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Ingrid Baumgärtner I Paul-Gerhard Klumbies I Franziska Siek (Hg.) Raumkonzepte Disziplinäre Zugänge Unter Mitarbeit von Mareike Kohls V&R unipress

Ingrid Baumgärtner, Welt als Erzählraum im späten Mittelalter, in: Raumkonzepte. Disziplinäre Zugänge, hg. v. Ingrid Baumgärtner, Paul-Gerhard Klumbies und Franziska Sick, Göttingen

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Ingrid Baumgärtner I Paul-Gerhard Klumbies IFranziska Siek (Hg.)

Raumkonzepte

Disziplinäre Zugänge

Unter Mitarbeit von Mareike Kohls

V&R unipress

Gedruckt mit Unterstützung des Interdisziplinären geisteswissenschaftlichen Forschungs­

schwerpunktes »Konstruktion von Kulturräumen« (KURA) der Universität Kassel.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrutbar.

ISBN978-3-89971-694-8

© 2009, V&R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.deAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. JedeVerwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigenschriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teiledürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden.Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke.Printed in Germany.

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . 7

Ingrid Baumgärtner I Paul-Gerhard Klumbies I Franziska SiekRaumkonzepte. Zielsetzung, Forschungstendenzen und Ergebnisse 9

1. Raumbegriffe und Fachkulturen

Christian KieningSchriftRäume. Inszenierungen und Deutungen der Buchstaben (1500-

1800) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 29

Stephan SchaedeHeilige Handlungsräume? Eine theologisch -raumtheoretischeBetrachtung zur performativen Kraft von Kirchenräumen

Iudith MiggelbrinkRäume und Regionen der Geographie

51

71

Renate MaasHans Iantzens Analyse ottonischer Kunst. Der Bildraum als Symbolhistorischen Anfangs und ontologischen Ursprungs . . . . . . . . . 95

2. Kartieren und Erzählen

Paul-Gerhard KlumbiesDas Raumverständnis in der Markuspassion 127

Ingrid BaumgärtnerDie Welt als Erzählraum im späten Mittelalter 145

6 Inhalt

Jörg DünnePiraten, Karten und Welt-Literatur. Carlos de Sigüenza y G6ngoras-Infortunios de Alonso Ramfrez- 179

Franziska SiekErzählte Karten, Erzählkarten. Morus, Novalis, Goethe, Robbe-Grillet,Gracq 199

Stephanie MüllerErinnerung, Raum und Karte in Iacques Roubauds -Le grand incendie deLondres- . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

3. Neue Räume und Wissenstransfer

Stefan Sehröder

Die Klimazonenkarte des Petrus Alfonsi. Rezeption und Transformationislamisch-arabischen Wissens im mittelalterlichen Europa 257

Claudia Brinker-von der HeydeAlexander der Große in der Fürstenbibliothek Arolsen. Formen desTransfers und der Transformation von Räumen und Kulturen in Wort

und Bild 279

Felix Hinz

Das Rätseln über Tiwanaku. Der Sonderweg der altamerikanischenArchäologie am Beispiel einer Heterotopie .... . . . . . . . . . . . . . 303

Stefan Greif

»Neu-Deutschland« im Paradies? Zur Konstruktion des deutschenBrasilianers zwischen 1820 und 1874 321

Über die Autorinnen und Autoren des Bandes

Register .

339

343

Ingrid Baumgärtner

Die Welt als Erzählraum im späten Mittelalter

Kartographische Weltdarstellungen des Mittelalters generieren bekanntlich ei­gene, eher bedeutungsdeterminierte als realitätsorientierte Vorstellungen vonRaum und Zeit. Text- und Bildinserte transformieren Karten zu einem kom­plexen kognitiven Geschichtsraum, in dem sich unterschiedliche Kategorien vonBeschreibungen komplementär aneinanderfügen : Linear lesbare Kurztexte er­läutern und ergänzen die Bildsignaturen, die selbst wiederum die Aussagen derTextsignaturen vervollständigen und übersteigen können. Dabei fungierenKarten gleichzeitig als bildliehe Veranschaulichungen, die nach den Regeln derBildinterpretation zu dechiffrieren sind, und als Texte, die Schrift voraussetzen.Durch die Übernahme literarischer und pragmatischer Formen von Schrift­lichkeit - sei es aus Reiseberichten, Landes- und Stadtbeschreibungen oder derHistoriographie - repräsentieren sie Räume, in denen Bild und Text nicht ein­fach nebeneinander stehen, sondern sich in kontinuierlicher Interaktion ge­genseitig stützen und verstärken.

Dieser die mittelalterliche Kultur prägende Zusammenhang von scripturaund pictura, von descriptio und Visualisierung im Weltenraum ist bereits imzeitgenössischen Begriff mappa mundi repräsentiert, der die zeichnerisch-kar­tographische Erfassung der Welt impliziert. Verschiedene Forscher von Iörg­Geerd Arentzen bis Margriet Hoogvliet haben daraufhin Weltkarten, Portolaneund Kosmographien des Mittelalters und der Renaissance genauer in den Blickgenommen. 1 Sie versuchten, die kartographischen Bildsysteme zu definierenund das Texteservoir der Weltkartographie von den Kartentexten bis zu dendescriptiones orbis, von den Kompilationen und volkssprachigen geo­graphischen Beschreibungen des 12. Jahrhunderts bis zu den Kosmographiendes 15.Jahrhunderts zu beleuchten. Denn wenn wir annehmen, dass ein Bildeine

Vgl. Iörg-Geerd ARENTZEN, Imago mundi cartographica. Studien zur Bildlichkeit mittelal­terlicher Welt- und Ökumenekarten unter besonderer Berücksichtigung des Zusammenwir­kens von Text und Bild (Münstersche Mittelalter-Schriften 53), München 1984; MargrietHOOGVLIET, Pictura et Scriptura. Textes, images et herrneneutique des mappae mundi (XIIIe­XVIe siede) (Terrarum Orbis 7), Turnhout 2007.

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visuelle Sprache besitzt, die Bedeutungen kommunizieren und sogar Bedeu­tungszuschreibungen beim Rezipienten provozieren kann, kann ein Bild nichtnur einen Text ersetzen, sondern sogar zum Text werden, ein Text sein. Darausergeben sich konkrete Anforderungen an die Karteninterpretation, nämlicherstens die Komplementarität, nicht die Gegensätzlichkeit von Text und Bild zubetonen, zweitens die Erzählkraft unterschiedlicher Gattungen (wie Chroniken,Enzyklopädien und der auf antiken Autoritäten beruhenden descriptiones orbis)einzubeziehen sowie drittens die Karten verstärkt im kodikologischen Pro­duktions- und Funktionszusammenhang, also im Kontext der handschriftlichenÜberlieferung, zu analysieren.

Die vorliegende Studie will sich auf die ersten beiden der genannten Zielekonzentrieren, um zu zeigen, wie erzählte Geschichten in der Komplementaritätvon Textund Bild aufgehen und örtlich gebunden werden. Für die Definition vonRaum bedeutet dies, dass bildliehe und schriftliche Darstellung nicht als wi­dersprüchliche Formen der Repräsentation, sondern entsprechend der mittel­alterlichen Terminologie als grundsätzlich einander nahe stehende, sich er­gänzende Möglichkeiten der Raumdarstellung zu bewerten sind. Dadurch ge­winnen Text- und Bildzeichen eine sich wechselseitig steigernde Dynamik fürdie räumliche Wahrnehmung. Denn erst aus der Reziprozität von Visualisierungund Beschreibung entsteht eine eigene Rhetorik, deren spezifisches Zeichen­system Erzählungen ortsgebunden codieren und Wissensordnungen etablierenkann. Integriert in den Weltenraum werden die Bildsignaturen gleichsam zuBeschreibungen, während die inserierten Kurztexte Visualisierungen evozieren.

Die folgenden Überlegungen zur räumlichen Struktur mittelalterlicher Kar­tographien konzentrieren sich auf die bekannten großformatigen Weltdarstel­lungen des Mittelalters, die aus historischer, literarischer und geographischerSicht in mehrfacher Weise ungewöhnlich sind. Dazu gehören die um 1300 ent­standene Ebstorfer Weltkarte, deren 1943 verbranntes Original in der Größe von3,56 x 3,58 Metern etwa 2.345 Bild- und Texteinträge umfasste,' und die nach1290 gefertigte Herefordkarte, deren erhaltenes Original mit 1,59 x 1,29-1,34

2 Vgl. [ürgen WILKE, Die Ebstorfer Weltkarte (Veröffentlichungen des Instituts für HistorischeLandesforschung der Universität Göttingen 39), Text- und Tafelband, Bielefeld 2001; ArminWOLF, Albert oder Gervasiusr Spät oder früh? Kritische Bemerkungen zu dem Buch vonIürgen Wilke über die Ebstorfer Weltkarte, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesge­schichte 76 (2004), S. 285 - 318; Patrick GAUTIER DALCHE, Apropos de la mappemonded'Ebstorf, in: Medievales 55 (automne 2008), S. 163 -170; Kloster und Bildung im Mittelalter,hg. v. Nathalie KRUPPA u. Iürgen WILKE (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts fürGeschichte 218; Studien zur Germania Sacra 28), Göttingen 2006 mit verschiedenen Beiträgenzur Datierung und Deutung; Die Ebstorfer Weltkarte. Kommentierte Neuausgabe in zweiBänden, hg. v.Hartmut KUGLER unter Mitarbeit von Sonja GLAUCH u. Antje WILLING. DigitaleBildbearbeitung Thomas ZAPF, Bd. 1: Atlas, Bd. 2: Untersuchungen und Kommentar, Berlin2007.

Die Welt als Erzählraum im späten Mittelalter 147

Metern und 1091Einträgen nicht einmal ein Viertel der Fläche der Ebstorfkarteeinnimmt.' Geographisch zeichnen sich beide Karten durch eine Ierusa­lemzentrierung aus, die nur auf einen Teil mittelalterlicher Karten zutrifft undmit festen Grundaussagen verknüpft ist; historisch sind sie im ausgehenden13. Jahrhundert entstanden, als die christliche Weltkartographie einen Höhe­punkt erreichte, das Heilige Land schrittweise an die Ungläubigen verlorenwurde und sich eine neue Jerusalemsehnsucht entfaltete; literarisch fügen siesich nicht in einen Text oder kodikologischen Überlieferungszusammenhangein, sondern entwickeln auf antiker und mittelalterlicher Basis ein eigenstän­diges enzyklopädisches Weltbild.

Gerade diese Besonderheiten verleihen den beiden Weltkarten eine großeAussagekraft für raumtheoretische Fragestellungen: Sie wurden darauf hinkonzipiert, die Welt in spezieller Weise kartographisch darzustellen und demBetrachter die Raum- und Ortsgebundenheit christlicher, historischer und en­zyklopädischer Motive vor Augen zu führen. An ihrem Beispiel lassen sichdeshalb die textuelIen und visuellen Strategien zur Verortung von Erzählungenim Raum sowie die Muster der Referentialität besonders eindrucksvoll dar­stellen.

Will man Konstitution und Transformation kartographischer Erzählräumeumreißen, so ist zunächst danach zu fragen, wie Text-und Bildsignaturenüberhaupt eine räumliche Erzählung oder einen narrativen Raum begründenkönnen.' Zu ermitteln sind sowohl die Strukturelemente, die einen kartogra­phischen Erzählraum aufbauen, als auch die Wissensbestände, aus denen sichdie Diskurse speisen. Zur Annäherung an diese Fragen seien im Folgenden zweiKomplexe herausgegriffen, erstens das Konzept der kartographischen Zentra­lität und seiner Auswirkungen (am Beispiel Jerusalems) und zweitens die nar­rative Verräumlichung von Wissen (am Beispiel der Wanderungen Alexandersdes Großen und der Goten der Völkerwanderungszeit). Die zusammenfassendeAuswertung richtet sich drittens auf die Spannung zwischen Zentrum und Pe­ripherie, die erst einen konsistenten Erzählraum zu schaffen vermag.

3 Scott D. WESTREM, The Hereford Map. ATranscription and Translation of the Legends withCommentary (Terrarum orbis 1), Turnhout 2001; The Hereford World Map. Medieval worldmaps and their context, hg. v. Paul D. A. HARVEY. London 2006.

4 Vgl. auch Ingrid BAUMGÄRTNER, Erzählungen kartieren. Jerusalem in mittelalterlichenKartenräumen, in: Ierusalem as Narrative Space. Erzählraum Ierusalern, hg. v. AnnetteHOFFMANN u. Gerhard WOLF. Leiden 2010 (im Druck).

148 Ingrid Baumgärtner

1. Zentralität und Referentialität

Mittelalterliche Universalkarten konnten, frei von neuzeitlichen Maßstäben desKartierens, höchst ausdifferenzierte Welt- und Geschichtsbilder von großerWirkungskraft erzeugen." Die Komplexität dieses Systems wird erst deutlich,wenn wir nach dem Ausgangspunkt für die kartographische Raumwahrneh­mung fragen. Alessandro Scafi hat vorgeschlagen, das ikonographisch hervor­gehobene Paradies als eine Art multifunktionalen Knotenpunkt für die Erfas­sung von Zeit und Raum zu betrachten und damit das christliche Fundamenteiner göttlich und weltlich bestimmten Ordnung im Fortschreiten der Ge­schichte von Ost nach West zu erkennen." Denn die Schöpfung des Paradiesesganz im Osten war das erste Ereignis der Weltgeschichte. Vondort aus entfaltetesich die abwechslungsreiche Chronik des Menschengeschlechts, die in denWeltkarten räumlich verankert wird. Ganz im Gegensatz zu unserem heutigen,geographisch dominierten Kartenverständnis ergibt sich daraus eine stärkereGewichtung der Geschichte gegenüber der Geographie, zu interpretieren ent­weder als ein Gleichgewicht zwischen Verlauf und Verortung oder vielleichtsogar als eine Dominanz der Zeit gegenüber dem Raum.

Obwohl diese Macht der Zeit auch in den jerusalemzentrierten Weltkartenerhalten bleibt, verlagert sich hier der Referenzpunkt der räumlichen Or­ganisation auf den Nabel der Welt. Schon der Kirchenvater Hieronymus war,Ezechiel 5,5 folgend, in seinem Kommentar davon ausgegangen, dass die HeiligeStadt in der Mitte der Völker positioniert sei.' Isidor von Sevilla hatte das

5 Vgl. Evelyn EDSON. Mapping Time and Space. How Medieval Mapmakers viewed their World.London 1997. ND 1999; Ute SCHNEIDER. Die Macht der Karten. Eine Geschichte der Karto­graphie vom Mittelalter bis heute, Darmstadt 2004; Evelyn EDSON, Emilie SAVAGE-SMITH u.Anna-Dorothee von den BRINCKEN. Der mittelalterliche Kosmos. Karten der christlichen undislamischen Welt, Darmstadt 2005; Text - Bild - Karte. Kartographien der Vormoderne, hg, v.Iürg GLAUSER u. Christian KIENING (Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae 105). Freiburgim Breisgau - Berlin - Wien 2007; Europa im Weltbild des Mittelalters: KartographischeKonzepte, hg. v. Ingrid BAUMGÄRTNER u. Hartmut KUGLER (Orbis mediaevalis 10), Berlin2008.

6 Aufbauend auf ARENTZEN. Imago mundi (wie Anm. l ), und anderen vgl. Alessandro SCAFI,Mapping Paradise. A History of Heaven on Earth, London 2006.

7 S. Hieronymi presbyteri opera, pars I: Opera exegetica 4, Commentariorum in Hiezechielemlibri XIV (Corpus Christianorum Series Latina 75). ed. Franciscus GLORIE. Turnhout 1964.S. 55 f.: Haec dicit Dominus Deus: Ista est Hierusalem, in medio gentium posui eam, et incircuitu eius terras; [... ]. Hierusalem in medio mundi sitam, hic idem propheta testatur,umbilicum terrae eam esse demonstrans. Zur Jerusalem-Zentrierung mittelalterlicher Welt­karten vgl. Ingrid BAUMGÄRTNER. Die Wahrnehmung Ierusalems auf mittelalterlichenWeltkarten. in: Ierusalem im Hoch- und Spätmittelalter. Konflikte und Konfliktbewältigung ­Vorstellungen und Vergegenwärtigungen (Campus Historische Studien 29), hg. v. DieterBAUER, Klaus HERBERS u. Nikolas JASPERT. Frankfurt am Main 2001. S. 271-334; Anna­Dorothee von den BRINCKEN, Jerusalem on Medieval Mappaemundi. A Site Both Historical

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Konzept später im mittelalterlichen Denken verfestigt. 8 Aber erst die Kreuzzügelieferten den Stimulus, um die Vorstellung vom 12. Jahrhundert an auchkartographisch abzubilden. Erstmals beherrschte der Schriftzug HIERUSALEM

den T-Querbalken in der um 1110 fertig gestellten sog. Oxford-Karte, derenMittelpunkt etwa in der Grabeskirche zu suchen ist. Dadurch wurde das Paradiesals Ausgangs- und Endpunkt aller Sehnsüchte abgelöst; die Weltwurde zu einembiblischen Raum um das Grab Christi, in dem alle vergangenen und zukünftigenGeschichten zusammenflossen.

Noch ausdrucksvoller erfolgte die kartographische Zentrierung nach demendgültigen Verlust Jerusalems im Jahre 1244.Auf den großen Wandkarten vonEbstorf und Hereford sowie auf der kleinen Londoner Psalterkarte" wird dasAuge durch eine ganz besondere graphische Repräsentation in der Mitte desErdkreises magisch angezogen, während unzählige Text-und Bildbezügeringsum dazu beitragen, narrative Strukturen durch alle Zeiten hindurch imWeltenraum aufzubauen.

In der Ebstorfer Weltkarte (Abb. 1) bildet Ierusalern den Mittelpunkt des voneiner Christusfigur umspannten Erdkreises, wobei in der Forschung diskutiertwurde, ob die alles Irdische veranschaulichende Erde als Körper Christi fungiertoder der Christuskopf in abgehobener Distanz, ohne Teil der Welt zu sein, denBetrachter zur Kontemplation und zum Memorieren anregt." Folgt man derzweiten, von Hartrnut Kugler gefestigten religiösen Interpretation, für die etwaeine Untersuchung des Bildes vom Leib Christi in den Briefen des Paulus undseiner Schüler noch neue Argumente bereithalten könnte, werden das als veraicon gestaltete Haupt und die Glieder Christi gleichsam zu fragmentiertenKörperzeichen, die am Außenrand des Kartenkreises einen Makrokosmos auf­bauen, in den das mikrokosmische Kartenzentrum mit dem Auferstehenden

and Eschtological, in: The Hereford World Map (wie Anm. 3) S. 355-379; BAUMGÄRTNER,Erzählungen kartieren (wie Anm. 4).

8 Isidorus Hispalensis Episcopus, Etymologiarum sive Originum Libri XX, hg. v. WallaceMartin LINDSAY, 2 Bde., Oxford 1911, ND Oxford 1948, XIV,3.21 zu Jerusalem als umbiIicusregionis totius.

9 London, British Library, Additional Ms.28681, fol. 9r (Durchmesser 95 mm); Text beiMappaemundi: Die ältesten Weltkarten, hg. v. Konrad MILLER, Heft 111: Die kleinerenWeltkarten, Stuttgart 1895, S. 37-43.

10 Vgl. Kerstin HENGEVOSs-DüRKOP, [erusalern - Das Zentrum der Ebstorf-Karte, in: EinWeltbild vor Columbus. Die Ebstorfer Weltkarte. Interdisziplinäres Colloquium 1988, hg. v.Hartrnut KUGLER in Zusammenarbeit mit Eckhard MICHAEL, Weinheim 1991, S. 205-222;Hartrnut KUGLER, Hochmittelalterliche Weltkarten als Geschichtsbilder, in: Hochmittelal­terliches Geschichtsbewußtsein im Spiegel nichthistoriographischer Quellen, hg. v. Hans­Werner GOETZ, Berlin 1998, S. 179-198, bes. S. 187-194; BAUMGÄRTNER, Die Wahrneh­mung Jerusalems (wie Anm.7) S. 299 f.; BAUMGÄRTNER, Erzählungen kartieren (wieAnm.4).

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eingeschrieben iSt.11 Dort präsentieren und umgrenzen die quadratischenStadtmauern, nach innen gerichteten Zinnen, vier Türme und zwölf Tore einJerusalern der Apokalypse und zugleich den größten Stadtraum der gesamtenKarte (Abb.2). Die Bildsignatur übernimmt die in der Offenbarung des [o­hannes vorgegebenen Beschreibungen des neuen Ierusalerns als einer mächti­gen, von hohen Mauern umgebenen Stadt mit quadratischem Grundriss." Derhervorstechende goldene Farbton der Befestigung korrespondiert, zumindest inden vier Rekonstruktionen Rudolf Wieneckes, mit der optischen Veranschau­lichung der Auferstehung Christi aus dem Sarg innerhalb der Stadt. Die indi­viduelle Jerusalemkonzeption, die den Nabel-Mythos mit dem Heiligen Grabverbindet, entfaltet gewissermaßen eine Sogwirkung, die durch die irritierendeNorddrehung der Szene noch verstärkt wird. Die Legende links neben derStadtmauer bekräftigt die Bildaussage und preist die Sehnsucht des ganzenErdkreises nach der heiligsten Metropole [udäas und nach dem auferstehendenChristus, der im Bild mit Gloriole und einem vom Kreuz gekrönten Banner alsSieger über den Tod hervorgeht." Die inserierten Texte erläutern also nicht nurdie dominierende Bildsignatur, sondern intensivieren deren raumbestimmendeWirkung.

Die über sich selbst hinausweisenden Bildzeichen fungieren hier, wie ananderen Stellen der Ökumenekarte, als wichtige Elemente der Integration.Darauf hat bereits Jörg-Geerd Arentzen hingewiesen, als er die Kartographienmit anderen bildlichen, nichtkartographischen Memorierschemata verglich, umein immanentes Ordnungssystem herauszuarbeiten." Die Szene verbindet rea­les und geistiges, irdisches und himmlisches [erusalem, Heilsgeschichte undKreuzzugsideologie, letztlich sogar die Stadt mit der gesamten Schöpfung, sodass der Nabel das kartographische Gefüge beherrscht. Denn der Betrachterkann innerhalb der Karte symbolische und gedankliche Verknüpfungen er­kennen, die einen Erzählraum aufbauen, in dem das über Bild- und Textelemente

11 Vgl. Hartmut KUGLER, Die Seele im Konzept von Mikrokosmos und Makrokosmos. ZumChristuskopf auf der Ebstorfer Weltkarte, in: -anima, und -sele-. Darstellungen und Syste­matisierungen von Seele im Mittelalter (Philologische Studien und Quellen 197), hg. v. Ka­tharina PHILIPOWSKI u. Anne PRIOR, Berlin 2006, S. 59 - 79; Die Ebstorfer Weltkarte, hg. v.KUGLER (wie Anm. 2) Bd. 2, S. 19-21.

12 Offenbarung des [ohannes 21,12 u. 21,16. Zur baulichen Umsetzung solcher Idealstadtvor­stellungen vgl. Martina STERCKEN, Gebaute Ordnung. Stadtvorstellungen und Planung imMittelalter, in: Städteplanung - Planungsstädte, hg. v. Bruno FRITSCHE, Hans-Iörg GILOMENu. Martina STERCKEN, Zürich 2006, S. 15-37, hier S. 20.

13 Vgl. HENGEVoss-DüRKoP, Ierusalern (wie Anm. 10) S. 205-218; Christine UNGRUH, Para­dies und vera icon. Kriterien für die Bildkomposition der Ebstorfer Weltkarte, in: Klosterund Bildung im Mittelalter (wie Anm. 2) S. 301-329, hier S. 301 f.; Die Ebstorfer Weltkarte,hg. v. KUGLER (wie Anm. 2) Bd. 2, S. 41 zu den Farben u. Nr. 3212.

14 Vgl. ARENTZEN, Imago mundi (wie Anm. 1) S. 222 mit Abb. 99.

Die Welt als Erzählraum im späten Mittelalter 151

vielfach bekräftigte weltweite Verlangen nach der Heiligen Stadt die gesamteKartographie bestimmt.

So entschlüsselte die Forschung bis heute verschiedene, auf die Weltmittebezogene Signaturenkomplexe mit oft weit reichenden Konnotationen: Eine derKartengeometrie entsprechende diagonale Verwandtschaft akzentuiert etwa dasvielfältig ins Bild gesetzte Thema der Grabverehrung; das einzigartige Aufer­stehungsbild im zentralen Jerusalemquadrat liegt mitten auf einer imaginärenVerbindungslinie zwischen der im Südosten im Textbeschriebenen Heilig-Grab­Wallfahrt der Nubier und den drei möglicherweise später eingezeichnetenviereckigen Märtyrergräbern beim Benediktinerinnenkloster Ebstorf," Letzte­res wurde zudem als ein Hinweis auf den Entstehungsort gedeutet und mit derAnnahme verbunden, dass verschiedene Mitglieder des Konvents (wie PropstAlbert, die Priorin und die Schulschwester der um 1307 belegten Klosterschule)in Zusammenarbeit mit adeligen Auftraggebern und den Nachbarklöstern imLüneburger Raum die Ökumenekarte um 1300, genauer zwischen 1288 und1314, also in der Regierungszeit Herzog Ottos des Strengen (1287 -1330), ge­fertigt haben könnten. 16

Zahlreiche weitere Bildsignaturen verbinden [erusalern vielschichtig mit derWelt.Dazu gehören die Abbildungen der prunkvollen Gräber des PartherkönigsDarius und des Indienapostels Thomas, die auf halbem Wegzwischen Ierusalernund dem Christuskopf das kartenbeherrschende Motiv der Grabverehrung er­neut aufgreifen und jeweils in Text und Bild inszenieren." Zu denken ist zudeman die kleinen Kreuze in Theben, Jerusalem, Konstantinopel, Köln, Aachen undLüneburg (alle mit mindestens einem Kreuz)," die als Herrschaftszeichen in­terpretiert wurden und eine Entsprechung bei Alpha und Omega im rotenQuadrat um das Christushaupt finden. Sie alle verweisen auf Herrschaftssitzeund die Geschichte altehrwürdiger Residenzen, sei es das alte Oberägypten, die

15 Vgl. Hartmut KUGLER, Die Gräber der Ebstorfer Weltkarte, in: »In Treue und Hingabe«800 Jahre Kloster Ebstorf, Ebstorf 1997, S. 53-65; Die Ebstorfer Weltkarte, hg.v, KUGLER(wie Anm. 2) Nr. 13/2 zum Volk der Nubier (Ierusalem cum multa turma et cum multapecunia frequenter venit et sepulchrum Domini multa pecunia honorat et ditat. »Nach Je­rusalem kommen sie oft in großer Zahl und mit viel Geld und spenden dem Grab des Herrnreichlich.«) u. Nr. 50/14.

16 Vgl. WILKE, Die Ebstorfer Weltkarte (wie Anm. 2) bes. S. 255 f.; Die Ebstorfer Weltkarte,hg. v. KUGLER (wie Anm. 2) Bd. 2, S. 67 f.

17 Vgl. KUGLER, Die Gräber (wie Anm. 15) S. 58-61; Die Ebstorfer Weltkarte, hg.v. KUGLER(wie Anm.2) Nr. 18/2 (Hic est sepulchrum Darii, regis Parthorum a Magno Alexandroconditum. »Hier ist das von Alexander dem Großen gestiftete Grabmal des PartherkönigsDarius.«) u. 11/16 (Sepulchrum Thome apostoli. »Grabmal des Apostels Thomas.«),ARENTZEN, Imago mundi (wie Anm. 1) S. 176 f. verweist zudem auf die Öllampe als Ver­bindungsglied zwischen dem Grab des besiegten Darius und einigen Apostelgräbern.

18 Vgl. Die Ebstorfer Weltkarte, hg. v. KUGLER (wie Anm. 2) Nr. 27/6, Nr. 33/3, Nr. 38/27, Nr. 51113, Nr. 51/16 u. Nr. 5017.

152 Ingrid Baumgärtner

Christenheit, das oströmische Reich, das deutsche Königtum oder das Her­zogtum Lüneburg. Goldene Fahnen schließlich setzen den HerrschaftsraumChristi mit der Herzogsstadt Lüneburg in Beziehung, in der damals Herzog Ottoder Strenge von Braunschweig-Lüneburg, ein mutmaßlicher Auftraggeber derKarte, regierte."

Assoziativ könnten so vielfältige Gedankenketten entwickelt werden. Abererinnert sei vorerst nur noch an das Wechselspiel zwischen Zentrum und Pe­ripherie, zwischen auferstehendem und weltumspannendem Christus, zwischengoldglänzendem Triumphator und erhabenem Andachtsbild, dessen Strahlkraftdie bekannte wie unbekannte Welt im göttlichen Heilsplan verankert. Diesemheilsgeschichtlichen, auf die veraiconausgerichteten Konzept musste sogar diein Weltkarten meist den Osten dominierende Paradiesdarstellung weichen." DerWechsel von Kreis im Nimbus und Quadrat für die Umrandungen erhöhtegleichsam die Bedeutung des Referenzpunkts [erusalem, hinter dem ein ver­schobenes Paradies zurücktreten musste. Zur Umsetzung des mehrstufigenKonzepts wurden die Auferstehungsszene in ein (an den Ecken leicht abge­schrägtes) Mauerquadrat, das von einem kreisförmigen Nimbus gerahmteChristushaupt in ein durch ein Gebirgsmassiv abgegrenztes Viereck und dergesamte Orbis in eine fast quadratische Pergamentfläche gesetzt."

Im Erkennen solcher Bezüge kann der Betrachter eigene Interpretationsan­sätze aus verschiedenen thematischen, zeitlichen und räumlichen Verstehens­ebenen aktivieren und in einer visuellen Exegese die kartographische Struk­turbildung nachvollziehen. Schrift-und Bildzeichen fungieren dabei als Ge­dächtnisstützen," um kulturelle Erzählräume zu erschaffen und zu formen. AlsBasis eines komplexen Sinngeflechts helfen sie, das räumliche Nebeneinander zuordnen, Beziehungen zu etablieren und unterschiedliche Zeitebenen miteinan­der zu verknüpfen."

Die Funktionsweise dieser Text-Bild-Bezüge wird noch deutlicher, wenn wirauf die in den 90er Jahren des 13.Jahrhunderts entstandene Ökumenekarte vonHereford blicken. Obwohl auch hier die Heilige Stadt zum kreisförmigen Dreh­und Angelpunkt der räumlichen und zeitlichen Weltordnung (Abb. 3) erhoben

19 Vgl. Die Ebstorfer Weltkarte, hg. v. KUGLER (wie Anm. 2) Nr. 5017.20 Die Ebstorfer Weltkarte, hg. v. KUGLER (wie Anm. 2) Nr. 3/4 u. Nr. 4; vgl. UNGRUH, Paradies

(wie Anm. 13) S. 327.21 Vgl. Die Ebstorfer Weltkarte, hg. v. KUGLER (wie Anm. 2) Bd. 2, S. 23 f.22 Zu Schrift und Bild als Gedächtnismedium sowie deren Konkurrenz untereinander vgl. u. a.

Aleida ASSMANN, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächt­nisses, München 1999, bes. S. 181-240.

23 Marina MÜNKLER, Monstra und mappae mundi: die monströsen Völker des Erdrands aufmittelalterlichen Weltkarten, in: Text - Bild - Karte (wie Anm. 5) S. 149-173, hier S. 160­162.

Die Welt als Erzählraum im späten Mittelalter 153

wird," sticht sie auf den ersten Blick weniger hervor als in der Ebstorfkarte.Doch dieser erste, einer dezenten Farbgebung zu verdankende Eindruck täuscht:Denn mit seinen gleichmäßig verteilten, nach innen gerichteten vier Toren undTürmen sowie den nach außen gewendeten sechzehn Zinnen wird [erusalern zueinem Zahnrad, um dessen Getriebe sich das ganze Universum dreht. 25 DieIkonographie ist ausgeklügelt: Über der Stadt erhebt sich auf dem Kalvarienbergder gekreuzigte Christus als irdisches Pendant zum Auferstandenen im JüngstenGericht des Kartenrahmens. Dort thront Christus als Weltenrichter über derWeltkugel mit einem im Osten gelegenen Paradies wie in einem Tympanon. DenTodesbezug verstärken die Buchstaben MORS in den vier Ecken des Gesamt­entwurfs. Die abgebildete Kreuzigung deutet schließlich nicht glorreich, son­dern schmerzvoll auf den programmatisch verankerten Erlösungsgedanken. DieWeltdarstellung belehrt über die Vergänglichkeit des irdischen Seins, über diequälende Sehnsucht nach dem verlorenen Ierusalern als dem Brennpunkt derreligiösen Welt.Esscheint offensichtlich, dass sich die ganze Weltauf die HeiligeStadt bezieht. Aufgrund der gedeckten Farbigkeit wirken heute Text- undBildsignaturen fast gleichgewichtig. Im Mittelalter könnte - wie das Ebstorf­Faksimile vermuten lässt - der Effekt durchaus anders gewesen sein, so dass diemit Rot und Gold verfeinerten Bildzeichen stärker hervortraten. Trotzdemtransformierte erst deren vielfältiges Zusammenwirken mit den über die TO­Struktur verteilten Textinserten die Erde einschließlich ihrer Umrandungsflächezu einem multifunktionalen Erzählraum.

Ein Vergleich mit der bereits nach 1262entstandenen Londoner Psalterkarte(Abb. 4) bietet sich an, denn auch hier ist [erusalern, nun als dreifach konzen­trischer Kreis in einem dreifachen Weltkreis, zentral positioniert. Allein dieminimale Größe von nicht einmal 9 cm Durchmesser musste eine andere Auf­teilung von Text- und Bildelementen zur Folge haben. Für die das Auge linearführenden, in der ikonischen Fülle Einhalt gebietenden Schriftfelder war keinPlatz. Die doppelten Konturen der Heiligen Stadt, die sich aus dem schwarzenPunkt inmitten einer roten Scheibe und einem Rad mit Namensinschrift erge­ben, wiederholen sich im Paradies, in den vier Hauptwinden, im Nimbus vonChristus Pantokrator, der mit der Linken die Weltkugel emporhebt, sowie imhalbkreisförmigen Kaukasus, dessen fest verschlossene Pforten die Endzeit­völker Gog und Magog (Ezechiel38 - 39) gerade noch zurückhalten. Dazwischenentfalten sich die Schauplätze der Welt-und Heilsgeschichte, deren Themen,Formen und Farben sich immer wieder auf das Zentrum beziehen. So ist der inKarten äußerst ungewöhnliche PuteusIosep;" der Jakobsbrunnen bei Sichar, bei

24 WESTREM, The Hereford Map (wie Anm. 3) Nr. 389.25 EDSON, Mapping Time and Space (wie Anm. 5) S. 140.26 Mappaemundi, hg. v. MILLER, Heft III (wie Anm. 9) S. 40.

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dem [esus die Frau aus Samaria um Wasser bat und die Samaritaner zumGlauben führte (Johannes 4, 5- 42), im Sinne einer formalen Verwandtschaft alsKreis mit mittigem Punkt gekennzeichnet. Und selbst die vierzehn groteskverzerrten Misch- und Fabelwesen in der südlichen Monstergalerie antwortenzentrifugal auf die Sogwirkung des himmlischen [erusalems und fungierendamit als Gegenpol zur idealen Form des Zentrums.

Die Karte war integriert in einen illuminierten Psalter, dessen Funktion alsportables Gebetbüchlein eine große Kompaktheit der Darstellung voraussetzte,die keine längeren Erzählungen erlaubte. Deswegen mussten andere Lösungengefunden werden. Vom gebildeten Psalterleser konnte erwartet werden, dass erbiblische und antike Stoffe erkannte und die Geschichten aus dem eigenenWissensfundus zu ergänzen wusste. Die Suggestionskraft des Bildes musstegleichsam die Funktion der nicht realisierbaren Textinserte übernehmen. An­deutungen mussten dem Betrachter genügen, um letztlich selbst den Raum mitden zugehörigen Erzählungen zu füllen.

Einige Ökumenekarten des 13.und 14.Jahrhunderts rücken zwar noch in dieNähe dieser berühmten Einzelstücke, aber keine einzige erreichte die be­schriebene Intensität und Vielschichtigkeit. Eine vergleichbare narrative Ord­nung entwickelt am ehesten noch der doppelseitige, mit langen Legenden an­gefüllte Weltentwurf aus der Benediktinerabtei Ramsey (Abb. 5),27 in dem sichdas leicht nach Osten verschobene Ierusalern in einen ovalen, also nicht ganzidealtypischen Umriss einfügt. Unter den 21 Karten, die einigen Exemplaren derzahlreichen .Polychroniconc-Handschriften des Ranulf Higden (gest. 1363)vorangestellt sind, nimmt er wegen Größe und Nomenklatur eine singuläreStellung ein." Ierusalem beherrscht als größtes, durch einen blutroten Kreishervorgehobenes Stadtsymbol die Welt, deren Geschichte und Bewohner innarrativen Sequenzen beschrieben werden. Überdimensioniert ist nicht nur derStadtraum, der um die trutzige Heiliggrabkirche herum durch Ölberg, Zi­onsberg und Kalvarienberg nach Norden erweitert wird, sondern auch das

27 London, British Library, Royal MS 14. C. IX, f. Iv-2r (465 x 342 mm; nach 1342). Vgl. IngridBAUMGÄRTNER, Graphische Gestalt und Signifikanz. Europa in den Weltkarten des Beatusvon Liebana und des Ranulf Higden, in: Europa im Weltbild des Mittelalters (wie Anm. 5)S. 81-132, hier S. 107- 110.

28 Vgl, Mappaemundi, hg, v. MILLER, Heft III (wie Anm. 9) S. 94-109 u. Heft II, Taf. 15; [ohnTAYLOR, The -Universal Chronicle- of Ranulf Higden, üxford 1966, S. 64-67; Petra UE­BERHOLZ, -Requiritur autem mapa duplex« Die Darstellung Afrikas in der angelsächsischenGeschichtsschreibung und Kartographie des Mittelalters, in: Aus Überrest und Tradition.Festschrift für Anna-Dorothee von den Brincken, hg. v. Peter ENGEL, Lauf an der Pegnitz1999, S. 54-72; Ulrich FISCHER, InnenwELTEN - zur Konstruktion von Raum in ausge­wählten mittelalterlichen Weltkarten, in: Innenwelten vom Mittelalter zur Moderne. Inte­riorität in Literatur, Bild und Psychologiegeschichte, hg. v. Claudia ÜLK u. Anne-IuliaZWIERLEIN, Trier 2002, S. 21-38, hier S. 33; SCAFI, Mapping Paradise (wie Anm. 6) S. 134­136, fig. 6.3a; BAUMGÄRTNER, Graphische Gestalt (wie Anm. 27) S. 101-129.

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Heilige Land. Dort finden wir - wie in den Weltkarten von Ebstorf und Hereford- außer den Pilger- und Kreuzfahrerstädten Akkon, Tyrus, [affa und Askalon"auch erinnerungsgeladene Stätten, an denen sich alttestamentliches Heilsge­schehen entfaltete: Die Arche Noah vergegenwärtigt die Rettung aus der Sintflut,Sodom am Toten Meer die Sünde und den Zorn Gottes, der Turm von Babel dieSprachverwirrung. der Durchzug der Kinder Israels durch das Rote Meer denWeg vom ägyptischen Exil in das Gelobte Land." In allen drei Karten - beiHigden, Ebstorf und Hereford - werden diese Bildsignaturen dadurch vervoll­ständigt, dass daneben der Name oder die Bezeichnung genannt wird; auf langeerklärende Textgefüge wird verzichtet, sie sind zum Verständnis nicht notwen­dig und würden die Kraft der bildliehen Darstellung nur absorbieren.

Ierusalem dialogisiert in der Higdenkarte zudem über die Kirchenvignettenmit den christlichen Pilgerzielen Rom und Santiago de Compostela, über diemittige Kartenposition mit dem Paradies und den Säulen des Herkules als denöstlichen und westlichen Grenzen der bewohnten Welt, über die Medaillons mitden die Welt bewegenden Windbläsern im Außenozean und über Form undFarbe mit dem roten Halbrund der Anglia im Nordwesten. Farben und Formenlenken die Aufmerksamkeit des Betrachters und strukturieren das Weltgefüge.

Weniger auffällig als die Bilder schlagen die Texte solche Brücken. Von derHafenstadt Brindisi in Apulien aus, so heißt es, beginne die Überfahrt ins HeiligeLand." Derartige Kurzbeschreibungen informieren über praktische, enzyklo­pädische, geographische, historische oder etymologische Motive, die nicht zu­letzt - wie in diesem Fall - die Welt immer wieder auf ihren imaginären Nabelzurückzuführen und dem Heiligen Land auch in den Texten eine besondereStellung verleihen."

In der großräumigen Ebstorfkarte werden hingegen sehr viele Textsignaturenfigurativ unterstützt; besonders im Heiligen Land ist dafür viel Platz reserviert,wobei der Betrachter gleichwohl angehalten ist, weitere Gedankenketten asso­ziativ zu entwickeln. Sovergaßen es die Produzenten etwa keineswegs, dort eineSerie bedeutsamer Gräber anklingen zu lassen, ohne sie abzubilden oder un-

29 Mappaemundi, hg. v. MILLER, Heft III (wie Anm. 9) S. 102; WESTREM, The Hereford Map(wie Anm. 3) Nr. 360, 374, 377 u. 396; Die Ebstorfer Weltkarte, hg. v. KUGLER (wie Anm. 2)Nr. 32117-19, 32/21, 32/2 u. 33/26.

30 Mappaemundi, hg,v. MILLER, Heft 1II (wie Anm. 9) S. 102 f.; WESTREM, The Hereford Map(wie Anm. 3) Nr. 224, 262, 180,278; Die Ebstorfer Weltkarte, hg. v. KUGLER (wie Anm. 2)Nr. 24/1, 33/11 und 33/14-15, 18/22 u. 27/16.

31 Mappaemundi, hg.v. MILLER, Heft 1II (wie Anm. 9) S. 100.32 Vg1.Paul D. A. HARVEY, Local and Regional Cartography in Medieval Europe, in: The History

of Cartography, hg. v. lohn Brian HARLEY u. David WOODWARD, vol. I: Cartography inPrehistoric, Ancient, and Medieval Europe and the Mediterranean, Chicago - London 1987,S. 464-501; Paul D.A. HARVEY, The Holy Land on medieval world maps, in: The HerefordWorld Map (wie Anm. 3) S. 243-251.

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mittelbar zu erwähnen. Aufdem in Textund Bildpräsenten Berg Zion verbergensich in diesem Sinne die angeblichen Gräber von David und Salomon, inBethanien das Lazarus-Grab, und die Marienkirche im TalIosaphat gilt zugleichals die Grabesstätte." Nur ein Bild-Text-Gefüge konnte die entsprechendeMehrschichtigkeit und Relevanz kreieren. Deshalb inszeniert die Herefordkartedie Kreuzigungsszene großflächig auf dem Kalvarienberg als eine textgestütztefigurative Bedeutungsgröße,34 hinter der alle anderen Illustrationen undSchriftzeichen zurücktreten.

Ein kartographischer Erzählraum war - zumindest im Fall der Zentrierung[erusalerns - ein ideologisch ausgerichtetes Programm, das sich im Zusam­menwirken von Bild- und Textsignaturen, von Farbgebung und narrativen In­serten konstituierte. Die Gestalt Ierusalems, sei es als Kreis der Vollkommenheit(ohne Anfang und Ende) oder als Kernquadrat der Johannes-Apokalypse, kor­respondierte mit überkommenen Traditionen wie dem Grundriss der Grabes­kirche" oder idealtypischen Stadtplänen." Siewar Zeichen von Schöpfung undNeuschöpfung, Sinnbild einer göttlichen Weltordnung und Abbild des Erlö­sungshandelns. Ihre Strahlkraft wirkte auf den gesamten Kartenraum, dessenAufbau sie bestimmte. Zentrum und Welt traten in einen Dialog, der sich inIerusalem wie im Heiligen Land bündelte und gleichzeitig die figurativ undtextuell angedeuteten narrativen Sequenzen aus Bibel und Geschichte zumSprechen brachte.

33 Die Ebstorfer Weltkarte, hg. v. KUGLER (wie Anm.2) Nr.32/7 (Mons Syon), Nr.32/16(Bethania) u. Nr. 33/3 (Ecclesia Sancte Marie).

34 WESTREM, The Hereford Map (wie Anm. 3) Nr. 387 (Ihesus Nazarenus, R[ex ]udeorum)) u.Nr. 388 (Mons Calvarie).

35 Vgl. etwa Marlis STÄHLI, Grundriss der Grabeskirche in Ierusalern, in: SchriftRäume. Di­mensionen von Schrift zwischen Mittelalter und Moderne (Medienwandel- Medienwechsel- Medienwissen 4), hg. v. Christian KIENING u, Martina STERCKEN, Zürich 2008, S. 242 f.

36 Vgl. Rudolf SIMEK, Hierusalem civitas famosissima. Die erhaltenen Fassungen des hoch­mittelalterlichen Situs ]erusalem (mit Abbildungen zur gesamten handschriftlichen Über­lieferung), in: Codices manuscripti 16 (1992), S. 121-153; Rehav RUBIN, Image and Reality.Ierusalem in Maps and Views (Israel Studies in Historical Geography), [erusalem 1999, bes.S. 25- 33; Patrick GAUTIER DALCHE, Cartes de Terre Sainte, Cartes de Pelerins, in: Fra Romae Gerusalemme nel Medioevo. Paesaggi umani ed ambientali del pellegrinaggio meridionale.Atti del Congresso Internazionale di Studi (26 - 29 ottobre 2000), hg,v. Massimo OLDONI,Bd. I, Salerno 2005, S. 573-612, hier S. 576-586; Ingrid BAUMGÄRTNER, Ierusalem, Nabelder Welt, in: Saladin und die Kreuzfahrer. Begleitband zur Sonderausstellung »Saladin unddie Kreuzfahrer« (Publikationen der Reiss-Engelhorn-Museen 17; Schriftenreihe des Lan­desmuseums für Natur und Mensch Oldenburg 37), hg, v. Alfried WIECZOREK, MamounFANSA u. Harald MELLER, Mainz 2005, S. 288-293; BAUMGÄRTNER, Erzählungen kartieren(wie Anm. 4).

Die Welt als Erzählraum im späten Mittelalter

2. Wissen im Raum: ErzählteWanderungen, wanderndeErzählungen

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Nicht nur die mittelalterliche Historiographie) sondern auch die symbolgela­dene Universalkartographie hat neben biblischen Stoffen auch heidnische Er­zähltraditionen aufgenommen und über komplexe Text- und Bildsignaturenvielschichtig verarbeitet. Zu denken ist an die Stationen des Jason und seinerGefährten, die auf dem sagenhaften SchiffArgo nach Kolchis fuhren und auf derSuche nach dem goldenen Vlies zahlreiche Abenteuer erlebten) oder an die Tatendes Herkules, der im Auftrag Königs Eurystheus von Argos die goldenen Äpfelder Hesperiden pflücken sollte und dafür bis ans Ende der Welt nach Gibraltarziehen musste. Zu erinnern ist auch an die Eroberungszüge Alexanders desGroßen, der die Weiten Asiens bis zur Erschöpfung durchquerte und dafür imMittelalter in eine apokalyptische Gestalt transformiert wurde. Alle diese undandere mythische Erzählungen sind in den Weltkarten in den Raum einge­schrieben. Am Beispiel der Fabeltiere, der monströsen Völker und zweierWeltherrscher, nämlich Alexanders des Großen und des christlichen Priester­königs [ohannes, hat unter anderem Margriet Hoogvliet bereits aufgezeigt, dassdie Unterscheidung in realia und mirabilia einer modernen Wahrnehmungentspricht, ohne mittelalterlichen Vorstellungen gerecht zu werden." Für dieVerortung der Geschichten im Raum ist aber noch bedeutsamer, dass die Aus­sagen von Text und Bild regelmäßig voneinander abweichen und sich eher er­gänzen als sich im anderen Medium zu wiederholen. Im Folgenden kann amBeispiel Alexanders des Großen und der in den römisch-europäischen Raumeindringenden Goten der Völkerwanderungszeit genauer veranschaulicht wer­den, wie solches Wissen über vergangene Herrscher) Völker und Reiche in derkartographischen (Re)Konstruktion verräumlicht wurde.

Die Erfassung des Raums durch eine mythische Erzählung ist personalisiertin der Gestalt Alexanders des Großen (356- 323v.Chr.) der von Makedonien ausein Weltreich eroberte und die Grenzen der bekannten Welt nach Osten ver­schob. Kaum ein anderer Stoff eignete sich deshalb in gleicher Weise) um er­fahrene und gelebte Fremde in kartographische Schrift- und Bildmarkierungenzu transformieren) die asiatischen Landschaften mit der europäischen Vergan­genheit zu konfrontieren und einen antiken Stoff heilsgeschichtlich zu verar­beiten. Die Ebstorfer Weltkarte verzeichnet über 40 Stationen aus dem lateini­schen Alexanderroman des Mittelalters) die ausgehend von Alexanders Geburtin Makedonien bis zu seinem Tod in BabyIon ein universalgeographisch co­diertes Raumprogramm entwerfen) das alle drei Kontinente durchzieht."

37 HOOGVLlET) Pictura et Scriptura (wie Anm. 1) S. 175- 181.38 Zu den Beziehungen zwischen Alexanderroman und mittelalterlicher Universalkartographie

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Weltweit verteilt sind die insgesamt 69 alexandrinischen Text- und Bildsigna­turen auch auf der Herefordkarte; allerdings liegen die neun Einträge, dieAlexander direkt erwähnen, überwiegend an den Rändern Asiens, indem sie denAktionsradius des großen Eroberungs- und Erkundungszugs durch Persienausloten."

In beiden Fällen erfüllt Alexander die ganze Welt von Rom und Jerusalern bisans Paradies. Viele dieser Stationen (wie Rom, Ierusalem, Athen, Karthago, dieAmazonen und einige monströse Völker) sind freilich nicht nur auf den Alex­anderzug zurückzuführen und existieren auch eigenständig, während das ty­pische Alexander-Material vor allem die ins Utopische abgleitenden asiatischenAußenpositionen beherrscht." Bei der castra Alexandri in der Nähe des Am­monsorakel in der libyschen Wüste sollen Hitze, Übermüdung und Seuchen dasHeer des Makedonen drastisch dezimiert haben. Berühmter wurden die Grün­dung Alexandrias oder der Bau der Brücke (pons Alexandri) über den Euphrat,die den erfolgreichen Angriff auf Persien erst ermöglichte. Ein prächtiges Grabsoll der Eroberer für den von den eigenen Leuten vergifteten Perserkaiser Darius,der ihn auf dem Sterbebett in Susa mit der Herrschaft über sein Reich betrauthatte, in Auftrag gegeben haben. Berichtet wird, dass das makedonische Heer bisan die Kaspischen Pforten vorgerückt wäre, hinter denen die -unreinen- VölkerGog und Magog eingeschlossen bleiben sollten. Dort hätten auch die Amazonengewohnt, mit deren Königin Alexander Briefe wechselte. Weit im Osten, parallelzum Paradies auf der anderen Seite des zentralen Christuskopfes. wird ferner einim Alexanderroman heiliger, fast unzugänglicher Ort positioniert, das Orakelvom Sonnen-und Mondbaum, das den baldigen Tod des Helden voraussagte.Und die Alexanderaltäre markieren gewöhnlich die Grenze zwischen Asien undEuropa weit im Norden. In der Zusammenschau schaffen die geographischenParameter einen Imaginationsraum, in dem die Vorstellungen von Verortungund Vermessung die zeitlichen Dimensionen des kurzen Alexanderlebens undseiner eschatologischen Ausdeutung zurücktreten lassen.

vgl. Hartmut KUGLER, Der Alexanderroman und die literarische Universalgeographie. in:Internationalität nationaler Literaturen. Beiträge zum ersten Symposion des GöttingerSonderforschungsbereichs 529, hg. v. Udo SCHÖNING unter Mitwirkung von Beata WEIN­HAGEN u, Frank SEEMANN, Göttingen 2000, S. 102 -120, bes. S. 108-115; ARENTZEN, Imagomundi (wie Anm. 1) S. 174-182; Danielle LECOQ, L'image de Alexandre ä travers les map­pemondes medievales XIIe-XIIIe siecles, in: Geographia antiqua 2 (1992), S. 63 -103. Zu denBildtraditionen vgl. u. a. Angelica RrEGER, L'Ystoire du bon roi Alexandre. Der BerlinerAlexanderroman. Handschrift 78 eIdes Kupferstichkabinetts Preußischer KulturbesitzBerlin, Stuttgart 2002.

39 Zu den Alexanderstationen vgl. Naomi Reed KLINE, Maps of Medieval Thought. The Here­ford Paradigm, Rochester/ N.Y. - Woodbridge/ Suffolk 2001, S. 163-190; Naomi ReedKLINE, Alexander interpreted on the Hereford mappamundi, in: The Hereford World Map(wie Anm. 3) S. 165-190.

40 KUGLER, Der Alexanderroman (wie Anm. 38) S. 113-118.

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Beim Blick auf die Alexanderpositionen meinte Kugler zu erkennen, dass dieallein aus der Überlieferung bekannten) unzugänglichen »Orte des Toposwis­sens« die »Orte des Erkundungswissens«, also Plätze, die »erreichbar und zurpraktischen Orientierung brauchbar sind«, ergänzen würden." Aber beideWissensebenen lassen sich nicht wirklich voneinander trennen. Gerade in derAlexandergeschichte berühren und überlagern sich Topos- und Beobach­tungswissen kontinuierlich und gehen sogar neue Verbindungen ein. So soll esAlexander gewesen sein) der zwischen den realgeographischen Gebirgen vonTaurus und Kaukasus die Kaspische Pforte geschlossen hat, um den -unreinen­Völkern den Zugang zur Welt zu versperren. Diese Inclusi waren, der Historiascholastica des Pariser Magisters Petrus Comestor zufolge, entweder mit denzehn verlorenen Israelitenstämmen oder mit den Völkern Gog und Magog zuidentifizieren) die der Weissagung der Johannes-Apokalypse zufolge beim Ein­treffen des Antichrist hervorbrechen und die Erde verwüsten würden." DerProphet Ezechiel hatte Skythien [apheths Sohn Magog überschrieben." DieOffenbarung des Iohannes ergänzte, dass der aus dem Kerker entlassene Satandie Völker unter Gog und Magog zum Kampf zusammenholen würde." Letztlichverschmolzen diese Geschichten um die Skythen und Magog mit den verlorenenzehn Stämmen und den inclusi Alexanders des Großen, die alle miteinander dieGrenzen des christlichen Abendlandes zu gefährden schienen.

Die Herefordkarte beschreibt die Bedrängnisse aus Nordosten in reichenWorten. Die menschenfressenden und bluttrinkenden Wilden sollen die SöhneKains sein, die Gott durch Alexander einschließen ließ, als ein Erdbeben dieBerge aufeinander türmte und der Eroberer sie nur zu einer unzerstörbarenWand zusammenschließen musste." Eine Grenzmauer mit vier Befestigungs­türmen trennt auf der Karte die Eingeschlossenen von ihren Verwandten, den

41 KUGLER, Der Alexanderroman (wie Anm. 38) S. 104.42 Vgl. u.a. KLINE, Maps of Medieval Thought (wie Anm. 39) S. 184-187; Andrew C. Gow,

Kartenrand, Gesellschaftsrand, Geschichtsrand: Die legendären iudei clausilinclusi aufmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Weltkarten, in: Fördern und Bewahren. Studien zureuropäischen Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, hg. v. Helwig SCHMIDT-GLINZER,Wiesbaden 1996, S. 137-155,dereiner Identifikation der inclusi mit den Juden in den Kartenseit 1430 nachspürt. Vgl. auch Felicitas SCHMIEDER, Edges ofthe World - Edges of Tirne, in:The Edges of the Medieval World, hg. v. Gerhard JARITZ u. [uhan KREEM (CEU Medievalia11), Budapest 2009, S. 4 - 20, hier S. 5 f

43 Ezechiel38, 1-23, bes. 14-16.44 Offenbarung des Iohannes (Apokalypse) 20, 7 - 8.45 WESTREM, The Hereford Map (wie Anm. 3) Nr. 141: Omnia horribilia plus quam credi potest.

[...JHic sont homines truculenti nimis, humanis carnibus vescentes, cruorem potantes, filiCaim maledicti. Hos inclusit Dominus per magnum Alexandrum, nam terre motu facto inconspectu principis montes super montes in circuitu eorum ceciderunt. Ubi montes deerant,ipseeos muro insolubili cinxit. Vgl. KLINE, Maps ofMedieval Thought (wie Anm. 39) S. 167 f.u. S. 184-187; KLINE, Alexander interpreted (wie Anm. 39) S. 176.

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Anthropophagen des Solinus; sie alle würden zur Zeit des Antichrist hervor­kommen und die ganze Welt zerstören." Die Nachfahren von Gog und Magogsitzen, einem weiteren Texteintrag zufolge, außerdem abgeschieden auf der InselTerraconta im Weltenozean und verspeisen barbarisch das Fleisch jungerMänner und fehlgeborener Pöten." In der Ebstorfkarte sind »die beiden grau­sigen Völker« aus dem Gefolge des Antichrist nicht nur textuell beschrieben,sondern auch figurativ inszeniert (Abb. 6).48 Anschaulich ins Bild gesetzt ist ihrBedürfnis, noch ausreichend Menschenfleisch zu essen und Blut zu trinken, ehesie ihr Gebirgsgefängnis verlassen werden. Das blutende Opfer liegt zwischenden Personifikationen des Bösen, deren Beine bereits marschbereit nach Süd­westen weisen. Vorerst sollen die Kannibalen freilich hinter dem KaspischenMeer nicht weit vom »Busen des Aquilo, des Nordostwindes«, eingesperrtbleiben." Nur die Kaspische Pforte, die in gewisser Entfernung weiter im Südenden halbkreisförmigen Kaukasus durchbricht, ist schon leicht geöffnet, ganzanders als etwa auf der Londoner Psalterkarte, auf der ein geschlossenes Tor dieGebirgskette sichert.

Solche Transformationen antiker Stoffe in biblische Motive und mittelalter­liche Verarbeitungen finden sich regelmäßig in mittelalterlichen Kartographien.In der Forschung betont wurden bisher eher die Gemeinsamkeiten dieserWeltentwürfe, die mit Hereford- und Ebstorfkarte einen Höhepunkt erreichten.Vorliegendes Beispiel lässt aber auch die Unterschiede zwischen beidenGroßkarten erkennen, da die zugehörigen Bild- und Schriftzeichen jeweils an­dersartige Binnenstrukturen und Sinngefüge hervorheben. Die Herefordkarteerzählt, biblisches und enzyklopädisches Gedankengut vermischend, eine Ge­schichte der Eingeschlossenen im Zusammenhang von Schrecken, Kälte undAngst. Im Gegensatz dazu stilisiert die Ebstorfkarte die apokalyptischen Wildenzu einer Größe, die den eingeschriebenen Text nahezu verdrängt. Noch stärkerins Gewicht fällt aber die fast quadratische Umrandung, die in der Ebstorf­Darstellung mit einigen zentralen Kartenelementen wie dem Jerusalemquadrat

46 WESTREM, The Hereford Map (wie Anm. 3) Nr. 142: Isti inclusi idem esse creduntur qui aSolino sAntropophagk dicuntur, inter quos et Essedonesnumerantur; nam tempere Antichristerupturi et omni mundo persecucionem illaturi.

47 WESTREM, The Hereford Map (wie Anm. 3) Nr. 302: Terraconta insula, quam inhabitantTurehi de stirpe Gog et Magog: gens barbara et immunda, invenum carnes et abortivamanducantes.

48 Die Ebstorfer Weltkarte, hg. v. KUGLER (wie Anm.2) Nr.8/7 u. Nr. 15/A2: Hic inclusitAlexander duas gentes immundas Gog et Magog, quas comites habebit Antichrist. Hii hu­manis carnibus vescuntur et sanguinem bibunt. (»Hier hat Alexander die beiden grausigenVölker Gog und Magog eingeschlossen, die der Antichrist im Gefolge haben wird. Sie essenMenschenfleisch und trinken Blut.«) Vgl. KUGLER, Der Alexanderroman (wie Anm.38)S. 116 f. zu den Kannibalen.

49 Die Ebstorfer Weltkarte, hg. v. KUGLER (wie Anm. 2) Nr, 15/7: UBERA AQUILONIS.

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sowie den Vierecken um Christuskopf Paradies und Alexanderorakelkorrespondiert (Abb. 7). Die auffallenden Bild-Inserte strukturieren die räum­liche Wahrnehmung und lenken die Aufmerksamkeit des Betrachters auf dieDrohungen und Verheißungen der Zukunft, die mit Alexanderroman und bi­blischer Überlieferung verknüpft werden.

Den Bogen von Magog, dem Sohn Iaphets, zu den Goten hatte bereits Isidorvon Sevilla geschlagen und mit der Ähnlichkeit der letzten Namenssilbe be­gründet.50 In der Ebstorfer Weltkarte deuten textuelle wie figurative Signaturenauf die Wanderbewegung und Aufspaltung der Goten :51 die Herkunft aus demmythischen Skandia, die Ansiedlung an der östlichen Grenze Europas imWeichseldelta von Dakien und das östliche Gotenland an der Nordküste desSchwarzen Meeres." Gemäß einer zu Beginn des 6. Jahrhunderts amOstgotenhof des Theoderich in Ravenna etablierten Legende sollen die Gotenaus Skandinavien gekommen sein. Archäologische Befunde deuten darauf hin,dass gotische Gruppierungen im ausgehenden zweiten Jahrhundert vomWeichselgebiet zum Nordrand der pontischen Steppe migrierten und dasfruchtbare Dakien eroberten. Nach den Vorstößen der Hunnen um 375 waren siegezwungen, als Foederaten südwärts über die Donau nach Thrakien und dannweiter nach Westen zu ziehen; nach einer Aufsplitterung besetzten verschiedeneGruppen Italien, Gallien und Spanien." Als Ergebnis dieser realen Bewegungenhätte die kartographische Erinnerung, ähnlich wie bei Alexander dem Großen,also weite Teile Asiens und Europas erfassen können.

Den Ursprung der Goten hatte [ordanes um die Mitte des 6. Jahrhunderts miteiner sagenhaften Vorgeschichte verklärt. Unter Verweis auf antike Autoritätenbehauptete er, sie kämen von der ausgedehnten nördlichen Insel Skandia, einerArt »Völkerwerkstatt« oder »Mutterschoß der Völker« am Rande des arktischenMeeres." Die Geschichte eignete sich hervorragend, um kartographisch insze-

50 Isidor Hispalensis, Etymologiae (wie Anm. 8) IX, 2.89-90: Gothi a Magog filio Iaphet no­minati putantur; de similitudine ultime syllabae.

51 Zu den Goten in mittelalterlichen Ökumenekarten vgl. Evelyn EDSON, Dada ubi et Gothia.Die nordöstliche Grenze Europas in der mittelalterlichen Kartographie, in: Europa imWeltbild (wie Anm. 5) S. 173-189; Ingrid BAUMGÄRTNER, Völker und Reiche in Raum undZeit. Zur Vorstellungswelt mittelalterlicher Universalkarten, in: Völker, Reiche und Namenim Frühen Mittelalter, hg. v. Matthias BECHER u. Stefanie DICK, München 2009 (im Druck).

52 Die Ebstorfer Weltkarte,hg. v. KUGLER (wie Anm. 2) Nr. 15/2, Nr. 36/15 (zum Fluss Goetelba)und Nr. 36/4 (Gotia orientalis).

53 Vgl. Walter POHL, Die Völkerwanderung. Eroberung und Integration, Stuttgart - Berlin ­Köln 2002, S. 40-69; Herwig WOLFRAM, Gotische Studien, München 2005, S. 215-224.

54 Iordanes, Romana et Getica, I, 9 und III-IV, 16-26, ed. Theodor MOMMSEN, MGH 5:1, Berlin1882, ND München 1982, S. 55 f. u. S. 57 -60; Frühgeschichte der Goten nach [ordanes, in:Die Germanen in der Völkerwanderung. Auszüge aus den antiken Quellen über die Ger­manen von der Mitte des 3. Jahrhunderts bis zum Jahre 453 n. Chr., Erster Teil, hg. u.

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niert zu werden. Die unbekannten Verfasser der Ebstorfer Weltkarte setzten einrundes Medaillon in den Weltenozean (Abb.6), anscheinend die mythischeHerkunftsinsel Skandia im europäischen Nordmeer, umgeben von der eindeu­tigen Umschrift »Mit seiner Kälte fällt der Nordwind über die Goten herein«."Dieser schwer zugängliche und zugleich ungastliche Ort war wie geschaffen fürHerkunftsmythen, für die Konstruktion einer fiktiven Abstammung von Heroenund Halbgöttern." Von Skandia sind, [ordanes zufolge, die Goten ausgezogenund erreichten nach der Unterwerfung der Vandalen zuerst die Länder Skythi­ens, später das Asowsche Meer; die nächsten Wohnsitze hätten sie in Dakien undam Schwarzen Meer gesucht. 57 Die Textsignatur Dada regio que et Gotia ori­entalis" befindet sich westlich der Alexanderaltäre, die im Gebiet der skythi­schen Robasker wie Festungstürme aufgebaut sind) um die gottesfürchtigenAbendländer, darunter die Ostgoten, vor dem Andrang der heidnischen Bar­baren zu schützen.59 Die Goten bewegen sich dabei nicht nur von Außen nachInnen, sondern auch vom Mythos in die historische Vergangenheit, vom figu­rativ inszenierten Toposwissen in die überwiegend textuell erfasste Geschichts­erfahrung.

Bild- und Textbezüge zum eisigen Nordwind, zu den biblischenSchreckensscharen Gog und Magog sowie zum römischen Dakien kennzeichnendie gotische Wanderungsbewegung. Kartographisch verläuft der Weg vomgrausigen Norden über die nördlich der Donau gelegenen Steppengebiete weiterin die südwestliche Zivilisation. Aber es ist nicht nur eine Bewegung im Raumvon Norden nach Süden, von der kartographischen Außen- zur Innenposition,sondern auch ein Fortschreiten in der Zeit von den Ursprüngen bis ins Früh­mittelalter, von der mythischen Vorgeschichte in die historisch messbareVergangenheit.

Auf fast allen Weltkarten gehen die Goten weitere Verbindungen ein, sei es in

übersetzt von Hans-Werner GOETZ, Steffen PATZOLD u. Karl-Wilhelrn WELWEI (FSGA Ib),Darmstadt 2006, S. 10- 13.

55 Die Ebstorfer Weltkarte, hg, v. KUGLER (wie Anm. 2) Nr. 1512.56 [ordanes, Romana et Getica, XIV, 79-81, ed. MOMMSEN (wie Anm. 54) S. 76-78; Frühge­

schichte der Goten nach Iordanes (wie Anm. 54) S. 32 - 35.57 Iordanes, Rornana et Getica, XII, 74, ed. MOMMSEN (wie Anm. 54) S. 75; Frühgeschichte der

Goten nach Iordanes (wie Anm. 54) S. 30 - 32.58 Die Ebstorfer Weltkarte, hg. v. KUGLER (wie Anm. 2) Nr, 36/4.59 Die Ebstorfer Weltkarte, hg. v. KUGLER (wie Anm. 2) Nr. 29110.Zu den Alexanderaltären als

Grenzmarkierungen zwischen Asien und Europa vgl. Paulus Orosius, Historiarum adversuspaganos libri VII, 1,2.5, ed. Carolus ZANGEMEISTER (Corpus scriptorum ecclesiasticorurnlatinorum 5), Wien 1882, ND Hildesheim 1967, S. 435; ed. Marie-Pierre ARNAUD-LINDET, 3Bde. (Collection des universites de France. Serie latine, vol. 296-297), Paris 1990-1991,Bd. 3, S. 18; Die antike Weltgeschichte in christlicher Sicht, übers. und erl. von Adolf LIP­POLD, 2 Bde. (Die Bibliothek der alten Welt. Reihe Antike und Christentum), Zürich ­München 1985-1986, Bd. 2, S. 138 f.

Die Welt als Erzählraum im späten Mittelalter 163

einer Schriftreihe mit anderen Germanenstämmen oder in komplexen Text­Bild-Konstellationen mit den Skythen, den Amazonen oder Gog und Magog.Zwei Beispiele sollen genügen: Paulus Orosius hatte die zum Christentum be­kehrten, romanisierten Goten von den Skythen abstammen lassen und so in dieenzyklopädische Tradition eingeführt. Die Kartenzeichner gestalteten dasThema, das weder biblisch noch antik-mythologisch ist, vor allem textuell. ImKaukasus der Ebstorfkarte leben die zwölf Völker der Skythen neben denAnthropophagen." Die Hereford-Inserte charakterisieren die Skythen als raueHöhlenbewohner, die aus den Schädeln ihrer Feinde Trinkgefäße fertigten,Gefechte liebten und aus den Wunden der Getöteten tränken, da ihr Ansehen mitden Abscheulichkeiten wüchse." Aber ein Bild dafür ist in beiden Karten nichtvorgesehen.

Jordanes entwarf eine eindrucksvolle Schilderung der männermordendenAmazonen gotischer Abstammung mit Lampeto und Marpesia als oberstenBefehlshaberinnen. Lampeto sei zum Schutz des Eigenen zurückgeblieben,während Marpesia mit ihrem Frauenheer siegreich bis in den Kaukasus vorge­drungen sei." In der Ebstorfer Weltkarte sind die Amazonen zwischen den Ur­Goten auf Skandia und den Ostgoten in Dakien so ins Bild gesetzt, als hätten siesich auf diesem langen Weg aus der Kälte vom Gesamtverband abgespalten(Abb. 8). Eine Legende verzeichnet die kriegerischen Frauen mit ihrem Wohn­sitz beim Kaukasus." Wir erkennen zwei bewaffnete Königinnen namensMarpesia und Lampeta neben einem zinnengekrönten Turm." Der Begleittextbeschreibt die Frauen als männergleich kämpfend, erfahren, bildschön und

60 Die Ebstorfer Weltkarte, hg. v. KUGLER (wie Anm. 2) Nr. 9/1- 3.61 WESTREM, The Hereford Map (wie Anm. 3) Nr. 306: Scitharum gens interius habitancium:

asperior ritus. Specus incolunt, pocula - non ut Essedones de amicis - sed de inimicorumcapitibus sumentes. Amant prelia, occisorum cruorem ex vulneribus ipsi[s] bibunt. Numerotedium honor crescit; quarum expertum esse apud eos prophanum est.

62 Iordanes, Romana et Getica, V,44 und VII-VIII, 49- 57; ed. MOMMSEN (wie Anm. 54) S. 65 u.S. 67 -70; Frühgeschichte der Goten nach Iordanes (wie Anm. 54) S. 18-23. Zum Frauenbildmittelalterlicher Weltkarten vgl. Ingrid BAUMGÄRTNER, Biblische, mythische und fremdeFrauen. Zur Konstruktion von Weiblichkeit in Text und Bild mittelalterlicher Weltkarten, in:Erkundung und Beschreibung der Welt. Zur Poetik der Reise- und Länderberichte, hg. v.Xenia von ERTZDORFF-KuPFFER (Chloe. Beihefte zum Daphnis 34), Amsterdam 2003, S. 31 ­86, hier S. 65 - 75; Ingrid BAUMGÄRTNER, Biblical, Mythical, and Foreign Women in the Textsand Pictures on Medieval World Maps, in: The Hereford World Map (wie Anm. 3) S. 305­334.

63 Die Ebstorfer Weltkarte, hg, v. KUGLER (wie Anm. 2) Nr. 317: Caucasus mons, a Serico oc­ceano in oriente attollitur et per aquilonem vergens pene usque ad Europam porrigitur. Hunchabitant Amazones, Massagete, Colchi et Sardi. (»Der Kaukasus erhebt sich aus dem Chi­nesischen Meer im Osten und reicht nordostwärts, in einem Bogen verlaufend, bis fast nachEuropa. Hier wohnen die Amazonen, die Massageten, die Kolcher und die Sarden.«)

64 Die Ebstorfer Weltkarte, hg. v. KUGLER (wie Anm.2) Nr. 2211-2; vgl. ARENTZEN, Imagomundi (wie Anm. 1) S. 188-190.

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rücksichtslos, denn sie töteten ihre neugeborenen Söhne und opferten ihrerechte Brust dem Bogenschießen. Die Amazonen personifizieren in Bild undTextdie Gefahren, denen die Goten bei ihrem Vordringen in die westliche Kulturausgesetzt waren. Deshalb mussten die Kämpferinnen dauerhaft in einem dereuropäisch-abendländischen Ordnung entrückten Landstrich verharren, wäh­rend es den Goten vergönnt war, den Pfad in die christliche Kultur zu finden.

Blicken wir auf die bisher erläuterten Text-Bild-Kombinationen und ihreRelevanzfür die kartographische Verfasstheit des Raumes, so ist aus der Analyseabzuleiten, dass die besser sichtbaren Bilder nicht nur die Kartenlektüre be­stimmen, sondern auch die Lang- und Kurztexte in die räumliche Gesamt­struktur integrieren." Sie helfen, Anekdoten an Orte zu binden und mit alle­gorischen Bedeutungen aufzuladen. Sie tragen dazu bei, Wanderungen zu er­zählen und Erzählungen wandern zu lassen. Figurativ inszenierte Vorstellungenergänzen, überlagern und verstärken textuell erfasstes Wissen. Und trotz einigerGemeinsamkeiten unterscheiden sich die Weltentwürfe von Ebstorf und Here­ford selbst dann, wenn sich die vorgeführten Inhalte ähneln; sie übernehmen alsTextvorlage jeweils andere Quellen und akzentuieren vor allem die Sinnzu­sammenhänge divergierend im Bild. Eine Rekonstruktion der Lesebezüge kannalso nicht nur über den Textinhalt erfolgen, sondern muss zumindest gleich­gewichtig die formale Ausgestaltung der Welt berücksichtigen. Für künftigeKarteneditionen bedeutet dies, dass neben den bisher vorrangig wiedergege­benen Textelementen verstärkt die Ikonographie zu berücksichtigen ist.

3. Zentrum und Peripherie

Ein umfassender Erzählraum wird erst dadurch konstituiert, dass Bezüge zwi­schen dem Zentrum und den anderen Regionen der Welt, ja sogar über denErdrand hinaus über vielschichtige Erinnerungen und Abbildungsmuster her­gestellt und dem Betrachter zugänglich gemacht werden. Denn ihr volles Po­tential entfalten die Kartenzeichen erst, wenn der Betrachter die kartographi­sche Codierung ausdifferenziert. Dies bedeutet, nicht nur die Bild- und Text­zeichen im Kontext der gesamten Karte und der handschriftlichen überliefe­rung zu lesen, sondern vor allem die Einzelsignaturen zu Sinngruppen zusam­menzufügen, Bezüge zwischen Inhalten herzustellen und dadurch neue Sinn­einheiten zu (re)konstruieren. Dieses suchende und ordnende Lesen istGrundlage jeglichen Verstehens. Es wird in den schwer überschaubaren, visuell

65 Vgl. HOOGVLlET, Pictura et Scriptura (wie Anm. 1) S. 175-181.

Die Welt als Erzählraum im späten Mittelalter 165

äußerst dynamischen Großkarten zum Teil von den polyvalent eingesetztenAußenlegenden. zum Teil durch auffallende Binnentexturen gesteuert. 66

Themen- und Signaturengruppen zu erkennen, setzt Bekanntes voraus, dasvom gebildeten Betrachter zu suchen oder gar zu ergänzen ist: etwa die biblischbegründete Noachidenstruktur, deren Dreiteilung der Welt den Weg für einezentrale Positionierung Jerusalems ebnet, oder die Gräberverehrung. die Bezügezwischen dem heiligen Ort der Sehnsucht und dem Entstehungsort der Karteaufbaut. Ein ähnliches Motiv bilden die vier Weltreiche der Danielvision (Daniel2) oder der Weltgeschichte des Paulus Orosius, die den als translatio imperiiverstandenen Lauf der Geschichte von Osten nach Westen, vom irdischen Pa­radies über Babyion und Ierusalem nach Rom versinnbildlichen. Den Karten­aufbau bestimmen kann auch die Apostelmission, die einer Verteilung derVölker in der Diaspora nachspürt und die Frage nach der Zuordnung der Erd­randvölker auslöst. Diese zentralen Strukturelemente werden gerne figurativinszeniert, etwa die zahlreichen Gräber der Ebstorfkarte, die Apostelköpfe ei­niger Beatuskarten oder auch das Kreuz in der Herefordkarte, das als T im 0 dengeographischen Raum ordnet und in Form der crux comissa im Dialog mit demAuferstehenden die Erlösung durch den Kreuzestod Christi symbolisiert. Mitdem T-Schema war die Aufteilung der Weltalso nicht nur geographisch, sondernauch historisch, nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich begründet.

In allen Kartographien gibt es eine Spannung zwischen dem Anspruch aufeine vollständige Erfassung der Welt in ihrer Gesamtheit und der ausgeführtenSelektion im Detail. In den jerusalemzentrierten Karten wird dies noch verstärktdurch die Spannung zwischen der enzyklopädischen Weitläufigkeit und der aufeinen einzigen Punkt gerichteten Leidenschaft. Der Betrachter kann über dieBild-Text-Signaturen geschichtliche, literarische oder heilsgeschichtliche Zu­sammenhänge - wie etwa die Gotenwanderung und die Stationen des Alexan­derzugs - rekonstruieren und über die Ausgestaltung visuell erschließen.

Auch wenn die Jerusalembezogenheit prinzipiell biblisch-christlich kon­notiert ist und sich überwiegend aus dem Alten Testament, den Evangelien undder Apostelgeschichte speist, muss sie nicht die Kompatibilität mit weiterentextuellen und figürlichen Signaturentypen aus Historiographie, Zoologie undEthnologie verweigern. So berücksichtigt die Verteilung der Tierbilder undTierlegenden auf den kartographisch definierten Großraum der Ebstorfkarteweltkundliehe Ordnungszusammenhänge: Das majestätische Kamel, das un­terhalb des langen Jerusalemtextes seinen Platz behauptet, fungiert als eine Art-König der Vierbeiner- nahe dem Knotenpunkt religiöser und politischer

66 Vgl. Cornelia HERBERICHS, .•• quasisub uniuspaginevisionecoadunavit.Zur Lesbarkeit derEbstorfer Weltkarte, in: Text - Bild - Karte (wie Anm. 5) S. 201-217, hier S. 208 f.

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Sehnsüchte." Der kleinasiatische Bonacus, ein dem Rind ähnlicher, in Bild undTextveranschaulichter Vierfüßler, soll seine Verfolgerdadurch abschütteln, dasssein Kot bei Berührung wie Feuer brennt; es ist wohl kein Zufall, dass gerade einBewaffneter,wiederholt als fliehender Kreuzritter interpretiert, davon betroffenist." Elch und Auerochs dominieren den Norden, das karge Land der starkenMänner am Übergang von Russland zu dem aus der Karte herausgeschnittenenSkandinavien." Der Text in der rechten oberen Außenkolumne der Ebstorfkartebeschreibt zudem die Wildrinder Germaniens, aus deren langen HörnernTrinkgefäße von ungeheurem Fassungsvermögen für die königliche Tafel ge­macht werden können."

Über die Elemente lassen sich die Tiere ferner den Himmelsrichtungen zu­ordnen, die Flugtiere überwiegend dem oberen östlichen Teil des Orbis, dieerdverbundenen Kriechtiere eher dem unteren Westen.71 Ihre Anordnung istnicht willkürlich und setzt auch nicht einfach enzyklopädisches Buchwissen,wieIsidors Etymologien, »in ein programmatisches Schaubild aus Bildern undTexten« um." Vielmehr weisen die einzelnen Tiergestalten als wichtiger TeildesOrdnungssystems vielschichtig auf das Zentrum zurück.

67 Die Ebstorfer Weltkarte, hg. v. KUGLER (wie Anm.2) Nr. 14/3 in der Außenlegende: DECAMELIS. Cameli, eum onerantur, accubunt, et sunt curvo dorso. Hos licet alie regioneshabeant,sedArabiaplurimos. sdifferuntautem sibi.NamArabicibina tuberain dorsohabent,reliquarum regionumsingula. (»VON DEN KAMELEN. Die Kamele legen sich nieder, wenn siebeladen werden, und haben einen Buckel. Wenngleich es sie auch in anderen Regionen gibt,gibt es doch die meisten in Arabien. Sie unterscheiden sich allerdings: Die arabischen habenzwei Höcker auf dem Rücken, die anderen nur einen.«), Vgl. auch ibid. Nr. 14/4 zu denDromedaren.

68 Die Ebstorfer Weltkarte, hg. v. KUGLER (wie Anm. 2) Nr, 31125 (Bonaeus) u. 3111: Habet eteamelionem vermem plurimum necivum. Habet etiam bonaeum animal bovi simile: stereussuum veluti spieulumper spacium iugerisdirigit et quiequid tetigeritvelud ineendium urit etsiesuos insequitores submovet. (»Es gibt dort das Chamäleon, ein todbringendes Gewürm, esgibt auch den Bonacus, ein dem Rind ähnliches Tier. Seinen Kot kann es wie ein Wurfgeschoßauf Ackerlänge wegschleudern; dieser brennt bei Berührung wie Feuer, und so hält das Tierseine Verfolger von sich fern.«) Vgl. Uwe RUBERG, Die Tierwelt auf der Ebstorfer Weltkarteim Kontext mittelalterlicher Enzyklopädik, in: Ein Weltbild vor Columbus (wie Anm. 10)S. 319 - 346, hier S. 330 f. zum Bonaeusund dem viel interpretierten Bewaffneten daneben.

69 Die Ebstorfer Weltkarte, hg. v. KUGLER (wie Anm. 2) Nr. 37/Bl u. 37126: Urus (»Auerochs«);vgl. RUBERG, Die Tierwelt (wie Anm. 68) S. 321.

70 Die Ebstorfer Weltkarte, hg, v. KUGLER (wie Anm.2) Nr. 7110 in der rechten oberen Eckeaußerhalb des Erdkreises: DE APRIS. Apri egrestes bovessunt in Germania; habenteseornuain tantum protensa ut regiis mensis insigni eapacitate ex eis gerulefiant. (»VON DEN Au­EROCHSEN. Die Auerochsen sind Wildrinder in Germanien. Sie haben derart lange Hörner,dass man aus ihnen Trinkgefäße von ungeheurem Fassungsvermögen für die königliche Tafelmacht.«)

71 Vgl. RUBERG, Die Tierwelt (wie Anm. 68) S. 335 u. S. 341-343.72 Isidorus Hispalensis, Etymologiae (wie Anm. 8) XII, 1- 7 Deanimalibus,hier XII, 1.1- 60 De

peeoribus et iumentis. Vgl. RUBERG, Die Tierwelt (wie Anm. 68) S. 335 - 343 u. S. 346 (Zitat).

Die Welt als Erzählraum im späten Mittelalter 167

Mit den vier kreisrunden Hauptwinden" korrespondiert, wie die Ebstorf­karte zeigt, obendrein Alexanders symbolische Vermessung der Welt: Im Ostenneben Subsolanus und Christushaupt deutet, parallel zu Lebens- und Erkennt­nisbaum im Paradies, das indische Orakel mit Sonnen- und Mondbaum aufVergänglichkeit und Zukunft, die in der Herefordkarte im trockenen Baumsymbolisiert werden." Neben Zephir im Westen markieren die (ausnahmsweisenur textuell integrierten) Säulen des Herkules, die Alexander zum Vorbilddienten, die Grenzen der bewohnbaren Welt.75 Im Süden nicht weit vom Austerbezeichnet das Ammonsorakel in der libyschen Wüste den südlichsten Punktdes Alexanderzugs," und im Norden beim Aquilo bestimmen die Alexander­altäre bei den skythischen Robaskern die Grenze zwischen Asien und Europa."Damit war ein topographisches Organisationsschemavorgegeben, das Maßstäbefür die räumliche Erkundung des Zentrums setzte. Die bewohnten und leichtzugänglichen Zonen wurden in ein universalgeographisches Konzept des Un­zugänglichen und Verbotenen eingeordnet.

Zweifellos führte die Semantisierung der Himmelsrichtungen und Winde zuweiteren Interpretationen. Der heiße Süden beherbergte abartig geformte,monströse Menschenrassen und Schlangengetier. Der negativ besetzte Nordenwar der Ort des Teufels und der Hoffnungslosen; es war der Ort, von dem dieapokalyptischen Völker, die inclusi des Alexanderzugs, bei der Ankunft desAntichrist hervorbrechen werden. Diese Denkfigur des Bedrohlichen verleihtjeder der hier behandelten Weltkarten eine gewisse Dramatik. 78 Selbst auf derLondoner Psalterkarte ist die (noch) geschlossene Kaspische Pforte klar zu er­kennen. Im Paradies gegenüber verortet sind Henoch und Elias, die verbliebe­nen Rechtgläubigen und Feinde des Antichrist. Die Substanz dieser Ausgren­zung des Bösen, das gleichwohl essentiell zum Weltenraum gehört, dürfte imGegensatz zwischen Christus und Antichrist, zwischen schützendem Welten­herrscher und den Heerscharen des Zerstörers zu fassen sein und damit erneutauf das Zentrum [erusalern verweisen.

73 Die Ebstorfer Weltkarte, hg. v. KUGLER (wie Anm. 2) Bd. 2, S. 29 f. mit einer schematischenWinddarstellung. Zur Semantisierung vgl. Hartmut KUGLER, Himmelsrichtungen undErdregionen auf mittelalterlichen Weltkarten, in: Text - Bild - Karte (wie Anm. 5) S. 175­199.

74 Die Ebstorfer Weltkarte, hg. v. KUGLER (wie Anm. 2) Nr. 4/6; WESTREM, The Hereford Map(wie Anm. 3) Nr. 76.

75 Die Ebstorfer Weltkarte, hg. v. KUGLER (wie Anm. 2) Nr. 58/49; WESTREM, The HerefordMap (wie Anm. 3) Nr. 1090-1091.

76 Die Ebstorfer Weltkarte, hg. v. KUGLER (wie Anm. 2) Nr. 42/1; WEST REM, The Hereford Map(wie Anm. 3) Nr. 885.

77 Die Ebstorfer Weltkarte, hg. v. KUGLER (wie Anm. 2) Nr. 29/10; WESTREM, The HerefordMap (wie Anm. 3) Nr. 209.

78 Weitere Beispiele bei Hartmut KUGLER, Europa pars quarta. Der Teil und das Ganze, in:Europa im Weltbild des Mittelalters (wie Anm. 5) S. 49 - 51.

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Erhöht wurde die Bedeutung [erusalems also durch imaginierte Gegenwelten.darunter auch die monströsen Völker am südlichen Erdrand. Die LondonerPsalterkarte entfaltet hier ihre ganze bildliehe Ausdruckskraft) von Osten nachWesten sehen wir die Vieräugigen und Sechsfingrigen, die Röhrchenesser mitdem verwachsenen Mund und die auf die Gebärdensprache angewiesenenZungenlosen, die Ohren- und die Nasenlosen, die Skiapoden und Großlippigen,die Blemyer und die Schulteräugigen, die Schlangen essenden Troglodyten unddie vornüber geneigten Vierbeiner) die Menschenfresser und die Hundsköpfi­gen." Konrad Miller hat bereits auf die Verwandtschaft mit der viel größerenEbstorfkarte hingewiesen) die diese Deformierten noch ausführlicher in zweiReihen zeigt." Die Monstergalerie der Herefordkarte scheint hingegen fast be­scheiden zu bleiben) bis der Betrachter nach längerem Studium merkt) dass sichdie Missgestalteten und Sittenlosen auf nahezu Dreiviertel des Erdenrandsverteilen."

Das Vorkommen dieser Gestalten ist bisher entweder mit der mittelalterli­chen Alterität begründet worden) die eine Vorliebe für das Phantastische ent­faltet hätte) oder mit der anthropologischen Konstanten des Exotischen) die bisin die Unterhaltungsmedien unserer Zeit hineinreicht. Beide Erklärungsmodelletreffen nicht den Kern) denn trotz ihrer Repräsentation am Erdrand sind diemonströsen Völker als wichtiger Bestandteil eines komplexen Erzähl- undOrdnungssystems zu verstehen. Die Grenzwesen an der Peripherie tragen) wiebereits Marina Münkler betont hat) auf den verschiedenen Sinn- und Bedeu­tungsebenen von Vielfalt und Transzendenz entscheidend zur Deutung desZentrums bei." Sie sind kein defizitärer Ausdruck grotesker Verzerrungen desMittelalters) sondern Teil eines Gesamtprogramms, dessen Raumkonzept imFalle der jerusalemzentrierten Oekumenekarten in Text und Bild immer wiederauf die Heilige Stadt bezogen ist.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Text- und Bildsignaturen in dermittelalterlichen Kartographie in besonderer Weise zusammenwirkten) um dieErzählkraft unterschiedlicher Gattungen zu nutzen und deren Inhalte in einanderes Medium umzusetzen. Sie waren wichtige Hilfsmittel) um den Welten-

79 Mappaemundi, hg. v. MILLER, Heft III (wie Anm. 9) S. 42.80 Die Ebstorfer Weltkarte, hg. v. KUGLER (wie Anm. 2) Nr, 21, 27-28,34- 35,42 u. 49.81 WESTREM, The Hereford Map (wie Anm.3) Nr. 961-973. Vgl. Naomi Reed KLINE, The

World of the Strange Races, in: Monsters, Marvels and Miracles. Imaginary Journeys andLandscapes in the Middle Ages, hg, v. Leif S0DERGAARD u, Rasmus Thoming HANSEN,Odense 2005, S. 27- 40.

82 MÜNKLER, Monstra (wie Anm. 23) S. 149-173. Vgl. Marina MÜNKLER u. Werner RÖCKE,Der ordo-Gedanke und die Hermeneutik des Fremden im Mittelalter: Die Auseinanderset­zung mit den monströsen Völkern des Erdrandes, in: Die Herausforderung durch dasFremde (Interdisziplinäre Arbeitsgruppen, Forschungsberichte 5), hg. v.Herfried MÜNKLER,Berlin 1998, S. 701-766.

Die Welt als Erzählraum im späten Mittelalter 169

raum metaphorisch zu gestalten und narrative Ordnungen zu etablieren. DieKomplementarität von Text und Bild trug dazu bei, die räumliche Distanzzwischen den einzelnen Signaturen aufzuheben und die Grenzen von Zeit undRaum zu überwinden. Indem immer wieder neue Erzählkombinationen ge­schaffen wurden, konnten die äußerst komplexen Zusammenhänge der ge­samten Schöpfung kartographisch umgesetzt und strukturell eingebundenwerden.

Ein Blick auf die beiden bekanntesten großformatigen Weltkarten des Mit­telalters zeigt, dass diese Umsetzungsvorgänge sehr stark differieren konnten.Bilder und Texte entsprachen sich nicht zwangsweise. Bilder konnten das Augedes Lesers stärker lenken, mehrere Bedeutungen synchron kommunizieren,vorgefundenes Wissen aktivieren und Erzählungen greifbarer verorten. Text­erzählungen verfügten über eine größere Kapazität, Informationen zu konkre­tisieren und, zumindest bei genauem Studium, vorhandenes Wissen zu er­weitern. Figurative Elemente konnten auf narrative Vorgaben reagieren undumgekehrt. Zeichnerische Linien waren notwendig, um längere Textinserteräumlich zu integrieren und die kartographische Kohärenz zu sichern. Im ge­genseitigen Zusammenwirken wurden kulturell bestimmte Einheiten geformt,die eine topographische Präsenz der Erzählung im Medium Karte erst ermög­lichten.

Diese Chancen der Strukturierung und Konkretisierung wurden in den bei­den großen Oekumenekarten recht unterschiedlich genutzt, um die Welt ineinen Erzählraum zu transformieren. Dabei schufen Leser und Betrachter imkreativen Erkennen und Verstehen einen narrativen Raum, der zumindest in denbeiden Wandkarten eine jeweils eigene Dynamik erreichte. Sicherlich wäre eslohnend, dieser Differenz noch intensiver und systematischer nachzugehen.Vorerst lässt sich nur festhalten, dass im ausgehenden 13. und beginnenden14. Jahrhundert [erusalem zum Kern eines globalen Erzählraumes wurde, vomNabel der Welt zu einem die Welt umfassenden Erinnerungsraum, der von bi­blisch-christlichen Motiven ausgehend das gesamte enzyklopädische Wissenumfassen und eine recht verschiedenartige Ausgestaltung erfahren konnte.