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Martin van Bruinessen, 'Nationalismus und religiöser Konflikt: Der kurdische Widerstand im Iran', in: Kurt Greussig (ed.), Geschichte und Politik religioser Bewegungen im Iran, Frankfurt: Syndikat, 1981, pp. 372-409.

Nationalismus und religiöser Konflikt: Der kurdische Widerstand im Iran

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Martin van Bruinessen, 'Nationalismus und religiöser Konflikt: Der kurdische Widerstand im Iran', in: Kurt Greussig (ed.), Geschichte und Politik religioser Bewegungen im Iran, Frankfurt: Syndikat, 1981, pp. 372-409.

Nationalismus und religiöser Konflikt

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Nationalismus und religiöser Konflikt:

Der kurdische Widerstand im Iran

Martin van Bruinessen

“Die Kurden sind analphabetische, doch bigotte Sunniten der

schafi`itischen Richtung…; bigott, nicht weit sie, wie man häufig glaubt,

in Ihrer Veranlagung fanatisch sind, sondern weil sie in Persien mit einem

schi itischen Volk und einer ebensolchen Dynastie zusammenleben

müssen, die sie beide von ganzem Herzen geringschätzen und verachten.

Wann immer die kurdische Frage in Persien akut wird, liegt der Grund im

Hass zwischen Sunniten und Schi`iten.” (George N. Curzon, 1892)1

“In der Revolution kämpften wir nicht aus religiösen Überzeugung,

sondern für politische Ziele. Wir wollen Autonomie — unser eigenes

Parlament, unsere eigene Sprache, unsere eigene Kultur. Die Revolution

hat die Despotie vernichtet, doch die Diskriminierung der Minderheiten

nicht beendet. Die Revolution muß weitergehen, bis alle

Minderheitengruppen — die Kurden hier, die Türken in Azerbaijan und

die Balutschen im Osten — ein bestimmtes Maß an Autonomie erreicht

haben.” (Kurdenführer Ezzeddin Hoseyni in 1979)2

“Sunnit oder Schi it — das interessiert uns nicht. Es sind die

Unterdrücker und Plünderer, die wir verabscheuen.” (Landlose kurdische

Bauer, 1979)3

Sind die Auseinandersetzungen zwischen den Kurden und dem neuen islamischen

Regime im Iran wesentlich ein religiöser Konflikt? Wie in der iranischen Revolution

selbst können hier religiöse Faktoren von anderen nicht ohne weiteres getrennt werden.

In der Tat legen es einige Ereignisse nahe, daß hinter den jüngsten Entwicklungen in

1 Curzon 1892, Bd. I, S. 551.

2 Interview mit Hoseyni, International Herald Tribune, 6.3.1979.

3 Text auf einem Transparent, das arme von ihrem Land vertriebene Bauern bei einer Demonstration

gegen ihre Grundherrn in Orumiyeh (Urmia) im April 1979 trugen (siehe: Sazman-e Paykar

1358/1979: 11).

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Kurdistan ein Konflikt zwischen Sunniten und Schi iten steht. Da die Islamische

Republik sich ausdrücklich als schi itisch versteht, dürften die sunnitischen Kurden auch

religiöse Gründe für ihre Opposition und ihre Autonomieforderungen haben. Die

schi itischen Azeris, die wie die Kurden schon lange ihre nationalen Rechte eingefordert

und wie jene im Jahre 1946 für kurze Zeit eine unabhängige Regierung errichtet haben,

stellen gegenwärtig keine Forderungen nach Autonomie. Die schi`itischen Kurden im

südlichen Teil der Region scheinen die gegenwärtige kurdische Bewegung auch nur sehr

begrenzt zu unterstützen.4 Auch daß der sunnitische Freitags-Imam (emam jom`eh) von

Mahabad, Ezzeddin Hoseyni, im Frühjahr 1979 zur anerkanntesten

Führungspersönlichkeit der Kurden wurde, mag von Bedeutung sein. Bereits vor den

ernsteren Auseinandersetzungen zwischen Kurden und den Streitkräften der Islamischen

Republik hatte es in ethnisch gemischten Gebieten mehrere blutige Zusammenstöße

zwischen sunnitischen Kurden und ihren — nicht-kurdischen — schi itischen Nachbarn

gegeben. Nach den Angriffen der iranischen Luftwaffe erklärten mir viele einfache

Kurden, sie seien gegen die neue Regierung des Iran, da diese nicht islamisch sei: “Das

ist kein Islam! Auch wir wollen eine islamische Regierung, doch eine, die auf dem

wirklichen Islam beruht, dem Islam der Gerechtigkeit und Gleichheit, dem Islam des

Qor’an, Mohammads, Abu Bakrs und Omars...” — eine klare Kampfansage an die

Schi ah. Gleichzeitig formulierten sie jedoch nationalistische Forderungen, die nichts mit

Religion zu tun hatten.

Andere Entwicklungen scheinen wieder darauf hinzudeuten, daß in der gegenwärtigen

politischen Situation die Religion nur eine untergeordnete Rolle spielt. Die maßgeblichen

politischen Organisationen in Kurdistan haben säkulare Programme. Die ganz

konservativen Sunniten tendieren dazu, sich aus den gegenwärtigen

Auseinandersetzungen herauszuhalten oder sich mit dem neuen Regime zu verbünden,

da sie dieses gegenüber den “ungläubigen” politischen Gruppierungen der Kurden als

das kleinere Übel betrachten.

Gleichzeitig haben wir es bei den gegenwärtigen Konflikten in Kurdistan mit einem

doppelten Klassenkampf zu tun: einerseits einem Kampf um das Land zwischen

Grundherrn, die häufig auch Stammesoberhäupter sind, und den mittleren und armen

Bauern, andererseits einem Kampf um die politische Vorherrschaft zwischen jener

Stammes- und Grundbesitzerelite und der modernen städtischen Mittelschicht (Beamten,

4 Im Frühjahr und Sommer 1979 konnte ich bei meinem Aufenthalt in Kurdistan feststellen, daß die

schi`itischen Kurden von Kermanshah im allgemeinen die kurdische Nationalbewegung ablehnten und

Anhänger des islamischen Regimes waren. Im August 1980 jedoch erklärte mir der Generalsekretär der

Demokratischen Partei Kurdistans-Iran, Dr. Qasemlu, unter den Schi`iten dieser Region habe seine

Partei viele neue Mitglieder und sogar Partisanen gewonnen. Dennoch wurde eine viel größere Zahl

von schi`itischen Kurden für die regierungstreuen Milizeinheiten der Peshmergha-ye mosalman, die

gegen die Nationalisten kämpfen, rekrutiert.

Nationalismus und religiöser Konflikt

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Kaufleuten, akademisch Qualifizierten). Viele Grundherren haben die Unterstützung des

neuen Regimes gewonnen, während die Interessen der beiden anderen sozialen Gruppen

bis zu einem gewissen Grad in den kurdischen nationalistischen Organisationen zum

Ausdruck kommen.

RELIGION UND NATIONALISMUS

Von den in 1980 insgesamt etwa 15 bis 16 Millionen Kurden leben ca. 3,5 Millionen im

Iran. In der Türkei leben 7 bis 9 Millionen, im Irak 3 Millionen, in Syrien lebt mehr als

eine halbe Million, einige kleinere Gruppen sind auch in der Sowjetunion beheimatet.

Die Mehrzahl der Kurden sind Anhänger der schafi`itischen Rechtsschule der Sunnah,

was sie nicht nur von ihren schi itischen Nachbarn im Iran, vor allem den Azeris,

sondern auch von den sunnitischen Türken und den Arabern in der Türkei, in Syrien und

im Irak unterscheidet, die der hanafitischen Rechtsschule angehören. Dieser Unterschied

hat die Herausbildung einer eigenen ethnischen Identität der Kurden unterstützt. Schon

sehr lange Zeit politisch relevant ist die weite Verbreitung der volkstümlichen Sufi-

Orden, vor allem der Qaderiyya und Naqshbandiyya, unter den sunnitischen Kurden.

Mehrere Führer (Sheykhs) dieser Orden verfügen immer noch über großen politischen

Einfluß. Etwa von 1880 bis 1940, in der ersten Phase des kurdischen Nationalismus vor

dem Auftreten bürgerlicher nationalistischer Parteien, wurden fast alle nationalistischen

Erhebungen von Sheykhs angeführt.

Neben dieser sunnitischen Mehrheit gibt es unter den Kurden noch einige bedeutende

religiöse Minderheiten (Karte 1). In den Bezirken Kermanshah und Khaneqin in Süd-

Kurdistan leben hauptsächlich “orthodoxe” Zwölfer-Schi iten, darunter jedoch auch

einige kleinere Gruppen heterodoxer Ahl-e Haqq.5 Kleinere, isolierte Ahl-e Haqq-

Gemeinden bestehen noch im Irak in der Nähe von Kerkuk und Mosul. Ein großer Teil

der Kurden in der Türkei ist als Aleviten bekannt, eine Bezeichnung, unter der

verschiedene Formen volkstümlicher, heterodoxer Schi itischer Bekenntnisse gefaßt

werden. Schließlich gibt es in Nord-Syrien, im Nord-Irak und in der südöstlichen Türkei

5 Die Ahl-e Haqq sind eine synkretistische Sekte, in deren religiöse Vorstellungen verschiedene der

üblichen extremistischen schi`itischen Ideen eingegangen sind, etwa die Vorstellung der

Seelenwanderung oder der Glaube, Ali sei die Inkarnation Gottes (Minorsky 1920/1921; 1960). Mit der

religiösen und weltlichen Literatur der Ahl-e Haqq beschäftigen sich zahlreiche Publikationen von

Mohammed Mokri.

Nationalismus und religiöser Konflikt

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bedeutende Yezidi-Gemeinschaften.6 In der Türkei allerdings nimmt ihre Zahl rapide ab.

Infolge der Diskriminierung durch ihre sunnitischen Nachbarn treten die Yezidi entweder

zum Islam über oder wandern zur Arbeitssuche nach Deutschland aus.

Fast alle nationalistisch gefärbten kurdischen Aufstände wurden ausschließlich von der

sunnitischen Mehrheit unterstützt. In den letzten Jahren jedoch veränderte sich dieses

Bild. In der breiten Aufstandsbewegung im Irak, besonders in den Jahren 1974/75,

beteiligten sich auch viele kurdische Schi iten und Yezidi. Ähnlich in der Türkei. Hier

sind viele Aleviten in den kurdischen nationalistischen Organisationen aktiv, obwohl die

Konflikte zwischen Aleviten und Sunniten ein noch nie dagewesenes Ausmaß an

Gewalttätigkeit erreicht haben. Die enge Verbindung von kurdischem Nationalismus und

(schafi`itischem) sunnitischem Islam scheint sich langsam zu lockern, indem sich eine

säkularisierte, städtische Führung entwickelt.

RELIGIÖSE UND POLITISCHE KONFLIKTE IN KURDISTAN VOM 16. BIS ZUM

19. JAHRHUNDERT

Im frühen 16. Jahrhundert wurde der Großteil Kurdistans in das expandierende

Osmanische Reich inkorporiert. Bis dahin hatte die Region, nach dem Zerfall des

Aqqoyunlu-Reiches, unter safawidischer Herrschaft gestanden. Sowohl zeitgenössische

als auch spätere Historiker erklären die Integration in das osmanische Reich gewöhnlich

damit, daß die Kurden als Sunniten sich ihrem Glaubensbruder Sultan Selim I.

unterwarfen, um so die Herrschaft des Schi itischen Shahs Isma`il abzuschütteln. Diese

Erklärung hat wahrscheinlich ideologischen Zwecken gedient; sie ist jedoch

unbefriedigend und widerspricht mehreren Fakten, die von genau diesen Historikern

auch dargestellt werden.

Dem heterodox schi itischen Shah Isma`il gelang es im ersten Jahrzehnt des 16.

Jahrhunderts, ein riesiges Gebiet unter seine Herrschaft zu bringen, darunter den

Großteil von Kurdistan. Er setzte mehrere kurdische Lokalherrscher (Emire) ab und

ernannte Statthalter aus den loyalsten — meist türkischen — schi itischen Stämmen. Der

Shah bedeutete nicht nur eine militärische Bedrohung für die Osmanen. Viele Untertanen

des Sultans waren oder wurden Anhänger seines besonders militanten schi itischen

Bekenntnisses. 1512 kam Selim I. auf den osmanischen Thron. Die Verfolgung

schi itischer Untertanen brachte ihm bald den Beinamen “der Grausame” ein. Als Selim

6 Das Yeziditum ist eine weitere synkretistische Religion, die man nirgendwo außer in Kurdistan findet.

Wegen ihrer Verehrung des Pfauen-Engels, der mit Iblis oder Satan identifiziert wird, werden die

Yezidi oft mißbräuchlich als “Teufelsanbeter” bezeichnet (zu den Yezidi siehe Menzel 1911 und Lescot

1975).

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seinen Kriegszug gegen Shah Isma’il vorbereitete, sandten ihm 20 der bedeutendsten

kurdischen Herrscher, die entweder von Isma’il abgesetzt worden waren oder dieses

Schicksal befürchten mußten, eine Ergebenheitsadresse. Nach der Schlacht von

Chaldiran (1514), in der der Sultan dem Shah eine entscheidende Niederlage bereitete,

verbündeten sich viele Kurden mit den osmanischen Streitkräften, um die Qizilbash

(“Rotköpfe”, wie die Anhänger des Shahs genannt wurden) aus Kurdistan zu vertreiben.

In der zeitgenössischen Chronik des Abo’l-Fazl heißt es: “Standhaft und unverrückbar

verteidigten die Kurden, wahre Sunniten und Bergbewohner, ihr Land und ihre Sekte.

Vierzehn Jahre lagen sie ständig im Krieg mit ihren Eroberern, den Persern”.7 Sharaf

Khan Bidlisi machte gegen Ende des 16. Jahrhundert in seinem Werk Sharafnameh

ähnliche Anmerkungen zum religiösen und politischen Treuebekenntnis der Kurden. Mit

Ausnahme einiger Yezidi-Stämme, so behauptet er, seien alle Kurden schafi itische

Sunniten, die streng der Sunnah des Propheten folgten, den Kalifen gehorchten — die

osmanischen Sultane hatten damals diesen Titel schon angenommen — und stets ihren

religiösen Pflichten nachkämen.8 Andere Chronisten berichten ähnliches. Doch liest man

diese Quellen genauer, so stellt sich heraus, daß weder alle nicht-yezidischen Kurden

Sunniten waren noch die Religion den entscheidenden Faktor für die Bildung politischer

Allianzen darstellte.

Es gibt in der Tat nur sehr wenige konkrete Hinweise darauf, daß politisches Verhalten

von religiösen Gefühlen motiviert wurde. Einer der wenigen Fälle religiös sich

ausdrückender Feindschaftsgefühle wird von Sharaf Khan Bidlisi berichtet. Sheykh Emir

Bilbasi, ein kurdischer Stammesführer, der sich besonders leidenschaftlich gegen die

Qizilbash zur Wehr setzte, machte sich bei diesen so verhaßt, daß sie ihn “Qara Yazid”

(Schwarzer Yazid) nannten — Yazid war der Gegner des Imam Hoseyn zu Kerbala und

ist damit der Erzfeind aller Schi iten. Als Sheykh Bilbasi im Kampf fiel, verweigerten die

Qizilbash ihm, dem “Schwarzen Yazid”, ein Begräbnis; seine Leiche wurde verbrannt

(Bidlisi o.J.: 536). Nun kann man von den Qizilbash, die ja in erster Linie eine

schi itische religiöse Sekte waren, durchaus solche religiös gefärbten Emotionen

erwarten. Umgekehrt habe ich jedoch keinen Fall gefunden, wo Kurden in

vergleichbaren religiösen Symbolen ihre Feindschaft gegen Shah Isma`il und die

Qizilbash ausgedrückt hätten.

7 Abol-Fazl war der Sohn von Idris Bitlisi, dem kurdischen Gelehrten und Diplomaten, den die

Osmanen zur Gewinnung der kurdischen Emire einsetzten. Das Zitat stammt aus seinem “Zeyl”

(Nachtrag) zum “Hasht Behesht”, einem Werk seines Vaters (Hammer 1828: 436).

8 Bidlisi: o.J.: 26. Eine französische Übersetzung des Sharafnameh wurde von Charmoy (1868-75) in

St. Petersburg veröffentlicht. Sharaf Khan, der sein Werk 1596/97 vollendete, hatte vorher in

safawidischen Diensten gestanden und unter Shah Tahmasb mehrere hohe Ämter innegehabt. Im Jahre

1578 kehrte er nach Bitlis zurück und wurde vom Sultan als autonomer Herrscher seines angestimmten

Emirats wieder eingesetzt.

Nationalismus und religiöser Konflikt

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Es ist natürlich durchaus möglich, daß die einfachen sunnitischen Kurden den Schi`iten

sehr schlecht gesonnen waren, doch gibt es dafür keine schriftlichen Belege. Zentrale

politische Entscheidungen wurden von einer äußerst schmalen Oberschicht von Emiren

und Stammesführern getroffen, und die Untertanen folgten, ohne viel zu fragen. Diese

Führungsschicht war aber von allem anderem als von religiösen Erwägungen motiviert.

Wenn es möglich war, legitimierte sie natürlich ihre politischen Entscheidungen — etwa

die Unterwerfung unter die Osmanen — religiös; sonst suchte sie wohl andere Formen

der Legitimation. Daß Shah Isma`il den Haß so vieler kurdischer Emire auf sich zog, lag

denn wohl auch eher an seinen Versuchen, sie abzusetzen, als an religiösen Differenzen.

Noch bis 1510 hatten sich ihm mehrere Emire formell unterworfen. Doch dauerhafter

war ihr Bündnis mit den Osmanen, weil der Sultan den kurdischen Fürsten weitgehende

Autonomie gewährte (Bruinessen 1978: 189-192). Shah Tahmasb, der sicherlich nicht

weniger Schi itisch und heterodox als sein Vater Isma’il war, verhielt sich gegenüber

den Kurden diplomatischer. Er konnte mehrere Emire und Stammesführer wieder für

sich gewinnen.

Es stimmt auch nicht, daß im 16. Jahrhundert alle Kurden treue Sunniten waren, mit

Ausnahme jener wenigen Yezidi-Stämme, die aber politisch ziemlich harmlos waren, da

sie auf keine Hilfe von auswärts hoffen konnten. Die heute existierenden

Gemeinschaften der Aleviten und Ahl-e haqq sind die Erben heterodoxer schi`itischer

Gruppen, die in der Vergangenheit wahrscheinlich viel größer waren. Der arabische

Historiker Maqdisî erwähnt schi itische Kurden bereits im 9. Jahrhundert. Unter dem

Abbasiden-Kalifen Mo`tamed (870-892) “erhob sich ein Alide in Azerbaijan und nahm

den Namen al-Râfi bi’llah an; er machte sich zum Herrscher über die ganze Provinz; er

vereinigte die Kurden und führte sie in die Irre ... “ (Huart 1919: 122). Im Jahre 1340

bestand der Großteil der Bevölkerung von Nehawand in Südost-Kurdistan aus Schi iten;

das soll auch in der Mitte des 17. Jahrhunderts noch so gewesen sein (Qazwini 1919: 76;

Evliya Çelebi, IV: 342).

Auch weiter im Westen hingen mehrere kurdische Stämme volkstümlichen und

extremistischen Lehren der Schi ah an. So gehörten die Khinislu, die Chemishkezek und

die Pazuki (nordwestlich und nördlich des Van-Sees) zu den frühesten Anhängern Shah

Isma`ils (Sümer 1976: 53; Bidlisi o.J.: 431-438). Viele dieser Schi itischen

Kurdenstämme wanderten im Laufe des 16. Jahrhunderts, als sich die osmanische

Herrschaft über Ost-Anatolien immer mehr verfestigte, in den Iran. Unter Shah Abbas

werden mehrere von ihnen als Wächter der östlichen Grenzgebiete des Landes erwähnt.

Im Jahre 1598 wurden 40 000 Kurdenfamillen unter einem Stammesführer der

Chemishkezek nach Khorasan geschickt, um den Iran gegen die Uzbeken-Einfälle zu

schützen (Bruinessen 1978: 215-220). Andere Mitglieder der herrschenden Familie der

Chemishkezek kehrten jedoch in ihre angestammten Gebiete zurück und wurden vom

Sultan als autonome Lokalherrscher anerkannt. Es ist nicht klar, ob sie wieder zum

Nationalismus und religiöser Konflikt

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sunnitischen Glauben übertraten oder sich weiterhin offen zur Schi ah bekannten

(Bruinessen 1978: 179f.; Bidlisi o.J.: 213-230). Heute jedenfalls wohnen im Bezirk

Chemishkezek alevitische Kurden.

Auch nach der Unterwerfung unter die Osmanen hat die schi itische Propaganda unter

den Kurden nicht abgenommen. 1577 berichtete der Provinzstadthalter von Qarahisar-

sharqi nach Istanbul, daß “viele Kurden in der Region den Glauben der Qizilbash

angenommen haben, in ihren Dörfern Versammlungen abhalten und Diebstahl und Raub

nachgehen” (Imber 1979).

Der Übertritt zur Schi ah mag einen sozialen und politischen Protest ausgedrückt haben,

er bedeutete jedoch nicht unbedingt eine Unterstützung der Safawiden. Da aber die

Osmanen alle ihre Schi itischen Untertanen als Freunde der Safawiden verdächtigten,

war es ratsam, einen möglichen Hang zur Schi ah zu verbergen. Wahrscheinlich aus

diesem Grund betonten die einflußreichen zeitgenössischen Historiker Kurdistans (die

meist selbst Kurden waren oder ihnen freundlich gegenüberstanden), alle Kurden seien

Sunniten und somit loyale Untertanen des Sultans. Es gibt jedoch sogar Hinweise

darauf, daß der Geschichtsschreiber Sharaf Khan Bidlisi, der in safawidischen Diensten

gestanden hatte, selbst zur Schi ah übergetreten war. Außerdem waren zu dieser Zeit die

Grenzen zwischen Sunniten und Schi iten durchaus fließend. Für das 14. und 15.

Jahrhundert ist dieser Sachverhalt bereits dokumentiert worden (Aubin 1959: 55; Molé

1961). In Kurdistan galt dies auch noch im 16. Jahrhundert, trotz der osmanisch-

safawidischen Konfrontation. Viele Elemente des schi`itischen Volksglaubens sind in die

Vorstellungen und die Glaubenspraxis sunnitischer Moslems eingegangen. Besonders die

volkstümlichen Sufi-Orden waren wichtige Vehikel zur Verbreitung schi itischer

Auffassungen, und mehrere dieser Orden — etwa die Bektashi-, Gulsheni- und Qadiri-

Orden — waren in Kurdistan sehr einflußreich.

STAMMESRIVALITÄTEN, OSMANISCH-SAFAWIDISCHER KONFLIKT UND

RELIGIÖSE KONVERSION

Es gab noch andere Faktoren, die einem gesamtkurdischen Bündnis mit den Osmanen

entgegenstanden. Die besondere politische Dynamik einer Stammesgesellschaft, in

Kurdistan wie im übrigen Mittleren Orient, machte eine solche über Stammesgrenzen

hinweggehende Allianz mit irgendeinem Staat äußerst unwahrscheinlich, selbst wenn

religiöse Erwägungen eine wichtige Rolle spielten. Die dauernden Rivalitäten zwischen

Stammesoberhäuptern und auch innerhalb der führenden Familien selbst hatten immer

das gleiche Ergebnis: Bekannten sich einige Oberhäupter als “loyale” Untertanen des

Staates, d.h. des osmanischen Sultans, dann gab es mindestens ebenso viele

Oberhäupter, die dagegen rebellierten. Wenn die Stellung eines “loyalen” Emirs vom

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Staat anerkannt und schließlich mit Zwangsgewalt befestigt wurde, so blieb seinem

Rivalen nichts anderes übrig, als gegen den Staat zu rebellieren und sich nach einem

anderen mächtigen Kampfgenossen oder Patron umzusehen. Während des 16.

Jahrhunderts gab es in vielen Herrscherfamilien Kurdistans eine “pro-osmanische” und

eine “pro-safawidische” Fraktion. Politischer Erfolg oder Mißerfolg der beiden

rivalisierenden Fraktionen hingen weitgehend vom Willen und von der Fähigkeit ihrer

auswärtigen Schutzherren ab, wirksame Hilfe zu leisten. Die politische Option für die

Safawiden scheint in mehreren Fälle eine, vielleicht nur äußerliche, Konversion zur

Schi ah mit sich gebracht zu haben. Doch dem konnte man wieder abschwören, wenn

man ins Lager der Osmanen zurückkehrte. Das erschließt sich aus den Namen

kurdischer Stammesoberhäupter im Sharafnameh. Sobald sie sich mit den Safawiden

verbunden hatten, begannen einige, ihren Söhnen typisch Schi itische Namen zu geben,

wie Haydar, Zo’l-feqar etc. Das hörte sofort wieder auf, wenn sie sich (wieder) den

Osmanen zugewandt hatten. Dazu zwei Beispiele aus dem Sharafnameh:

Die Familie der Mokri (Schaubild 1) herrschte über ein großes Gebiet südlich und westlich

des Urmia-Sees. Sarim geriet mit Shah Isma`il in Konflikt, wurde 1512 angegriffen und

unterwarf sich daraufhin der Pforte. Beim Regierungsantritt von Sultan Süleyman I. (1520)

erhielt Sarim als autonomer Statthalter der Osmanen den vererbbaren Besitztitel auf das

Mokri-Land. Sein Neffe und Rivale Rostam verbündete sich bald mit den Safawiden,

wahrscheinlich unter Shah Tahmasb. Die Namen von Rostams Söhnen scheinen auf

volkstümlich-schi`itische Sympathien hinzudeuten, während sein Vater noch den typisch

sunnitischen Namen `Omar getragen hatte. Mit starker safawidischer Unterstützung

errangen Rostams drei Söhne die fast unumschränkte Herrschaft über den Stamm und das

Land der Mokri. Die “pro-osmanische” Fraktion der Familie, der eine entsprechende

Unterstützung fehlte, sah ihren Einfluß schwinden. Ihre Aussichten wurden erst besser, als

in den vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts der Sultan dem Emir von Amadiyah und

anderen “loyalen” Fürsten befahl, das Gebiet der Mokri anzugreifen und es zu erobern. Die

drei Brüder wurden umgebracht, und an ihrer Stelle wurde Amireh I. zum Herrscher

ernannt. Nach dessen Tod übernahm Amireh II., diesmal wieder aus der anderen Fraktion,

die Herrschaft. Er hatte keine ernstzunehmenden Rivalen, und das erleichterte es ihm, von

den Safawiden zu den Osmanen, den mächtigeren Patronen, überzuwechseln. Neue

Rivalitäten in der Herrscherfamilie veranlaßten 1603 einen “Rebellen”, den Safawiden-

Shah Abbas um Hilfe zu bitten. Das war eine der unmittelbaren Ursachen für die

entscheidende Konfrontation zwischen den Safawiden und den Osmanen. Die Armeen der

letzteren wurden aus Azerbaijan vertrieben und mußten sich bis nach Diyarbekir

zurückziehen. In der Entscheidungsschlacht von Salmas 1605 kämpften auf beiden Seiten

Mitglieder des Mokri-Stammes.9

9 Diese Ereignisse werden, aus verschiedener Sicht, erzählt in: Bidlisi o.J.: 372-382; Malcolm 1815:

541f.; Uzunçarşılı 1973: 64-66.

Nationalismus und religiöser Konflikt

9

Saif od-Din

Sarim Baba `Omar

Qasem Ebrahim Hajji `Omar Rostam

Amireh I Sheykh Haydar Mir Nazar Mir Khizir

Mostafa Amireh II Hoseyn Bayram Olugh Beg Mir Hasan

Budaq Qasem Hoseyn Sheykh Haydar

Schaubild 1: Die Herrscherdynastie der Mokri im 16. Jahrhundert

Ähnliche Rivalitäts- und Allianzmuster lassen sich im Falle der Herrscher der

südkurdischen Emirate Shahrezor und Ardalan — um die heutige Städte Kirkuk und

Sanandaj — aufzeigen (Schaubild 2). Nach dem Tode Ma’mun Begs, der im frühen 16.

Jahrhundert über beide herrschte, fiel Shahrezor an seinen Sohn Bige Beg, und Ardalan an

Nationalismus und religiöser Konflikt

10

dessen Bruder Sorkhab. Beide Gebiete blieben lange Zeit unter safawidischer Herrschaft.

Ardalan wurde von den Osmanen nie wirklich erobert, im Gegensatz zu Shahrezor. Dessen

Herrscher Bige Beg und seine Söhne unterwarfen sich zwar formell dem Sultan, der aber

traute ihnen offensichtlich nicht, wahrscheinlich weil ein großer Teil der Bevölkerung

Schi`iten gewesen sein dürften.10 Ma’mun II. wurde von seinem Heimatgebiet verbannt,

erhielt aber später einen Ehrenposten als osmanischer Statthalter im Süd-Irak. Sorkhab

dagegen hatte ausgezeichnete Beziehungen mit dem Safawidischen Fürst, Shah Tahmasb,

entwickelt. Die Namen seiner Söhne sind ein Indiz dafür, daß er der Schi`ah anhing. Nach

und nach dehnte er seine Herrschaft auch auf Shahrezor aus. Daraufhin unterstützte Sultan

Süleyman den Mohammad Beg im Kampf mit dessen Bruder Sorkhab und erkannte

außerdem Bige Begs Sohn Isma`il als Emir über einige Bezirke von Shahrezor an. Als

Erfolg dieser Politik wurde ganz Shahrezor osmanisch. Unter Sorkhabs Nachfolgern Soltan

Ali, Besat und Timur Khan blieb Ardalan safawidisch. Nach Timurs Tod unterwarf sich

auch sein Bruder Holau formell dem Sultan. Doch da er keine ernsthaften lokalen Rivalen

hatte, konnte er einen unabhängigen Kurs steuern: er entwickelte auch freundschaftliche

Beziehungen zum Shah. Im Jahre 1597 herrschte er als faktisch unabhängiger Prinz.11

10 Die Kurden von Shahrezor sind heute Sunniten. Doch noch in den ersten Jahrzehnten des 19.

Jahrhunderts schrieb Zeyn ol-Abedin Shirwani, die meisten von ihnen seien Zwölferschi`iten, und

daneben gebe es noch eine gewisse Anzahl von Ali-ollahis (Ahl-e Haqq), Hanafiten und Schafi`iten

(Schefer 1890).

11 Bidlisi o.J.: 117-125; Parmaksızoğlu 1973.

Nationalismus und religiöser Konflikt

11

Ma’mun Beg

Bige Beg Mohammad Beg Sorkhab Beg

Esma’il Ma’mun Hasan Soltan `Ali Besat Zo’l-feqar

Holau Timur Khan

Schaubild 2: Die Herrscherfamilie von Shahrezor und Ardalan im 16. Jahrhundert

RELIGIÖSE VERFOLGUNG UND PROPAGANDA

Zwar haben sowohl die Osmanen als auch die Safawiden in der folgenden Zeit versucht,

ihre politische Herrschaft durch die Herstellung religiöser Einheit zu festigen. Ich glaube

allerdings, daß die Unterdrückung von Sunniten im Iran und von Schi`iten im

Osmanischen Reich übertrieben dargestellt wurde.12 Einzelfälle von Unterdrückung sind

für beide Reiche dokumentiert, doch kenne ich keine Belege für eine allgemeine

Verfolgung. Als Evliya Çelebi 1655/56 auf einer diplomatischen, Mission den

nordwestlichen Iran besuchte, fand er an vielen Orten eine große Anzahl von kurdischen

und türkischen Sunniten vor — meist Anhänger der schafi itischen Schule, die zum

persönlichen Gebet ungehindert ihre Moscheen aufsuchen konnten.

Gemeinschaftsgebete und Freitagspredigt jedoch waren verboten, allerdings wurden sie

recht häufig heimlich vorgenommen. Ein anderer osmanischer Gesandter, Durri Efendi,

beobachtete noch im Jahre 1720 ähnliche Verhältnisse13.

12 Lambton 1956b: 126; Aubin 1959; Imber 1979; Sohrweide: 1965.

13 Evliya Çelebi IV: 278-392; Dourry Efendy 1810: 54.

Nationalismus und religiöser Konflikt

12

Die osmanische Propaganda gegen die Safawiden während des 16. Jahrhunderts war

nicht anti-schi itisch, sondem wollte vielmehr nachweisen, daß die Safawiden überhaupt

keine Moslems seien. Ein berühmtes Fatwa des Sheykh ol-eslam Ebu’s-Su`ud aus dem

Jahre 1548 wies in der Tat die Behauptung der Safawiden, sie seien Schi iten, zurück;

das Fatwa entschied, daß sie nicht zu einer der 72 häretischen Sekten des Islams

gehörten und folglich Ungläubige seien, gegen die den Heiligen Krieg zu führen nicht

nur erlaubt, sondern eine Pflicht für alle Moslems sei (Eberhard 1970: 166f.). Ähnliche

Argumente finden wir in der polemischen Literatur. Es war ganz klar das vorrangige Ziel

dieser Schriften, einen Krieg gegen die Safawiden zu rechtfertigen, nicht jedoch

antischi itische Emotionen zu erwecken.

Zusammenfassend kann man feststellen, daß die Bedeutung des sunnitisch-schi itischen

Konflikts in der kurdischen Politik des 16. Jahrhunderts oft übertrieben vorgestellt

worden ist. Sicherlich dienten Bekenntnisse zur Sunnah oder zur Schi ah zu bestimmten

Zeiten dazu, Loyalitätserweise gegenüber dem Sultan oder dem Shah glaubwürdiger zu

machen. Bei aktuellen politischen Entscheidungen jedoch spielten

Nützlichkeitserwägungen zumindest eine ebenso große Rolle wie die Zuordnung zu

einem Glaubensbekenntnis. Übertritte waren meist eher die Folge als die Voraussetzung

politischer Allianzen, und dies wurde durch den Umstand erleichtert, daß es bis dahin

noch keine allzu starre Unterscheidung zwischen Schi`iten und Sunniten gab. Sieht man

von den osmanisch-safawidischen Kriegen ab, so gibt es bis zum 19. Jahrhundert nur

wenig oder gar keine Beweise für religiös motivierte oder gerechtfertigte

Zusammenstöße zwischen sunnitischen Kurden und Schi itischen Gruppen. Ganz im

Gegenteil: Die Lokalgeschichten zeigen, daß bei den häufigen Stammeskriegen in West-

Azerbaijan, an denen kurdische und türkische Stämme beteiligt waren, Bündnisse und

Feindschaften oft quer zu ethnischen und religiösen Trennlinien verliefen (Nikitine

1929).

RELIGION UND ANFÄNGE DES NATIONALISMUS

Verschmelzung ethnischer und religiöser Identitäten

Zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert fanden wichtige Veränderungen statt, die

bis heute allerdings noch ungenügend erklärt sind. Noch 1655 waren die Afshar und

andere türkische Gruppen West-Azerbaijans weitgehend schafi itische Sunniten.14 Wie

schon vorhin erwähnt, gab es im 16. Jahrhundert in diesem Gebiet noch eine Anzahl

schi itischer Kurden. Doch am Beginn des 19. Jahrhunderts waren in Azerbaijan alle

Türken Schi iten und alle Kurden Sunniten. Wie kam das? Von einigen schi`itischen 14 Wahrgenommen von Evliya Çelebi, Band II: 279; Band IV: 300, 309, 319, 364.

Nationalismus und religiöser Konflikt

13

Kurden — den Chegani und einem Teil der Mokri — wissen wir, daß sie in die östlichen

Grenzprovinzen des Iran geschickt wurden, während andere — die Sheqaqi, die heute

einen Teil der Stammeskonföderation der Shahsawan bilden, und die Donboli15 —

türkisiert wurden. Doch was geschah mit den sunnitisch-schafi itischen Türken? Wurden

sie schließlich alle Schi iten, oder blieben einige von ihnen Sunniten und wurden letztlich

kurdisiert? Nach Nordost-Anatolien sind diese sunnitisch-schafi itischen Azeris

höchstwahrscheinlich nicht ausgewandert, denn dort finden wir heute im allgemeinen

Sunniten der hanafitischen Richtung, und ein Wechsel von einer Richtung zur anderen

wäre unter Sunniten nicht erforderlich gewesen. Weshalb haben die türkischen Shafi’iten

den schi`itischen Glauben angenommen, während die kurdischen Schafi`iten, die doch

ebenfalls unter iranischer Herrschaft lebten, dies nicht taten? Natürlich leben die Kurden

mehr an der Peripherie als die Türken und meist in Bergregionen. Damit konnten sie

ideologischem Druck in der Regel besser widerstehen. Doch das ist keine ausreichende

Erklärung dafür, daß im nordwestlichen Iran die ethnischen Identitäten von Kurden und

Azeri-Türken mit den religiösen Identitäten von Sunniten und Schi iten deckungsgleich

wurden.

Der osmanische Teil Kurdistans wurde ebenfalls religiös homogener. Die schi itisch-

alevitischen Kurden wohnen heute entweder entlang der nordwestlichen Grenze

Kurdistans oder im äußersten Süden. Überall sonst sind die Kurden allesamt Sunniten,

bis auf die immer kleiner werdenden Yezidi-Minderheiten.

Diese religiöse Homogenität der Kurden und ihre religiösen Unterschiede zu den

benachbarten Azeris erleichterten offensichtlich die Propagierung ethnischen

Bewußtseins und nationalistischer Ideen. Bei den Konflikten zwischen Kurden und

Azeris im 19. Jahrhundert lassen sich religiöse und ethnische Aspekte schwer trennen.

15 Die Donboli, die um Khoy herum leben und heute turksprachige Schi`iten sind, liefern ein klares

Beispiel für die Vermengung ethnischer und religiöser Gruppen in diesem Gebiet. Das Sharafnameh

erwähnt die Donboli als ursprünglich Yezidischen kurdischen Stamm aus Jazireh, der nach Azerbaijan

gewandert und sunnitisch geworden war. Ein anonymes Manuskript zur Geschichte der Donboli, das

Nikitine zusammengefaßt hat, behauptet, die Donboli seien ursprünglich “wie die alte Kurden, yezdan-

parast” gewesen, Anhänger einer Sekte, die (so das Manuskript) den Ahl-e Haqq ähnelte. In der

Safawidenzeit vermischte sich der Stamm mit dem (türkisierten) Mongolenstamm der Pornak. Unter

den Zand und Qajaren nahmen die Stammesoberhäupter der Donboli Statthalterposten in Khoy und

Tabriz ein (Nikitine 1929: 109-118).

Nationalismus und religiöser Konflikt

14

Einheimische Christen, Missionare und islamische Renaissance

Kurdistan wurde nicht nur von Kurden bewohnt: Überall gab es beträchtliche christliche

Minderheiten, in einigen Gebieten sogar Mehrheiten. Die meisten dieser Christen wurden

im Zuge der gewalttätigen Zusammenstöße zwischen 1840 und 1920 entweder

vertrieben oder abgeschlachtet. Einen Höhepunkt erreichten die Auseinandersetzungen

mit den von dem jungtürkischen Regime angeordneten Deportationen und Massakern

der Armenier im Jahre 1915.

Es ist kein Zufall, daß diese Epoche der ethnischen Säuberungen mit der der intensiven

imperialistischen Rivalität um Kurdistan zusammenfällt. Für die Kurden trat diese

Rivalität im Konkurrenzkampf der Missionare verschiedener Konfessionen um die

Seelen der einheimischen Christen besonders augenfällig zutage. Hatte bislang infolge

der ethnisch-religiösen Arbeitsteilung zwischen den moslemischen und christlichen

Gruppen ein Ausgleich bestanden, so wandelten sich nun durch den Eingriff der

Großmächte die Beziehungen zwischen Kurden und Christen zu einem offenen

Antagonismus. Denn die Christen meinten, mit Unterstützung ihrer ausländischen

Glaubensgenossen die Herren des Landes zu werden. Die moslemische Mehrheit

dagegen mußte ihre Position, ja langfristig sogar ihre Existenz, bedroht sehen.

Als eine der nestorianischen Gemeinden in Hakkari ihre jährlichen Tribute an den

dortigen kurdischen Emir nicht mehr zahlte, schickte dieser mit Unterstützung seines

mächtigen Verbündeten, des Emirs von Jazireh, 1843 eine Strafexpedition gegen die

Nestorianer. Viele von ihnen fanden den Tod. Weitere und ähnliche Massaker folgten

(Joseph 1961). Auch die Armenierpogrome unter Sultan Abdülhamid II. in den

neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts und unter den Jungtürken im Jahre 1915 waren

nicht lediglich ein Ausdruck von blindem religiösem Fanatismus. Sie waren eine

Reaktion auf die wirksame russische Propaganda unter den Armeniern, die von der

osmanischen Regierung als Vorbereitung einer Eroberung begriffen wurde —

Befürchtungen, die sicherlich nicht ungerechtfertigt waren und durch den Verlust weiter

Teile des Balkans noch bestärkt wurden.

In Kurdistan gingen die wachsenden Ressentiments gegen Ausländer und Christen Hand

in Hand mit einem zunehmenden Bewußtsein moslemischer Identität. Die vom Hofe des

Sultan Abdülhamid II. (1876-1909) ausgehende panislamische Propaganda fiel bei den

Kurden auf fruchtbaren Boden. Das Terrain war von den örtlichen Sheykhs vorbereitet

worden, die im 19. Jahrhundert immer einflußreicher wurden und zur Stärkung eines

sunnitisch-islamischen Bewußtseins beitrugen. Als Sultan Mehmed V. Reshad beim

Eintritt in den Ersten Weltkrieg 1914 zum Heiligen Krieg aufrief, folgten ihm viele

Kurden, sogar solche aus dem Iran (Nikitine 1329/1951: 229-236; 1956: 216-223).

Nationalismus und religiöser Konflikt

15

Da die meisten Christen geflohen, deportiert oder umgebracht worden waren, wurde

Kurdistan ethnisch homogener — eine Entwicklung, die bis heute noch nicht

abgeschlossen ist. In Kurdistan ist keine größere christliche Gemeinschaft mehr

übriggeblieben — bis auf die syrisch-orthodoxe Gemeinde von Tur Abdin in der

südöstlichen Türkei, und selbst diese nimmt rapide ab. Die Mehrheit dieser Christen hat

angesichts der Bedrängnis und der physischen Gewalttätigkeit das Gebiet längst

verlassen; die noch Verbliebenen suchen Möglichkeiten, sich in Westeuropa

niederzulassen. Die entstehende ethnische Homogenität hat allerdings zur

wirtschaftlichen Rückständigkeit Kurdistans im 20. Jahrhundert beigetragen. Denn

zusammen mit der christlichen Minderheit verschwanden auch bestimmte berufliche

Spezialisierungen: intensive, technisch fortgeschrittene Landwirtschaft, viele

Handelszweige und Handwerke. Und es gab noch eine andere Folge dieser ethnischen

Homogenität: die Vorstellung eines Territorialstaates auf der Basis ethnisch-nationaler

Einheit seiner Bewohner.

Sheykhs, die neuen kurdischen Führer

In weltlichen wie in geistlichen Angelegenheiten sind die Oberhäupter der Sufi-Orden,

die Sheykhs, in Kurdistan schon seit langer Zeit einflußreich. Im 19. Jahrhundert wurden

viele von ihnen mächtige politische Führer. Vorher waren die wichtigsten Autoritäten

die Emire gewesen, deren Fürstentümer jeweils viele Stämme umfaßten. In den ersten

Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurden die noch verbliebenen Emirate abgeschafft,

wenigstens zum Teil aufgrund imperialistischer Einmischung. Sowohl die

“Modernisierung” der Verwaltung im Osmanischen Reich als auch die Strafexpeditionen

gegen jene Emire, die ihre christlichen Untertanen mißhandelt hatten, wurden der Pforte

von den Großmächten aufgezwungen. Die Emirate lösten sich in einander bekämpfende

und befehdende Stämme auf. Kein von der Zentrale ernannter Statthalter hatte — im

Gegensatz zu den Emiren — genügend Autorität, um Recht und Ordnung

aufrechtzuerhalten. Nun folgte eine Zeit erheblicher Unsicherheit und Gesetzlosigkeit.

Nur die Sheykhs waren ausreichend als Autorität anerkannt, um Fehden zwischen den

Stämmen und andere Auseinandersetzungen zu schlichten. Das Gewicht ihrer Stellung

nahm dadurch noch zu (Bruinessen 1978: 284-298).

Da die Autorität der Sheykhs nicht an Stammesgrenzen gebunden war, konnten sie die

Stämme oft einander näher bringen. Sie stärkten das Gefühl unter den Kurden, ein

einziges Volk zu sein, auch wenn das noch nicht zu gemeinsamem Handeln ausreichte.

Einige dieser Sheykhs waren äußerst ehrgeizig. Der nächstliegende Weg zur Stärkung

ihrer Position war es, religiöse Gefühle anzufachen, und das wiederum konnte man am

besten durch Agitation gegen die Ungläubigen. Nicht nur antichristliche, sondern auch

antischi itische Emotionen wurden aufgerührt. So attackierte und plünderte um 1900 der

Nationalismus und religiöser Konflikt

16

für seine Raubzüge berüchtigte Stamm der Hamawand eine große Karawane

schi itischer Pilger, nachdem er dazu von den Sheykhs von Sulaymaniyeh und Oaradagh

angestiftet worden war. Schon seit langer Zeit waren solche Karawanen auf ihrem Weg

von Sauj Bulagh (Mahabad) zu den schi itischen Heiligtümern im Süd-Irak durch

Zentralkurdistan gezogen. Seit diesem Überfall aber nahmen sie nur noch die südliche

Route über Kermanshah (Soane 1926: 179f.). Soane hatte Kurdistan von 1908 bis 1909,

als persischer (also: schi`itischer) Kaufmann verkleidet, bereist. Dabei war er auf keine

besonderen Schwierigkeiten gestoßen, doch verweist er mehrmals auf die starken

antischi itischen Gefühle, die besonders von den Sheykhs von Sulaymaniyeh gefördert

würden (Soane 1926: 188-190).

Doch nicht alle Sheykhs unterstützten religiösen Fanatismus. Die Sheykhs aus der

Barzani-Familie, die für den kurdischen Nationalismus eine so bedeutende Rolle spielen

sollte, wandten sich nicht nur allen möglichen Heterodoxien zu, sondern hatten auch

einen ausgezeichneten Ruf als Beschützer aller Verfolgten, unabhängig von deren

Religion.

Der Aufstand von Sheykh Obaidollah: nationale oder religiöse Revolte?

Im Jahre 1880 marschierte der Naqshbandi-Sheykh Obaidollah von Nehri, einem Ort im

osmanischen Distrikt Hakkari, unmittelbar an der Grenze zum Iran, mit seinen Söhnen

und einer großen Zahl bewaffneter Gefolgsleute aus verschiedenen (osmanischen)

kurdischen Stämmen in den Iran ein. Der Sheykh wollte sich offenbar als halb-

unabhängiger Herrscher des Gebietes westlich und südwestlich des Urmia-Sees

etablieren, möglicherweise unter der Protektion der Pforte. Viele Kurden aus dem Iran

verbündeten sich mit seinen Streitkräften. Kurzfristig stand ein großes Gebiet,

einschließlich der Städte Sauj Bulagh (Mahabad) und Miandoab, unter seiner Herrschaft

(Jwaideh 1960: 212-289).

Kurdische Nationalisten verstehen heute diese Revolte als die erste wirklich

nationalistische Erhebung der Kurden. Für eine solche Interpretation gibt es einige

Gründe. In einem Brief vom 5. Oktober 1880 an den amerikanischen Missionsarzt

Cochran in Urmia erklärte der Sheykh seine Aktion folgendermaßen. “Die kurdische

Nation ... ist eine Nation für sich. Sie hat eine besondere Religion ... und eigene Gesetze

und Bräuche” (Jwaideh 1960: 227). In einem vorhergehenden Brief hatte er dem

Missionar eine lange Liste von Beschwerden gegen den Iran unterbreitet. Zu diesen

gehörten die “brutale Ermordung einer Anzahl von Kurden und die Mißhandlung

anderer, die schweren Strafzahlungen und Tribute, die bestimmten kurdischen

Stammesführern auferlegt worden sind, die Entführung kurdischer Frauen durch

persische Beamte, die Verbreitung von Gesetzlosigkeit mit den entsprechenden

Nationalismus und religiöser Konflikt

17

Ungerechtigkeiten für das Wohl und den guten Namen der kurdischen Nation” (Jwaideh

1960: 256).

Diese Aufzählung allein ist nicht unbedingt ein Ausdruck nationalistischer Gefühle; sie

ist eine typische Reaktion von bäuerlichen Gemeinschaften, die unter eine stärkere

staatliche Kontrolle gebracht werden. Doch zumindest in einer Hinsicht unterschied sich

diese Revolte von den üblichen Stammesrebellionen gegen den Staat. Die Stämme

handelten gemeinsam, während in den “traditionalen” Rebellionen aufständische Stämme

normalerweise von anderen Kurdenstämmen — entweder spontan oder auf Betreiben

des Staates — bekämpft wurden. Doch diesmal arbeiteten die Stammesoberhäupter

zusammen, aus Gehorsam gegenüber dem Sheykh, der unter den einfachen Kurden so

viel Respekt genoß, daß sich kein Oberhaupt ihm hätte widersetzen können, und aus der

Wahrnehmung gemeinsamer Interessen heraus. Denn in einem kleinen unabhängigen

Staat hätte jedes dieser Oberhäupter mehr ökonomische und politische Macht gehabt, als

in einem — sei es osmanischen, sei es iranischen — Zentralstaat.

Das Fußvolk muß recht gemischte Motive für seine Teilnahme gehabt haben. der

bedingungslose Gehorsam gegenüber dem Sheykh und den Stammesoberhäuptem, die

Ablehnung von Regierungen im allgemeinen, die Hoffnung auf Beute in den fruchtbaren

Ebenen — und ebenso die leicht anzuheizenden Gefühle gegen die Schi`iten oder die

Azeris. Nach der Eroberung der (kurdischen) Stadt Sauj Bulagh (Mahabad) soll der

örtliche Mufti in einem Fatwa den Heiligen Krieg gegen die Schi iten ausgerufen haben

(Wilson 1900: 111). Anschließend wurde die nahe gelegene, von Azeris bewohnte Stadt

Miandoab eingenommen und geplündert. 3000 Schi iten wurden dabei niedergemetzelt.

Nationalismus und religiöser Konflikt

Die Entstehung eines Nationalbewußseins ging also mit tiefen religiösen Gegensätzen

Hand in Hand. In den folgenden 60 Jahren fanden überall in Kurdistan noch viele andere

lokale oder regionale Revolten statt. Einige davon zielten ausdrücklich auf die

Errichtung eines autonomen kurdischen Gebietes oder eines halbunabhängigen Staates.

Gewöhnlich war der oberste Anführer ein Sheykh, manchmal auch ein außergewöhnlich

machtvolles Stammesoberhaupt. Wie bei Obaidollahs Revolte waren die Motive der

Teilnehmer durchaus komplex. Doch war es auch meist ein vorrangiges Anliegen der

Stammesoberhäupter, ihre eigene Macht zu festigen und auszubauen. Besonders im Iran

und in der laizistischen türkischen Republik kamen in solchen Revolten sehr oft auch

religiöse Emotionen derart stark an die Oberfläche, daß einige zeitgenössische

Beobachter diese Revolten eher in religiösem Fanatismus als in ethnischen oder

nationalen Forderungen begründet sahen.

Nationalismus und religiöser Konflikt

18

In dieser ersten Phase des kurdischen Nationalismus wurden die engen

Stammesloyalitäten etwas gelockert, und das Bewußtsein verbreitete sich, daß die

Kurden “eine Nation für sich” seien. Daß die Sheykhs die einzigen übertribalen

Autoritäten waren und oft zu nationalistischen Führern wurden, verstärkte die religiöse

Komponente in der ethnischen Identität der Kurden.

Auch heute noch gibt es in Kurdistan viele Sheykhs, von denen einige sehr einflußreich

sind. Als nationale Führer sind sie jedoch zunehmend von einem neuen Typ von

Nationalisten abgelöst worden, nämlich von Männern (sehr selten Frauen) aus den

städtischen Mittelschichten. Parteiorganisationen haben die Stammesorganisation als

strukturierendes Element der kurdischen Bewegung weitgehend ersetzt. Obwohl

religiöses Sentiment sicherlich immer noch ein Faktor ist, mit dem man rechnen muß,

versuchen die nationalistischen Parteien, es in den Hintergrund zu drängen. Im Iran

haben die beiden wichtigsten kurdischen Organisationen ein säkulares Programm.

DIE KURDISCHE NATIONALBEWEGUNG IM IRAN 1920 — 1980

Bereits in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts entstanden die ersten politischen

Parteien der Kurden, doch spielten bis in die vierziger Jahre die Stammesstrukturen für

die politische Organisation nach wie vor eine größere Rolle. Um 1920 fand im Nordteil

von Iranisch-Kurdistan unter der Führung des Stammesoberhauptes der Shikak, Simko,

ein großer Aufstand statt (Bruinessen 1981). Die Erhebung hatte eindeutig

nationalistische Züge, doch war sie immer noch ausschließlich entlang von

Stammesbeziehungen organisiert. Sie hinterließ, nachdem sie schließlich 1922

niedergeschlagen worden war, keine dauerhaften Spuren.

Die folgenden 20 Jahre waren eine Periode kultureller Unterdrückung. Reza Shah

versuchte, die Einheit des Iran zu festigen und das Land zu einem Nationalstaat zu

machen. Davon waren sämtliche Minderheitsvölker des Iran betroffen. Die kurdische

Tracht wurde verboten, und die kurdische Sprache sollte vollständig durch das Persische

ersetzt werden. Die härtesten Maßnahmen richteten sich gegen die Nomaden. Sie

wurden mit Gewalt seßhaft gemacht. Stammesoberhäupter wurden hingerichtet oder in

andere Teile des Landes exiliert. In einigen Fällen, etwa in jenem der Galbaghi, wurden

ganze Stämme deportiert. Diese Politik hatte jedoch nicht den gewünschten Erfolg.

Weder ließen sich die Stammesstrukturen auflösen noch ließen sich die Kurden zu einem

Teil des iranischen Staatsvolkes machen. Die wirtschaftlichen Folgen der Maßnahmen

des Shahs waren katastrophal: die Viehherden wurden dezimiert, die Stämme

verelendeten (Salzman. 1971; Lambton 1969: 285-294). Als der Shah 1941 abgesetzt

wurde, war die Unzufriedenheit mit seinem Regime weit verbreitet.

Nationalismus und religiöser Konflikt

19

Die Republik von Mahabad

Im August 1941 marschierten sowjetische und britische Truppen im Iran ein. Das

bedeutete das Ende der Herrschaft Reza Shahs. Der Norden des Landes wurde von den

Sowjets, der Süden von den Briten besetzt. Der größte Teil Kurdistans war ein Teil der

dazwischen liegenden neutralen Zone. Doch versuchten beide Mächte, mit

Stammesoberhäuptern und anderen einflußreichen Persönlichkeiten Beziehungen

herzustellen. Die exilierten Stammeschefs kehrten zurück und bauten ihre früheren

Machtpositionen wieder auf.

Die Stadt Mahabad, das frühere Sauj Bulagh, im Grenzgebiet zur sowjetischen Zone,

wurde zum Zentrum der wichtigsten politischen Entwicklungen dieser Periode. Hier

gründeten im Jahre 1942 Angehörige der städtischen Mittelschicht — Lehrer, niedere

Beamte, kleine Kaufleute — eine nationalistische Geheimorganisation, die “Komala-i

Zhianawa-i Kurd” (Organisation der kurdischen Wiedererweckung). Die Gründer der

Komala wollten offensichtlich die großen Stammesführer und Grundherren aus der

Organisation fernhalten; die Konstruktion als Geheimorganisation sollte ein Schutz

sowohl gegen diese Machthaber als auch gegen die Regierung sein. Bald jedoch kam es

zum Eintritt junger Stammesangehöriger. 1944 wurde Qazi Mohammad, ein religiöser

Führer und die einflußreichste Persönlichkeit Mahabads, eingeladen, Mitglied zu

werden. Er brachte sehr rasch die ganze Organisation unter seine Kontrolle und forderte

mächtige Stammesoberhäupter zum Beitritt auf. So bekam die Komala unter Qazi

Mohammad eine breitere soziale Basis. 1945 wurde sie in die Kurdische Demokratische

Partei (KDP) umgewandelt. Im Führungsgremium der Partei waren nun neben

Angehörigen der städtischen Mittelschichten auch städtische Notabeln, Sheykhs und

viele Stammesführer vertreten (Kutschera 1979: 170f; Eagleton 1963: 134f).

Im benachbarten Azerbaijan zeichneten sich mit dem Entstehen der Demokratischen

Partei ähnliche Entwicklungen ab. Doch hatte die Partei der azerbaijanischen

Nationalisten im Gegensatz zur kurdischen ein sozialistisches Programm. Das Programm

der kurdischen Partei hingegen, auf die die Sowjetunion nur einen geringen Einfluß

gehabt zu haben scheint, war rein nationalistisch. Ihre Forderungen waren: Autonomie

innerhalb des Iran, Kurdisch als Unterrichts- und Amtssprache, Wahl eines

Provinzparlamentes, Rekrutierung der Beamtenschaft aus der einheimischen

Bevölkerung, regionale Entwicklungspolitik. Das Programm setzte sich außerdem für

gute Beziehungen zu den Azerbaijanern und zu den Minoritäten in Kurdistan

(Armeniern, Assyrern etc.) ein. Sozialpolitisch wurde nur gefordert, daß die Gleichheit

von Bauern und Grundherrn vor dem Gesetz hergestellt, doch die Existenz beider

Klassen weiterhin garantiert werden sollte — ein klarer Ausdruck der sozialen Basis der

Partei.

Nationalismus und religiöser Konflikt

20

Im November 1945 wurde die autonome Regierung von Azerbaijan ausgerufen

(Abrahamian 1970); die Kurden folgten bald darauf mit einer ähnlichen Initiative. Nicht

unbedingt zum Wohlgefallen der azerbaijanischen Regierung proklamierte Gazi

Mohammad am 22. Januar 1946 eine autonome kurdische Republik. Elf Monate sollte

sie eine unsichere Existenz führen (Roosevelt 1947; Eagleton 1963).

Die kurdische Regierung ließ die Wirtschafts- und Verwaltungsorganisation der Region

unverändert. Sie baute jedoch eine kurdische Gendarmerie und Armee auf. Ein wichtiges

Armeekontingent stellten die über tausend gut bewaffneten Gefolgsleute von Molla

Mostafa Barzani, der nach einer Rebellion aus dem Irak geflohen war. Die übrige Armee

rekrutierte sich aus einheimischen Stämmen unter deren jeweiligen Oberhäuptern. Die

Regierung führte Kurdisch als Unterrichtssprache ein, eröffnete eine Mädchenschule —

die erste im Land — und sorgte für die Publikation von kurdischsprachigen Büchern und

Zeitschriften.

Die Republik hatte mit vielen inneren und äußeren Problemen zu kämpfen.

Verhandlungen mit Tehran über eine Anerkennung der Autonomie hatten keinerlei

Erfolg. Am Anfang gab es auch ernste Schwierigkeiten mit der azerbaijanischen

Regierung über die Festlegung von Grenzen. Beide Regierungen beanspruchten die

fruchtbaren Ebenen von Salmas und Urmia, in denen christliche und Azeri-Minderheiten

wohnten. Die Bevölkerung dieser Distrikte wollte übrigens mit keiner der beiden

Regierungen etwas zu tun haben; sie fürchtete sich vor den linken Tendenzen der

azerbaijanischen Regierung in Tabriz und womöglich noch mehr vor den kurdischen

Bergstämmen, von denen sie allzu oft überfallen worden war. In der Stadt Miandoab gab

es Zusammenstöße zwischen Kurden und Azeris. Zwischen den kurdischen Stämmen

selbst kamen alte Konflikte wieder zum Tragen, und — dies wog noch schwerer —

mehrere Stammesführer zerstritten sich mit Qazi Mohammad, dessen autoritäres Gehabe

und dessen offenbar gute Beziehungen zu sowjetischen Funktionären sie ablehnten. Sie

verweigerten der KDP ihre Gefolgschaft, da diese trotz ihres nicht-revolutionären

Charakters die traditionellen Führungspositionen der Stammeschefs in Frage stellte. Die

Hauptstadt Mahabad verlor nach und nach die Kontrolle über die weiter entfernt

liegenden Gebiete — ihr Einfluß hatte sich sowieso nie über die Linie Sardasht-Saqqez

hinaus erstreckt. Aufgrund der internen Spaltung der Regierung genügte eine kurze

Offensive der iranischen Armee, um die Republik im Dezember 1946 zu stürzen. Die

Zentralherrschaft wurde wieder hergestellt, und die drei prominentesten Kurdenführer,

Qazi Mohammad und zwei seiner Verwandten, wurden hingerichtet. Die KDP mußte

ihre Tätigkeit im Untergrund fortsetzen.

Nationalismus und religiöser Konflikt

21

Die Periode des zweiten Pahlawi-Shahs: Unterdrückung und sozio-ökonomischer

Wandel

Die in den Untergrund gegangenen Mitglieder der KDP waren meistens radikale

Intellektuelle. Sie pflegten enge Verbindungen mit der kommunistischen Tudeh-Partei,

besonders während der relativ liberalen Ära Mosaddeq 1951-1953. Darum sind auch

heute noch viele der alten Parteiaktivisten der KDP gegenüber der Tudeh-Partei recht

loyal, was im Frühjahr 1980 zu einem Bruch in der Partei führte. Nach dem Staatsstreich

von 1953 wurde die KDP massiv unterdrückt. Zahlreiche Parteifunktionäre wurden

verhaftet und erhielten langjährige Gefängnisstrafen; viele andere flohen und mußten für

lange Zeit im Exil bleiben — hauptsächlich im Irak und anderen arabischen Ländern,

aber auch in Osteuropa. Die Partei konnte einen gewissen Einfluß nur noch in Mahabad

und den Gebieten entlang der irakischen Grenze aufrechterhalten.

Die von Barzani und der KDP-Irak geführte Widerstandsbewegung der Jahre 1961-1975

in Irakisch-Kurdistan wirkte sich auch auf die Kurden im Iran aus. Sie stärkte ihr

Nationalbewußtsein mehr, als es die Propaganda der KDP-Iran jemals vermocht hatte.

Dabei entstand eine weniger radikale, rein nationalistisch ausgerichtete Führungsschicht

innerhalb der KDP. Sie organisierte unter den iranischen Kurden Unterstützung für den

Widerstand im Irak, enthielt sich jedoch jeder weiteren politischen Tätigkeit auf

iranischem Gebiet — das entsprach dem Wunsch Barzanis, der immer mehr vom Shah

abhängig wurde. Trotz dieser Passivität wurde die KDP-Iran unter dem Shah-Regime

weiter verfolgt.16

Die Kurden waren derselben politischen Unterdrückung ausgesetzt wie die anderen

Iraner auch, doch wurden sie noch zusätzlich diskriminiert. Kurdische Bücher und

Zeitschriften (außer einiger religiöser Literatur) waren verboten; angesichts des stark

zentralisierten Verwaltungs- und Justizsystems waren besonders die kurdischen Bauern,

die nur schlecht persisch sprechen, benachteiligt. Kurden, die in andere Teile des Iran

abwanderten fühlten sich oft wegen ihres sunnitischen Bekenntnisses diskriminiert —

mir sind mehrere Personen bekannt, die ursprünglich den (sunnitischen) Namen Omar

trugen, sich aber dann in Emir umbenannten um nicht als Sunnit erkennbar zu sein. Vor

allem die Wirtschaftspolitik des Regimes in den sechziger und siebziger Jahren machte

Kurdistan zunehmend zur unterentwickelten Peripherie mit einer schwachen

Infrastruktur und ohne jede Industrie.

Doch genauso wie im übrigen Iran haben sich auch in Kurdistan die sozio-ökonomischen

Verhältnisse während der letzten anderthalb Jahrzehnte rapide verändert. Am 16 Zur Geschichte der KDP-Iran seit 1946 siehe Kutschera 1979: 186-189, 344-348; Ghassemlou 1978:

180-184; Husami 1971; Kurdistan Democratic Party 1974: 9-21.

Nationalismus und religiöser Konflikt

22

wichtigsten ist der Machtverlust der Stammesführer und Grundherrn. Fast alle

kurdischen Grundherrn gehörten entweder zur Stammeselite oder sie stammten aus

Familien von Sheykhs, während die Pachtbauern überwiegend nicht stammesgebunden

sind. Im allgemeinen besaßen und besitzen gewöhnliche Stammesangehörige zumindest

ein kleines Stück Land. Vor der Landreform jedoch waren die nicht stammesgebundenen

Bauern entweder Teilpächter oder landlose Tagelöhner (khoshneshin). Politisch waren

sie dem Stammesoberhaupt oder Sheykh, der sie ausbeutete, untertan. Sie waren

allerdings niemals bedingungslose Gefolgsleute, und schon in den fünfziger Jahren gab

es vereinzelte Erhebungen von nicht stammesgebundenen Bauern gegen ihre

Grundherrn.

Die Landreform nun verringerte die Macht der Grundherrn, brach sie aber nicht. Teile

der Bauernschaft konnten ihre Position gegenüber den Grundherrn stärken. Auch da

mehrere mächtige Stammesführer “eingeladen” wurden, in Tehran zu residieren, und da

sie generell kein großes bewaffnetes Gefolge mehr unterhalten durften, nahm ihr lokaler

Einfluß ab. Andererseits fand es die iranische Gendarmerie vorteilhaft, sich mit den

verbliebenen Stammeschefs auf guten Fuß zu stellen. Diese konnten ihr bei der

politischen Überwachung des Gebietes — zum Beispiel bei der Fahndung nach

möglichen Revolutionären — helfen, während Gendarmen manchmal den

Stammesführern als Privatgarde dienten. 1974 und 1975 hörte ich oft, wie sich

kurdische Bauern beklagten, daß die Landreform infolge dieser Kollaboration von

Gendarmerie bzw. anderen Staatsbeamten und Grundherrn nur sehr unvollständig

verwirklicht worden sei. Insgesamt vertiefte sich die Spaltung zwischen Bauern und

Grundherrn. Der Widerwille gegen die Regierung (präziser: gegenüber ihrem sichtbaren

und oft brutalen Ausführungsorgan, der Gendarmerie) verband sich mit dem Haß auf die

Grundherrn.

Durch die Landreform verschlechterte sich außerdem die Situation der meisten landlosen

Tagelöhner. Im Dorf gab es für sie nunmehr wenige Arbeitsmöglichkeiten. Viele

wanderten zuerst in die kurdischen Städte ab, später auch nach Tabriz, Tehran oder in

die Ölgebiete des Südens, wo sie sich entweder auf Dauer ansiedelten oder zumindest

einen Platz als Saisonarbeiter fanden. Sie bildeten einen Teil jenes nur zu bekannten

“informellen” Sektors. Bauwesen, Kleinhandel, Gelegenheitsarbeit. Eine andere

Kategorie von Abwanderern waren jene Bauernsöhne, die in der Stadt zur Schule gingen

und sich dort dann meist als niedere Beamte niederließen. Beide Gruppen sind von den

traditionellen Autoritäten unabhängiger geworden, und besonders die zweite bildet heute

eine stabile Basis der politischen Organisationen in Kurdistan. Außerdem trägt die

Abwanderung in die Städte zur Verbreitung urbaner Vorstellungen auf dem Lande bei,

da die Abwanderer ihren Kontakt zu den Herkunftsdörfern nicht abbrechen. All das

schwächte die Stellung der traditionellen Machtelite.

Nationalismus und religiöser Konflikt

23

1967 rebellierte eine Gruppe junger radikaler Mitglieder der KDP-Iran, die im irakischen

Exil lebten, gegen die Barzani-freundliche Linie der Partei und ihren mangelnden

Aktivismus. Sie kehrten in den Iran zurück, um dort den bewaffneten Kampf

vorzubereiten. Besonders beeinflußt waren sie von Che Guevaras Focus-Theorie,

wonach die Revolution über eine Anzahl von konzentrierten Guerilla-Gruppen entfacht

werden könne. Die schlecht vorbereiteten und mangelhaft bewaffneten Guerillagruppen,

die in den ländlichen Gegenden zwischen Mahabad, Baneh und Sardasht operierten,

wurden jedoch innerhalb eines Jahres zerschlagen, obwohl ein großer Teil der

Bevölkerung offensichtlich mit ihnen symphatisierte.17

Trotz ihres Mißerfolgs bewirkte diese bewaffnete Erhebung eine Neubelebung und

Radikalisierung der KDP-Iran. Die rechte Parteiführung wurde ausgeschlossen, die

Propagandaarbeit unter den Bauern, die sich sowohl gegen das Pahlawi-Regime als auch

gegen die Grundherrn richtete, wurde intensiviert. Auf ihrem dritten Kongreß im Jahre

1973 verabschiedete die Partei ein linkes politisches Programm: Es forderte neben

Autonomie eine staatlich gelenkte Wirtschaft und eine Reform der

Landbesitzverhältnisse unter der Maxime “Das Land dem, der es bebaut”.

Aufschlußreich sind auch die Forderungen nach Gleichberechtigung von Mann und Frau

— ausdrücklich auch: gleicher Lohn für gleiche Arbeit — und die nach einer Trennung

von Staat und Religion.

Andere Gruppen links von der KDP-Iran, die hauptsächlich aus Studenten und

Intellektuellen bestanden, begannen, im Untergrund aktiv zu werden. Die Komala

(Komala-i shoreshger-i zahmatkeshan-i Kurdistan / Revolutionäre Organisation der

Werktätigen Kurdistans), eine Geheimorganisation, die im Frühjahr 1979 an die

Öffentlichkeit trat, behauptet, schon 1969 mit der Untergrundarbeit begonnen zu haben.

Allerdings war davon bis 1977 nicht sehr viel zu bemerken. Erst dann nahm die

Agitation gegen die Grundherrn zu. 1977 und 1978 gab es in der Gegend von Mariwan

Landbesetzungen durch Bauern, die von einigen Aktivisten unterstützt wurden. Dabei

ging es um Boden, den die Bauern — zumindest nach ihren Vorstellungen — während

der Landreform hätten erhalten sollen. Jedesmal wurden sie wieder vertrieben, doch

setzten sie nach dem Sturz des Pahlawi-Regimes ihren Kampf unter günstigeren

Bedingungen fort.

17 Husami 1971: 70-90; Kutschera 1979: 345f.; Kurdistan Democratic Party 1974: 15-18; Mo’meni

1358/1979: 51-62.

Nationalismus und religiöser Konflikt

24

DIE IRANISCHE REVOLUTION

UND DIE MILITÄRISCHEN KONFLIKTE IN KURDISTAN

Wie überall im Iran war auch die Bevölkerung der kurdischen Städte an der

Revolutionsbewegung von 1978/79 massiv beteiligt. Von jungen Leuten initiierte

Demonstrationen — in Sanandaj spielten Schülerinnen und Studentinnen eine führende

Rolle — trugen die typischen Forderungen vor. Befreiung politischer Gefangener,

Demokratisierung. Den Demonstrationen fehlten jedoch jene religiösen Züge, die sie an

anderen Orten angenommen hatten.

Mitte Juni 1978 wandelten sich die Bestattungsfeierlichkeiten für Aziz Yusefi in der

Nähe von Mahabad in eine gewaltige Demonstration — die erste mit einem

nationalistischen Unterton. Yusefi war einer der frühen Aktivisten der KDP gewesen

und hatte 25 Jahre im Gefängnis zubringen müssen. Ein Jahr vor seinem Tode war er

entlassen worden; er war dann ein gebrochener Mann. Als er starb, galt er als Märtyrer

(shahid), und es sollen rund 10 000 Menschen gewesen sein, die ihm bei seinem

Begräbnis die letzte Ehre zu geben wagten. Dort wurden kurdische Gedichte rezitiert

und politische Ansprachen gehalten. In der folgenden Nacht verhaftete die SAWAK die

angeblichen Veranstalter der Demonstration. Sechszehn von ihnen wurden in das

Gefängnis von Rezayeh (Urmia) verbracht, und es ging das Gerücht um, sie sollten alle

hingerichtet worden. Das führte zu großen Protestdemonstrationen nach dem gleichen

Muster wie überall im Land und mit demselben Ergebnis: Die sechszehn wurden im

Oktober entlassen. Doch diese Entscheidung kam zu spät. Die revolutionäre Bewegung

hatte schon zu viel Schwung gewonnen. Inzwischen waren KDP-Iran-Funktionäre aus

dem Exil heimlich zurückgekehrt und hatten begonnen, die Parteiorganisation wieder

aufzubauen. Auslandsstudenten und viele freigelassene Häftlinge kehrten nach Kurdistan

zurück und nahmen mit den Aktivisten im Untergrund Kontakt auf. Eine fieberhafte

Arbeit der politischen Organisation und Aufklärung begann.

Wenige Tage nach dem Sieg der Revolution in Tehran, am 15. Februar 1979, sandte die

provisorische Regierung eine Mission nach Mahabad. Vertreter der kurdischen

Organisationen präsentierten dieser Delegation eine Liste mit acht Forderungen, die erst

kurz vorher formuliert worden waren. Dazu gehörten: die Beteiligung von Arbeitern,

Bauern und anderen unterdrückten Schichten der Bevölkerung an der Regierung; die

Beendigung nationaler Diskriminierung und wirtschaftlicher Benachteiligung; das Recht

auf Selbstbestimmung für alle iranischen Völker (doch innerhalb eines föderalen Staates

Iran); die Kontrolle aller Militärstützpunkte und -einrichtungen durch demokratisch

zusammengesetzte Revolutionskomitees. Keine der Forderungen bezog sich auf religiöse

Belange. Zwei Wochen später, am 2. März 1979, rief die KDP zu einer Kundgebung in

Mahabad auf, die nach Berichten der Tehraner Presse von 200 000 Menschen besucht

Nationalismus und religiöser Konflikt

25

wurde. Die Forderungen nach kulturellen Eigenrechten und nach Autonomie wurden mit

Begeisterung begrüßt.

Als ich im März und April 1979 Kurdistan besuchte, gab es unter allen

Bevölkerungsschichten, in Stadt und Land — hauptsächlich natürlich in der

Mittelschicht — nur ein Gesprächsthema: die Autonomie. Für die

Durchschnittsbevölkerung hieß das einfach Abzug aller Repräsentanten der

Zentralmacht — besonders der Gendarmerie. Für die politisch Bewußten bedeutete es

Selbstverwaltung des Gesamtgebietes, in dem Kurden die Mehrheit der Bevölkerung

bilden, und nicht nur der viel kleineren Provinz Kordestan. Nach dem Programm der

KDP sollten nur Außenpolitik, nationale Verteidigung und langfristige

Wirtschaftsplanung der Zentralregierung überlassen bleiben, für alle anderen regionalen

Angelegenheiten sollten ein demokratisch gewähltes, autonomes Parlament und eine

eigene kurdische Regierung zuständig sein.

Daß die Zentralregierung diese Forderungen erfüllen würde, glaubten nur wenige. Die

meisten waren davon überzeugt, dafür kämpfen zu müssen. In der Tat bereiteten sich

viele auf die zu erwartenden bewaffneten Auseinandersetzungen vor — und sie

brauchten nicht lange zu warten. Mitte März gab es die ersten bewaffneten

Zusammenstöße, nämlich zwischen der Garnison von Sanandaj und Teilen der

Bevölkerung aus dieser kurdischen Stadt. Auch andernorts folgten

Auseinandersetzungen zwischen kurdischen Gruppen und Vertretern des neuen

Regimes. Die Zentralregierung hatte durch die Auflösung der Gendarmerie und die

Desertion eines Teils der in Kurdistan stationierten Armee die Kontrolle über die Region

verloren. Nun wollte sie diese wiedergewinnen und schickte frische Armee- und

Gendarmerieeinheiten zusammen mit Revolutionswächtern in das Gebiet.

Die Kurden widersetzten sich diesem Versuch, oft Mit Erfolg. Mitte August 1979

startete die Regierung, nach einigen Zusammenstößen zwischen Revolutionswächtem

und Kurden in der Stadt Paweh, eine militärische Großoffensive. Die Städte waren bald

eingenommen — Hunderte mußten ihr Leben lassen. Nun gingen Tausende bewaffneter

Kurden in die Berge und eröffneten den Guerrilla-Krieg, den ihre Organisationen schon

lange vorbereitet hatten. Sie gewannen bald die Kontrolle über mehrere Städte und den

Großteil der ländlichen Gebiete zurück. Das führte zu einer militärischen Patt-Situation;

ein entscheidender Durchbruch konnte nach Ansicht beider Seiten nur auf dem

Verhandlungsweg erreicht werden.

Eine versöhnliche Rede von Ayatollah Khomeyni im November 1979 ebnete den Weg

für Verhandlungen zwischen einer Regierungskommission und einer Delegation, die alle

kurdischen Organisationen repräsentierte. Die Regierung schlug zwar eine

Dezentralisierung der Verwaltung vor, doch wurde dieses Angebot von den Kurden als

Nationalismus und religiöser Konflikt

26

ungenügend zurückgewiesen.18 Die Verhandlungen waren während der ganzen Zeit

durch die weitergehenden Scharmützel zwischen Kurden und Regierungsorganen

gefährdet. Auch andere Faktoren beeinträchtigten die Gespräche: die Vielzahl der

Machtzentren in Tehran und Qom, die Rivalitäten zwischen den kurdischen

Organisationen, und Übergriffe aus irakischem Gebiet, die schon lange bevor der Irak

den Iran tatsächlich angriff stattfunden. Die Verhandlungen machten kaum Fortschritte.

Beide Seiten arbeiteten auf Zeitgewinn.

Im April 1980 brach der Krieg wieder offen aus. Radikale Kurden hatten versucht,

Armeeeinheiten daran zu hindern, durch Sanandaj zu marschieren. Die Regierung

antwortete mit Bomben- und Granatenangriffen auf Sanandaj, Saqqez und Baneh. Lang

andauernde Kämpfe in den Stadtgebieten kosteten Tausende von Toten, unzählige

Menschen verloren Haus und Besitz. Die Regierung intensivierte ihren Einsatz gegen die

kurdischen Guerilleros auf dem Lande und verhängte eine Wirtschaftsblockade. Auch

das konnte den bewaffneten Widerstand nicht brechen. Die Streitkräfte der Zentralmacht

scheinen gegen die Guerillatruppen außerhalb der Städte keinen Erfolg gehabt zu haben.

Tehran beschuldigte die Kurden, mit dem irakischen Regime gemeinsame Sache zu

machen — nur so sei ihr anhaltender Widerstand zu erklären. Nun scheinen tatsächlich

sowohl die Komala als auch die KDP aus dem Irak Waffen erhalten zu haben, doch gibt

es keine Anzeichen dafür, daß ihre Haltung gegenüber der Regierung durch den Irak

beeinflußt worden ist. Es ist ihre Verankerung in der Bevölkerung, die ihre Militanz

begründet, und kaum die Patronage durch eine ausländische Macht.

Als ich im August 1980, nach dem ersten Kriegsjahr, wiederum Mahabad besuchte,

unterstützte die Bevölkerung fast ausnahmslos die KDP-Iran und deren Politik. Seit dem

Ausbruch des iranisch-irakischen Krieges am 22. September 1980 sind Nachrichten aus

Kurdistan spärlich geworden. Nach bislang unbestätigten Berichten hat die iranische

Luftwaffe alle kurdischen Städte bombardiert, um sich für einige Zeit eines schwierigen

innenpolitischen Problems zu entledigen.

RELIGION, NATION, KLASSE: POLITISCHE KONFLIKTE IN KURDISTAN

Sunniten und Schi iten

Während der Revolution und der folgenden Konfrontation zwischen den Kurden und der

Zentralregierung lebten die latenten örtlichen Konflikte wieder auf. Wie unter den

Bedingungen eines Machtvakuums nicht anders zu erwarten war, versuchte jede

18 Khomeynis Rede wurde später veröffentlicht in: Khomeyni 1358/1979: 17-21. Über das

Dezentralisierungsangebot der Regierung berichtet Le Monde, 18.12.1979.

Nationalismus und religiöser Konflikt

27

Gruppe, auf Kosten ihrer Rivalen Macht und Einfluß zu konsolidieren und auszudehnen.

In ethnisch gemischten Gebieten gab es ernste Zusammenstöße zwischen Sunniten und

Schi iten, die zum Teil schwerwiegende Folgen für die politische Situation hatten.

In der sunnitischen Stadt Sanandaj lebt eine Minderheit von Schi`iten, meist

zugewanderte Beamte aus Azerbaijan oder der persischsprachigen Zentralregion und

schi itische Kurden aus Kermanshah. Nach der Revolution bildeten sich in der Stadt

zwei islamische Revolutionskomitees: ein schi itisches unter dem Hojjat ol-eslam Safdari

(der schon einige Jahre zuvor aus Qom nach Sanandaj gesandt worden war), und ein

sunnitisches unter der Führung des konservativen kurdischen Religionsgelehrten

Moftizadeh. Nur das schi itische Komitee hatte Beziehungen zur Garnison, und es

konnte so verhindern, daß das sunnitische Komitee mit Waffen und Munition versorgt

wurde. Doch vor allem sollten die linken Gruppen, die in keinem der beiden Komitees

vertreten waren, nämlich die marxistischen Feda’iyan-e khalq und eine andere, bald in

der Komala aufgehende Gruppe, von den Waffen abgeschnitten werden. Diese linken

Gruppen verfügten über eigene Milizen und beanspruchten einen Teil der Armeewaffen.

Die Beziehungen verschlechterten sich rapide, und schließlich kam es am 18. Mai 1979

zu Schießereien zwischen der schi itischen Gefolgschaft von Safdari und Anführern der

Linken, die Munition haben wollten. Die Auseinandersetzungen führten sehr rasch zu

einer regelrechten Schlacht um den Armeestützpunkt herum. Seit dem Sieg der

Revolution schoß dabei die Armee zum ersten Mal auf die Bevölkerung. Dutzende

unbeteiligter Zivilisten wurden getötet. Aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen von

seiten der sunnitischen Bevölkerung flohen viele Schi iten aus der Stadt.

Noch ernster waren die Konflikte, die einen Monat später in Naqadeh ausbrachen. In

dieser Stadt und den Dörfern der Umgebung besteht die Mehrheit der Bevölkerung aus

Qarapapakh, einer heute 30 000 bis 60 000 Mitglieder zählenden türkischsprachigen

Gemeinde von Schi iten, die um 1830, nach dem russischen Vordringen in den

Kaukasus, zugewandert waren. Sie bilden eine Enklave, die vollständig von Kurden

umgeben ist. Ihre Beziehungen zu den Kurden waren früher offenbar recht gut gewesen.

Nach Eagleton (1963: 21, 91) waren sie 1946 teilweise kurdisch assimiliert und “zeigten

gegenüber den azerbaijanischen Türken eine höfliche Zurückhaltung.” Für die Armee der

kurdischen Republik stellten sie sogar 500 Reger. Während meines Besuchs im März

1979 konnte ich jedoch offene Feindschaft feststellen. Die Qarapapakh hatten Angst, sie

könnten als Minderheitsgruppe in einem autonomen Kurdistan ihre privilegierte Stellung

als Schi iten und Türken verlieren und diskriminiert werden. Sie erklärten ihre

ausgesprochene Loyalität gegenüber dem neuen Regime. Als die KDP im April 1979

eine Kundgebung in Naqadeh veranstaltete, wurde diese beschossen. Ein allgemeiner

Kampf zwischen Kurden und Qarapapakh brach aus. Letztere erhielten rasch von

schi itischen Azeris aus Urmia Verstärkung. Armee und Revolutionswächter, die in

Naqadeh stationiert waren, schlugen sich auf die Seite der Schi`iten. Mehrere hundert

Nationalismus und religiöser Konflikt

28

Menschen wurden in diesen Auseinandersetzungen getötet. Zwar erreichte man

schließlich einen Waffenstillstand, doch blieb die Situation bedrohlich. Die Feindseligkeit

zwischen Sunniten und Schi iten (das heißt hier Kurden und Türken) hat in diesem

Gebiet bis heute nicht abgenommen.

In den beiden beschriebenen Fällen war der religiöse Konflikt freilich nur eine

Komponente der Auseinandersetzungen. Denn beidemal spielte auch die heftige

Reaktion der politisch dominanten schi itischen Gruppen gegen die nationalen

Forderungen der Kurden nach mehr regionaler Autonomie eine Rolle. Die meisten

Kurden, mit denen ich gesprochen habe, vereinten, daß antischi itische Gefühle auch nur

die geringste Bedeutung für ihre Opposition gegen das islamische Regime hätten

(obwohl viele von ihnen die islamischen Revolutionskomitees von Urmia und Naqadeh

beschuldigten, die schi`itischen Türken gegen die Kurden aufzuhetzen). In der Tat habe

ich im allgemeinen niemals den Eindruck bekommen, daß die Kurden etwas Besonderes

gegen die Schi ah oder die Schi iten hätten. Natürlich betrachten gläubige Kurden die

Schi iten als häretische Sekte. Sie weisen gerne darauf hin, daß die Schi iten die rituellen

Reinigungen recht lax handhaben und von den fünf vorgeschriebenen Gebeten einige en

bloc absolvieren. Basile Nikitine (1931/32) hat eine amüsante Beschreibung der

Vorurteile der Kurden gegen die Schi`ah und die schi itischen Olama geliefert. Auch ich

selbst fand die Haltung der Kurden im allgemeinen nicht bösartig. Beide, Kurden und

Azeris, pflegen sich auf Kosten der jeweils anderen lustig zu machen, wie es oft

zwischen Nachbarvölkern üblich ist. Doch die häufigen Eheschließungen zwischen

Kurden und Azeris deuten darauf hin, daß es normalerweise keine starken Gegensätze

gibt.

Grundherrn und Bauern

Auseinandersetzungen um Land zwischen (früheren) Grundherrn und Bauern, auf die

wir bereits hingewiesen haben, verstärkten sich während und nach der Revolution. Denn

nun versuchten Grundherrn, einen Teil ihres Landes, das sie unter der Landreform

verloren hatten, zurückzugewinnen. An mehreren Orten etablierten Grundherrn

“islamische Revolutionskomitees” und erklärten ihre Loyalität zum neuen Regime.

Sehr bald begannen sie in mehreren Bezirken — namentlich in Margawar, Bradost und

Mariwan —, die Bauern mit brutaler Gewalt von ihrem Boden und oft aus ihren Häusern

zu vertreiben. Linke Gruppen halfen den Bauern zurückzuschlagen, und in mehreren

Fällen gelang es ihnen, die Grundherrn zu vertreiben.19 Diese jedoch forderten und 19 Berichte über diese Auseinandersetzungen in: Sazman-i Paykar (1358/1979), in verschiedenen

Flugblättern der Komala und deren wöchentlichem Bulletin “Khabarnameh” sowie in den Dokumenten

der Bauerngewerkschaften von Mariwan, die in “Kurdistan— News and Comments” (London), No. 2,

Nationalismus und religiöser Konflikt

29

erhielten Unterstützung von außen: zuerst von dem (aus Azeris bestehenden)

Revolutionskomitee von Urmia, später auch von den ins Gebiet abkommandierten

Revolutionswächtern.

Unerfahrene Revolutionswächter provozierten im Juli 1979 schwere Kämpfe bei

Mariwan. Sie waren dorthin geschickt worden, nachdem die mit der Komala assoziierte

Bauerngewerkschaft und das von den Grundherrn dominierte örtliche

Revolutionskomitee aneinander geraten waren. Aus Protest gegen die Anwesenheit der

Revolutionswächter verließ die ganze Bevölkerung die Stadt, und sie kehrte erst nach

dem Versprechen zurück, die Revolutionswächter würden wieder abgezogen.

Ein paar Wochen später jedoch begann die Regierung ihre schon erwähnte August-

Offensive, und nun kamen noch viel mehr Revolutionswächter nach Kurdistan. In den

folgenden Monaten unterstützten Armee und Revolutionswächter häufig Grundherrn

gegen die Bauern, während die Komala, und in geringerem Ausmaß die KDP-Iran, auf

der Seite der Bauern stand und sie organisierte. Der Kampf um nationale Rechte und der

Kampf der Bauern gegen die Grundherrn gingen auf diese Weise eine enge Verbindung

ein.

Im August 1980 fand ich die Situation etwas verändert vor. Die Revolutionswächter,

unter denen ein stark anti-feudaler, populistischer Radikalismus vorherrscht, waren

nunmehr wenig geneigt, die kurdischen Grundherrn zu unterstützen, selbst wenn sich die

Bauern mit der Komala oder der KDP-Iran verbunden hatten. Die KDP-Iran hatte ihren

Einfluß unter den Stämmen verstärkt und ließ es nicht zu, daß die Stammesoberhäupter,

denen sie andererseits einen gewissen Einfluß in der Partei eingeräumt hatte, die Bauern

unterdrückten. Die Komala war immer noch besonders anti-feudal eingestellt und hatte

sich so Gruppen von tribal organisierten Kurden im Gebiet von Sanandaj, Baneh und

Mariwan entfremdet. Dort rekrutierte denn auch die Regierung paramilitärische

Einheiten gegen die Nationalisten und Linken.

Politische und militärische Kräfte der Kurden

Die mit Abstand stärkste Kraft in Kurdistan ist jetzt (Ende 1980) die KDP-Iran. Zur Zeit

ihres vierten Kongresses (19.-23. Februar 1980) hatte die Partei annähernd 30 000

Mitglieder: An dem Kongreß nahmen 310 Delegierte teil, von denen jeder zumindest

theoretisch 100 Mitglieder repräsentierte. Nach Angaben des Generalsekretärs Qasemlu

vom August 1980 ist die Guerilla-Armee der Partei 7500 Mann stark, und falls nötig

könnten weitere 45 000 bewaffnete Sympathisanten mobilisiert werden. Auch in der

Sept.-Okt. 1979, übersetzt sind.

Nationalismus und religiöser Konflikt

30

ersten Runde der Parlamentswahlen am 14. März 1980 wurde die Popularität der KDP

bestätigt. Obwohl die Wahlen in mehreren kurdischen Städten abgesagt worden waren,

wurde die KDP-Iran stimmenmäßig die zweitstärkste Partei des Iran (Le Monde,

22.4.1980). Doch schließlich durfte keiner der gewählten Abgeordneten an den

Sitzungen des Tehraner Parlaments teilnehmen.

Die KDP-Iran hat somit innerhalb eines einzigen Jahres eine enorme Stärke entwickelt.

Doch das brachte auch Probleme: Ob neu eingeschriebene Mitglieder auch tatsächlich

zum fortschrittlichen politischen Programm der Partei standen, ließ sich von den

Funktionären wohl oft nicht nachprüfen. So konnten in einigen Lokalorganisationen

auch konservative und sogar “feudale” Elemente eintreten und manchmal

verantwortliche Positionen erringen. Die Mehrheit der Mitglieder besteht jedoch aus

Angehörigen der städtischen und ländlichen Mittelschichten und ist verhältnismäßig

fortschrittlich, doch in erster Linie nationalistisch. Ein linker Flügel der Partei, der von

Funktionären der vierziger und fünfziger Jahre mit ihren starken Tudeh-Sympathien

geführt worden war, hat Mitte 1980 die Partei verlassen.

Die Komala ist kleiner und radikaler als die KDP-Iran. Sie trat im April 1979 an die

Öffentlichkeit, als die alte, im Untergrund wirkende Komala sich mit einer Anzahl

örtlicher Gruppen unterschiedlicher linker (“maoistischer”) Färbungen zusammentat.

Ihre Hochburgen sind Sanandaj und Mariwan, doch hat sie auch an den meisten anderen

Orten Lokalorganisationen. Ihre Kader bestehen meist aus jungen Intellektuellen. Die

Komala ist gegenüber der Zentralregierung und den “Feudalen” weniger

kompromißbereit als die KDP; beide Organisationen polemisieren häufig gegeneinander.

In Kurdistan sind auch einige andere linke Organisationen aktiv, besonders die

Feda’iyan-e khalg, die in einigen Städten kurdische Unterorganisationen haben. Diese

waren meist erst nach der Revolution aufgebaut worden. Anfänglich agierten sie sehr

extremistisch und befürworteten den bewaffneten Kampf, doch heute legen sie größeres

Gewicht auf politische Arbeit. Als sich die Organisation der Feda’iyan in der ersten

Hälfte des Jahres 1980 spaltete, schlugen sich viele Mitglieder ihrer kurdischen

Unterorganisationen bezeichnenderweise auf die Seite der Feda’iyan-”Mehrheit”, die

dem bewaffneten Kampf abschwörte und die “Linie des Imam Khomeyni” zu

unterstützen begann. Der Einfluß der Feda’iyan ist auf gebildete städtische Jugendliche

beschränkt. Gleiches gilt sicherlich auch für die anderen, noch kleineren linken Gruppen,

etwa für die (maoistische) Organisation Paykar.

Alle genannten Organisationen sind laizistisch, und es mag deshalb überraschen, daß ein

sunnitischer Molla, Sheykh Ezzedin Hoseyni, eine Zeit lang zwischen den Gruppen

vermitteln und sie koordinieren konnte. Als kurdische Vertreter ihre ersten Forderungen

zur Vorlage an die provisorische Regierung-Bazargan aufstellten, bestimmten sie

Hoseyni zum einzigen autorisierten Sprecher der Kurden. Damals war sein Name fast

Nationalismus und religiöser Konflikt

31

unbekannt. Bald jedoch trat er als jener typische Führer hervor, den die Situation

erforderte. Solange die Bevölkerung nicht politisch organisiert war, war es sein starkes

persönliches Charisma, das die Kurden vereinte und zusammenhielt. Ihm galt die

Loyalität sehr unterschiedlicher Bevölkerungsteile: der Stämme, der Bauernschaft, der

städtischen Unterklassen und der politischen Linken. Er gehört keiner politischen

Organisation an, obwohl er in den fünfziger Jahren in der KDP-Iran aktiv war und nun

als Sympathisant der Komala und der Feda’iyan gilt. Er vertritt einen revolutionären

Islam, wendet sich gegen ausbeuterische Grundherrn und reaktionäre Mollas. Vor allem

aber ist er ein gestandener kurdischer Nationalist. Gegenüber der Zentralregierung

verhält er sich radikaler als die KDP, obwohl er, der zum Beispiel den Ayatollah

Taleqani sehr verehrte, keineswegs antischi itisch ist. Als sich die KDP im Laute des

Jahres 1979 besser organisierte, verlor er viel von seinem Einfluß an jene Partei. Seit den

militärischen Offensiven gegen die Kurden hat sich auch Hoseyni mit einer Gruppe

bewaffneter Gefolgsleute in den Bergen aufgehalten. Er versuchte weiter, zwischen der

KDP und der Komala zu vermitteln, mit immer weniger Erfolg.

Auch einige andere religiöse Führer spielen eine bedeutende politische Rolle. Zwei

davon sind besonders erwähnenswert: Der alte Sheykh Osman von Duru ist der

einflußreichste Ordensführer der Naqshbandiyya im Iran (Bruinessen 1978: 305-307,

319-323). Sein Sohn Madeh und andere Verwandte haben — mit offener irakischer

Unterstützung — eine kurdische Guerilla-Armee, die “Supah-i Rizgari”, gegründet.

Offensichtlich besteht diese Organisation allein aus Jüngern des Sheykhs, die sehr

zahlreich sind, besonders in Hawraman. Die Supah-i Rizgari verwickelte sich nicht nur in

Kämpfe mit den Streitkräften der Zentralregierung, sondern auch mit Einheiten der

Komala.

Der andere einflußreiche religiöse Führer ist der Religionsgelehrte Moftizadeh aus

Sanandaj. Immer wieder wollte ihn die Zentralregierung zum Unterhändler für die

Kurden machen. Er ist ein überzeugter Anhänger der islamischen Republik. Seine lokale

Gefolgschaft — Bazaris und Mittelbauem — betrachtet ihn als Nationalisten. Er habe als

einziger den Mut gehabt, unter dem Shah-Regime seine Stimme zu erheben — gegen

dessen nicht-islamische Politik. Von Anfang an gab es schwere Auseinandersetzungen

zwischen Moftizadeh und der Komala. Es scheint, daß ihn seine Allianz mit der

Regierung viele Anhänger gekostet hat. Nach der August-Offensive von 1979 hat er

jedenfalls die Stadt verlassen.

Nationalismus und religiöser Konflikt

32

ZUSAMMENFASSUNG

Während der Revolution und des Krieges scheinen die traditionellen Autoritäten —

Stammesoberhäupter, Sheykhs und andere religiöse Führer — insgesamt Einfluß

verloren zu haben. Anfangs konnten einige vorübergehend Macht gewinnen, als der

Zusammenbruch des alten Regimes ein Machtvakuum geschaffen hatte, das die

politische Organisationen noch nicht ausfüllen kannten. Einige andere gewannen Macht

durch Unterstützung von außen — Sheykh Osman etwa erhielt Hilfe vom Irak, einige

Grundherrn und Stammesoberhäupter erhielten sie von der iranischen Regierung. Die

Kurdische Demokratische Partei und in geringerem Ausmaß die Komala gewannen

jedoch schnell eine ansehnliche Machtbasis und schwächten so den Einfluß jener

traditionellen Autoritäten. Die Konfrontation mit der Regierung beschleunigte diesen

Prozeß.

Obwohl die Mehrheit der iranischen Kurden fromme Sunniten sind, die das schi itische

Regime als Bedrohung empfinden, ist dies nicht der Hauptgrund für ihren Widerstand

gegen die Zentralregierung. Wie in der Vergangenheit, so ist auch heute unter der

bäuerlichen Bevölkerung ethnisches Bewußtsein mit religiösen Gefühlen eng

verflochten. Doch Stammesorganisation und Loyalität gegenüber charismatischen

religiösen Führern sind weitgehend durch die Organisation in säkularen politischen

Verbänden ersetzt worden: ein Prozeß, der durch die Landreform und die Urbanisierung

während der vergangenen zwei Jahrzehnte ermöglicht wurde. Diese Entwicklung ist

sicherlich noch nicht abgeschlossen — in den politischen Organisationen ist hier und da

das tribale Erbe noch sehr lebendig —, doch mit der Zeit nimmt das Gewicht von

Religion und Stammesorganisation in der kurdischen Politik immer mehr ab.

Fertiggestellt im Dezember 1980.

Nationalismus und religiöser Konflikt

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