68.

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heit nichts weiter als die Selbstverteidigung eines Historikers, der sich in der Moderne nicht zurechtfindet und sich nach „konkreten Ordnungen“ (C. Schmitt), nach Überzeitli­chem und Übermenschlichem sehnt.31 Als Werner Conze auf dem richtungweisenden His­torikertag von Duisburg 1962 ansetzte, die „epochalen“ Begriffe „Nation“ und „Gesell­schaft“ zu historisieren und damit einer neuen Geschichtsschreibung zum Durchbruch zu verhelfen, klang die Begriffsgeschichte schlicht und ohne Elan.32 Dies mag nicht nur an der Person des Referenten gelegen haben. Ohne jegliche Wehmut fürs Verlorene nahm sich ein arrivierter Historiker einer akademischen Frage an, und zwar möglichst sachlich, nicht zuletzt, um das Großprojekt zur „Vorbereitung eines ‚Historischen deutschen Wör­terbuches politisch-sozialer Begriffe‛“ nicht zu gefährden.33 Conzes Einsichten konnten zwar auch kontrovers diskutiert werden, vor allem von der liberalen Soziologie, die sich rasch unter Ideologieverdacht wähnte.34 Doch Bewegendes hatte die Begriffsgeschichte im Kontext der frühen sechziger Jahre nicht zu bieten. Von einer Heilsgewissheit war sie noch fern. Erst als die rebellische Jugend Ende der sechziger Jahre an den Fundamenten der Gesellschaft zu rütteln begann und ihrerseits für sich beanspruchte, „Geschichte“ auf radikale Weise neu zu gestalten, erst da konnte die Begriffsgeschichte einen neuen Charme entfalten. Der „Aufklärung durch Provokation“, wie Rudi Dutschke sie im Sinn hatte, setzte die Begriffsgeschichte eine Aufklärung durch Historisierung entgegen.35 Man könnte auch sagen, dass die Begriffsgeschichte dank der Angst bürgerlicher Intellektueller auflebte, im 20. Jahrhundert ein weiteres Mal von alten „Abenteurern“ und jungen „Uto­pisten“ überrumpelt zu werden.36

Als die sozialistische Utopie wieder salonfähig wurde und die Linke sich dennoch hoff­nungslos zerstritt, begann die historische Aufklärung, für die Reinhart Koselleck warb, ei­ne „Hoffnung“ auszustrahlen. Ohne diese Hoffnung hätte die Begriffsgeschichte ihre „Py­ramiden des Geistes“ nicht errichten können, betont Hans Ulrich Gumbrecht. Obwohl er selbst an der „begriffsgeschichtlichen Bewegung“ teilgenommen und eine Reihe von Arti­keln für Nachschlagewerke geschrieben hat, sieht er sich heute von diesen Geisteswerken umzingelt: Zwölf Bände des „Historischen Wörterbuchs der Philosophie“, acht Bände „Geschichtliche Grundbegriffe“, sieben Bände „Ästhetische Grundbegriffe“, das zwanzig Hefte umfassende „Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820“ und einige andere einbändige Lexika mehr. Diese Bände erscheinen ihm als „monumenta­le Zeugnisse“ einer vergangenen „Epoche der Geisteswissenschaften“.37 Und eben diese Einbindung der Begriffsgeschichte in den spezifischen historischen Kontext der Bundesre­publik müssen wir verstehen, wenn wir begreifen wollen, warum den geistreichen Histori­

31 BRUNNER Das „ganze Haus“. Vgl. dazu GROEBNER Außer Haus; ALGAZI Otto Brunner; ALGAZI Her­rengewalt, Kap. IV.

32 CONZE Nation und Gesellschaft. Zu diesem Historikertag zusammenfassend ETZEMÜLLER Sozial­geschichte als politische Geschichte, S. 254–258.

33 DUNKHASE Werner Conze, S. 148‒149.34 Vgl. den Kommentar von Ralf Dahrendorf in: Historische Zeitschrift 198 (1964) H. 1, S. 17–

23.35 Vgl. etwa KOENEN Das rote Jahrzehnt.36 Der linguistic turn allein kann zur Beliebtheit des begriffsgeschichtlichen Paradigmas jedenfalls

nicht entscheidend beigetragen haben, denn die Praxis war zu sehr an einer vertrauten Ideengeschichte orientiert. Vgl. REICHHARDT Historische Semantik, S. 13.

37 GUMBRECHT Pyramiden des Geistes, S. 8‒9.

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kern die Arbeit an den kenntnisreichen und dennoch sehr drögen Lexikonartikeln sinnvoll erschien.

Der Kritik und Selbstkritik des vielschreibenden Begriffshistorikers Hans Ulrich Gum­brecht ist widersprochen worden. So hat Willibald Steinmetz argumentiert, dass die Be­griffsgeschichte nicht im „Totenreich“ verschwunden sei. Vielmehr spreche die Aktivität der Begriffs- und Konzepthistoriker, ihre Tagungen, Kongresse und Publikationen, für ei­ne internationale Verbreitung. Die Begriffsgeschichte erfreut sich heute großer Beliebtheit, nicht zuletzt deshalb, weil sie leicht zu reproduzieren ist. Ihre Methode vermag es, wie Willibald Steinmetz hervorhebt, das Aufkommen von Begriffen, ihre Bedeutungsverschie­bungen und Transfers in andere Sprachen und Kulturen rasch sichtbar zu machen.38 Die Digitalisierung von Wissensbeständen, so wäre hinzuzufügen, lässt heute die Suche nach Worten und Wortfeldern als Kinderspiel erscheinen. Ferner kommt der besseren Begriffs­geschichte zugute, dass sie sich dem Wahrheitsanspruch verweigert. Denn sie strebt nicht danach, die Differenz von Begriff und Phänomen, von Wort und Welt aufzulösen, sondern bleibt der Sprache als „Faktor“ und „Indikator“ von sozialem Wandel auf der Spur.39 Und genau darin liegt meines Erachtens das Problem der Begriffsgeschichte, die sich auf die­sen defensiven Satz von Koselleck beruft und sich keine Mühe macht, jeweils im Einzel­fall zu erklären, wie Begriff, Welt und Wandel jenseits der floskelhaft vorgetragenen The­se von Faktor und Indikator zusammenhängen.40 Wer indessen nach Faktoren und Indika­toren für Wandel sucht, der findet sie überall.

Begriffsgeschichte Russlands: Standortbindung der forschenden Gegenwart

Konzepte stoßen immer irgendwann an ihre Grenzen. Doch haben sie sich einmal be­währt, laden sie ein zur Reproduktion. Was ist jedoch von der Neuauflage Anderes zu er­warten als eine Variation? Aus der Historisierung von Begriffen können wir heute also nichts mehr für die Zukunft lernen. Die „Bewegungsstrukturen“ unserer Geschichte haben wir längst eruiert und an der „voluntaristischen Selbstgarantie utopischer Zukunftsplaner“ ausreichend Kritik geübt.41 Die Übertragung der „Geschichtlichen Grundbegriffe“ vermag Russlands Rückständigkeit zu Europa bekräftigen. Sie kann ein weiteres Mal das „West-Ost-Gefälle“ betonen, das verursacht wird „durch eine zunehmende sprachlich-kulturelle Eigenständigkeit, die immer schlechter vermittelbar ist mit dem Westen, je weiter man nach Osten gelangt“.42 Bereits die Fallstudien zu den Begriffen „Nation“, „Gesellschaft“

38 STEINMETZ Vierzig Jahre Begriffsgeschichte. Vgl. auch EGGERS/ROTHE Die Begriffsgeschichte ist tot, es lebe die Begriffsgeschichte. Bei genauem Hinsehen (dem Blättern in den Tagungspro­grammen der „History of Political and Social Concepts Group“ und in der Zeitschrift „Contri­butions to the History of Concepts“) erweist sich die neue internationale Bewegung hin zur Be­griffsgeschichte als eine Rückkehr zur herkömmlichen Ideengeschichte.

39 KOSELLECK Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte.40 Vgl. etwa GEULEN Plädoyer für eine Geschichte der Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts.

Kritisch dazu u.a. der Kommentar: NOLTE Vom Fortschreiben und Umschreiben der Begriffe, in demselben Heft der Zeithistorischen Forschungen.

41 KOSELLECK Darstellung, Ereignis und Struktur, S. 157.42 So Koselleck in einem 1996 geführten Interview: DIPPER Begriffsgeschichte, Sozialgeschichte,

begriffene Geschichte, S. 193. Gegen die sprachlich-kulturelle Eigenständigkeit schreibt die Frühneuzeit-Forschung an; vgl. etwa KIVELSON Autocracy in the Provinces.

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und „Politik“ legen nahe, dass die „Sattelzeit“ in Russland nicht im späten 18. Jahrhun­dert, sondern im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts verortet werden muss.43

Doch war uns dies nicht auch ohne die Fallstudien mehr oder weniger bekannt? Haben wir nicht auch schon vorher gewusst, dass Übersetzungen und Adaptionen des 18. Jahr­hunderts die Grundlagen des aufgeklärten Russland bildeten? War uns nicht seit langem bekannt, dass die Diskussionen um Russlands Weg in die Zukunft, wie sie in den Salons St. Petersburgs und Moskaus in den 1830er und 1840er Jahren geführt wurden, das neu­zeitliche Denken selbstverständlich machten, und dass die Debatten um die „Großen Re­formen“ der späten 1850er und der 1860er Jahre die Verständigung über die offene Zu­kunft auch in die Provinzen hineintrugen? Sind wir nicht mit der Tatsache vertraut, dass die Rückschläge der Modernisierungsprojekte Ende des 19. Jahrhunderts den Handlungs­drang der Eliten noch weiter antrieben und dass die Weigerung der Autokratie, die Für­sprecher und Gegner des Fortschritts in politische Institutionen einzubinden, die Radika­len in ihrem Handlungszwang bestärkte? Für die Thesen vom Transfer von Konzepten, der Ausdeutung von Begriffen und der ‚eigenen‛ russischen Zeitlichkeit reichen meines Er­achtens die Befunde der bisherigen ideen-, politik-, sozial-, wirtschafts- und kulturge­schichtlichen Forschung aus.44 Wir können sie jederzeit wieder lesen.

Auch die Begriffsgeschichte von Russland als Imperium lässt sich aus der Sekundärli­teratur schnell erschließen: Es war Peter der Große, der den Rechtstitel „Imperator“ in den politischen Diskurs Russlands 1721 einführte und die Mächte in Europa provozierte. Seit­her bildete das Wort Imperium gewissermaßen eine der Brücken, auf denen neue Vorstel­lungen von Herrschaft und Differenz aus Westeuropa nach Russland hineingetragen wur­den. Der neue Herrschertitel half, alte Selbstverständlichkeiten neu zu begründen und dar­aus neue Selbstermächtigungen abzuleiten. In dem Maße, wie eine „vernunftgeleitete“ Öf­fentlichkeit die Zukunft des Zarenreiches neu zu deuten begann, entwickelte sich der Rechtstitel zu einem Begriff, der das Imperium nicht nur als Großmacht definierte, son­dern auch als Verwaltungsstaat, als Wirtschaftsraum und als Laboratorium für verschiede­ne Spielarten der Zivilisierungsmission.45 Nachdem die Eisenbahn und andere Infrastruk­turen der Moderne Russland in die Peripherien gebracht hatten, lud der Begriff die Kritik an der imperialen Machtausübung und der wirtschaftlichen Ausbeutung auf sich. Daher nimmt es nicht Wunder, dass die Bolschewiki ihn nach 1917 nicht wieder reanimierten, sondern stattdessen ihr staatliches Gebilde als „Einheit der Nationen“ organisierten und dieses Konzept nach 1945 auch auf neue Territorien übertrugen.46 Auch wenn sie von der „Völkerfreundschaft“ sprachen und ‚Entwicklungshilfe‛ leisteten, vermochten sie den

43 Vgl. v. a. RENNER Russischer Nationalismus, S. 136–160. Siehe auch SCHIERLE Zur politisch-so­zialen Begriffssprache; SCHIERLE „Otečestvo“; SCHIERLE Semantiken des Politischen; SPERLING Vom Randbegriff zum Kampfbegriff.

44 Eine einseitige Auswahl: RIASANOVSKY A Parting of Ways; EMMONS The Russian Landed Gentry; GERSCHENKRON Economic Backwardness; BLACK Nicholas Karamzin; WORTMAN The Develop­ment of Russian Legal Consciousness; LINCOLN In the Vanguard of Reform; GEYER Der russische Imperialismus; ZELNIK Labor and Society; EKLOF Russia’s Great Reforms; EGIAZAROVA Agrarnyj krizis; SIEGELBAUM The Politics of Industrial Mobilization; BILLINGTON The Icon and the Axe; STITES Revolutionary Dreams; PIPES Russian Revolution.

45 WORTMAN Scenarios of Power; LIEVEN Empire; KAPPELER Rußland als Vielvölkerreich; ZORIN Kormja dvuglavogo orla; BABEROWSKI Auf der Suche nach Eindeutigkeit; VUL’PIUS Vesternizacija Rossii.

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Dissidenten und den Kalten Kriegern im Westen nicht glaubhaft machen zu können, kein „Imperium des Bösen“ zu sein.47

Gegen eine Begriffsgeschichte Russlands sprechen nicht allein die Tatsachen, dass ers­tens die historisierende Modernekritik bereits am Beispiel der deutschen Begriffe durch­exerziert wurde, und dass wir zweitens bereits aus anderer Literatur viel über die Transfers und Aneignungen von Schlüsselbegriffen im Zarenreich der Neuzeit wissen. Im Unter­schied zu den späten 1960er und den 1970er Jahren ist uns die „zweite Dimension“ der monumentalen Begriffsgeschichte längst abhanden gekommen ist. Die spezifische „episte­mologische Konfiguration“ der Gegenwart, die den Sinn und den Aufwand der Be­griffsaufklärung begründete, ist längst zerbrochen.48

Gewiss, Studien zu einzelnen Begriffen oder Begriffsfeldern machen auch heute noch Sinn. Sie können beispielsweise die Verstaatlichung der „westlichen“ Gesellschaften of­fenlegen und uns zeigen, wie die Ökonomie als Handlungsrationalität die Sektoren Bil­dung und Wissenschaft durchdrungen hat. Auf das politische Zeitalter folgte das ökonomi­sche, an dessen Ende der Profit, das Management und die Sicherheit des Status quo den Ausschlag geben.49 Die Ökonomisierung und Globalisierung hat uns längst aus dem ideo­logischen Zeitalter der Neuzeit hinausbefördert. Das Ende des Kalten Krieges schien zwar wieder die Hoffnungen, die „zweite Moderne“ (Ulrich Beck), zu beflügeln. Denn die Ver­nunft des liberalen Denkens brachte das „Imperium des Bösen“ zu Fall und ordnete die Welt neu. Aus dem „Völkergefängnis“ befreit, suchten die Nationen in Ostmitteleuropa, Nordosteuropa, Osteuropa, Südosteuropa, dem Kaukasus und Zentralasien selbstbestimmt ihren Weg in die Zukunft; und nicht wenige von ihnen fanden sich in einer Katastrophe wieder, die Ende der 1980er Jahre begann und bis weit in die 1990er Jahre andauerte, mancherorts sogar bis in den heutigen Tag fortbesteht. Diejenigen, die der Kritik das Wort redeten, waren gegenüber der Krise blind oder machtlos.50 Die Apokalypse, wie sie die Menschen in Frankreich nach 1789 und in Russland nach 1917 durchlebten, konnte nach 1989 nur mit Mühe abgewendet werden.51 Der postimperiale Schmerz wurde aber erträg­lich, nicht allein dank der Freiheit, sondern auch dank der „Konsumrevolution“.52

Der postsozialistische Aufbruch hat auch im Osten Europas in der Gegenwart sein En­de gefunden. Nicht die Erwartungen der Zukunft und nicht das Vertrauen auf die ge­schichtliche Erfahrung bestimmen die Weltsicht, sondern das Bestreben, den Status quo festzuhalten und abzusichern. Die Gegenwart ist dadurch breit geworden, Historizität ist der Gleichzeitigkeit gewichen. Die imperiale Vergangenheit hatte die Sowjetunion zwar Ende der 1980er Jahre eingeholt.53 Doch das scheinbar Abgelöste ist längst zurückgekom­

46 SUNY/MARTIN State of Nations; MARTIN Affirmative Action Empire; SLEZKINE Arctic Mirrors; HIRSCH Empire of Nations; TOLZ Imperial Scholars.

47 Vgl. MILLER Nasledie imperij.48 GUMBRECHT Pyramiden des Geistes, S. 32‒33; GUMBRECHT 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit,

S. 448‒449; GUMBRECHT Unsere breite Gegenwart.49 SKOCPOL Diminished Democracy.50 Vgl. etwa RYBAKOW Roman der Erinnerung, S. 424–426.51 Vgl. etwa KOTKIN Armageddon Averted; OUSHAKINE The Patriotism of Despair; DERLUGUIAN

Bourdieu’s Secret Admirer; NAZPARY Post-Soviet Chaos; HUGHES/SASSE Ethnicity and Territory. 52 ALTHANNS Konsumrevolution in Russland; OUSHAKINE The Quantity of Style; BAKER Consuming

Russia; MANDEL/HUMPHREY Markets and Moralities.53 Vgl. etwa SUNY The Revenge of the Past.

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men. So wird das alte Imperium heute beispielsweise als Revival des sowjetischen Pop­festivals in Jurmala, Lettland, zur Primetime wieder erfahrbar, ohne dass die Fernsehzu­schauer im Baltikum oder in der Ukraine sich dabei die politische Wiederbelebung der So­wjetunion vorstellen müssen.54 Zur selben Zeit ruft eine in Kazan’ verortete, aber interna­tional agierende Forschergruppe auf, Russland und die Sowjetunion als imperiale „Staats- und Gesellschaftsform“ (polity) zu konzeptualisieren und zu historisieren, ohne dabei die neuen Apologeten der postsowjetischen Nationalgeschichten aus den Augen zu verlieren. Das Imperium ist überlebt, die Geschichtlichkeit von Nation bleibt aber abseits der durch­schaubaren Demagogie fraglich.55 Daher wird die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen konsumiert und politisiert, wenn es zum Beispiel darum geht, rassistische Gewalt durch den sowjetischen Topos der „Völkerfreundschaft“ und durch noch ältere Topoi – von der „Multikonfessionalität“ aus der Katharinäischen Epoche und überhaupt von der „asiati­schen“ Verfasstheit des „Landes“ aus den slawophilen Debatten des 19. Jahrhunderts – zu entschärfen.56 Dabei ist Vladimir Putin nicht der einzige, der sich alter Topoi des Imperi­ums bedient. Ob die Menschen in Armenien ihren Bürgerkrieg zu überwinden suchen oder ob sie in Kyrgystan der ethnischen Gewalt Einhalt gebieten wollen, immer rufen sie impe­riale „Szenarien der Macht“ (Richard Wortman) an, weil diese Szenarien im Gegensatz zum modernen Konzept der Nation eine Einheit der Vielheit wieder denkbar machen las­sen.57 Zugespitzt formuliert, das russisch-sowjetische Imperium lebt, ohne den Todesstoß verwunden zu haben.58

Wir befinden uns heute also in einer gänzlich anderen epistemologischen Situation als die Großväter der monumentalen Begriffsgeschichte in den 1960er Jahren.59 Anstelle der Zukunft steht heute die „Retroutopie“ auf der Tagesordnung, deren Potentiale in der Ver­gangenheit als vertan erachtet werden, in vollem Bewusstsein, dass sie weder heute noch morgen in vollem Umfang zu reanimieren sind.60 Es ist eben diese Situation, die unser Denken von Geschichte als Vielheit prägt und die sich in unseren Begriffen ebenso wie in unserem Handeln niederschlägt. Außerhalb dieses Standortes macht die Analyse von Ge­schichte heute keinen Sinn.61 Es ist eine Situation, in der Lexika, Nachschlagewerke und Handbücher als Reminiszenzen an einen linearen Fluss der Zeit erscheinen, einer Zeit, in der das Lernen durch die Geschichtsphilosophie noch möglich schien. Aber die nachzu­schlagende Beständigkeit gleicht heute einer Heterotopie, einem in der Welt verankerten

54 PLATT Russian Pop as Soft Power. Allgemein: TODOROVA/GILLE Post-Communist Nostalgia.55 GERASIMOV In Search of a New Imperial History; GERASIMOV New Imperial History.56 So Vladimir Putin auf der landesweit ausgestrahlten (vesti24) Sitzung des Staatsrates anlässlich

der ethnischen Unruhen in Moskau am 27.12.2010.57 LEHMANN Eine sowjetische Nation, S. 267; REEVES Mourning, Violence and Political Com­

munity.58 Vgl. dazu den Sammelband von MILLER Nasledie imperij. Ebenso die Podiumsdiskussion, die

von der Stiftung „Liberal’naja missija“ anlässlich der Publikation des Bandes organisiert wur­de: http://www.liberal.ru/articles/1468 (letzter Besuch, 12.03.2011).

59 Zum Ende des Postsowjetischen vgl. den diskussionswürdigen Beitrag von PLATT The Post-So­viet is Over.

60 Mit Blick auf Südosteuropa: BUDEN Zone des Übergangs.61 KOSELLECK Standortbindung und Zeitlichkeit. Überlegungen zum Notieren und Schreiben von

Geschichte als erkenntnisführendem Prozess: WOLFF / KRAUS Notation – Niederschrift – Ge­schichte.

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Ort, an dem die Utopie der alten Wissenschaft wieder erfahren werden kann, jedoch nur so lange, wie man an diesem „anderen“ Ort lesend und schreibend verweilt.62 Um diesem li­nearen Fortstreben zu entrinnen, träumten Historiker und noch mehr Freizeithistoriker um 1900 vom Archiv, das ihnen Antworten auf die elementaren Fragen von Leben und Tod zu liefern versprach.63

„Wer sich mit Geschichte beschäftigt“, hat Reinhart Koselleck geschrieben, „und sie als Sozialgeschichte definiert, der grenzt seine Thematik offensichtlich ein.“64 Dasselbe gilt auch für diejenigen, der nach der Bedeutung von Imperium im Zarenreich fragen und sich methodisch auf die Begriffsgeschichte beschränken. In der Reflexion von Begriffen spricht vor allem die Reflexion, nicht der Begriff, der von eigensinnigen, deutenden, miss­deutenden und umdeutenden Menschen auf die Welt bezogen wird.65 Daher wende ich mich im Folgenden konkreten historischen Menschen im späten Zarenreich zu, um zu zei­gen, wo die Grenzen der Begriffsgeschichte in der Interpretation liegen.

Die „schlafende Schöne“ und die Sehnsucht der russischen Provinz um 1900

Im Sommer 1909 machte in den nördlichen Gouvernements Russlands ein Eisenbahnpro­jekt die Runde. Es ging um nichts weniger als um die Verbindung des Zentrums mit dem hohen Norden, der oberen Wolga mit dem Oberlauf des sibirischen Flusses Ob’. Es han­delte sich um eine Strecke von rund 1900 Kilometern, die immerhin 163 Millionen Rubel kosten sollte. Georgij Vrioni, der sich mit einem Projektvorschlag an das Finanzministeri­um wandte, hatte eine kühne Vision. In einem Zeitungsartikel suchte er seine Leserschaft dafür zu begeistern, „Dornröschen“, der „schlafenden Schönen“, mit der Eisenbahn Leben einzuhauchen: „Der Norden – möge der Leser den poetischen, aber leicht anrüchigen Ver­gleich verzeihen – ist wie jene märchenhafte russische Schönheit, die im verwunschenen Wald schläft. Sie wird vom zornigen Drachen Gorynyč bewacht, und jener Recke, der kommen wird, um sich der Schönen zu bemächtigen, muss erst den Kampf mit der Hydra, der Bestie aufnehmen.“66

Der Norden war eine alte Peripherie, die das Moskauer Fürstentum seit dem 15. Jahr­hundert sich einzuverleiben begann. Die Region war Russland nicht nur auf der geo­graphischen, sondern auch auf der mentalen Karte näher als irgendeine andere Peripherie des Reiches. Dieses Gefühl der Nähe wurde dem Norden auch deshalb entgegengebracht, weil er seit dem 18. Jahrhundert als Metapher für Russland und den russischen National­charakter galt. Denn mit Montesquieus Klimatheorie wandte sich die Aufklärung dem Norden zu, den sie sich als tabula rasa vorstellte und von dessen couragierten Menschen sie sich noch einiges erhoffte. Ebendiese Vorstellungen wurden nach der Thronbesteigung Katharinas der Großen an Russland herangetragen, so beispielsweise von Voltaire, und sie wurden von den eigenen Gelehrten des Zarenreiches, etwa von Michail Lomonosov, be­reitwillig aufgenommen. Nicht zuletzt der Sieg über Napoleon, der auf den Schultern des besonders frostigen Winters 1812/13 errungen wurde, stärkte dieses Selbstverständnis der

62 FOUCAULT Von anderen Räumen.63 WIMMER Geschichte historischer Einbildungskraft.64 KOSELLECK Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte, S. 9.65 DE CERTEAU Kunst des Handelns; FÜSSEL Von der Förmlichkeit der Praktiken.66 VRIONI K sooruženiju magistrali, S. 4.

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gebildeten Eliten im Zarenreich. Mitte des 19. Jahrhunderts begann das Bild der Steppe und der Wolga dem Norden den Rang als nationale Landschaft abzulaufen.67 Die russische Provinz, wie sie in den Stücken von Nikolai Gogol und Anton Tschechow, in den Roma­nen von Iwan Gontscharow und Fedor Dostojewski oder auf den Gemälden von Ilja Repin und Isaak Levitan zum Ausdruck kommt, umfasst nicht den Norden, sondern das Kern­land, das außer der Weite keine Eigenschaften zu besitzen scheint. Erst Ende des 19. Jahr­hunderts wurde der Norden von Politikern und Poeten wiederentdeckt.68

Doch der Norden erschien nicht allein als russische Region, in der die Sitten der Bau­ern und der Geist der Mönche von den korrupten Einflüssen der Moderne ungetrübt gedei­hen konnten.69 Vielmehr wurde das Gebiet, ähnlich wie Sibirien, als imperiale Peripherie neu gedeutet: An der Wildnis konnte man sich erfreuen, doch offenbar nur für einen Au­genblick, denn die raue Natur galt es zu zähmen – im Namen des Fortschritts und der Zi ­vilisierungsmission. Die Schätze des Nordens gaben Anlass für patriotischen Stolz, waren aber ebenso Objekte der Begierde, wurden schamlos als willkommene Beute angesehen. Nicht die Ästhetik der Wildnis, sondern die Rohstoffe waren es, die den Norden auf die Karte des Imperiums zurückbrachten, denn sie wurden auch von anderen Großmächten Europas begehrt.70 Auch Georgij Vrioni lockten sowohl die ‚Reize‘ des Nordens ebenso wie die „unerschöpflichen Reichtümer, die die jungfräuliche Region aufzuweisen“ hatte: In der Tiefe „unseres heimatlichen Nordens schlummern Gold, Öl und Holz“ sowie un­endlich viel braches Land, geeignet zur Zivilisierung durch „Kolonisierung“.71

Georgij Vrioni war kein herausragender Kaufmann. Obwohl er ein kleines Vermögen besaß, war sein Name in keinem gängigen Branchenverzeichnis nachzuschlagen. Aber dennoch schaffte er es, mit seinem Vorschlag viele Menschen anzusprechen. Das abenteu­erliche Projekt wurde zuerst von der „Gesellschaft“ von Jaroslavl’, der Gouvernements­stadt im Nordosten von Moskau, aufgegriffen. Die Gesellschaft dieser Provinz verortete sich zwar selbst im Norden, entwarf sich dezidiert als eine dem Zentrum ferne Region. 72 Doch der Norden war für sie zugleich auch eine fremde Peripherie, von deren Aneignung sie sich viel versprachen. Auch die städtischen und die ländlichen Selbstverwaltungen von Rybinsk und von Romanov-Borisoglebsk, beide im Gouvernement Jaroslavl’ gelegen, meldeten sich zu Wort. Die Kaufleute von Rybinsk bemühten sich schon seit den 1890er-Jahren darum, ihren Getreideumschlagplatz als Knotenpunkt einer von Petersburg bis zum Ural verlaufenden Strecke zu etablieren, was ihnen in den letzten Jahren des Zarenreiches auch gelang. Die Eliten von Romanov-Borisoglebsk kämpften hingegen seit langem für eine günstig verlaufende Eisenbahn durch ihren Kreis.73

67 BOELE The North in Russian Romantic Literature; LEMBERG Zur Entstehung des Osteuropabe­griffs; ELY This Meager Nature; Ely The Origins of Russian Scenery; HAUSMANN Mütterchen Wolga.

68 DURKIN Sergei Aksakov; LOUNSBERY Dostoevskii’s Geography; LOUNSBERY Provincialism, Au­thenticity, and Russianness.

69 Vgl. dazu DJUŽEV Istorija russkoj poėzii.70 Vgl. etwa FAY The Kaiser’s Secret Negotiations; The Forest Region of North-East Russia;

KENNAN Soviet-American Relations; ULLMAN Anglo-Soviet Relations. Vgl. auch BARON A Clash of Imperialisms.

71 VRIONI K sooruženiju magistrali, S. 4.72 Vgl. SPERLING Der Aufbruch der Provinz, S. 214‒222.

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Die Deputierten, Beamten, Landbesitzer und Unternehmer von Rybinsk telegraphierten nach einer abendlichen Sitzung nach Petersburg: Vrioni, schrieben sie dem Finanzminis­ter, habe sie überzeugt.74 Sie alle wollten nicht nur von der Eisenbahn profitieren, sondern auch unmittelbar Gesellschafter dieser Unternehmung werden. In Rybinsk und Romanov-Borisoglebsk wurde das Projekt von Vrioni in den Versammlungen der Stadtduma und der Kreisselbstverwaltung ohne langes Hin und Her angenommen und entsprechende Einga­ben und Telegramme wurden verfasst. Es folgten die Gouvernementstadt Jaroslavl’ und die Kreisstädte Danilov und Ljubim. Selbst im Kreis Pošechon’e, den die geplante Strecke nicht einmal streifte, hatten die Bauern die Presseberichte falsch verstanden und die Kreis­selbstverwaltung zum Handeln aufgefordert.75 Es scheint, als habe jeder von der Eisen­bahn und den „Reichtümern“ des Nordens profitieren wollen. Lediglich der Vorsitzende der Selbstverwaltung des Kreises Danilov, Michail Borščov, glaubte den Versprechungen Vrionis nicht. Doch dem lang gedienten Vorsitzenden widersprachen jüngere Deputierte entschieden. Sie hielten ihm entgegen, dass es dabei nicht um einen Traum gehe, sondern um die „industrielle und ökonomische Entwicklung des Kreises, wenn nicht gar des Gou­vernements“.76

Auch die Städte und Kreise der benachbarten Gouvernements Kostroma und Vologda schlossen sich dem Vorhaben an. In Soligalič, der im Norden von Kostroma gelegenen Kreisstadt, versuchte man, dem Projekt eine eigene Richtung zu geben. Bisher habe sich in der Region (kraj) kein nennenswertes Gewerbe, geschweige denn eine Industrie entwi­ckeln können, beklagten die Eliten von Soligalič ihr Schicksal. Eisenbahnen gebe es dort keine. Der Verkehr auf den Landstraßen komme aber im Frühjahr zum Erliegen. Die Ei­senbahn Rybinsk-Obdorsk, schrieben sie dem Finanzminister, sei wirklich notwendig, weil sie den „Norden als Ganzes“ beleben und seine „Reichtümer“ dem „zentralen Markt“ zuführen werde.77 Eine Region entwarf sich als Provinz. Doch die Eliten, die den Staat in die Pflicht nahmen und ihre Meinung in Zeitungen verbreiteten, wollten die Starre der Provinz überwinden. Die Bodenschätze des schlummernden Nordens sollten ihnen dabei helfen. Die Peripherie des Imperiums war ihre Chance auf die Zukunft, zu der Georgij Vrioni ihnen möglicherweise verhelfen konnte.

Vrionis Projekt stieß in der Öffentlichkeit kaum auf Kritik. Einer der wenigen Kritiker störte sich lediglich daran, dass Vrioni keine ‚harten Zahlen‘ vorweisen konnte. Doch ab­gesehen davon, stimmte der Kritiker in den Chor der Zivilisierungs- und Erschließungs­

73 Siehe die entsprechenden Akten der Ministerien für Finanzen und Verkehr, ebenso der Kanzlei des Gouverneurs von Jaroslavl’ in: RGIA, f. 268, op. 3, d. 507, d. 508, d. 509, d. 510, d. 1097; f. 219, op. 1, d. 9772; f. 274, op. 2, d. 239; GAJaO, f. 512, op. 1, d. 825, d. 896, d. 1014; Fer­ner: Vopros o napravlenijach; O železnych dorogach v severnoj Rossii; Vnutrennee obozrenie, S. 51f.; Severnye dorogi, S. 3; Jaroslavskaja žizn’, S. 3; Rybinsk. Proekt ž.d. linii meždu Ry­binskom i Danilovym, S. 3; S.-Peterburgsko-Volžskaja ž. dor., S. 3; Peterburgo-Volžskaja želez­naja doroga, S. 2; Burlak (Rybinsk), N. 167 (19.06.1909), S. 2; Vestnik Rybinskoj birži, N. 23 (30.07.1909), S. 1.

74 Vgl. das Telegramm des Kreiszemstvo und der Stadt: RGIA, f. 268, op. 3, d. 1113, ll. 17–18; LIBER Romanovo-Borisoglebsk, S. 3.

75 Siehe Iz Pošechonskogo uezda, S. 3. 76 DANILOV Uezdnoe zemskoe sobranie, S. 3.77 Vgl. die Eingabe der Stadt und der ländlichen Selbstverwaltung: RGIA, f. 268, op. 3, d. 1113,

ll. 34–38 ob, Zitate l. 34, 34 ob.

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euphorie ein: „Die Vorstellung, dass der kalte und starre Norden zum Leben erwacht, dass das Stampfen und Pfeifen der Dampfloks der Stille des Urwaldes ein Ende bereitet, dass mit Getreide und Fisch beladene Wagons jene Landstriche durchqueren, durch die heute Bären und Hirsche schreiten – dies alles kann niemanden unberührt lassen.“78 Anfang des 20. Jahrhunderts erschien die Erschließung des Nordens als eine vertraute Phantasie. Denn für ihre Verwirklichung lag im Zarenreich ein erprobtes ‚Drehbuch der Zukunft‘ bereit: Sibirien, nun Maßstab für die Durchdringung und Kolonisierung, wies der Gesellschaft den Weg in die Zukunft. Denn nach der Errichtung der Transsibirischen Eisenbahn, so der Autor des oben zitierten Artikels, habe sich Sibirien völlig verändert. Neue Zentren seien entstanden und, überhaupt habe Sibirien innerhalb von wenigen Jahren einen großen Sprung nach vorne gemacht. Auch der Norden war seiner Ansicht nach dazu fähig. Um dies zu belegen, zitierte er den liberalen Ökonomen Ivan Ozerov, der 1909 als Repräsen­tant der Akademie der Wissenschaften und der Universitäten in den Reichsrat gewählt und 1911 in den Vorstand der „Russisch-Asiatischen-Bank“ berufen wurde. Ozerov hatte ge­schrieben: „Das riesige Gebiet haben wir fälschlicherweise für unbewohnbar gehalten, dem Leben von Menschen gänzlich verschlossen. Unerschöpflich sind indes die Reichtü­mer, die uns dort umgeben. Mit Geisteskraft und harter Arbeit werden wir jene Territorien bezwingen.“79

Die Geschichte von Vrionis Projekt lässt sich hier abbrechen. Denn aus den hochtra­benden Plänen seiner Gesellschaft wurde nichts. Eine Bahn vom Zentrum Russlands zum Oberlauf des Flusses Ob’ wurde erst unter Stalin gebaut; die Strecke Konoša-Kotlas-Vor­kuta erst während des Zweiten Weltkrieges eröffnet. Oder der Vorschlag Vrionis könnte ausgeweitet und in anderen Geschichten weiter verfolgt werden, denn der Kaufmann hatte es nicht nur geschafft, die russische Provinz zu begeistern, sondern auch potentielle Geld­geber in Paris neugierig zu machen.80 Die Argumente, mit denen der Kaufmann die Aus­beutung der Peripherie begründete, wurden ebenso in St. Petersburg verstanden, wo sich neben Vrioni auch andere um eine Eisenbahnverbindung nach Nordwestsibirien bemühten und dafür um die Gunst des Staates und des Kapitals warben. Mindestens 18 Projekten hatte Vrioni sich zu stellen und sich mit Kontrahenten auseinanderzusetzen, die wie er selbst Mitglieder der jüngst gegründeten „Archangel’sker Gesellschaft zur Erforschung des Russischen Nordens“ waren. Dieser Gesellschaft gehörte nahezu die gesamte Verwal­tungs- und Bildungselite von Archangel’sk an. Ebenso hatte sie Mitglieder in den angren­zenden Gebieten und in den beiden Hauptstädten des Reiches. In dieser Gesellschaft ver­sammelten sich alle, die im Norden Rang und Namen hatten: vom Vizegouverneur bis zu Mitgliedern der Akademie der Wissenschaften, von Lehrern und Landvermessern bis zu Kaufleuten und Großindustriellen.81

Die gesamte „gebildete“ Gesellschaft der Region meldete ihr Interesse an der Erschlie­ßung, Nutzung und ‚Vernutzung‘ des Nordens an, und Vrioni hatte die Interessen dieser

78 MICHAJLOV O proektiruemoj železnoj doroge, S. 1. 79 MICHAJLOV O proektiruemoj železnoj doroge, S. 1; OZEROV Russkij sever. Siehe auch: NORMAN

Počemu neobchodimo zaselenie; OZEROV Gornye zavody Urala, S. 63–71. Wozu „Geist“ und „harte Arbeit“ fähig waren, musste Ozerov Anfang der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts in einem der Solovki-Lager erleben.

80 Vgl. den Bericht des Finanzministeriums: RGIA, f. 268, op. 3, d. 1114, l. 34.81 OREŠINA Russkij Sever, S. 137–143; KOROTAEV Russkij sever, S. 44‒45; EL’KIN Transportnye

proekty, S. 545–547.

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Gesellschaft zu berücksichtigen.82 Im September 1909 fuhr er auf offizielle Einladung der Gesellschaft nach Archangel’sk, um den Mitgliedern die Vorzüge seines Projekts darzule­gen. Keines der von dieser Gesellschaft diskutierten Eisenbahnprojekte wurde im Zaren­reich begonnen und dies, obwohl die Erkundungs- und Vermessungsarbeiten unter ande­rem von norwegischen Unternehmen finanziert wurden. Doch die Pläne der Gesellschaft waren genauso wie die Pläne Vrionis offenbar nicht absurd, denn die Vorstellungen, die darin ausgebreitet wurden, machten die sowjetischen Verkehrs- und Wirtschaftsexperten ebenso schwach wie die Abenteurer, Kapitalisten und Bildungsbürger des späten Zarenrei­ches.83

Diese Episode und unzählige ähnliche Geschichten würden in einer Begriffsgeschichte des Imperiums nicht vorkommen. Begriffshistoriker würden sie aussortieren oder gar nicht erst auf ihre Zettel aufschreiben. Und dies wäre auch methodisch konsequent. Denn was Beamte, Wissenschaftler, Unternehmer und Vertreter lokaler Selbstverwaltungen dort verhandelten, hat zwar mit dem Imperium zu tun, doch die Bedeutungen, die in Projekt­vorschlägen, Pamphleten, Zeitungsartikeln und Diskussionen zum Ausdruck gebracht wurden, haften nicht am Imperium als Wort oder Wortfeld. Darüber hinaus spiegeln diese Bedeutungen keine begriffliche Reflexion wider, wie ein Begriffshistoriker sie stets zu finden erwartet.84 Und möglicherweise fände ein moderner Historiker in den Stimmen von Georgij Vrioni und von anderen Provinzlern nichts „imperiales“, denn es gehe dabei, so ein möglicher Einwand, lediglich um die Erschließung und Besiedlung einer Peripherie.85 Doch was zumindest die Volkstümler unter den Zeitgenossen wussten: Menschenleer wa­ren diese Gebiete nie.86

Alte, neue Schönheit: Semantiken, Metaphern, Netzwerke

Wer Begriffsgeschichte nicht als Wortgeschichte betreibt, wird in solchen Verdichtungen der gesellschaftlichen Selbstverständigung nachvollziehen, wie im Sprechen über Territo­rium Deutungsmacht ausgeprägt wurde. In Situationen wie diesen taten sich Mitglieder ei­ner gebildeten Gesellschaft als „kleine Orientalisierer“87 hervor, die die zu erobernden oder ins Reich zu integrierenden Peripherien als „unseren Norden“, „unser Sibirien“, „un­sere Krim“, „unseren Kaukasus“ oder „unser Turkestan“ entwarfen. Denn ohne das Stre­ben nach Profit und ohne die Zivilisierungsmission machte es für die meisten Vertreter der Gesellschaft keinen Sinn, den Norden oder irgendeine andere entfernte Peripherie an die Kerngebiete Russlands anzugliedern. Die Semantiken des Zivilisierens waren Selbster­mächtigungen, sich die Zukunft einer Peripherie auf eine Weise vorzustellen, wie die dort lebenden Menschen es sich nicht vorzustellen vermochten. Die „trübsinnigen Finnen“, wie ein populärer Provinzreiseführer 1913 die „fremdstämmige“ Bevölkerung des Nor­dens bezeichnete,88 sind vor der Begegnung mit der „Zivilisation“ und der „Moderne“ da­

82 VOL’TMAN Vostočno-Ural’sko-Belomorskaja železnaja doroga. 83 SLAVIN K istorii ž. d. stroitel’stva, S. 194‒195.84 So etwa PLOTNIKOV Ot „individual’nosti“ k „identičnosti“.85 Vgl. dazu SUNDERLAND Empire without Imperialism? SUNDERLAND The „Colonization Question‟;

STOLBERG The Siberian Frontier.86 SLEZKINE Arctic Mirrors; BASSIN Imperial Visions, S. 174‒178.87 LAYTON Russian Literature and Empire, S. 156–174.88 Jaroslavl’ v ego prošlom i nastojaščem, S. III.

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zu gar nicht imstande gewesen. Darin unterschieden sie sich weder von den Indianern in Illinois noch von den Bewohnern von Botsuana. Aber eine historische Semantik des Impe­riums würde dieses Sprechen im Regulativ der deutenden Macht nicht als Gelegenheit nutzen, die gebildeten „Russen“ zu belehren.89 Vielmehr ginge es ihr um ein Selbstver­ständnis der Zeit, das im langen 19. Jahrhundert auch andere Europäer teilten. Um 1900 hatten selbst Kritiker des Imperiums nichts gegen die Erschließung fremder Räume und ebenso nichts gegen die Neuordnung fremder Gesellschaften. Denn die Kolonisierung, so das Selbstverständnis, würde den ‚Rückständigen‛ ja die Moderne bringen. Der „Englän­der beutet Chinesen, Sepoys und Hindus aus“, schrieb Anton Čechov seinem Verleger und Freund Aleksej Suvorin, „aber dafür gibt er ihnen Straßen, Wasserleitungen, Museen und das Christentum.“90

Weil die Vereinnahmung von Territorien und Völkern seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr allein mit dem Willen Gottes begründet werden konnte, wurde das Imperium in Be­griffen des Gebens und Nehmens gedeutet.91 Auch diejenigen Vertreter der lokalen Gesell­schaft von Jaroslavl’, die Georgij Vrioni und anderen Eisenbahnvisionären beipflichteten, stellten sich die Erschließung und Zivilisierung des Nordens als Tausch vor. So auch der Autor eines Artikels in der Provinzzeitung „Vestnik Rybinskoj birži“, die vor allem die Kaufmannschaft als Leser vor Augen hatte. Interessant ist, wie der ‚visionäre‛ Autor die Erschließung der Peripherie einer an Handel und Gewinn orientierten Leserschaft erklärte:

„Auf den Markt von Rybinsk werden selbst Waren aus solchen Regionen gelangen, die sich jetzt noch im Zustand der gesellschaftlichen Versteinerung befinden. Und es verwundert nicht, dass sich nunmehr diejenigen Menschen über die Ankunft der Eisenbahn freuen, die bisher über keinerlei Verkehrsanbindungen verfügten […] Welche Hindernisse müssen diese Men­schen überwinden, welche Strapazen auf sich nehmen, wenn sie reisen und ihre Waren zu den nächstgelegenen Märkten bringen wollen […] Aber mit dem Bau der geplanten Eisenbahnen wird sich das gewerbliche, industrielle und soziale Leben bei uns grundlegend wandeln. Der Handel wird sich kolossal erweitern.“92

Von der zusätzlichen Eisenbahnstrecke würde also Rybinsk als Handelsknotenpunkt profi­tieren, aber auch die Menschen in den entlegenen Regionen des Nordens, die es nunmehr leichter haben würden, ihre Waren abzusetzen. Dabei wird als gegeben vorausgesetzt, dass diese Menschen von nichts anderem träumen, als mit dem Eisenbahnnetz Russlands und mit den etablierten Wirtschaftszentren des Nordens verbunden zu werden. Die Verspre­chen auf Profit, sowohl für einzelne Kaufleute als auch für die Stadt, deckten sich mit dem utopischen Versprechen des Fortschritts, die Welt in einen besseren Ort zu verwandeln. Aus der Perspektive der Eliten von Rybinsk erscheint die Eisenbahn als ein faires Ge­schäft: „Selbstverständlich werden sich dank dem Fortschritt der Eisenbahnen die fern der urbanen Zivilisation gelegenen Regionen bereichern und ihren jetzigen Zustand überwin­den.“93 Was die Menschen des entlegenen Nordens davon hielten, interessierte nicht. Im Unterschied zu Dichtern wie Andrej Belyj und Malern wie Vasilij Kandinskij hatten die

89 So noch die ältere Imperiumsforschung, etwa KAPPELER Rußland als Vielvölkerreich, aber auch manche jüngere Arbeiten: JOBST Die Perle des Imperiums.

90 ČECHOV Briefe, S. 201.91 OSTERHAMMEL Zivilisierungsmission und Moderne, S. 363–425.92 Novye puti i progress, S. 3. Vgl. auch: V Pravlenie Moskovsko-Vindavo-Rybinskoj železnoj

dorogi, S. 2.93 Novye puti i progress.

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Eliten von Rybinsk kein Auge für das „exotische Selbst“ – für die Skythen und Mongolen, deren ‚Blut‛ in den Adern aller Russen immer noch zu fließen schien.94 Und anders als die ambitionierten aufgeklärten Beamten in Taškent hatten sie keinen Ehrgeiz, die Utopie des zivilisierten Europas an der leer und formbar scheinenden Peripherie zu verwirklichen, da­mit die „Schönheit“ der Zivilisation auf das übrige „rückständige“ Russland ausstrahlt.95 Wer wie der Autor der Provinzzeitung die Ausweitung des Imperiums mit seinem eigenen Schicksal verband, ging von sich selbst aus – von seinem Ort und von seiner Region und nicht vom Standpunkt der anderen.

Die um Semantiken erweiterte Begriffsgeschichte würde somit ein Spektrum von Sag­barkeiten aus der Überlieferung herausschälen. Doch damit hätte sie ihre methodischen Grenzen auch schon erreicht.96 Denn sie könnte uns gar nichts darüber sagen, warum Ge­orgij Vrioni zum Bild der schlafenden Schönen griff und ausgerechnet mit dieser eroti­schen und sexistischen Metapher den Applaus einer ansonsten eher prüden Leserschaft einzuheimsen hoffte. Zweifelsohne, Dornröschen war der gebildeten Gesellschaft ein Be­griff. Es war das Motiv des von Charles Perrault und den Grimm-Brüdern edierten Mär­chens sowie des gleichnamigen Balletts, das Pjotr Tschaikowski 1890 in St. Petersburg ur­aufführte. Aber Vrioni war sich der Schlüpfrigkeit seiner Metapher bewusst. Daher hat er – oder ein sensibler Redakteur – sich bei seinen Lesern im Voraus entschuldigt. Wird aber die Metapher der „schlafenden“ und „prächtigen“ Schönen nicht als Fetisch eines Einzel­nen abgetan, sondern zum Gegenstand der Untersuchung gemacht, dann erfahren wir mehr über die Gelüste von Kaufleuten, Beamten oder Ethnographen – über die ‚Affäre‘ mit dem Imperium, zu der die Eisenbahn ihnen verhalf. Dabei dürften wir uns jedoch nicht mit Leerformeln vom „Anderen“ begnügen, sondern, auf den Spuren von Hans Blu­menberg, Metaphern ergründen, die Ansichten und Thesen wahrhaftig erscheinen lassen.97

Dies bedeutet, die Metaphern aus ihrem Schattendasein herauszuholen und ihnen mehr zuzugestehen, als nur schmückendes Beiwerk von Rednern zu sein. Denn den Bildern, in die Menschen ihre Eindrücke von der Welt fassen und mit deren Hilfe sie diese Eindrücke anderen vermitteln, wohnt eine „Überzeugungskraft als eine ‚Qualität‛ der Wahrheit selbst“ inne.98 Und diese Überzeugungskraft lässt sich, schreibt Hans Blumenberg, nicht in Begriffe übersetzen. Anders gewendet, Metaphern gehen nicht in Begriffen auf. Daher sollten wir nicht allein Begriffe ergründen, sondern fragen, was diese Begriffe mit der Le­benswelt der Menschen verbunden hat. „Daß die Welt ein Buch sei, in dem man lesen könne oder nach Mühseligkeiten der Entzifferung schließlich lesen würde, ist eine meta­phorische Erwartung über die Art der Erfahrung. Sie ist aus der lebensweltlichen Einstel­lung vor aller Theorie und unterhalb aller Theorie in unserer Geschichte schwer wegzu­denken und schon deshalb rückblickend im Auge zu behalten, weil sie den bloßen Nut­zungswert der Welt, vermittelt durch das Instrument der Wissenschaft, als sekundären

94 Vgl. SCHIMMELPENNINCK VAN DER OYE Russian Orientalism, S. 218.95 SAHADEO Russian Colonial Society, S. 58–68; KHALID The Politics of Muslim Cultural Reform,

S. 45–79.96 Es sei denn, die historische Semantik wird, wie von Ralf Konersmann vorgeschlagen, ganz

breit als „Bedeutungsgeschichte“ gefasst, der ganz allgemein das Bestreben innewohnt, „die in der Begriffsgeschichte verbreitete Orientierung am isolierten Begriffswort“ aufzugeben. KO­NERSMANN Der Schleier des Timanthes, S. 43.

97 Vgl. BLUMENBERG Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit. 98 BLUMENBERG Paradigmen zu einer Metaphorologie, S. 6.

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Richtungssinn des theoretischen Verhaltens zu verstehen gibt“.99 Gehen wir über Meta­phern hinweg, begreifen wir also nur die Hälfte jenes „Richtungssinns“ der Menschen oder vielleicht auch rein gar nichts.

Statt Fragen aufzuwerfen, woher und zu welchem Zeitpunkt die Intelligenzia ihre Be­griffe des Imperialen entlieh, sollten wir einem Sinn nachspüren, der im Nichtexplizierten mitschwang und, wie die Metaphern Wahrheit, Licht, Schiffbruch oder Tod, ein Verstehen ermöglichte. Wer aus der fruchtlosen Diskussion ausbrechen möchte, ob denn das Zaren­reich ähnlich wie die europäischen Großmächte ein „böses“ Imperium gewesen sei, das seine Subjekte zu unterjochen strebte, oder ob Russlands historische und geographische Nähe zu „Asien“ die kulturelle Kluft überbrückt habe, muss den Gegenstand mit schärfe­ren Prismen ergründen.100 Es muss ja einen Sinn gehabt haben, warum die Zeitgenossen des langen 19. Jahrhunderts von den Peripherien und Kolonien in sexistischen Metaphern träumten. Während die einen, wie Georgij Vrioni, auf Unschuld und Fruchtbarkeit abho­ben, sprachen andere vom Knebeln und Fesseln, vom Bewachen und von Zwang. Denn bereits die Dichter der Romantik wussten, dass die schöne Fremde zwar schwach war, dann aber „irrational, rachsüchtig, gierig, unersättlich und gar blutrünstig“ werden konnte. Susan Layton fasste diesen literarischen Topos mit dem Halbsatz: „woman as a victim with the capacity to kill.“101

Emotionen der Begierde und der Angst wurden nicht nur in der Literatur verhandelt, sondern selbst in noch so trockenen Eisenbahnprojekten zum Ausdruck gebracht. Sie wa­ren das, was der britische Historiker Ronald Hyam „surplus energy“ nannte, die das ex­pandierende Unternehmen Imperium befeuerten.102 In den Metaphern des Imperiums lässt sich eine Gesellschaft begreifen, die durch die Möglichkeiten des Fortschritts angestachelt und zugleich tief verunsichert war. Im Anschluss an Laura Engelstein ließe sich auch über die patriarchale Gesellschaft des Zarenreiches behaupten, dass sie mit Bildern sexueller Gewalt eine „Waffe der Schwachen“ in Anschlag brachte, um ihre eigene Schwäche zu überspielen.103 Mit anderen Worten, in dem, was diese Gesellschaft über ihre Peripherien und Kolonien sagte, lässt sie sich besser oder zumindest anders erkennen als in den Reden und Reflexionen über sich selbst. Und dann hört man auf, sich darüber zu wundern, dass Offiziere und Soldaten des Imperiums an den Peripherien des Reiches Gewalt sprechen ließen, denn die Metaphern des Tausches im Namen der Zivilisierungsmission konnten die Menschen im Kaukasus, in Zentralasien oder im Weichselland, wie übrigens auch die Bauern und Arbeiter im Inneren des Reiches, nicht immer überzeugen.104

99 BLUMENBERG Schiffbruch mit Zuschauer, S. 91. Vgl. auch BLUMENBERG Die Lesbarkeit der Welt; BLUMENBERG Licht als Metapher der Wahrheit. Siehe auch: ZILL „Substrukturen des Denkens“. Zur Metaphorik auch in der „zählenden“ Geschichtsschreibung vgl. RÜTH Metaphern in der Ge­schichte.

100 Vgl. die polemisierenden Beiträge von KHALID Russian History and the Debate over Oriental­ism; und KNIGHT On Russian Orientalism; TODOROVA Does Russian Orientalism Have a Russian Soul? Siehe auch die Diskussionsbeiträge von David Schimmelpenninck van der Oye, Alek­sandr Ėtkind, Nathaniel Knight und Elena Kėmpbell in „Ab Imperio“ (2002), H. 1. Dazu nun vergleichend: MORRISON Russian Rule in Turkestan.

101 LAYTON Eros and Empire, S. 203 u. 213.102 HYAM Empire and Sexuality.103 ENGELSTEIN Weapon of the Weak.

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Neben Metaphern scheint mir die Frage nach den Netzwerken des Imperiums von großer Bedeutung zu sein. Denn es sind nicht die Handlungen von Menschen allein, die über den Sinn von Begriffen bestimmen. Vielmehr prägen Techniken und Technologien Haltungen aus, die in Deutungen eingreifen. Der Antrieb der Geschichte ist nicht allein im Handeln von Einzelnen oder von Gruppen zu suchen, die anstreben, ihre Interessen durch­zusetzen. In der Wissenschaftsphilosophie wurde argumentiert, dass wir die binäre Tren­nung zwischen Mensch und Natur, Mensch und Maschine aufgeben und statt dessen fra­gen müssen, wie Wissenschaftler, ihre Methoden, Instrumente und die eher unausgespro­chenen Verfahrensweisen „Assoziationen“ eingehen, die auf die Produktion von Thesen und Tatsachen einwirken.105 Bruno Latour hat vor wenigen Jahren vorgeschlagen, die Ein­sichten, die er gemeinsam mit anderen beim Beobachten der Wahrheitserzeugung in den Naturwissenschaften gewonnen hat, auf die Soziologie zu übertragen. Dabei schwebt ihm eine Soziologie vor, die die Gesellschaft auf der Grundlage der „Assoziationen“ von Men­schen und Dingen konzipiert. Er hat eine Wissenschaft von der Gesellschaft vor Augen, die die Gesellschaft als nie zur Ruhe kommende Folge von „Assoziationen“ und „Disso­ziationen“ von Menschen und Dingen begreift. Es ist eine Soziologie, die in der Lage ist, die Dynamik der Moderne in ihr Denken einzubeziehen. Denn nicht das Bewusstsein der Menschen allein hat sich im Zuge der Industrialisierung, Urbanisierung, Verrechtlichung usw. verändert, sondern ebenso die materielle Welt, die dafür Sorge trägt, dass Züge fah­ren oder Zeitungsartikel die Gemüter erregen.106

Nach Vertretern der Wissenschaftsgeschichte haben auch Sozial-, Kultur- und Ge­schlechterhistoriker damit begonnen, Latours Überlegungen als Anregungen aufzuneh­men.107 Die Akteur-Netzwerk-Theorie mit historischen Begriffen und Semantiken zu kon­frontieren, verspricht meines Erachtens großen Gewinn. Denn anders als in der klassi­schen Soziologie üblich schlägt Latour vor, die Motivationen der handelnden Akteure nicht in der heute modellhaft gedachten vormodernen, modernen oder nachmodernen Ge­sellschaft zu verorten, sondern den Menschen selbst Gehör zu schenken und zwar unab­hängig davon, wie unmoralisch oder verquer uns ihre Äußerungen auch vorkommen mö­gen: „The mistake we must learn to avoid is listening distractedly to these convoluted pro­ductions and to ignore the queerest, baroque, and most idiosyncratic terms offered by the actors, following only those that have currency in the rear-world of the social.“108 Damit erteilt er der älteren Sozialgeschichte eine Absage, die davon ausging, dass Menschen ihre ‚wahren‛ (materiellen) Beweggründe meist hinter dem Schleier der Rhetorik verbergen. Stattdessen bevorzugt Latour einen hermeneutischen Ansatz, der Begriffshistorikern so fremd nicht ist.

Die Erklärungen der Menschen sollten wir ernst nehmen, denn sie verweisen auf einen Modus des „In-der-Welt-Seins“, der den Handelnden und ihren Gesprächspartnern plausi­

104 Vgl. etwa SAHADEO Epidemic and Empire; BROWER Kyrgyz Nomads; JERSILD Orientalism and Empire; GUMB Die Festung.

105 LATOUR Die Hoffnung der Pandora; LATOUR Wir sind nie modern gewesen. Es hat leider noch niemand Begriffshistorikern bei der Re-Produktion von Begriffen über die Schulter geschaut und gezeigt, wie sie Begriffe beschreiben, weil Begriffe zu beschreiben sind.

106 LATOUR Reassembling the Social. Kritisch: KNEER Bruno Latours Kollektive. Allgemein: BELLI­GER/KRIEGER ANThology.

107 Vgl. etwa OTTER The Victorian Eye.108 LATOUR Reassembling the Social, S. 47 (Kursiv im Original).

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bel schien. Selbst wenn Pilger erzählen, so Bruno Latour, sie seien dem Ruf der „Heiligen Maria“ gefolgt und hätten aus diesem Grunde die Strapazen der Pilgerreise auf sich ge­nommen, dürften Soziologen sich nicht über die scheinbar irrationalen Motive wundern. Stattdessen sollten sie solche Erklärungen als verbreitete und als legitim erachtete Hand­lungslogiken anerkennen. Nicht anders wären die Begierden von Georgij Vrioni und sei­ner Leser zu betrachten, nämlich als Handlungslogiken, in denen sich das Bestreben nach imperialer Expansion mit der Sehnsucht nach sexueller Befriedigung verbindet. Diese Be­gierden waren offenbar ein Grund dafür, die Trägheit des Alltages zu überwinden und sich auf den Weg zu machen. Waren diese Sehnsüchte ausgesprochen, so sorgten sie dafür, dass die männliche gebildete Gesellschaft einer Region die Chancen der Eisenbahn besser begriff und alles daran setzte, die erotisierten Träume wahr werden zu lassen. Zahlen, das rationale ökonomische Argument, interessierten erst an zweiter Stelle, denn Vrioni und seine Mitdiskutanten waren sich darüber im Klaren, dass Zahlen lediglich den Ist-Stand widerspiegeln, nicht aber die unermesslichen Versprechungen der industriellen Zukunft vorauszuberechnen vermögen.

Aber die Menschen beim Wort nehmen, bedeutet nicht, in einen naiven Empirizismus zurückzufallen. Denn dass die Heilige Maria, die schlafende Schöne oder die Aussicht auf Profit Handlungen auslösen kann, dafür macht Latour „Netzwerke“ verantwortlich, unter denen er sowohl sich ad hoc bildende soziale Gruppen fasst als auch das Wissen um Handlungsoptionen und Wirkungsweisen wie auch schließlich ganz konkrete materielle Dinge. Eben diese Netzwerke lassen durch ein kompliziertes Interagieren Stimmen von Menschen erklingen. Was beispielsweise ein Flaneur auf seinen Streifzügen durch Paris entdeckt, mag dem einen oder anderen originell erscheinen. Denn die Eindrücke verdankt der in der Stadt Umherwandernde seiner Intuition, seinem wachen, neugierigen Blick.109 Doch dafür, dass der Flaneur seine Entdeckungen machen kann, sorgen unzählige andere Faktoren, „Aktanten“, die wir gewöhnlich als Infrastrukturen bezeichnen und leichtfertig als Kontext im Hintergrund platzieren: Da sind die Straßen, die Metro oder die Promena­den der Seine, die den Weg durch Paris ermöglichen, oder Streiks und Brände in den Ban­lieues, die Sehweisen verhindern oder schaffen. Da sind Fahrpläne, Busfahrer und Taxi­fahrer, die wissen, wo man aussteigen sollte, denn Paris kennen sie nicht nur aus eigener Erfahrung, sondern auch aus Schulungen, die die Stadtverwaltung organisiert hat. Da sind renovierte Fassaden, die eine bestimmte Ästhetik der Metropole vermitteln, und Filmema­cher, die Bilder hervorbringen und zirkulieren lassen. Da sind Reiseveranstalter und ihre Werbekampagnen, da sind Touristenbüros in aller Welt, da ist der globale Kapitalismus, der den „armen chinesischen Touristen“, oder wen auch immer, nach Paris bringt, damit dieser sich „in einer Ecke der place du Tertre von einem Farbkleckser porträtieren“ lassen kann.110 Und die „armen“ Chinesen oder die „wohlhabenden“ Amerikaner, die hier stell­vertretend für die Abermillionen Touristen aus aller Welt stehen können, sind weder ge­schmacklos noch dumm, denn sie wissen, wie man anderen von Paris oder St. Petersburg berichten muss.111

109 SCHLÖGEL Im Raume lesen wir die Zeit, S. 135.110 LATOUR Zoom auf Paris, S. 53. Siehe auch den photographischen Essay: LATOUR Paris: The Invi­

sible City. Vgl. auch FARÍAS / BENDER Urban Assemblages.111 Vgl. etwa BUCKLER Mapping St. Petersburg.

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Auch Georgij Vrionis Kampagne wurde nicht durch eine Vorstellung vom Imperium er­möglicht, sondern durch ein komplexes Ensemble von Infrastrukturen. Denn es waren die Linien und Netze der Eisenbahn, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Träu­men von und das Eintreten für die Erschließung der Peripherien in Russlands Provinzen brachten. Während Vrioni sich an Minister und Mitbürger wandte, blickten diese auf ein Jahrhundert des Sprechens über Imperium und Fortschritt zurück. Seit den 1850er Jahren lernte die Gesellschaft das Phantasieren von Raumerschließung mit der Eisenbahn. Die Fürsprecher des Fortschritts richteten sich dabei nicht allein an die gebildete männliche Öffentlichkeit, die in Russland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als ein mediales Geflecht erst im Entstehen begriffen war.112 Auch hatte sie nicht allein Aktionäre und Ban­kiers vor Augen, von denen es im Zarenreich zu jener Zeit ohnehin noch nicht so viele gab.113 Im Unterschied zu Großbritannien oder den USA war im Zarenreich selbst nur we­nig Kapital zu mobilisieren, das den Einwohnern der Provinz erlaubt hätte, die Verkehrs­verbindungen so zu gestalten, wie es ihnen gefiel. Daher hofften sie auf den Staat, der Pla­nungen vornahm, Streckenführungen auswählte und sie mit einer Priorität versah. Je be­deutender eine Strecke für das Imperium war, desto größer war die Aussicht, eine staatli­che Gewinngarantie auf Aktien und Obligationen zu erhalten und somit Anleger in Russ­land und Investoren in Europa ansprechen zu können.114

Einer imperialen Logik folgend, weitete sich das Eisenbahnnetz Schritt für Schritt aus. Der enorme Aufwand, den der Eisenbahnbau für den Staat bedeutete, wurde mit dem In­teresse des Imperiums gerechtfertigt, den Raum zu durchdringen, um die „geistige Unter­werfung“ der Peripherien zu vollenden. Denn nur „eine entsprechende Eisenbahnlinie“, erklärte der Statthalter des Kaukasus im Jahre 1869 dem Zaren Alexander II., „vermag den Kaukasus für immer mit Russland zu verbinden“, und zwar mit „stabilen und unzer­trennlichen Fesseln“.115 Zuvor hatte der liberale Staatsbeamte Anatolij Kulomzin der Öf­fentlichkeit und auch den kurzsichtigen Militärs innerhalb der Bürokratie die Bedeutung der Ökonomie für die Konsolidierung des Imperiums erklärt. Nicht Truppentransporte al­lein seien demnach von Bedeutung. Denn Eisenbahnstrecken, die die Ökonomie im Auge hätten, würden verhindern, dass Peripherien sich aufgrund ihrer „materiellen Interessen nicht zum Zentrum Russlands hingezogen fühlen, sondern zu den Russland mehr oder we­niger feindlich gesinnten Staaten.“116 Während die einen ihre Einsichten aus Schriften na­tionalliberaler Ökonomen wie Friedrich List gewannen, lernten die anderen aus den Erfah­rungen, die die Russland mehr oder weniger „feindlich“ gesinnten Großmächte mit Eisen­bahnen in ihren Kolonien und Grenzgebieten machten.117

Eben diese Logiken griffen die Aktiengesellschaften und die Eliten der Provinzen auf und suchten die von ihnen geplanten oder favorisierten Strecken von Moskau nach Tula oder Tambov zu begründen. In diesem Zusammenhang wäre es unsinnig, darüber nachzu­denken, ob die Vertreter der Gesellschaft einer bestimmten imperialen Idee anhingen, ob

112 Davon handelt das Buch von Andreas Renner (Russischer Nationalismus).113 ANAN’IČ Bankirskie doma.114 SPERLING Der Aufbruch der Provinz, S. 63–98; SOLOV’EVA Železnodorožnyj transport, S. 98 ff.115 Zitiert nach: Naša železnodorožaja politika, S. 34. Dazu ausführlich SCHENK Russlands Fahrt in

die Moderne, S. 85–124. 116 KULOMZIN Postrojka železnych dorog, S. 303.117 Zu Eisenbahn und Imperium allgemein vgl. DAVIS / WILBURN Railway Imperialism.

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sie die Menschen im Kaukasus, in Zentralasien und in Sibirien unterwerfen wollten oder ob sie, wie die romantischen Dichter Alexander Puschkin oder Michail Lermontov, mit den freiheitsliebenden Völkern des Kaukasus mitfühlten. Entscheidend ist vielmehr die imperiale Logik der Eisenbahnen, die sich mit jeder Strecke in Richtung der Peripherie stärker manifestierte und sich in Form von Zügen, Waggons, Bahnhöfen, Depots, Gütern, Fahrplänen, Vorschriften, Dienstanweisungen, Dispatchern, Kaufleuten, Fuhrleuten etc. etc. materialisierte. Das von Menschen hervorgebrachte und von Maschinen am Leben ge­haltene Ensemble handelte in „kollektiver Aktion“, erzeugte einen Sinn, wo zuvor Zu­rückhaltung und Indifferenz gewaltet hatten.118 Dieses Ensemble sorgte auch dafür, dass das Imperium nicht über Nacht völlig anders verstanden werden konnte. Es stabilisierte einen Sinn, hielt ihn in Raum und Zeit fest, leistete heftigen Widerstand gegen nationale Revolutionäre an den Rändern und eine selbstkritische Avantgarde im Zentrum des Rei­ches. Auch Objekte können einen Sinn vermitteln und Handlungen initiieren. Kein Wun­der, dass die sowjetischen Ingenieure und Planer an den Großprojekten des Zarenreiches zur „Erschließung“ der Peripherien anknüpften.119 Mit dem ‚Bewusstsein‛ von Visionären wie dem Kaufmann Georgij Vrioni oder dem Staatsmann Sergej Witte, dem Patron der Transsibirischen Eisenbahn, hat dies nicht viel zu tun. Eher mit der fortwährenden Be­wusstmachung und permanenter Bewussthaltung, die weder mit Methoden der Begriffsge­schichte noch mit dem Instrumentarium der Historischen Semantik noch mit der Meta­pherngeschichte sichtbar gemacht werden können.

Für neue Fragen anstatt „nachholender“ Begriffsgeschichten

Am Beispiel von Georgij Vrioni und der Eisenbahnkampagne für die Erschließung des russischen Nordens im frühen 20. Jahrhundert habe ich veranschaulicht, dass nicht eine begriffsgeschichtliche Exegese erforderlich ist, wenn verstanden werden soll, was Imperi­um, Fortschritt oder Gewalt im Zarenreich bedeuteten. Wie es sich mit den Begriffen ver­hält, lässt sich erfahrungsgemäß an bereits vorhandener Literatur erahnen oder an raschen stichwortartigen Untersuchungen im Vorfeld klären.120 Eine umfassende Begriffsgeschich­te kann dies allenfalls schärfer konturieren. Zu neuen Erkenntnissen führt sie zumindest für das lange 19. Jahrhundert nicht. Dies liegt nicht daran, dass die Begriffsgeschichte un­sinnig wäre. Im Gegenteil! Vielmehr haben die bisherigen begriffsgeschichtlichen Arbei­ten zum neuzeitlichen Europa das Potential dieser Methode veranschaulicht. Doch damit haben sie auch die Möglichkeiten der Begriffsgeschichte ausgereizt.

Die Begriffsgeschichte, möchte ich argumentieren, hat heute die große Überzeugungs­kraft eingebüßt, die sie in spezifischen Situationen der Bundesrepublik während der Nach­kriegszeit besessen hat. Erst dieser historische Kontext hat eine Methode zu einer Diszi­plin werden lassen. Der Bedeutungsüberschuss, den sie in sich trug, ihr Versprechen, uns davor zu bewahren, dass eine säkulare Utopie die Menschen in Europa ein weiteres Mal in ihren Bann zieht, hat es vielen Historikern als sinnvoll erscheinen lassen, aus unzähligen

118 LATOUR Reassembling the Social. S. 74 f; SCHIVELBUSCH Geschichte der Eisenbahnreise, S. 21; SPERLING Aufbruch der Provinz, S. 96–99, 226 ff.

119 PAYNE Stalins’s Railroad; STADELBAUER Bahnbau und kulturgeographischer Wandel; MARKS Road to Power; URBANSKY Kolonialer Wettstreit.

120 Ein Musterbeispiel bietet der Aufsatz von SCHMIDT: Aufstieg und Fall der Fortschrittsidee.

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kleinen Steinen ‚Pyramiden des Geistes‛ zu errichten. Heute geht Angst nicht von Ideolo­gien aus, sondern von Religionen, die sich bekanntlich auf Gott, nicht auf Geschichte be­rufen. Zweifelsohne, die Begriffsgeschichte kann bestimmte Perspektiven ermöglichen. Dies hat sie mit allen anderen Prismen gemein, mit denen Historiker die Vergangenheit begreifen können. Doch die Einsichten, zu denen sie uns verhilft, stellen uns heute nicht mehr zufrieden.

Daher sollten wir unsere Zeit nicht mit dem Aufholen von scheinbaren Rückständen verschwenden, sondern Fragen stellen, die uns und anderen unter den Nägeln brennen; und Fragen nach dem, was das russische und das sowjetische Imperium gewesen ist, scheinen aktueller denn je, schließlich haben wir heute begriffen, dass das Erbe des Impe­riums mit der Abspaltung seiner Peripherien in souveräne Nationalstaaten längst nicht be­wältigt ist. Nicht der Begriff von Imperium bedarf heute einer Klärung, sondern die Frage, wie sich die zahllosen ‚großen‛ und ‚kleinen‛ Menschen des Zarenreiches die unterschied­lichen Projekte des Imperiums zu eigen machten. Zu wenig wissen wir beispielsweise dar­über, wie die Ökonomie den Kaufmann der Provinz mit den Peripherien und ‚Kolonien‛ Russlands verband;121 zu wenig darüber, was das Imperium für ihn und andere im Alltag sichtbar und unverzichtbar machte.122

Ähnliches gilt für andere Konzepte: Nicht der Begriff der Nation und seine vielfältigen Ausdeutungen von Geistesgrößen versprechen Einsicht, sondern die Frage, was den Tage­bücher schreibenden Bauern die höchst abstrakte Bedeutung von Russland als Ganzes ver­mittelte.123 Nicht Semantiken von Recht und Gerechtigkeit erklären uns die patrimoniale Herrschaft im Zarenreich, sondern das komplexe Ineinandergreifen von alten Verbindun­gen, neuen Institutionen und dem Interesse einer schweigenden Mehrheit, im Rahmen des bestehenden Geflechts von „korrupten“ Beziehungen zu profitieren.124 Nicht der Freiheits­begriff ist relevant, vielmehr sind es die Möglichkeiten, subversiven Worten Gewalt fol­gen zu lassen.125 Daher möchte ich dafür plädieren, die Frage an die Geschichte in den Mittelpunkt zu stellen und eine Antwort aus verschiedenen Blickwinkeln zu wagen, um der komplexen und oftmals auch unsympathischen Welt der Vergangenheit zumindest an­nähernd gerecht zu werden.

AbkürzungenRGIA Russisches Historisches Staatsarchiv (Rossijskij gosudarstvennyj istoričeskij archiv), St.

Petersburg.

GAJaO Staatsarchiv des Gebiets Jaroslavl’ (Gosudarstvennyj archiv Jaroslavskoj oblasti), Jaros­lavl’.

121 Zu denken wäre etwa solche Studien wie RANSEL A Russian Merchant’s Tale.122 Vgl. etwa SUNDERLAND Views of the Empire.123 Vgl. HERZBERG Onkel Vanjas Hütte.124 Vgl. dazu SCHATTENBERG Die korrupte Provinz?; MERL Korruptionsbegriff.125 Beispielhaft: SCHNELL Der Sinn der Gewalt; SANBORN The Genesis of Russian Warlordism; HIL­

BRENNER Bombenanschlag.

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Diskussion

Summary

„Sleeping beauty”? Or What Can We Expect From a Begriffsgeschichte of Russia Today?

A Critical View on a Historical Perspective

Russian or East European history is hardly known as an innovative field of inquiry. In the ‚Western‛ world historians of Russia and Soviet Union have not been able to set their marks within the larger international community, neither in social history nor in cultural history nor in new imperial history. For those historians who shared the idea of progress it must have been hard to bear that their col ­leagues were criticising them as backward just in the same way as they criticised their historical sub­jects for having failed to find their way to modernity. At first glance, Begriffsgeschichte offers an es­cape from this structural dilemma for it allows taking a glimpse behind the curtain of modern think­ing and the concept of history as it emerged in the late 18th early 19th century in Europe. Reinhart Koselleck described this shift using the metaphors of place on the one hand and horizon on the other to denote a stability in pre-modern and an open and therefore dangerous future in modern times, re­spectively.

Contrary to historians who propose to apply Begriffsgeschichte to Russia systematically and to historicize political and social key concepts, this article suggests that the reissuing of this historical perspective would not lead to fundamentally new results. I argue that Begriffsgeschichte emerged from a specific political situation of the late 1960th and early 1970th in Western Germany. Today we have a different constellation of space and time, in which the rush toward the future has come to an end and ideologies of liberalism and socialism have lost their utopian dimension. Moreover, thanks to Begriffsgeschichte, we have already learned not to regard modern concepts as given. As first pre ­liminary studies and a broader secondary literature suggest the case of modern Russia can be noth­ing else than a variation of European histories. Finally I demonstrate that Begriffsgeschichte is es­sentially reductive as its way of seeing history and leaves out the people who give concepts their meaning. Therefore, instead of feeding wishful dreams of reintroducing Begriffsgeschichte as a pro­gressive field of inquiry we should address questions to Russian history in a way as they were never addressed before. This article proposes to tackle the role of metaphors while also taking into consid­eration how new meanings are created and further diffused by technical and technological structures such as landmarks, maps, and networks of cities or railroads.

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