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Pietistische Schulpraxis im Baltikum
Eine Untersuchung über den Export der Schulpraxis des Pädagogiums der Franckeschen
Stiftungen in die höheren Schulen Tallinns(Reval) und Riga
Der vorliegende Text beschäftigt sich explizit mit der Frage: Gab es eine
Ausstrahlung, also einen „Export“ der Schulpraxis des Pädagogiums Halle in die beiden
russischen Ostseegouvernements Estland und Livland im 18. Jahrhundert? Dabei bilden den
Schwerpunkt dieser Untersuchung die etwaigen Einflüsse aus Halle auf die beiden höheren
Schulen Revals im Zeitraum zwischen 1720 – 1770. Der Vergleich zum Lyceum Riga findet
im Wesentlichen auf der Ebene der Schulprogrammatik statt.
Der für diesen Aufsatz gewählte Zeitraum ergänzt sich mit dem posthum von Indrek
Jürjo veröffentlichten Artikel zum höheren Schulwesen in Reval ab 1770 aus dem Jahre
2011.1 Tatsächlich habe ich ähnliche Quellen wie Jürjo bearbeitet, die bisher kaum in der
Forschung Verwendung fanden. Im Wesentlichen geht es mir in diesem Text um eine
Aktualisierung des bisherigen Forschungsstandes. Behandelt werden, innerhalb der
Fragestellung einer Ausstrahlung der Schulpraxis, die Themengebiete: Erstens, die
Lehrkräfte und die Schulstrukturen der beiden höheren Revaler Schulen; zweitens, ein
Vergleich der Unterrichtsgestaltung und Methodik des Lyceums in Riga und den beiden
Revaler Schulen mit dem Pädagogium Halle; und drittens, ein Vergleich der Schülerschaft
und deren Disziplinierung.
Bevor ich zur Analyse der einzelnen Bereiche des Schulalltags komme, möchte ich
kurz auf den Forschungsstand zur Ausstrahlung der Halleschen Schulpraxis eingehen. Der
Export der halleschen Schulpraxis stellte in der historischen Bildungsforschung bis in
Gegenwart einen Untersuchungsgegenstand dar, der selten in Publikationen thematisiert
wurde. Eher wurde die hallesche Schulpraxis in ihrem Bezug zum „Pietismus“ hin untersucht,
in dem die Franckeschen Stiftungen den Gravitationspunkt bildeten. Im 19. und beginnenden
20. Jahrhundert wurde die Vermutung geäußert, dass der „Pietismus“ mit seinen gesamten
Halleschen Ausprägungen – von der Universität bis zu den Franckeschen Stiftungen – unter
anderem auch das komplette preußische Schulwesen beeinflusst habe.2 Dieser
überschwängliche Befund wurde dann in den 1980’ern Jahren durch das nach wie vor sehr
1 Indrek Jürjo: Die Bildungsreformen und –diskussionen in Reval im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. In:Baltische Literaturen in der Goethezeit. Hrsg. von Heinrich Bosse (u.a.), Würzburg, 2011, S. 381 – 410. Jürjo geht auf das Philanthropin in Dessau ein, lässt aber die Dessauer Schulpraxis außen vor und bezieht sich nur auf die theoretisch-methodischen Grundlagen des Philanthropismus. 2 Axel Oberschelp: Ausstrahlung und Gravitation von Franckes Schulen. In: Zwischen christlicher Tradition und Aufbruch in die Moderne. Das Hallesche Waisenhaus im bildungsgeschichtlichen Kontext, hrsg. von Juliane Jacobi, Tübingen, 2007, S. 121f.
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aktuelle Werk „Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit in Brandenburg-Preußen“ von
Wolfgang Neugebauer stark relativiert: „Der Pietismus beschränkte sich in seiner
Gestaltungsmächtigkeit eher auf städtische Reforminseln.“3
Axel Oberschelp, der das erste Mal 2007 Gravitations- und Ausstrahlungsprozesse
des halleschen Pietismus in einem Aufsatz bündelte, kommt zu den Schlüssen:
“1. Als Initiatoren von Schulreformen waren die im Halleschen Waisenhaus ausgebildeten Lehrer
weitgehend bedeutungslos.
2. Die Reformbestrebungen pietistischer Lehrer und Geistlicher zielten vor allem auf Unterrichtsinhalte
und weniger auf die geistliche Prägung.
3. Für den schul- und bildungsgeschichtlichen Kontext sind im Verhältnis von Pietismus und
Aufklärung statt der trennenden stärker die verbindenden Elemente und die vielfältigen Beziehungen
und Übergangsphänomene zu betonen.“4
Diesen Aussagen entgegnete Daniel Tröhler in seinem Kommentar im gleichen Band
auf Oberschelps Beitrag weitgehend zustimmend. Jedoch ist sein Vorschlag, die Fixierung
auf den „Pietismus“ als Wirkungsgeschichte, zu lösen:
„So gesehen würde es sich lohnen, den Pietismus gar nicht oder zumindest nicht primär als
Wirkungsgeschichte konstruieren zu wollen. Er müsste als historische Intention verstanden werden,
Mentalitäten und Überzeugungen zu verbreiten, der aber Widerstände erwuchsen, die auf aktives
Rezeptionsverhalten in spezifischen Kontexten hinweisen.“5
Nach diesem kurzen Rückgriff auf die Forschung, möchte ich nun meinen Ansatz für
einen Export der Schulpraxis spezifizieren: Ebenso wie Tröhler teile ich die Einschätzung,
den „Pietismus“ nicht in seiner Wirkungsgeschichte zu rekonstruieren. Mein Ansatz zielt
darauf möglichst „messbare“ Parameter einzuführen, wie ich sie in den einzelnen
Unterpunkten – Lehrkräfte und Struktur, Unterrichtsgestaltung und Methodik, sowie
Schülerschaft Disziplinierung - später aufzeigen werde. Eine adjektivische Form, wie
‚pietistisch‘, wird im Rahmen dieser Untersuchung angewandt werden, welche meinerseits
den Versuch einer offenen, unspezifischen Benennung darstellt.
Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten eines Exports von Schulpraxis, welche nur
zu einem Teil „Ideen“ sein können. Die erste Möglichkeit wäre der direkte Export von
Schulpraxis aus den halleschen Schulen in andere Regionen – in diesem Fall also nach
Reval und Riga, was anhand der Lehrkräfte und Schulstrukturen untersucht wird. Die zweite 3 Wolfgang Neugebauer: Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit in Brandenburg-Preußen. Berlin, New York, 1985, S. 545. 4 Oberschelp: Ausstrahlung und Gravitation, S. 133f. 5 Daniel Tröhler: Historische Bildungsforschung zwischen narrativer Fiktion und lokaler Persistenz. Kommentar zu Axel Oberschelps „Ausstrahlung und Gravitation von Franckes Schulen“, in: Zwischen christlicher Tradition und Aufbruch in die Moderne. Das Hallesche Waisenhaus im bildungsgeschichtlichen Kontext, hrsg. von Juliane Jacobi, Tübingen, 2007, S. 144.
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Variante ist eine indirekte Ausstrahlung – also Ideen - transportiert vorwiegend durch Bücher
und Korrespondenzen, welche sich nach Estland und Livland verbreiteten und die hiesige
Schulpraxis beeinflussten. Dies wird dann anhand der Unterrichtsgestaltung und der
Disziplinierungspraxis in den Schulen analysiert wird.
Lehrkräfte
Kommen wir zunächst zum direkten personellen Export von Schulpraxis – also den
Lehrkräften. Die Franckeschen Stiftungen bezogen ihre Lehrkräfte weitestgehend aus den
Studierenden der Universität Halle. Diese Studenten arbeiteten für freie Mahlzeiten,
sogenannte Freitische an den Schulen der Stiftungen als Lehrkräfte, erledigten aber auch
Schreibarbeiten.6 Die Lehrkräfte des Pädagogiums der Stiftungen bekamen im Vergleich zu
den anderen Schulanstalten der Stiftungen zusätzlich ein gutes Gehalt und mussten sich für
mindestens drei Jahre auf die Stelle als Lehrer (Praeceptor) verpflichten. Peter Menck
konnte dabei nachweisen, dass es mit der dreijährigen Verpflichtung nicht sehr genau
genommen wurde, denn bereits 40 % der Lehrer beendeten ihr Engagement am
Pädagogium vor den drei Pflichtjahren und 60% blieben dafür länger als drei Jahre dort. Aus
Mencks Berechnungen ergibt sich dennoch ein Durchschnitt von 3,4 Jahre, in denen die
Lehrer am Pädagogium arbeiteten.7 Es bleibt zu betonen, dass das Pädagogium eine
Durchlaufstation für Lehrkräfte war: Ihre „Karrieren“ endeten nicht an dieser Schule, wie
beispielsweise auf anderen zeitgenössischen Gymnasien.
Dieses System der Anstellung von Lehrern ist natürlich für Städte wie Reval oder
Riga, welche über keine Universitäten oder andere höhere Lehranstalten verfügten, so nicht
umsetzbar gewesen. Deshalb mussten viele Lehrer von außerhalb angeworben werden.
Dies war umso stärker zu Beginn des 18. Jahrhunderts der Fall, als das nach den
verheerenden Kriegsfolgen des Großen Nordischen Krieges, aber besonders durch die sich
anschließende Pestepidemie nach dem Jahre 1710 viele ehemalige Lehrkräfte geflohen
waren oder an der Pest starben. Aber auch die Schulstrukturen waren erheblich gestört, die
höheren Schulen Revals und Rigas mussten entweder ihren Betrieb komplett einstellen oder
stark eingeschränkt fortsetzen. Die deutschsprachigen Ritterschaften der beiden baltischen
Gouvernements, welche auch nach der russischen Machtübernahme die bestimmende
politische Instanz in den Ostseegouvernements waren, reagierten auf die durch den Krieg
hervorgerufene Verschlechterung des Schulwesens mit der Einladung und Anstellung von
Christoph Friedrich Mickwitz und Johann Loder, welche nacheinander zuvor als Hauslehrer
6 Axel Oberschelp: Das Hallesche Waisenhaus und seine Lehrer im 18. Jahrhundert. Lernen und Lehren im Kontext einer frühneuzeitlichen Bildungskonzeption, Tübingen, 2006, S. 132ff. 7 Peter Menck, Das „Pädagogium“ der Franckeschen Anstalten in Halle an der Saale. In: Dimensionen der Erziehung und Bildung. Festschrift zum 60. Geburtstag von Margret Kraul, hrsg. von Andreas Hoffmann-Ocon (u.a.), Göttingen, 2005, S. 40.
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der Familie von Campenhausen in Sankt Petersburg angestellt waren. Wichtiger ist aber der
Umstand, dass beide ehemalige Hallesche Studenten aus dem direkten Umfeld Franckes
waren, welche in der Folge zwei der wichtigsten höheren Schulen in Reval und Riga
wiederbelebten. Sie wurden von der Ritterschaft als Oberpastoren der Gemeinden berufen,
welche zwei der vier höheren Schulen in den beiden Städten betreuten. Diese beiden
Schulen dieser Kirchgemeinden wurden ebenso finanziell hauptsächlich von der Ritterschaft
und kirchliche Gemeinde getragen und zu einem kleineren Anteil von der „Krone“, also der
russischen, unterstützt.8
Die Einladung durch den Adel ist mit der Grund, warum davon auszugehen ist, dass
die bisher vor 1768 in der Forschung so bezeichnete Revaler Domschule, vermutlich bereits
seit 1724 zum Amtsantritt Mickwitz einen Namen trug, der beide an ihr beteiligten
Institutionen – also die Domgemeinde und die Ritterschaft E(h)stlands, enthielt. Für das Jahr
1738 ist in einem Brief von Mickwitz an Joachim Lange in Halle zumindest der Name
„Cathedral- und Ritterschule“ verbürgt.9 Anders als in der von Rudolf Adam Winkler
verfassten Schrift „Aus den Jugend= und ersten Amtsjahren des Oberpastors am Dom zu
Reval Christoph Friedrich Mickwitz“ aus dem Jahr 1908 ist nicht davon auszugehen, dass die
Einladung durch den Adel zufällig geschehen sei.10 Das zwei Personen aus dem näheren
Umfeld Franckes in Halle, Loder und Mickwitz, durch Zufall an zwei der damalig wichtigsten
landesherrlichen Pfarrstellen Estlands und Livlands kamen, ist auszuschließen. Näher liegt
der Verdacht, dass ihre Anstellung durch Johann Balthasar von Campenhausen, sowie
durch den Einfluss weiterer Adliger erwirkt wurde. Eine Gruppe von Adligen warb also
dezidiert pietistische Pfarrer an, um das vom Großen Nordischen Krieg noch verheerte
Schulwesen wieder aufzubauen. Dieser Vorgang ist insofern für Estland und Livland
bemerkenswert, da einige pietistisch gesinnte Pfarrer in einem Widerspruch mit den Adligen
in Bezug auf die leibeigene Landbevölkerung gerieten, da sie ebenso Schulen für estnisch-
und lettischsprachige Schüler gründeten, religiöse Bücher übersetzten und damit mit den
Grundstein für die kulturelle Emanzipierung der estnisch- und lettischsprachigen
Bevölkerung legten. Für die deutschsprachigen Adeligen, bildeten die Leibeigenen eine
wichtige Machtbasis, welche einige durch das sich entwickelnde Schul- und Gemeindewesen
8 Arvo Tering: Die Ausbildung der baltischen Prediger an deutschen Universitäten. In: Halle und Osteuropa. Zur europäischen Ausstrahlung des halleschen Pietismus, hrsg. von Johannes Wallmann und Udo Sträter, Tübingen, 1998, S. 134ff. 9 Brief vom 12.06.1738: AFSt H A 188b : 554, Blatt 2. Wichtig ist hierfür vor Allem der Beleg, dass der Einfluss des Adels auf die Schule bestätigt wird. Diese Stelle belegt aber auch, dass die Schule zum damaligen Zeitpunkt bis zur Reform 1765 eher den Namen „Dom- und Ritterschule“ trug. Der Einfachheit belasse ich aber die Benennung „Ritter- und Domschule“ in diesem Text. 10 Probst Rudolf Adam Winkler: Aus den Jugend- und ersten Amtsjahren des Oberpastors am Dom zu Reval – Christoph Friedrich Mickwitz, Reval, 1908, S. 7.
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gefährdet sahen.11 Diese Thematik kann ich im Rahmen dieses Aufsatzes mit diesem kurzen
Hinweis jedoch nur angedeutet lassen.
Um den Erfolg, beziehungsweise Misserfolg, dieses Unternehmens beurteilen zu
können, möchte ich zunächst auf die Veränderung der Schulstrukturen in den Jahren nach
dem Amtsantritt Mickwitz 1724 in Reval eingehen. Das Wirken von Loder in Riga kann ich an
dieser Stelle nicht untersuchen, da hierzu die nötigen Quellenbestände fehlen. Anschließend
werde ich dann eine Analyse der Lehrerschaft an den beiden höheren Schulen Revals
durchführen; also der Ritter- und Domschule an der Mickwitz wirkte, sowie dem städtischen
Gymnasium, welches von der Stadt verwaltet wurde und durch diese und dem Landesherrn
finanziert wurde. Im Laufe dieser Untersuchung wird von mir immer wieder der Rückbezug
auf die Hallesche Schulpraxis am Pädagogium hergestellt um beurteilen zu können,
inwiefern ein Export der Schulpraxis stattfand oder verneint werden muss.
Eduard Pabst und Friedrich Croessmann, welche 1869 eine ausführliche Geschichte
der Ritter- und Domschule zum 550-jährigen Jubiläum dieser Schule verfassten, konnten
noch auf Quellen zugreifen die heute nicht mehr vorhanden sind. Laut ihren Angaben
bestand das Schulkollegium im Dombezirk aus den fünf Lehrern der Domschule12, dem
Oberpastor als Scholarchen sowie dem Kompastor.13 Es ist aufgrund der Quellenangabe14
von Pabst/Croessmann durchaus plausibel, dass es an dieser Schule wöchentliche
Schulkonferenzen gab, in denen Lehrer Probleme und Vorstellungen hineintragen konnten
und in die die Schulaufsicht seitens der beiden Pastoren ihre Ansprüche an die Lehrkräfte
formulierte. Auf diesen Konferenzen waren die Lehrer in der Mehrheit und konnten also
durchaus selbst über die Unterrichtsinhalte beraten und entscheiden, ein Mitspracherecht
der Ritterschaft blieb wohl vor Allem bei Neueinstellungen von Lehrern.15
Dies weist eine starke Ähnlichkeit mit dem Pädagogium in Halle auf. Das Kollegium
des Pädagogiums bestand im Vergleich hierzu ebenso aus den jeweilig tätigen Lehrern
sowie dem Inspektor, welcher selbst keine Schüler unterrichtete. Das wichtigste Element
analog zu den anderen Schulen der Franckeschen Stiftungen bildeten hierbei die
11 Zu nennen ist hier insbesondere das Waisenhaus in Alp, welches aus Halle mit Lehrern „versorgt“ wurde, wie auch die Bemühungen der v. Hallarts in Wolmarhof, welches später ein herrnhutisches Bildungszentrum in Livland wurde. Janis Kreslins: Der Einfluss des halleschen Pietismus auf Lettland. In: Halle und Osteuropa. Zur europäischen Ausstrahlung des halleschen Pietismus, hrsg. von Johannes Wallmann und Udo Sträter, Tübingen, 1998, S. 145ff. Ebenso im gleichen Band: Tering: Die Ausbildung der baltischen Prediger, S. 134f. Erich Donnert: Agrarfrage und Aufklärung in Lettland und Estland. Livland, Estland und Kurland im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, Frankfurt/Main New York, 2008, S. 53ff. Donnert bringt vor Allem das ambivalente Verhalten der Adligen ins Spiel, die auf der einen Seite eine stärkere Disziplinierung der Leibeigenen durch pietistische, aber vor Allem durch die Brüdergemeine befürworteten, auf der anderen Seite aber fürchteten, dass sie sich dadurch mehr Rechte einforderten. 12 Ab 1733 einem Rector, einem Conrector, einem Subrector, einem Subconrector und einem Cantor. 13 Eduard Pabst/ Friedrich Croessmann: Beiträge zur Geschichte der ehstländischen Ritter- und Domschule. Einladungsschrift zu der 550-jährigen Jubelfeier der Domschule zu Reval am 19. Und 20. Juni 1869, S. 44f. anfangs waren ebenso noch die Lehrer des Waisenhauses auf den Schulkonferenzen. 14 Ebd., S. 42f. Sie dort ein erhaltendes Lehrerkonferenzbuch der Jahre 1725 – 1747. 15 Ebd., S. 42.
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wöchentlichen Lehrerkonferenzen. Es gab folglich wie auch in Reval einen wöchentlichen
Austausch über Probleme und Fragstellungen innerhalb des Schulalltags, welches aber in
der Realität vermutlich nicht jede Woche hervorragend funktionierte, wie bereits Axel
Oberschelp bestätigen konnte.16 Es darf zudem nicht davon ausgegangen werden, das
allwöchentlich Methoden und Lehrpläne hinterfragt wurden, dennoch wurde auf diesen
Austausch großen Wert gelegt und es zeigt sich daran ebenso der Versuch das Schulwesen
effektiv gemeinsam mit allen Lehrenden zu gestalten.17 Die Struktur des Schulwesens im
Dombezirk Revals ließe sich also - was den Einfluss der Lehrkräfte auf die Organisation
ihrer Schule betrifft, durchaus mit dem Pädagogium in Halle vergleichen – was vor Allem den
Maßstab an Eigenständigkeit des Lehrkollegiums betrifft. Diese Struktur des Kollegiums hielt
sich bis ins das Jahr 1765, danach kam es im Zuge der Umgestaltung der Ritter- und
Domschule zu einer strukturellen Veränderung.18 Darüber hinaus muss erwähnt werden,
dass Mickwitz neben der Ritter- und Domschule, dass Schulwesen des Dombezirks um ein
Waisenhaus, ein Hospital und eine Mädchenschule erweiterte. Auf dem Domberg, sowie in
dessen Vorstadt entstand dementsprechend, wenn auch mit geringeren Ausmaßen als in
Halle, ein breit angelegtes Schulwesen, welches ähnlich wie in Halle Schüler aller
Geschlechter, Stände und vermutlich auch Nationalitäten vereinte.19
Demgegenüber ist ein solch dichtes Berichtswesen, wie auch eine ähnliche Stellung
der Lehrkräfte für das städtische Gymnasium in Reval nicht erkennbar. Am Gymnasium gab
es vier Professoren, welche in den beiden höheren Klassen unterrichteten und zwei Collegen
und einen Cantor für die unteren Klassen.20 Ergänzend kam im Verlauf des von mir
untersuchten Zeitraums noch ein Russischlehrer hinzu.21 Das städtische Gymnasium war
nahezu das gesamte Jahrhundert hindurch, mit Ausnahme der Zeit der Statthalterverfassung
von 1786 – 179722, innerhalb eines „Collegium Gymniasarchum“ verfasst. Hier hatte den
Vorsitz der Bürgermeister der Stadt, die Lehrkräfte waren sogar in der Minderheit in diesem
Gremium. Im Collegium Gymnasiarchum waren neben dem Bürgermeister zwei Ratsherren
der Stadt, der Syndicus, der Superintendant der Stadt, der Stadtsecretaire und die vier
Professoren vertreten. Die Lehrer der Unterklassen waren nicht in dem Gremium vertreten,
sie wurden nur bei sie betreffenden Punkten hinzugezogen und hatten keine weiteren
16 Oberschelp: Das Hallesche Waisenhaus, 172ff. 17 Ebd., S. 178. 18 Jürjo: Bildungsreformen und – diskussionen in Reval, S.384f. Danach gab es ein adliges Kuratorium, welches die Bedeutung des kirchlichen Konsistoriums verringerte. Es blieb aber weitestgehend dabei, dass das Lehrkollegium über die eigentlichen Erziehungs- und Unterrichtsfragen selbst bestimmte. 19 Heinrich Wilhelm Wigand: Kurzgefasste Geschichte des zum Dome gehörenden Waisenhauses, nebst eines Anhanges, Reval, 1777, S. 2ff. 20. Ph. v. Willigerod: Das Gouvernements=Gymnasium zu Reval im 18. Und 19. Jahrhundert. In: Archiv für die Geschichte Liv-, Esth- und Kurlands, hrsg. von Dr.. F. G. von Bunge, Bd. 1, Dorpat, 1842, S. 92ff. 21 Dieser konnte aber auch dieselbe Person sein, welcher für beide Schulen tätig war, wie der ab 1750 an Gymnasium und Ritter- und Domschule tätige Johann Christoph Prave. 22 v. Willigerod: Gouvernements=Gymnasium, S. 106f.
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Entscheidungsbefugnisse.23 An dieser Stelle wird dann auch erkennbar, in welch
unterlegender Stellung sich die Collegen befanden. Hierbei wird eine Stelle aus dem
Protokoll des Jahres 1726 interessant, als die beiden Collegen Hirschhausen und Bieck, die
zumindest in der Nähe zu pietistischen Ideen gestanden haben könnten, dabei ertappt
wurden „Speners Katechismus“ im Unterricht verwendet zu haben. Sie wurden darauf vom
gesamten Collegium angewiesen, dies zukünftig zu unterlassen.24 Es scheint also zumindest
in diesem Zeitraum eine starke allgemeine Abneigung des Collegium Gymnasiarchums
gegen pietistische Einflüsse gegeben zu haben.
Laut der erhaltenden Protokollbücher traf sich dieses Gremium für gewöhnlich einmal
im Jahr, nur bei besonderen Problemstellungen trat es öfter zusammen, welche eher selten
waren. Der tatsächliche Hauptzweck war die jährliche Rotation des Rektorats, welches unten
den vier Professoren wechselte.25
Die Lehrer hatten in dieser Struktur tatsächlich wenig Einfluss, auch was die größeren
konzeptionellen Fragen betrifft. Das zeigt am deutlichsten ein Protokollausschnitt, welcher
das neue Schulprogramm von 1768 betrifft:
"Consul Prases eröfnete hierauf daß das Collegium Gymnasiarcharum die Abschrift gegeben hätte,
durch Veränderung der Lectionum die man für nöthig befunden hätte, das Gymnasium aufzuhelfen
und in Flor zu bringen, es wäre in der Abschrift auch ein Entwurf angefertigt und dann Herren
Professonen communicieret worden, von denen einigen darauf Anmerkungen [machten] die gar nicht
zu Sache gehörten und füglicher hätten wegbleiben können[…]“.26
Es ist an diesem Ausschnitt gut erkennbar, dass die konzeptionellen Änderungen von
Seiten der Stadt kamen. Die Professoren konnten zwar Einwände erheben und bedingt
daran mitwirken, die Verordnung an sich konnten sie aber letztlich nicht verhindern, sie trat
gut acht Monate später am 29.02.1768 in Kraft.27
Besonders an diesem Punkt ist also festzustellen, dass was die Verfassung der
Schulen und die Einbindung der Lehrkräfte in die Organisation betrifft, die Ritter- und
Domschule einen sehr ähnlichen Modus wie die halleschen Schulen fand, insbesondere im
Vergleich zum Pädagogium28, da die Lehrer hier ein erhöhtes Mitspracherecht hatten,
während dies für das Gymnasium nicht der Fall war.
Wie sah es nun aber bei der Verbindung der Lehrkräfte zu ihrem Halleschen
„Zentrum“ aus und inwiefern waren einzelne Lehrer „pietistisch“? Der estnische Historiker 23 Talinner Stadtarchiv (Talinna Linnaarhiiv) weiterhin TLA: TLA.230.1.Bp 13, Protokolle des Collegium Gymnasiarchums 1726 – 1755 und 1763 – 1796. Es gäbe mehrere Protokolle dem dieser Vorgang zu entnehmen ist, als Beispiel: Protocollum vom 12. May 1764, S. 5. 24 TLA.230.1.Bp.13 Protocollum November 1726, S. 5f. 25 Teilweise bestehen Protokolle einiger Jahre nur aus diesem Vorgang. Beispiel: TLA.230.1.Bp 13, Protocollum vom 13. May 1765, Protocollum vom 17. May 1766, S. 10f. 26 TLA.230.1.Bp 13, Protocollum vom 14.May 1767, S. 14f. 27 TLA.230.1.Bp 13, Protocollum vom 14.May 1768, S. 19ff. 28 Oberschelp: Das Hallesche Waisenhaus, 172ff.
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Arvo Tering stellte hierzu Ende der 90’er Jahre des letzten Jahrhunderts in einem in
deutscher Sprache erschienen Aufsatz fest, dass nicht nur die Domschule durch einen
direkten Schüler Franckes geführt wurde, nein auch „die Revaler Schulen lagen in der ersten
Hälfte des 18. Jahrhunderts fast völlig in den Händen von in Halle ausgebildete[n]
Schulmeister[n]: sowohl das Gymnasium, an dem ab Ende der [17]30’er Jahre ein Zögling
der Universität Halle Theologieprofessor war [es handelt sich um Peter Sixtus Krause, M.R.],
als auch die Stadtschule (Trivialschule) an der ein früherer Hallescher Student Rektor war“.29
Die offene Frage bleibt hierbei, ob diese zwei genannten Lehrkräfte ausreichen, um
sagen zu können, dass das Revaler Schulwesen durch deren bloße Anwesenheit pietistisch
beeinflusst wurde, was Terings Aussage mit impliziert. Und unterhielten diese Lehrkräfte
auch ständige Kontakte mit den Franckeschen Stiftungen in Halle? Denn dies würde einen
wichtigen Parameter darstellen, anhand welchem sich die Anbindung und den Austausch
zwischen der halleschen „Zentrale“ und ihren vermeintlichen „Außenstellen“ abbilden ließe.
Um dies festzustellen, habe ich im Folgenden die Lehrkräfte der Ritter- und Domschule und
des städtischen Gymnasiums tabellarisch zusammengefasst und diese mit der Datenbank
der Einzelhandschriften in Halle abgeglichen.30 Zu Terings Verteidigung möchte ich jedoch
anmerken, dass er zur Zeit seiner Aufsätze noch nicht über die Datenbank der
Einzelhandschriften in Halle verfügen konnte, diese entstand erst mit dem DFG-Projekt
„Franckens Schulen“ welches erst 2004 abgeschlossen wurde.31 Der besondere Wert dieser
Datenbank für diese Untersuchung liegt nicht nur darin, dass dort nahezu sämtliche Briefe,
welche aus Reval die Franckeschen Stiftungen erreichten, verzeichnet sind. In der
Datenbank sind zusätzlich die Lebensläufe der in den Briefen erwähnten Personen kurz
wiedergegeben, wobei zum Beispiel verzeichnet ist, ob diese Personen in Halle studierten
und dort eine Lehrertätigkeit in den Schulen der Stiftungen ausübten.
Tabelle 1: Lehrkräfte an der Ritter- und Domschule Reval
Anstellungs-zeitraum
Name und Funktion Durch die Datenbank der Einzelhandschriften in Halle belegten Kontakte
1725 -66 Johann Jacob Preusse, Rector Studium in Halle, zwei Briefe mit A.H. Francke 1720
1726 – 39 Michael Weber, Cantor (wenn es sich um Michael Weber *1690 in Dobis bei Wettin handelt) Ein Brief an A.H. Francke, war selbst Informator im Waisenhaus bis 1716
1726 – 27 Johann Friedrich Becker, Subrector
Biografie ist bis 1717 in Halle erfasst
29 Tering: Die Ausbildung der baltischen Prediger, S. 136. 30 Alle nachfolgenden Tabellen sind anhand folgender Quellen gebildet: Dem Lehrerverzeichnis in: Pabst/ Croessmann: Beiträge zur Geschichte der ehstländischen Ritter- und Domschule, S. 77ff. Dem Lehrerverzeichnis in: A.J. Berting: Lehrer-Album des Revalschen Gymnasiums 1631-1832, Reval, 1862, S. 19ff. Eesti Ajalooarhiiv – Estnisches Historisches Archiv in Tartu, weiterhin EAA: EAA.854.2.2720. Akte betreffend die Besetzung der Lehrerstellen in der Ritter- und Domschule. Sowie die jeweiligen Einträge in der Datenbank der Einzelhandschirften der Franckeschen Stiftungen Halle(Saale). 31 Oberschelp: Das Hallesche Waisenhaus, S. 12 (Fußnote 49). Seitdem wird diese Datenbank aber beständig ergänzt und entwickelt sich dementsprechend weiter.
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1728 – 37 Gottfried Hilmer,Conrector 5 Briefe, davon 4 an A.H. Francke, einer 1727 an G.A. Francke
1729 -36 Johann Christoph Schmidt, Subrector
drei Briefe nach Halle, einer an A.H. Francke, zwei an J. Lange
1737 – 38 Johann Jacob Tegtmeyer, Subconrector
Keine Kontakte
1736 – 39 Peter Sixtus Christian Krause, Subrector
2 Briefe an G.A. Franke nach Halle, Ende der 1740’er Jahre, war selbst Informator in Halle, wechselte 1739 zum Gymnasium
1737 – 43 Johann Georg Tideböhl Conrector
16 Briefe an G.A. Francke erst ab 1748, ab 1743 Nachfolger von Vierroth als Kompastor der Domkirche,
1740- 45 Johann Ehrenfried Buntebarth Subconrector
Eintrag zur Biografie, Vater hatte Kontakt nach Halle. (Verließ der Schule - 1744 Herrnhuter Unruhen)
1740 – 42 Christian Saalwachter, Subrector Keine Kontakte (ging bereits 1742 zur Brüdergemeine)
1741- 45 Johann David Elster, Cantor Keine Kontakte (Verließ die Schule 1744 - Herrnhuter Unruhen)
1743 – 44 Johann Friedrich Herlin, Subconrector
Wechselte 1744 als College ans Gymnasium
1744 – 49 Zacharias Roebel, Conrector Keine Kontakte
1744 – 52 Johann Gottlieb Ludwig, Conrector
Informator am Waisenhaus, 2 Briefe nach Halle
1745 – 54 Michael Kelch, Subconrector, 1750 Subrector, 1752 Conrector
Kontakte zu G.A. Francke, in einem Brief erwähnt er, dass er Lehrer in den Stiftungen war
1746 – 49 Heinrich Benjamin Hessler, Cantor
Biografie in Halle erfasst, war Schüler des Waisenhauses, wechselte erst an die Stadtschule, dann 1753 ans Gymnasium
1750 – 68 Carl BogislausTideböhl, Subconrector, 1752 Subrector, 1754 Conrector
Ein Brief an G.A. Francke, Biografie ist in Halle erfasst
1750 – 78 Johann Matthäus Malsch, 1750 Cantor, 1752 Subconrector
Keine Kontakte
1752 – 78 Johann August Bruckhoff, Cantor Keine Kontakte
1754 – 1762 Anton Mickwitz 1 Brief nach Halle, wechselte 1762 ans Gymnasium
Die in der Tabelle kursiv gestalteten Namen in violetter (grauer) Schriftfarbe, sind
diejenigen Lehrer, welche Kontakte nach Halle unterhielten, wobei die meisten dieser Lehrer
jedoch nur wenige Briefe nach Halle verfassten. Der Großteil der überlieferten Briefe
stammte aus den Federn des Oberpastors Mickwitz und dessen Kompastor Vierroth,
beziehungsweise nach dessen Abgang ab 174332, wurde die Aufgabe der Korrespondenz mit
den Franckeschen Stiftungen vom neuen Kompastor am Dom Johann Georg Tideböhl
übernommen. Dennoch wird anhand dieser Auflistung deutlich, dass ein Großteil der
Lehrkräfte in Halle studierte oder Verbindungen dorthin hatte, teilweise sogar an den
Schulen des Waisenhauses zuvor gelehrt hatte, was die These einer exportierten 32 Der Weggang resultierte aus den in der Tabelle erwähnten Herrnhuther Unruhen, auf die ich jedoch im Rahmen dieses Artikels nicht detailliert eingehen werde. Pabst/ Croessmann: Beiträge zur Geschichte der ehstländischen Ritter- und Domschule, S. 79. Sowie Eintrag der Biografie zu Albert Anton Vierroth in der Datenbank der Einzelhandschriften der Franckeschen Stiftungen: http://192.124.243.55/cgi- bin/gkdb.pl?x=u&t_show=x&wertreg=PER&wert=vierorth%2C+albert+anton++-+BIOGRAFIE&reccheck=,92245 abgerufen am 25.04.2015.
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Schulpraxis bestätigen würde. Interessant ist hierbei auch der nicht abreißende Kontakt nach
Halle bis weit in die 1750’er Jahre hinein. Die Auflistung zeigt bereits, dass es
Schwierigkeiten gab, tatsächlich alle Lehrerstellen zu besetzen. Zudem beweist das
Lehrerverzeichnis von Pabst und Croessmann, dass bei Zeiten von Personalknappheit,
Lehrer des Waisenhauses in der Vorstadt auch an der Ritter- und Domschule in den unteren
Klassen unterrichteten.33
In Tabelle 1 unterstrichen sind die Namen der Lehrer, welche von der Domschule aus
ans Gymnasium wechselten. Waren es also diese Lehrer, welche eine „pietistische“
Beeinflussung am städtischen Gymnasium Reval bewirkten?
Tabelle 2: Professoren Stadtgymnasium Reval
Anstellungszeit Professoren, Geburtsorte und Studienorte in Klammern soweit bekannt
Eintragungen Datenbank Halle
1710 – 1730 Johann Rudolf Brehm – (Erfurt, studierte in Jena) keine Kontakte
1714 – 1716 Eberhard Reimers – (Reval, in Halle studiert) keine Kontakte
1718 – 1750 Adolph Florian Sigismundi – (Reval, studierte in Pernau)
keine Kontakte
1722 – 1738 Carl Christian Pfützner - (Reval, studierte in Wittenberg)
keine Kontakte
1730 – 1757 Johann David Gebauer - (Walthershausen/Gotha) ein Brief mit Ernst Salomon Cyprian (Vertreter der Orthodoxie), also keine Kontakte
1730 – 1733 Johann Georg Heinsius - (Spremberg, studierte in Wittenberg und Leipzig)
keine Kontakte
1733 – 1739 Andreas Bartholomäi - (Reval, kein Studium bekannt) keine Kontakte
1739 – 1753 Peter Sixtus Krause - (Stendal, war Schüler an der Lateinischen Schule Halle, studierte in Halle und war Informator)
zwei Briefe überliefert. Einmal zum Tode von C.F. Mickwitz und Anton Thor Helle, ein zweiter ist eine Empfehlung für einen zukünftigen Studenten
1740 – 1760 Joachim Johann von Thieren keine Kontakte
1744 – 1755 Johann Friedrich Herlin - (Estland, kein Studium, erst 1753 Professor)
keine Kontakte
1751 – 1767 Georg Salomon keine Kontakte
1753 – 1766 Heinrich Benjamin Hessler - (Bamme bei Brandenburg, 1753 College, 1754 Professor)
im Hallischen Waisenhaus 1732, an der Lateinischen Schule 1733
1756 – 1763 Michael Richter - (erst College, ab 1759 Professor) keine Kontakte
1757 – 1759 Johann Friedrich Rauchfuss keine Kontakte
1761 – 1777 Christoph Heinrich Siegel keine Kontakte
1762 – 1770 Anton Mickwitz (* 1738 Reval, war seit 1754 Subrector der Domschule, erst College am Gymnasium, 1763 Professor)
Ein Brief nach Halle
33 Pabst/Croessmann: Beiträge zur Geschichte der ehstländischen Ritter- und Domschule, S. 77ff.
Michael Rocher Pietistische Schulpraxis im Baltikum
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Während sich an der Lehrerschaft der Ritter- und Domschule ein pietistischer Einfluss
ablesen könnte, ist dies am städtischen Gymnasium nicht erkennbar. Nur drei Professoren,
jene also, welche von der Ritter- und Domschule ans Gymnasium wechselten, hatten in
fünfzig Jahren Untersuchungszeitraum nennenswerte Kontakte nach Halle und diese sind
nicht als intensiv zu bezeichnen. Der von Tering postulierte „pietistische Einfluss“ durch den
Lehrer Peter Sixtus Krause, welcher im Vergleich zu den Pastoren und Lehrern der Ritter-
und Domschule nur eine sehr bescheidene Korrespondenz mit Halle unterhielt, ist nicht
plausibel. Ein Professor, Johann David Gebauer, hatte gar Kontakte zu Ernst Salomon
Cyprian, einem bekannten Gegner der pietistischen Bewegung im mitteldeutschen Raum.
Interessant wird dann wiederum der Blick auf die Collegen, also die Lehrer in den
unteren Klassen am Stadtgymnasium:
Tabelle 3: Collegen am Stadtgymnasium Reval
Anstellungszeit Collegen, Geburtsorte in
Klammern soweit bekannt
Eintragungen Datenbank Halle
1716 - ? Christian Ludwig Heimbrodt – (Halle) Keine Kontakte
1725 – 1750 Johann Friedrich Mentz (es gab einen J.F. Mentz in Halle aus Moskau, zuerst an der Lateinschule, ab 1713 im Waisenhaus)
Ein Dankesbrief an A.H. Francke 1713
1726 - ? Hirschhausen – Johann Adam (?) Wurde von A.H. Francke ins Waisenhaus nach Alp 1718 verschickt. Am Gymnasium zusammen mit Bieck 1726 wegen Verwendung des Speners im Unterricht getadelt, stand in Kontakt mit A.H. Francke und H. Milde
1726 – 1743 Christoph Erdmann Bieck Kontakt zu Sophie-Charlotte von Stolberg-Wernigerode, welche wiederum enge Kontakte zu G.A. Francke hatte
1737 – 1738 Marcus Kelch (Dorpat) Hatte selbst keine Kontakte, aber sein Bruder stand in direkter Verbindung mit Halle
1738 – 1744 Johann Gottlieb Albrecht keine Kontakte
174? – 1768 Jeremias Hain keine Kontakte
1745 – 1777 Johann Konrad Grewe keine Kontakte
1750 - ? Johann Christoph Prave keine Kontakte
1759 – 1762 Thomas Sabler Vater war Lehrer ab 1722 in Alp, Sohn studierte in Halle, aber keine Kontakte
1763 – 1784 Justus Friedrich Grohmann keine Kontakte
Bei den Collegen des Gymnasium ist nämlich ein intensiverer Kontakt mit Halle,
jedoch nur bis in die 1740’er Jahre hinein erkennbar, danach spielten die Halleschen
Anstalten kaum noch eine Rolle.
Was schließt sich daraus? Erste Anlaufstelle für die in Halle ausgebildeten Studenten
war also in Reval immer die Ritter- und Domschule. Einige dieser Lehrer wechselten von dort
aus aber dann bald weiter auf das Gymnasium. Die Gründe hierfür dürften zum einen die
Michael Rocher Pietistische Schulpraxis im Baltikum
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niedrigen Gehälter sein, eine These die auch bei Indrek Jürjo finden lässt.34 Des Weiteren
sind aber sicherlich auch die Streitigkeiten innerhalb des Kollegiums bedeutsam, so wie die
oben erwähnten „herrnhutischen Unruhen“ in den 1740’er Jahren. Während dieser Unruhen
wechselte auch der bisherige Kompastor der Domgemeinde, Anton Albert Vierroth um das
Jahr 1743 nach Wolmarhof (heute Valmiermužia in Lettland) und wurde später
herrnhutischer Bischof.35
Aus meiner Aufstellung ergibt sich, von den ersten Jahren nach der Wiederaufnahme
des Schulbetriebs abgesehen, dass zu keinem Zeitpunkt alle fünf regulären Lehrerstellen an
der Schule besetzt waren. Die Einrichtung muss also mit permanenten finanziellen und
zudem um 1743 religiös-dogmatischen Streitigkeiten im Lehrerkollegium zu kämpfen gehabt
haben. Dies widerspricht dem unisono in jeglicher Sekundärliteratur behauptete Satz: „Nach
Mickwitz Tod ist die Domschule, deren Einnahmen immer noch karg bemessen waren,
wieder in Verfall geraten“.36 Nur sehr selten blieb eine Lehrkraft über fünf Jahre an der
Schule – an dieser Situation änderte sich sowohl vor, als auch nach dem Tod Mickwitzs
nichts. Die Ritter- und Domschule krankte demzufolge offensichtlich die gesamte Zeit an
einer schlechten Ausfinanzierung, welche aber zu keinem Zeitpunkt einen tiefen personellen
Einschnitt bedeutete, sondern vielmehr lediglich eine hohe Fluktuation unter den Lehrkräften.
Ob die inhaltliche Arbeit nach dem Tode von Mickwitz sich wirklich enorm verschlechtert hat,
ist heute nicht mehr festzustellen. Die Struktur, welche durch ihn und die anderen Lehrkräfte
aufgebaut wurde, war dem Halleschen Modell sehr ähnlich und bestand auch nach dem Jahr
1748 weiter.
Ein nachhaltiger Einfluss von Studenten aus Halle die als Lehrkräfte des städtischen
Gymnasiums wirkten, ist indessen beileibe nicht festzustellen. Nur vereinzelt gab es
Kontakte zwischen leitenden Personen in Halle und den Lehrkräften. Ein größeres Interesse
an einen umfangreichen Briefwechsel nach Halle gab es nicht. Zudem hatten nur sehr
wenige Lehrer auch in Halle studiert – die meisten von Ihnen wurden ebenso nicht dezidiert
von dort aus angeworben. Interessant ist dann wiederrum der höhere Anteil der als Collegen
angestellten Lehrer am Gymnasium in den 1720’er bzw. 1730’er Jahren, welche Kontakte
nach Halle unterhielten; dass diese sich mit vermeintlich pietistischen Ideen gerade am
Gymnasium nicht durchsetzen konnten, zeigte bereits ein Blick auf die Struktur des dortigen
Lehrkollegiums, welches den Collegen als Lehrer der Unterklassen nur wenig Einflussnahme
auf den Schulbetrieb bot.
34 Jürjo: Bildungsreformen, S. 384. 35 Siehe Fußnote 32. 36 Jürjo: Bildiungsreformen, S. 384. Jürjo zitiert hier Plate, von dem dieser Befund in allen folgenden Abhandlungen über die Schule übernommen wurde. So auch bei Pabst/Croessmann: Beiträge zur Geschichte der ehstländischen Ritter- und Domschule, S.43.
Michael Rocher Pietistische Schulpraxis im Baltikum
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Unterrichtsgestaltung und Methode
Die Forderungen an die Pädagogik lauteten bereits im 17. Jahrhundert37, den
Unterricht ‚anschaulicher‘ und ‚fassbarer‘ zu gestalten. Eine vielleicht ewige Forderung an die
Pädagogik wenn wir über moderne Diskurse nachdenken. Das Pädagogium in Halle wie
auch später das Philanthropin in Dessau später stellten den Versuch dar, diesen Ruf aufs
angemessenste zeitgenössisch zu erfüllen.
Tabelle 4: Fächerauswahl Pädagogium38
Selecta: Philosophica selecta, Latina selecta, Theologia Selecta, Graeca selecta, Hebraica
selecta, Gallica selecta, Oratoria(germanico) selecta
Weitere Fächer: Latina I, II sup., II inf., III, IV, V, Theologia I, II, III, IV, Gallica I, II. sup., II.
inf., III, Graeca I, II., III., Hebraica I., II., Latina I privata., II. priv., III. priv., IV. priv., V. priv.,
Geografica I, II, III, IV, V, Historica I, II, III, IV, Oratoria germanico I., II., Arithmetica,
Mathematica I., II, III, Logic, Anatomica, Physica experimentalis, Physiologica
“Recreationsunterricht”: Handwerken, Orthographie, Kräuter, Lackieren, Calligraphie,
Drechseln, Glasschleiffen, Optic, Zeichnen, Pappfabrik, Metalle, Bücher, Elemente, Tempel,
Flöte, Botanic, und weitere…
Allein wenn man sich die unterrichteten Fächer, welche bereits zu Beginn des 18.
Jahrhunderts dort eingeführt wurden anschaut (siehe Tabelle 4), erscheint es schwierig ohne
eine nahe Universität dieses System in seiner Vielfalt hier im nördlichen Baltikum zu
kopieren. Dabei ist die Fächerauswahl für dieses Thema eher zweitrangig, sondern vielmehr
die aus Halle kommenden pädagogischen Besonderheiten, auf die ich im Folgenden
eingehe, welche als äußerst Personalintensiv anzusehen sind.
Zunächst ist für das Pädagogium festzustellen, dass die Schüler dort nicht wie
gewöhnlich in Jahrgängen unterrichtet wurden, sondern innerhalb eines
Fachklassensystems. Das bedeutete im Idealfall, dass jeder Schüler in dem Unterricht saß
der seinen Fähigkeiten entsprach. Ein Schüler, der beispielweise sehr gut in Latein war,
besuchte dann dort die Prima Klasse, derselbe Schüler war jedoch in Mathematik wesentlich
schlechter und besuchte dann wiederum nur die Klasse auf dritthöchstem Niveau, also die
Tertia. Bei den zahlreichen Unterrichtsangeboten hatten insbesondere die Eltern ein
enormes Mitspracherecht welche Fächer der eigene Zögling lernen sollte. Zudem gab es
37 Besonders bei Jan Amos Comenius. Ehrenhard Skiera Reformpädagogik in Geschichte und Gegenwart: eine kritische Einführung. München, 2010, S. 36ff. 38
Archiv der Franckeschen Stiftungen (AFSt)/ Schularchiv (S): A, I, 123. Diese Zusammenstellung ist aus den 1740’er bis 1760’er Jahren und nur eine Übersicht, einzelne Angebote konnten sich von Halbjahr zu Halbjahr ändern.
Michael Rocher Pietistische Schulpraxis im Baltikum
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sogenannte „Recreationsstunden“, in denen die Schüler zwischen einzelnen Fächern wie:
‚Bücher‘, Drechseln‘, ‚Papparbeiten‘ oder im Sommerhalbjahr auch ‚Botanic‘ wählen konnten.
In den Schulprogrammen, welche für alle drei von mir untersuchten Schulen in Riga
und Reval vorlagen, ist festzustellen, dass es am Gymnasium in Reval wie auch am Lyceum
in Riga bis Ende des Jahrhunderts kein solches Fachklassensystem gab. In der
Schulordnung des Gymnasiums von 1768 wird explizit angegeben, was ein Schüler in allen
Fächern wissen musste, um bis ins nächste Jahr versetzt zu werden.39 Dies war ebenso am
Lyceum in Riga der Fall. Auch ein umfangreicher Recreationsunterricht muss
ausgeschlossen werden, da er an keiner Stelle erwähnt wird.
Für die Ritter- und Domschule ist kein solches Schulprogramm für die Zeit Mickwitz
vorhanden, erst mit der Reform 1768 gab es mehrere solcher programmatischer Schriften.
Auch welche Fächer unterrichtet wurden, lässt sich erst ab 1768 bestimmen. Die
Fächerauswahl unterscheidet sich dabei nicht grundsätzlich von der des Gymnasiums.
Recreationsstunden und handwerklichen Unterricht scheint es auch nach 1768 nicht
gegeben zu haben.
Es gab aber vermutlich ab 1768 dann ein Fachklassensystem, wie ein Zitat des
Direktors Johann Bernhard Heinrich Göbel beweist:
"Die lateinische Sprache muß nicht mehr der Maasstab seyn, nach welchen die Klassen
untereinander gemessen werden. Ein jeder muß sich des Unterrichts in denselben, nach seiner
Absicht bedienen dürfen: und eben deswegen muß der gesamte Unterricht so verrtheiltseyn, daß ein
jeder das, was er zu lernen hat, just zu der Zeit lernen könne, da er es lernen muß. Es ist sehr leicht
möglich, daß ein Jüngling in gewissen Disciplinen gut fortkommen, und andere vielleicht in allem
übertreffen könne, ohne es ihnen just im lateinischen gleich zu tun: und warum solte man ihn da
aufhalten, wo er mehr vermag?"40
Dies bestätigt so auch Jürjo, indem er den Kurator und Gouvernementsmarschall
Kursell zitiert, welcher das fehlende starre Klassenystem hervorhob und demgegenüber das
an der Schule praktizierte „Fachprinzip“ betont.41 Jürjo fügt dazu ergänzend hinzu: „An dem
Fachprinzip des Unterrichts hat man festgehalten, doch man gestattete den Schülern nicht,
ihren Stundenplan völlig frei und willkürlich zusammen zu setzen.42 Ein Fachklassensystem
war durchaus schwierig in die Praxis umzusetzen und für die Umsetzung am Pädagogium,
wie auch später für das Philanthropin, hat die Forschung dazu bisher keine Antworten aus
dem Schulalltag präsentieren können.
39 TLA.230.1.Bp 14, Verordnung für das Gymnasium vom 29. Februar 1768, S. 57ff. 40 Johann Bernhard Heinrich Göbel: Grundsäzze der Erziehung. In Verbindung mit einem Plane der akademischen Ritterschule zu Reval, Reval, 1774, S.7. 41 Jürjo: Bildungsreformen und –diskussionen in Reval, S. 403f. 42 Ebd., S. 408.
Michael Rocher Pietistische Schulpraxis im Baltikum
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Allgemein ist für die Halleschen Schulen zu betonen, dass sich die pädagogische
Konzeption dadurch auszeichnete, weg vom Auswendiglernen des Unterrichtsstoffes, hin zur
eigenen Wiederholung des Erlernten durch den Schüler zu gehen. Diese Methode wurde
„Katechese“ genannt.43 Ebenso waren die bereits erwähnte Anschaulichkeit im Unterricht
und auch eine auf die Schüler zugeschnittene Einteilung des Unterrichtsstoffes von oberster
Priorität. Die Schüler sollten also möglichst das Erlernte behalten und anwenden. Hier war
insbesondere der Realienunterricht von Bedeutung. Dabei ging es nicht nur um den Einsatz
von Instrumenten, Bildern, Präparaten oder Landkarten. Das Pädagogium versuchte eng mit
seiner städtischen Umgebung zu kooperieren. Handwerklicher Unterricht wurde meistens in
Kooperation oder in den Werkstätten ansässiger Handwerker gegeben. Ebenso waren auch
Spaziergänge beliebt. Hierbei war der Übergang zum Recreationsunterricht fließend.44
Für die Unterrichtsmethodik wurde bereits bei den Theologiestudenten in Halle
großen Wert darauf gelegt, dass sie die Methode der „Katechese“ beherzigen.45 Also das
Erlernte regelmäßig zu wiederholen - um es zu festigen. Des Weiteren wurde immer wieder
die Anschaulichkeit des Unterrichts hervorgehoben. So sollten sinnvolle Einheiten kombiniert
werden, wie beispielsweise die Verwendung geographischer Karten im Geschichtsunterricht.
Die Frage die hierbei bestehen bleibt ist, ob all diese Methoden nun genuine Erfindungen
aus Halle waren, was ich in Zweifel ziehen möchte. Sie wurden bereits, wie oben bereits
angegeben, beispielsweise bei Comenius im 17. Jahrhundert so formuliert. Das Pädagogium
in Halle ist also vielmehr nur ein Ort der Überführung dieser Ideen in die Praxis.
Die katechetische Methode lässt sich besonders gut im handschriftlichen
Schulprogramm von Johannes Loder für das Lyceum in Riga erkennen.
„Repetitio. In einem deutschen Gespräche zweyer Scholaren, oder in einer deutscher Erzählung wird
wiederholet vor dem Schluß dieser Stunde was den ganzen Vormittag gelernt worden ist. Die
Scholaren müsten dabei angewiesen werden, daß sie ohne Furcht, ordentlich, und mit geziehmender
Bescheidenheit, etwas vorstellen lernen. Mit Dancksagung zu Gott, und mit einem kurzen Anfang wird
hierauf geschloßen.“46
Solche „Repetionen“ sollten jeweils in allen Klassenstufen nach dem Unterrichtsblock
am Vormittag stattfinden, immer nach dem gleichen Muster.47
43 Oberschelp: Das Hallesche Waisenhaus, S. 69f. 44 Gertrud Zapernick: Kurzer Bericht zum Pädagogium Regium 1695-1784. In: Schulen machen Geschichte. 300 Jahre Erziehung in den Franckeschen Stiftungen zu Halle, Halle, 1997, S. 67ff. 45 Oberschelp, S.70. 46 Historisches Staatsarchiv Lettland (Latvijas Valst vestures arhivs), weiterhin LVVA: LVVA 4038.2.1003, Bericht zum Lyceum, S. 7 47 Ebd., S. 8ff.
Michael Rocher Pietistische Schulpraxis im Baltikum
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Auch der Anspruch der Anschaulichkeit lässt sich gut aus dem Programm
herauslesen, so im folgenden Beispiel aus dem Geschichtsunterricht in der zweithöchsten
Klasse:
„Des Herrn von Puffendorf Einleitung zur Historie der vornehmsten Reiche und Staaten in Europa, bis
auf den Badischen Friede vermehret, 4 Theile in 8[Octav]. Franckfurt 1719, ist für diese Lection gut:
So woll des deutschen Styli wegen, auf den bey hiesigen Scholaren immer muß Sorgfalt seyn; als
auch darum, weil dieser große Historicusfidem hat. Geographie und Land=Charten, genealogische
Fragen und Tabellen, sind immer dabeynöthig.“48
Dieser Form des Unterrichts ist sowohl für das Gymnasium spätestens ab 1768
nachweisbar49, aber sicherlich bereits zuvor angewendet worden und für die Ritter- und
Domschule ab den 1720’er Jahren anzunehmen. In diesem Punkt formulierten alle drei
Schulen den gleichen Anspruch. Es bleibt trotzdem die Frage, ob dies tatsächlich in der
Praxis täglich so durchgeführt werden konnte, da meistens weitere Faktoren hineinspielten.
Schulprogramme bilden an sich hierbei immer eine Quellengruppe, die mit Vorsicht zu
genießen ist, da sie versuchen eine Idealform darzustellen, die in der Realität nur schwer
erreichbar war.
So war die finanzielle Ausstattung der Schulen im 18. Jahrhundert immer wieder
problematisch, wie folgendes Beispiel zeigt:
„Es wurde hiernächst das unter dem 12ten May 1764 von H. Professor Siegell eingelieferte
Verzeichnis von den anzuschaffenden Instrumenten perlustriert und demselben und dem
Rathsverwandten Nottbeck aufgetragen wegen deren Anschaffung so wohl als wegen Ausbeßerung
der schadhaften Instrumente vorläufig nach Leipzig zu corespondieren und sich der Preisen zu
erkundigen."50
Das Protokoll stammt aus dem Jahr 1768. Es dauerte in diesem Fall über vier Jahre,
bis die von Professor Siegel vorgeschlagenen Ausbesserungen der alten Geräte und die
Anschaffung neuer Instrumente realisiert wurde.
Dabei ist davon auszugehen, dass dies kein Einzelfall war, der nur auf das
Gymnasium zutraf. Materialen für den Realienunterricht kosteten viel Geld und mussten
meist aus weit entfernten Gebieten bestellt werden.
48 LVVA 4038.2.1003, Bericht zum Lyceum, S. 13. 49 Mit der bereits zitierten Verordnung: B.p. 14, S. 4 – 45 – Über die Lehrart. 50 TLA.230.1.Bp13, Protocollum vom 12. May 1768, S. 21.
Michael Rocher Pietistische Schulpraxis im Baltikum
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Schüler und deren Disziplin
Kommen wir deshalb nun zu dem letzten Untersuchungsgegenstand, den Schülern
der höheren Schulen Revals. Ich hatte zuvor von den Faktoren gesprochen, welche den
Schulalltag beeinflussen. Diese sind neben der Infrastruktur und den finanziellen Mitteln
natürlich auch die Zusammensetzung und Disziplin der Schülerschaft. Dabei haben wir es
hier mit Schülern zweier unterschiedlicher Stände – Adel und Bürgertum - zu tun.
In der Forschung zum Pädagogium in Halle überwog lange ein negatives Bild, was
die Disziplin der Schüler anging. Dies wurde anhand des Standesunterschiedes zwischen
den bürgerlichen Lehrern und den vielen adligen Schülern ausgemacht, wobei die Annahme
war, dass adligen Schüler sich nicht von „bürgerlichen“ Lehrern zurechtweisen ließen. Ich
kann vorweg sagen, dass auch hier sind „Adel“ und „Bürgertum“ zu große Kategorien bilden.
Ebenso wurde dieses vereinfachende Forschungsurteil in neueren Arbeiten stark hinterfragt.
Der bereits zitierte Oberschelp konnte zuletzt nachweisen, dass das größte Problem nicht
der Standesunterschied war, sondern vielmehr der Anspruch der 24- stündigen Aufsicht. Am
Pädagogium gab es jeweils eine Aufsichtsperson für eine Wohnung mit mehreren Schülern.
Die Schüler hatten kaum eigenen Freiraum und waren ständig unter Beobachtung der Lehrer
oder der Aufseher. Dies brachte natürlich Konflikte mit sich. 51
Was die Schülerschaft der Revaler Schulen betrifft, bestand eine ähnliche Situation
nur am Pensionat der Ritter- und Domschule ab 1768, auf welche ich hier kurz eingehe. In
einem erst kürzlich erschienenen Aufsatz anlässlich einer Tagung im Jahr 2011 in Riga zur
dortigen Domschule, schrieben Maria Tilk und Vadim Ruok, dass die Schule ab 1765 in eine
„standesgemäße geschlossene Bildungsstätte für adlige Schüler“ verwandelt habe.52
Ich habe hierzu ein Schülerverzeichnis aus den Anfangsjahren nach der
Umgestaltung der Schule im Jahre 1768 finden können, indem die vier Professoren 1771
Antwort auf die Frage geben: „Hat die Ritterschule in den letzten diesen Jahren Nutzen
gestiftet?“53
Es wird dort ein Verzeichnis aller Schüler wiedergegeben, welche bis Januar 1771 die
Schule besuchen und besuchten seit dem Jahr 1768. 38 davon gingen dort zur Schule, ohne
in der Pension zu sein. Die Pension war jungen adligen Schülern vorbehalten, von der
Ritterschaft war vorgesehen, dass dort Kinder ärmerer Landadliger untergebracht werden,
51 Oberschelp: Das Hallesche Waisenhaus, S. 204ff. 52 Maria Tilk und Vadim Rouk: Zur Geschichte der Tallinner Domschule. In: Rigas Domskola un izglitibas pirmsakumi. Skolu Vesture Igaunija un Lietuva, hrsg. von Baltijas Pedagogijas vesturnieku asociacija Riga, 2011, S. 174. 53 Das Verzeichnis ist ein Bestandteil einer ganzen Akte: Eesti Ajaloomuseum (im weiteren Verlauf EAM): 34.2.99, Blatt 6 - 14: Einzelner Bericht aus dem Konvolut: „Auszüge der Landtags-Protokolle in Betreff der Unterhaltung der Ritter und Domschule, der Massregeln zur besseren Ordnung in der Pension, der gegenseitigen Beziehungen zwischen Pension und Domschule, eine Abhandlung und Verzeichnis der Schüler, ihres Abgangs usw., Text einer Eidesleistung bei dem Antritt des Schulamtes bei der Ritter und Domschule und eine Instruktion: Was denen Hn. Informatoribus im Pädagogio zu beobachten".
Michael Rocher Pietistische Schulpraxis im Baltikum
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welche sich keine privaten Hauslehrer leisten konnten.54 In dieser Pension wiederum waren
es 22 Schüler. Von den erstgenannten 38 Schülern entstammten nur 18 dem Adel, 20
Schüler kamen aus dem Bürgertum. Damit waren immerhin ein Drittel der Schüler zu diesem
Zeitpunkt Bürgerliche. Zudem wird in der Quelle auch des Öfteren auf den Unterschied
zwischen Pension und Schule abgestellt. Erst mit der Pension gemeinsam wird sie zu einer
in der Mehrzahl von Adelssöhnen besuchten Schule, aber sie wurde nach wie vor auch von
einem großen Anteil von Bürgerssöhnen besucht.55
Die Ritter- und Domschule ist also in Hinsicht auf das Pensionat eventuell mit dem
Pädagogium vergleichbar und den dort herrschenden Problemen hinsichtlich des
Anspruches der ständigen Aufsicht der Schüler. Dieser Eindruck wird noch bestärkt durch
Erik Thomsons 1969 erschienene Monographie „Geschichte der Domschule 1319 – 1939“,
indem dieser Paul Blosfeld, einen Direktor der Schule um 1920, anführt: „[Mit Gründung der
Pension, M.R.] trat das Schmerzenskind ins Leben, […] das der Schule fast hundert Jahre
lang viele Sorgen bereitet hat.“
Ein Blick auf die Schülerliste bestätigt dann jedoch ein anderes Bild. Neben den
Namen und ihren Eintritt und Weggang aus der Ritter- und Domschule, hielten die Lehrkräfte
in dem oben genannten Verzeichnis ebenso die Disziplin der Schüler fest. Von den
Einträgen zu allen 60 Schülern dieses Zeitraumes, bekamen 14 Schüler Mangel im Fleiß
oder schwerere Verfehlungen bescheinigt. Von diesen 14 waren nur 4 Schüler der Pension.
Auch bei den schweren Disziplinarverstößen, also solche, die zum Verweis oder Weggang
aus der Schule führten, bestätigt sich dieses Bild56:
Tabelle 5: schwere Disziplianrverstöße Ritter- und Domschule
Außerhalb der Pension: Innerhalb der Pension:
1. 13. in der 2.ten Classe. Ihre Ausschweiffungen
machten es nothwendig, beiden 1769 das Consilium
abeundi zu geben, und das revalsche Gymnasium
konnte den Älteste so wenig bessern, daß es sich ihn
ebenfalls relegieren müßte
11. v. Mullern in die 4te Classe. Aus
Überzeugung, daß er in die Pension
Unordnungen anrichtete, und in der Ritterschule
nichts lernen wollte, ward er aus beiden im Jul.
1770 genommen.
2. 14. v. Gersdorff. Siehe oben.
3. 22. Holz. 1768 in der 2ten Classe. Seine
Wiederspenstigkeit wurde endlich so groß, daß, als er
deswegen bestraft werden sollte, er die Ritterschule
verlies, in das revalsche Gymnasium ging, und von da
im vorigen Jahr nach Universitates reißte.
54 Jurjö: Die Bildungsreformen und –diskussionen in Reval, S. 369. 55 EAM: 34.2.99, Blatt 8-11: Bericht „Hat die Ritterschule in den letzten diesen Jahren Nutzen gestiftet?“ 56 Ebd., Blatt 8-11.
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4. 30. Baron v. Ungern-Sternberg. 1768 in der 2ten
Classe. Seine Nachlässigkeit und seine Unarten, die
nicht länger geduldet werden konnten, nöthigten ihn
1769 abzugehen. Vor kurtzen excludierte ihn die
Dorpater Stadtschule.
Die Schüler in der Pension waren disziplinarisch weniger auffällig, als die Schüler,
welche nicht im Pensionat untergebracht waren, auch dann nicht, wenn man das
unterschiedliche Zahlenverhältnis der beiden Schulteile ins Verhältnis zueinander setzt. Dies
lässt freilich keine Schlüsse für weitere Probleme im Pensionat in der Folgezeit zu, lässt aber
zumindest erkennen, dass schwere Disziplinarverstöße bei beiden Schülergruppen zu finden
waren.
Zu den Disziplinierungsmechanismen vor der Umgestaltung der Ritter- und
Domschule im Jahre 1768 sind leider keine Quellen überliefert. Es ist aber davon
auszugehen, dass diese Mechanismen ähnlich funktionierten, wie an anderen Schulen auch.
Am Pädagogium verfassten die Lehrkräfte sowie die Aufseher ebenso einzelne Bewertungen
über die Schüler, was ihre Hygiene, Kleidung, aber eben auch Fleiß im Unterricht betraf.57
Diese waren im Vergleich zu den oben präsentierten Verzeichnissen der an der Ritter- und
Domschule wesentlich ungenauer. Es wurden nur einzelne schwere Fälle auf Konferenzen
behandelt58, ähnlich „Buch“ über jeden einzelnen Schüler wurde aber bis in die 1770’er Jahre
nicht geführt.
Ähnlich verlief die Disziplinierungspraxis ebenso am städtischen Gymnasium Revals.
Bei schweren Disziplinarverstößen der Schüler wiederum folgten sofortige Besprechungen
der Lehrer. Beispiele hierfür sind in den Protokollen des Gymnasiums Strafen wie ein
mehrtätiger Aufenthalt im Karzer oder öffentliche Abbitten vor allen Schülern und Lehrern
vorhanden.59 Solche Maßnahmen stellten aber äußerst seltene Ausnahmen dar und sind
nicht ungewöhnlich für die Zeit. Auch am Pädagogium gab es noch den Karzer als
Strafmaßnahme.60 An der Ritter- und Domschule gibt es Belege für eine Rutenstrafe nach
1770.61
Schlussendlich ist keine besondere Problematik mit einer allzu schlechten Disziplin
an den Schulen Revals zu erkennen, die geringe Anzahl von Fällen aus dem untersuchten
Zeitraum lässt hier keinen anderen Schluss zu. Es ist jedoch erkennbar, dass sich auch in
Reval im 18. Jahrhundert eine Entwicklung analog zum Pädagogium und Philanthropin
57
AFSt/S A, I, 199 (Beurteilungen von Scholaren). 58 Oberschelp: Das Hallesche Waisenhaus, S. 172ff. 59 Ein sehr ausführlicher Fall findet sich um Professor A. Mickwitz und einem Primaner namens Grewe, der aufgrund der Länge hier nicht zitierbar ist. TLA.230.1.Bp 13, Protokolle der Jahre 1763 – 1796. Protocollum 12. May 1768, S. 22 – 28. 60 Oberschelp, Das Hallesche Waisenhaus, S.210ff. 61 Jürjo: Die Bildungsreformen und –diskussionen in Reval, S. 397.
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vollzieht. An allen Schulen findet eine zunehmende Dokumentierung der Disziplin der
Schüler statt. Das oben erwähnte Schülerverzeichnis ist ein Ausdruck davon, ab dem Jahre
1784 werden zudem auch am Gymnasium sogenannte Conduiertenlisten62 eingeführt,
welche unter Anderem den Fleiß und die Aufmerksamkeit jedes Schülers im Unterricht
dokumentieren. Das Philanthropin in Dessau führte beispielsweise ein umfangreiches
Meritenbuch, mit Lob und Tadeln zu jedem einzelnen Schüler, ähnliches wird dann ab 1786
auch am Pädagogium der Franckeschen Stiftungen eingeführt.63 Diese Entwicklung setzt
dabei eindeutig am Ende des 18. Jahrhunderts ein und entspricht dem gewissermaßen dem
damaligen Zeitgeist.
Fazit & Ausblick
An dieser Stelle komme ich also noch einmal auf die anfänglichen Thesen zur
Ausstrahlung von Oberschelp, sowie Tröhlers Einschränkung dazu, dass die Fokussierung
auf den „Pietismus“ als Wirkungsgeschichte relativiert werden müsste, zurück:
1. Als Initiatoren von Schulreformen waren die im Halleschen Waisenhaus ausgebildeten Lehrer weitgehend
bedeutungslos.64
Von den von mir untersuchten Schulen weicht also eine von den bisherigen
Forschungsergebnissen, welche die Ausstrahlung der Halleschen Schulpraxis betreffen, ab.
Für die Ritter- und Domschule ist eindeutig eine Schulreform durch einen in Halle
ausgebildeten Lehrer zu erkennen, die sich in wesentlichen Punkten mit dem Pädagogium
der Franckeschen Stiftungen deckt. Dies betrifft vor Allem die Schulstruktur. Das Gymnasium
schien besonders in den 1720’er und 1730’er Jahren ein Gegenpol zur Ritter- und
Domschule gewesen zu sein. Der zweite Aspekt ist die Funktionsweise der Kommunikation
zwischen der Außenstelle in Reval und dem Zentrum in Halle. Diesen übernahm in diesem
Fall die Spitze - also der Pastor und sein Kompastor, der zu der Schule gehörigen
Kirchgemeinde. Die Lehrer, welche selbst weniger Kontakt nach Halle unterhielten, hatten
trotzdem dort ihre Ausbildung erhalten und wurden verstärkt von dort aus angeworben.
2. Die Reformbestrebungen pietistischer Lehrer und Geistlicher zielten vor allem auf Unterrichtsinhalte und
weniger auf geistliche Prägung.65
Anhand der wenigen vorhandenen Quellen zur Ritter- und Domschule vor 1768 ist
eine Antwort zu Oberschelps zweiten Punkt schwierig. Es ist davon auszugehen, dass
62 TLA.230.1.Bp13, verschiedene Blätter am Ende der Akte. 63 AFSt/S A, I, 213. Reliquae Philanthropini (Nachlass Philanthropin): I, 2 (Meritenbuch). 64 Siehe Fußnote 4. 65 Siehe Fußnote 4.
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gerade ein umfassendes pietistisches Schulsystem wie es hier mit höherer Schule,
Waisenhaus und Mädchenschule vorhanden war, auch versucht wurde im pietistischen
Sinne die Schüler durch zu prägen. Dies erfolgte weitestgehend durch Morgenandachten,
Dankgebete und vor Allem das Auswendiglernen protestantischen Schriftgutes, wie es in
dem Schulprogramm von Johann Loder erkennbar ist. Grundsätzlich zählt hier aber Tröhlers
Einwand – es ging zusätzlich auch um allgemeine Veränderungen der Lehrpraxis, die nicht
unbedingt „pietistisch“ per se war. Gerade in dem Punkt meiner Untersuchung zur
Unterrichtsgestaltung und Methodik wurde nämlich deutlich, dass gar nicht so sehr von einer
„pietistischen“ Unterrichtsführung und Gestaltung, bis auf die eben genannten Punkte der
„christlichen“ Elemente des Unterrichts, gesprochen werden kann. Der Punkt der Methodik
ist zu sehr abhängig von den Bedingungen, welche in den jeweiligen einzelnen Schulen
vorherrschten. Es ist davon auszugehen, das im Verlauf der 18. Jahrhunderts, mehr oder
minder ähnliche Ideale für die Schulpraxis formuliert wurden – wie diese in der Wirklichkeit
ausgestaltet wurden, ist dabei eine spezifische Fragestellung für jede einzelne Schule. Es ist
also festzuhalten, dass in diesem Zusammenhang die Fokussierung auf pädagogische
Strömung des „Pietismus“ weniger bedeutsam ist und eher von einer Allgemeinen
Entwicklung der Pädagogik im 18. Jahrhundert die Rede sein muss.
3. Im Verhältnis von Pietismus und Aufklärung sollten statt der trennenden stärker die verbindenden
Elemente betont werden.66
Oberschelps dritte These schwingt in diesem Aufsatz nur zwischen den Zeilen mit,
aber allein meine bisherigen Recherchen im Rahmen meines Dissertationsvorhabens zum
Schulalltag am Philanthropin Dessau als „Musterschule der Aufklärung“ und dem des
Pädagogiums lassen keine allzu großen Unterschiede erkennen, mit Ausnahme der
Disziplinierungsmechanismen, welche sich am Philanthropin zunächst wesentlich
tiefgreifender waren, als am Pädagogium der Franckeschen Stiftungen. Und auch anhand
dieser Untersuchung, welche sich im zeitlichen Zwischenraum zwischen beiden Strömungen
befand, lassen keine völlig neuartigen pädagogischen Entwicklungen an den hiesigen
Schulen erkennen.
Abschließend möchte ich einen Blick auf weitere bisher wenig beachtete
Forschungsfelder wagen. Das gesamte Schulwesen im Dombezirk Revals war durch die
Schulpraxis aus Halle beeinflusst. Zahlreiche Quellen zur Ritter- und Domschule sind zwar
verloren gegangen, aber zum Waisenhaus, wie auch zur Mädchenschule konnte ich im
Stadtarchiv das private Kirchenbuch67 aufspüren, in welchen Mickwitz alle Schüler und
66 Siehe Fußnote 4. 67 TLA.237.1.21, „Privat Kirchen-Buch von besondern Umständen der Gemeinde zur eigenen Nachricht angefertigt. Reval, anno 1724" (1724 – 1831) – begonnen von Christoph Friedrich Mickwitz.
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Schülerinnen des Waisenhauses und der Mädchenschule vermerkte. Diese Verzeichnisse
wurden bisher noch nicht ausgewertet.
Aus den Korrespondenzen in Halle erschließen sich weitere, nicht berücksichtigte
Forschungsfelder. Dies betrifft in erster Linie das Waisenhaus in Alp, dessen Geschichte
bisher weitgehend im Dunkeln liegt.
Ein wesentliches größeres Forschungsfeld wäre dann das, welches ich am Ende
ansprechen möchte. Das Verhältnis von pietistischer Schulreform und der anschließenden
Herrnhuter Bewegung, welche neue Landschulen für die estnisch- und lettischsprachige
Bevölkerung im nördlichen Baltikum gründete, welche hier in Estland teilweise unversöhnlich
aufeinander stieß. Dabei liegt ein wichtiger Fokus auch auf das Verhalten der Oberschicht zu
beiden Phänomenen. Wer waren die Adligen die pietistische Reformen und später
herrnhutische Reformen unterstützen, die beide auf eine Besserstellung der estnisch- und
lettischsprachigen Bevölkerung, welche meist Leibeigene der adligen Gutbesitzer waren und
nur wenig Rechte hatten? Und wer waren ihre Gegner? Denn beide Strömungen hatten
Gegner unter der adligen und städtischen Oberschicht. Ich habe dazu beispielsweise in Riga
drei große Bände Untersuchungsakten zu dieser Thematik gefunden, welche über die
„Untriebe“ der Herrnhuter, aber auch Pietisten berichtet.68
Quellen- und Literaturverzeichnis:
Quellen:
Archiv der Franckeschen Stiftungen Halle:
- AFSt H A 188b : 554 2: Brief von Christoph Friedrich Mickwitz an Joachim Lange vom 12.06.1738
- AFSt/S: A, I, 123
- AFSt/S A, I, 199
- AFSt/S A, I, 213
- Franckesche Stiftungen zu Halle (Saale) / Datenbank zu den Einzelhandschriften in den historischen
Archivabteilungen – http://192.124.243.55/cgi-bin/gkdb.pl
Talinner Stadtarchiv (Talinna Linnaarhiiv) - TLA:
- 230.1.Bp 13
- 230.1.Bp 14
- 237.1.21
Eesti Ajalooarhiiv – Estnisches Historisches Archiv in Tartu - EAA:
- Bestand 854.2.2720
Eesti Ajaloomuseum - EAM:
- Bestand 34.2.99
68 LVVA: Fond 1395, Findbuch 1, Akten 737 – 739.
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Historisches Staatsarchiv Lettland (Latvijas Valst vestures arhivs), LVVA:
- Fond 4038 Findbuch 2 Akte 1003
- Fond 1395, Findbuch 1, Akten 737 – 739
Nachlass des Philanthropin Dessau (Reliquae Philanthropini):
- I, 2 (Meritenbuch)
Sekundärliteratur (alphabetisch):
Ältere Sekundärliteratur aus den Baltica Beständen der Akademischen Bibliothek der Universität
Tallinn (teilweise auch als Primärquelle im Text verwendet):
- A.J. Berting: Lehrer-Album des Revalschen Gymnasiums 1631-1832, Reval, 1862
- Johann Bernhard Heinrich Göbel: Grundsäzze der Erziehung. In Verbindung mit einem Plane der
akademischen Ritterschule zu Reval, Reval, 1774
- Heinrich Wilhelm Wigand: Kurzgefasste Geschichte des zum Dome gehörenden Waisenhauses, nebst
eines Anhanges, Reval, 1777
- Ph. v. Willigerod: Das Gouvernements=Gymnasium zu Reval im 18. Und 19. Jahrhundert. In: Archiv für
die Geschichte Liv-, Esth- und Kurlands, hrsg. von Dr.. F. G. von Bunge, Bd. 1, Dorpat, 1842, S. 88 - 117
- Probst R. Winkler: Aus den Jugend- und ersten Amtsjahren des Oberpastors am Dom zu Reval –
Christoph Friedrich Mickwitz, Reval, 1908
* verwendet wurden zudem zahlreiche Lexikas des Baltica Lesesaals der Akademischen Bibliothek, wie
Petra Gottzmann und Carola Hörner: Lexikon der deutschsprachigen Literatur des Baltikums und St.
Petersburgs. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Berlin, New York, 2007
Weitere Sekundärliteratur:
- Erich Donnert: Agrarfrage und Aufklärung in Lettland und Estland. Livland, Estland und Kurland im 18.
und beginnenden 19. Jahrhundert, Frankfurt/Main New York, 2008
- Indrek Jürjo: Die Bildungsreformen und –diskussionen in Reval im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts.
In:Baltische Literaturen in der Goethezeit. Hrsg. von Heinrich Bosse (u.a.), Würzburg, 2011
- Janis Kreslins: Der Einfluss des halleschen Pietismus auf Lettland. In: Halle und Osteuropa. Zur
europäischen Ausstrahlung des halleschen Pietismus, hrsg. von Johannes Wallmann und Udo Sträter,
Tübingen, 1998, S. 145 - 156
- Peter Menck, Das „Pädagogium“ der Franckeschen Anstalten in Halle an der Saale. In: Dimensionen
der Erziehung und Bildung. Festschrift zum 60. Geburtstag von Margret Kraul, hrsg. von Andreas
Hoffmann-Ocon (u.a.), Göttingen, 2005, S. 29 - 48
- Wolfgang Neugebauer: Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit in Brandenburg-Preußen. Berlin,
New York, 1985
- Axel Oberschelp: Das Hallesche Waisenhaus und seine Lehrer im 18. Jahrhundert. Lernen und Lehren
im Kontext einer frühneuzeitlichen Bildungskonzeption, Tübingen, 2006
- Axel Oberschelp: Ausstrahlung und Gravitation von Franckes Schulen. In: Zwischen christlicher
Tradition und Aufbruch in die Moderne. Das Hallesche Waisenhaus im bildungsgeschichtlichen Kontext,
hrsg. von Juliane Jacobi, Tübingen, 2007
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- Ehrenhard Skiera: Reformpädagogik in Geschichte und Gegenwart: eine kritische Einführung. München,
2010
- Arvo Tering: Die Ausbildung der baltischen Prediger an deutschen Universitäten. In: Halle und
Osteuropa. Zur europäischen Ausstrahlung des halleschen Pietismus, hrsg. von Johannes Wallmann
und Udo Sträter, Tübingen, 1998, S.129 - 144
- Maria Tilk und Vadim Rouk: Zur Geschichte der Tallinner Domschule. In: Rigas Domskola un izglitibas
pirmsakumi. Skolu Vesture Igaunija un Lietuva, hrsg. von Baltijas Pedagogijas vesturnieku asociacija
Riga, 2011
- Daniel Tröhler: Historische Bildungsforschung zwischen narrativer Fiktion und lokaler Persistenz.
Kommentar zu Axel Oberschelps „Ausstrahlung und Gravitation von Franckes Schulen“, in: Zwischen
christlicher Tradition und Aufbruch in die Moderne. Das Hallesche Waisenhaus im
bildungsgeschichtlichen Kontext, hrsg. von Juliane Jacobi, Tübingen, 2007, S. 139 – 145
- Gertrud Zapernick: Kurzer Bericht zum Pädagogium Regium 1695-1784. In: Schulen machen
Geschichte. 300 Jahre Erziehung in den Franckeschen Stiftungen zu Halle, Halle, 1997, S. 67 –82