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Pietistische Schulpraxis im Baltikum Eine Untersuchung über den Export der Schulpraxis des Pädagogiums der Franckeschen Stiftungen in die höheren Schulen Tallinns(Reval) und Riga Der vorliegende Text beschäftigt sich explizit mit der Frage: Gab es eine Ausstrahlung, also einen „Export“ der Schulpraxis des Pädagogiums Halle in die beiden russischen Ostseegouvernements Estland und Livland im 18. Jahrhundert? Dabei bilden den Schwerpunkt dieser Untersuchung die etwaigen Einflüsse aus Halle auf die beiden höheren Schulen Revals im Zeitraum zwischen 1720 – 1770. Der Vergleich zum Lyceum Riga findet im Wesentlichen auf der Ebene der Schulprogrammatik statt. Der für diesen Aufsatz gewählte Zeitraum ergänzt sich mit dem posthum von Indrek Jürjo veröffentlichten Artikel zum höheren Schulwesen in Reval ab 1770 aus dem Jahre 2011. 1 Tatsächlich habe ich ähnliche Quellen wie Jürjo bearbeitet, die bisher kaum in der Forschung Verwendung fanden. Im Wesentlichen geht es mir in diesem Text um eine Aktualisierung des bisherigen Forschungsstandes. Behandelt werden, innerhalb der Fragestellung einer Ausstrahlung der Schulpraxis, die Themengebiete: Erstens, die Lehrkräfte und die Schulstrukturen der beiden höheren Revaler Schulen; zweitens, ein Vergleich der Unterrichtsgestaltung und Methodik des Lyceums in Riga und den beiden Revaler Schulen mit dem Pädagogium Halle; und drittens, ein Vergleich der Schülerschaft und deren Disziplinierung. Bevor ich zur Analyse der einzelnen Bereiche des Schulalltags komme, möchte ich kurz auf den Forschungsstand zur Ausstrahlung der Halleschen Schulpraxis eingehen. Der Export der halleschen Schulpraxis stellte in der historischen Bildungsforschung bis in Gegenwart einen Untersuchungsgegenstand dar, der selten in Publikationen thematisiert wurde. Eher wurde die hallesche Schulpraxis in ihrem Bezug zum „Pietismus“ hin untersucht, in dem die Franckeschen Stiftungen den Gravitationspunkt bildeten. Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert wurde die Vermutung geäußert, dass der „Pietismus“ mit seinen gesamten Halleschen Ausprägungen – von der Universität bis zu den Franckeschen Stiftungen – unter anderem auch das komplette preußische Schulwesen beeinflusst habe. 2 Dieser überschwängliche Befund wurde dann in den 1980’ern Jahren durch das nach wie vor sehr 1 Indrek Jürjo: Die Bildungsreformen und –diskussionen in Reval im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. In:Baltische Literaturen in der Goethezeit. Hrsg. von Heinrich Bosse (u.a.), Würzburg, 2011, S. 381 – 410. Jürjo geht auf das Philanthropin in Dessau ein, lässt aber die Dessauer Schulpraxis außen vor und bezieht sich nur auf die theoretisch-methodischen Grundlagen des Philanthropismus. 2 Axel Oberschelp: Ausstrahlung und Gravitation von Franckes Schulen. In: Zwischen christlicher Tradition und Aufbruch in die Moderne. Das Hallesche Waisenhaus im bildungsgeschichtlichen Kontext, hrsg. von Juliane Jacobi, Tübingen, 2007, S. 121f.

Pietistische Schulpraxis im Baltikum

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Pietistische Schulpraxis im Baltikum

Eine Untersuchung über den Export der Schulpraxis des Pädagogiums der Franckeschen

Stiftungen in die höheren Schulen Tallinns(Reval) und Riga

Der vorliegende Text beschäftigt sich explizit mit der Frage: Gab es eine

Ausstrahlung, also einen „Export“ der Schulpraxis des Pädagogiums Halle in die beiden

russischen Ostseegouvernements Estland und Livland im 18. Jahrhundert? Dabei bilden den

Schwerpunkt dieser Untersuchung die etwaigen Einflüsse aus Halle auf die beiden höheren

Schulen Revals im Zeitraum zwischen 1720 – 1770. Der Vergleich zum Lyceum Riga findet

im Wesentlichen auf der Ebene der Schulprogrammatik statt.

Der für diesen Aufsatz gewählte Zeitraum ergänzt sich mit dem posthum von Indrek

Jürjo veröffentlichten Artikel zum höheren Schulwesen in Reval ab 1770 aus dem Jahre

2011.1 Tatsächlich habe ich ähnliche Quellen wie Jürjo bearbeitet, die bisher kaum in der

Forschung Verwendung fanden. Im Wesentlichen geht es mir in diesem Text um eine

Aktualisierung des bisherigen Forschungsstandes. Behandelt werden, innerhalb der

Fragestellung einer Ausstrahlung der Schulpraxis, die Themengebiete: Erstens, die

Lehrkräfte und die Schulstrukturen der beiden höheren Revaler Schulen; zweitens, ein

Vergleich der Unterrichtsgestaltung und Methodik des Lyceums in Riga und den beiden

Revaler Schulen mit dem Pädagogium Halle; und drittens, ein Vergleich der Schülerschaft

und deren Disziplinierung.

Bevor ich zur Analyse der einzelnen Bereiche des Schulalltags komme, möchte ich

kurz auf den Forschungsstand zur Ausstrahlung der Halleschen Schulpraxis eingehen. Der

Export der halleschen Schulpraxis stellte in der historischen Bildungsforschung bis in

Gegenwart einen Untersuchungsgegenstand dar, der selten in Publikationen thematisiert

wurde. Eher wurde die hallesche Schulpraxis in ihrem Bezug zum „Pietismus“ hin untersucht,

in dem die Franckeschen Stiftungen den Gravitationspunkt bildeten. Im 19. und beginnenden

20. Jahrhundert wurde die Vermutung geäußert, dass der „Pietismus“ mit seinen gesamten

Halleschen Ausprägungen – von der Universität bis zu den Franckeschen Stiftungen – unter

anderem auch das komplette preußische Schulwesen beeinflusst habe.2 Dieser

überschwängliche Befund wurde dann in den 1980’ern Jahren durch das nach wie vor sehr

1 Indrek Jürjo: Die Bildungsreformen und –diskussionen in Reval im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. In:Baltische Literaturen in der Goethezeit. Hrsg. von Heinrich Bosse (u.a.), Würzburg, 2011, S. 381 – 410. Jürjo geht auf das Philanthropin in Dessau ein, lässt aber die Dessauer Schulpraxis außen vor und bezieht sich nur auf die theoretisch-methodischen Grundlagen des Philanthropismus. 2 Axel Oberschelp: Ausstrahlung und Gravitation von Franckes Schulen. In: Zwischen christlicher Tradition und Aufbruch in die Moderne. Das Hallesche Waisenhaus im bildungsgeschichtlichen Kontext, hrsg. von Juliane Jacobi, Tübingen, 2007, S. 121f.

Michael Rocher Pietistische Schulpraxis im Baltikum

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aktuelle Werk „Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit in Brandenburg-Preußen“ von

Wolfgang Neugebauer stark relativiert: „Der Pietismus beschränkte sich in seiner

Gestaltungsmächtigkeit eher auf städtische Reforminseln.“3

Axel Oberschelp, der das erste Mal 2007 Gravitations- und Ausstrahlungsprozesse

des halleschen Pietismus in einem Aufsatz bündelte, kommt zu den Schlüssen:

“1. Als Initiatoren von Schulreformen waren die im Halleschen Waisenhaus ausgebildeten Lehrer

weitgehend bedeutungslos.

2. Die Reformbestrebungen pietistischer Lehrer und Geistlicher zielten vor allem auf Unterrichtsinhalte

und weniger auf die geistliche Prägung.

3. Für den schul- und bildungsgeschichtlichen Kontext sind im Verhältnis von Pietismus und

Aufklärung statt der trennenden stärker die verbindenden Elemente und die vielfältigen Beziehungen

und Übergangsphänomene zu betonen.“4

Diesen Aussagen entgegnete Daniel Tröhler in seinem Kommentar im gleichen Band

auf Oberschelps Beitrag weitgehend zustimmend. Jedoch ist sein Vorschlag, die Fixierung

auf den „Pietismus“ als Wirkungsgeschichte, zu lösen:

„So gesehen würde es sich lohnen, den Pietismus gar nicht oder zumindest nicht primär als

Wirkungsgeschichte konstruieren zu wollen. Er müsste als historische Intention verstanden werden,

Mentalitäten und Überzeugungen zu verbreiten, der aber Widerstände erwuchsen, die auf aktives

Rezeptionsverhalten in spezifischen Kontexten hinweisen.“5

Nach diesem kurzen Rückgriff auf die Forschung, möchte ich nun meinen Ansatz für

einen Export der Schulpraxis spezifizieren: Ebenso wie Tröhler teile ich die Einschätzung,

den „Pietismus“ nicht in seiner Wirkungsgeschichte zu rekonstruieren. Mein Ansatz zielt

darauf möglichst „messbare“ Parameter einzuführen, wie ich sie in den einzelnen

Unterpunkten – Lehrkräfte und Struktur, Unterrichtsgestaltung und Methodik, sowie

Schülerschaft Disziplinierung - später aufzeigen werde. Eine adjektivische Form, wie

‚pietistisch‘, wird im Rahmen dieser Untersuchung angewandt werden, welche meinerseits

den Versuch einer offenen, unspezifischen Benennung darstellt.

Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten eines Exports von Schulpraxis, welche nur

zu einem Teil „Ideen“ sein können. Die erste Möglichkeit wäre der direkte Export von

Schulpraxis aus den halleschen Schulen in andere Regionen – in diesem Fall also nach

Reval und Riga, was anhand der Lehrkräfte und Schulstrukturen untersucht wird. Die zweite 3 Wolfgang Neugebauer: Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit in Brandenburg-Preußen. Berlin, New York, 1985, S. 545. 4 Oberschelp: Ausstrahlung und Gravitation, S. 133f. 5 Daniel Tröhler: Historische Bildungsforschung zwischen narrativer Fiktion und lokaler Persistenz. Kommentar zu Axel Oberschelps „Ausstrahlung und Gravitation von Franckes Schulen“, in: Zwischen christlicher Tradition und Aufbruch in die Moderne. Das Hallesche Waisenhaus im bildungsgeschichtlichen Kontext, hrsg. von Juliane Jacobi, Tübingen, 2007, S. 144.

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Variante ist eine indirekte Ausstrahlung – also Ideen - transportiert vorwiegend durch Bücher

und Korrespondenzen, welche sich nach Estland und Livland verbreiteten und die hiesige

Schulpraxis beeinflussten. Dies wird dann anhand der Unterrichtsgestaltung und der

Disziplinierungspraxis in den Schulen analysiert wird.

Lehrkräfte

Kommen wir zunächst zum direkten personellen Export von Schulpraxis – also den

Lehrkräften. Die Franckeschen Stiftungen bezogen ihre Lehrkräfte weitestgehend aus den

Studierenden der Universität Halle. Diese Studenten arbeiteten für freie Mahlzeiten,

sogenannte Freitische an den Schulen der Stiftungen als Lehrkräfte, erledigten aber auch

Schreibarbeiten.6 Die Lehrkräfte des Pädagogiums der Stiftungen bekamen im Vergleich zu

den anderen Schulanstalten der Stiftungen zusätzlich ein gutes Gehalt und mussten sich für

mindestens drei Jahre auf die Stelle als Lehrer (Praeceptor) verpflichten. Peter Menck

konnte dabei nachweisen, dass es mit der dreijährigen Verpflichtung nicht sehr genau

genommen wurde, denn bereits 40 % der Lehrer beendeten ihr Engagement am

Pädagogium vor den drei Pflichtjahren und 60% blieben dafür länger als drei Jahre dort. Aus

Mencks Berechnungen ergibt sich dennoch ein Durchschnitt von 3,4 Jahre, in denen die

Lehrer am Pädagogium arbeiteten.7 Es bleibt zu betonen, dass das Pädagogium eine

Durchlaufstation für Lehrkräfte war: Ihre „Karrieren“ endeten nicht an dieser Schule, wie

beispielsweise auf anderen zeitgenössischen Gymnasien.

Dieses System der Anstellung von Lehrern ist natürlich für Städte wie Reval oder

Riga, welche über keine Universitäten oder andere höhere Lehranstalten verfügten, so nicht

umsetzbar gewesen. Deshalb mussten viele Lehrer von außerhalb angeworben werden.

Dies war umso stärker zu Beginn des 18. Jahrhunderts der Fall, als das nach den

verheerenden Kriegsfolgen des Großen Nordischen Krieges, aber besonders durch die sich

anschließende Pestepidemie nach dem Jahre 1710 viele ehemalige Lehrkräfte geflohen

waren oder an der Pest starben. Aber auch die Schulstrukturen waren erheblich gestört, die

höheren Schulen Revals und Rigas mussten entweder ihren Betrieb komplett einstellen oder

stark eingeschränkt fortsetzen. Die deutschsprachigen Ritterschaften der beiden baltischen

Gouvernements, welche auch nach der russischen Machtübernahme die bestimmende

politische Instanz in den Ostseegouvernements waren, reagierten auf die durch den Krieg

hervorgerufene Verschlechterung des Schulwesens mit der Einladung und Anstellung von

Christoph Friedrich Mickwitz und Johann Loder, welche nacheinander zuvor als Hauslehrer

6 Axel Oberschelp: Das Hallesche Waisenhaus und seine Lehrer im 18. Jahrhundert. Lernen und Lehren im Kontext einer frühneuzeitlichen Bildungskonzeption, Tübingen, 2006, S. 132ff. 7 Peter Menck, Das „Pädagogium“ der Franckeschen Anstalten in Halle an der Saale. In: Dimensionen der Erziehung und Bildung. Festschrift zum 60. Geburtstag von Margret Kraul, hrsg. von Andreas Hoffmann-Ocon (u.a.), Göttingen, 2005, S. 40.

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der Familie von Campenhausen in Sankt Petersburg angestellt waren. Wichtiger ist aber der

Umstand, dass beide ehemalige Hallesche Studenten aus dem direkten Umfeld Franckes

waren, welche in der Folge zwei der wichtigsten höheren Schulen in Reval und Riga

wiederbelebten. Sie wurden von der Ritterschaft als Oberpastoren der Gemeinden berufen,

welche zwei der vier höheren Schulen in den beiden Städten betreuten. Diese beiden

Schulen dieser Kirchgemeinden wurden ebenso finanziell hauptsächlich von der Ritterschaft

und kirchliche Gemeinde getragen und zu einem kleineren Anteil von der „Krone“, also der

russischen, unterstützt.8

Die Einladung durch den Adel ist mit der Grund, warum davon auszugehen ist, dass

die bisher vor 1768 in der Forschung so bezeichnete Revaler Domschule, vermutlich bereits

seit 1724 zum Amtsantritt Mickwitz einen Namen trug, der beide an ihr beteiligten

Institutionen – also die Domgemeinde und die Ritterschaft E(h)stlands, enthielt. Für das Jahr

1738 ist in einem Brief von Mickwitz an Joachim Lange in Halle zumindest der Name

„Cathedral- und Ritterschule“ verbürgt.9 Anders als in der von Rudolf Adam Winkler

verfassten Schrift „Aus den Jugend= und ersten Amtsjahren des Oberpastors am Dom zu

Reval Christoph Friedrich Mickwitz“ aus dem Jahr 1908 ist nicht davon auszugehen, dass die

Einladung durch den Adel zufällig geschehen sei.10 Das zwei Personen aus dem näheren

Umfeld Franckes in Halle, Loder und Mickwitz, durch Zufall an zwei der damalig wichtigsten

landesherrlichen Pfarrstellen Estlands und Livlands kamen, ist auszuschließen. Näher liegt

der Verdacht, dass ihre Anstellung durch Johann Balthasar von Campenhausen, sowie

durch den Einfluss weiterer Adliger erwirkt wurde. Eine Gruppe von Adligen warb also

dezidiert pietistische Pfarrer an, um das vom Großen Nordischen Krieg noch verheerte

Schulwesen wieder aufzubauen. Dieser Vorgang ist insofern für Estland und Livland

bemerkenswert, da einige pietistisch gesinnte Pfarrer in einem Widerspruch mit den Adligen

in Bezug auf die leibeigene Landbevölkerung gerieten, da sie ebenso Schulen für estnisch-

und lettischsprachige Schüler gründeten, religiöse Bücher übersetzten und damit mit den

Grundstein für die kulturelle Emanzipierung der estnisch- und lettischsprachigen

Bevölkerung legten. Für die deutschsprachigen Adeligen, bildeten die Leibeigenen eine

wichtige Machtbasis, welche einige durch das sich entwickelnde Schul- und Gemeindewesen

8 Arvo Tering: Die Ausbildung der baltischen Prediger an deutschen Universitäten. In: Halle und Osteuropa. Zur europäischen Ausstrahlung des halleschen Pietismus, hrsg. von Johannes Wallmann und Udo Sträter, Tübingen, 1998, S. 134ff. 9 Brief vom 12.06.1738: AFSt H A 188b : 554, Blatt 2. Wichtig ist hierfür vor Allem der Beleg, dass der Einfluss des Adels auf die Schule bestätigt wird. Diese Stelle belegt aber auch, dass die Schule zum damaligen Zeitpunkt bis zur Reform 1765 eher den Namen „Dom- und Ritterschule“ trug. Der Einfachheit belasse ich aber die Benennung „Ritter- und Domschule“ in diesem Text. 10 Probst Rudolf Adam Winkler: Aus den Jugend- und ersten Amtsjahren des Oberpastors am Dom zu Reval – Christoph Friedrich Mickwitz, Reval, 1908, S. 7.

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gefährdet sahen.11 Diese Thematik kann ich im Rahmen dieses Aufsatzes mit diesem kurzen

Hinweis jedoch nur angedeutet lassen.

Um den Erfolg, beziehungsweise Misserfolg, dieses Unternehmens beurteilen zu

können, möchte ich zunächst auf die Veränderung der Schulstrukturen in den Jahren nach

dem Amtsantritt Mickwitz 1724 in Reval eingehen. Das Wirken von Loder in Riga kann ich an

dieser Stelle nicht untersuchen, da hierzu die nötigen Quellenbestände fehlen. Anschließend

werde ich dann eine Analyse der Lehrerschaft an den beiden höheren Schulen Revals

durchführen; also der Ritter- und Domschule an der Mickwitz wirkte, sowie dem städtischen

Gymnasium, welches von der Stadt verwaltet wurde und durch diese und dem Landesherrn

finanziert wurde. Im Laufe dieser Untersuchung wird von mir immer wieder der Rückbezug

auf die Hallesche Schulpraxis am Pädagogium hergestellt um beurteilen zu können,

inwiefern ein Export der Schulpraxis stattfand oder verneint werden muss.

Eduard Pabst und Friedrich Croessmann, welche 1869 eine ausführliche Geschichte

der Ritter- und Domschule zum 550-jährigen Jubiläum dieser Schule verfassten, konnten

noch auf Quellen zugreifen die heute nicht mehr vorhanden sind. Laut ihren Angaben

bestand das Schulkollegium im Dombezirk aus den fünf Lehrern der Domschule12, dem

Oberpastor als Scholarchen sowie dem Kompastor.13 Es ist aufgrund der Quellenangabe14

von Pabst/Croessmann durchaus plausibel, dass es an dieser Schule wöchentliche

Schulkonferenzen gab, in denen Lehrer Probleme und Vorstellungen hineintragen konnten

und in die die Schulaufsicht seitens der beiden Pastoren ihre Ansprüche an die Lehrkräfte

formulierte. Auf diesen Konferenzen waren die Lehrer in der Mehrheit und konnten also

durchaus selbst über die Unterrichtsinhalte beraten und entscheiden, ein Mitspracherecht

der Ritterschaft blieb wohl vor Allem bei Neueinstellungen von Lehrern.15

Dies weist eine starke Ähnlichkeit mit dem Pädagogium in Halle auf. Das Kollegium

des Pädagogiums bestand im Vergleich hierzu ebenso aus den jeweilig tätigen Lehrern

sowie dem Inspektor, welcher selbst keine Schüler unterrichtete. Das wichtigste Element

analog zu den anderen Schulen der Franckeschen Stiftungen bildeten hierbei die

11 Zu nennen ist hier insbesondere das Waisenhaus in Alp, welches aus Halle mit Lehrern „versorgt“ wurde, wie auch die Bemühungen der v. Hallarts in Wolmarhof, welches später ein herrnhutisches Bildungszentrum in Livland wurde. Janis Kreslins: Der Einfluss des halleschen Pietismus auf Lettland. In: Halle und Osteuropa. Zur europäischen Ausstrahlung des halleschen Pietismus, hrsg. von Johannes Wallmann und Udo Sträter, Tübingen, 1998, S. 145ff. Ebenso im gleichen Band: Tering: Die Ausbildung der baltischen Prediger, S. 134f. Erich Donnert: Agrarfrage und Aufklärung in Lettland und Estland. Livland, Estland und Kurland im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, Frankfurt/Main New York, 2008, S. 53ff. Donnert bringt vor Allem das ambivalente Verhalten der Adligen ins Spiel, die auf der einen Seite eine stärkere Disziplinierung der Leibeigenen durch pietistische, aber vor Allem durch die Brüdergemeine befürworteten, auf der anderen Seite aber fürchteten, dass sie sich dadurch mehr Rechte einforderten. 12 Ab 1733 einem Rector, einem Conrector, einem Subrector, einem Subconrector und einem Cantor. 13 Eduard Pabst/ Friedrich Croessmann: Beiträge zur Geschichte der ehstländischen Ritter- und Domschule. Einladungsschrift zu der 550-jährigen Jubelfeier der Domschule zu Reval am 19. Und 20. Juni 1869, S. 44f. anfangs waren ebenso noch die Lehrer des Waisenhauses auf den Schulkonferenzen. 14 Ebd., S. 42f. Sie dort ein erhaltendes Lehrerkonferenzbuch der Jahre 1725 – 1747. 15 Ebd., S. 42.

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wöchentlichen Lehrerkonferenzen. Es gab folglich wie auch in Reval einen wöchentlichen

Austausch über Probleme und Fragstellungen innerhalb des Schulalltags, welches aber in

der Realität vermutlich nicht jede Woche hervorragend funktionierte, wie bereits Axel

Oberschelp bestätigen konnte.16 Es darf zudem nicht davon ausgegangen werden, das

allwöchentlich Methoden und Lehrpläne hinterfragt wurden, dennoch wurde auf diesen

Austausch großen Wert gelegt und es zeigt sich daran ebenso der Versuch das Schulwesen

effektiv gemeinsam mit allen Lehrenden zu gestalten.17 Die Struktur des Schulwesens im

Dombezirk Revals ließe sich also - was den Einfluss der Lehrkräfte auf die Organisation

ihrer Schule betrifft, durchaus mit dem Pädagogium in Halle vergleichen – was vor Allem den

Maßstab an Eigenständigkeit des Lehrkollegiums betrifft. Diese Struktur des Kollegiums hielt

sich bis ins das Jahr 1765, danach kam es im Zuge der Umgestaltung der Ritter- und

Domschule zu einer strukturellen Veränderung.18 Darüber hinaus muss erwähnt werden,

dass Mickwitz neben der Ritter- und Domschule, dass Schulwesen des Dombezirks um ein

Waisenhaus, ein Hospital und eine Mädchenschule erweiterte. Auf dem Domberg, sowie in

dessen Vorstadt entstand dementsprechend, wenn auch mit geringeren Ausmaßen als in

Halle, ein breit angelegtes Schulwesen, welches ähnlich wie in Halle Schüler aller

Geschlechter, Stände und vermutlich auch Nationalitäten vereinte.19

Demgegenüber ist ein solch dichtes Berichtswesen, wie auch eine ähnliche Stellung

der Lehrkräfte für das städtische Gymnasium in Reval nicht erkennbar. Am Gymnasium gab

es vier Professoren, welche in den beiden höheren Klassen unterrichteten und zwei Collegen

und einen Cantor für die unteren Klassen.20 Ergänzend kam im Verlauf des von mir

untersuchten Zeitraums noch ein Russischlehrer hinzu.21 Das städtische Gymnasium war

nahezu das gesamte Jahrhundert hindurch, mit Ausnahme der Zeit der Statthalterverfassung

von 1786 – 179722, innerhalb eines „Collegium Gymniasarchum“ verfasst. Hier hatte den

Vorsitz der Bürgermeister der Stadt, die Lehrkräfte waren sogar in der Minderheit in diesem

Gremium. Im Collegium Gymnasiarchum waren neben dem Bürgermeister zwei Ratsherren

der Stadt, der Syndicus, der Superintendant der Stadt, der Stadtsecretaire und die vier

Professoren vertreten. Die Lehrer der Unterklassen waren nicht in dem Gremium vertreten,

sie wurden nur bei sie betreffenden Punkten hinzugezogen und hatten keine weiteren

16 Oberschelp: Das Hallesche Waisenhaus, 172ff. 17 Ebd., S. 178. 18 Jürjo: Bildungsreformen und – diskussionen in Reval, S.384f. Danach gab es ein adliges Kuratorium, welches die Bedeutung des kirchlichen Konsistoriums verringerte. Es blieb aber weitestgehend dabei, dass das Lehrkollegium über die eigentlichen Erziehungs- und Unterrichtsfragen selbst bestimmte. 19 Heinrich Wilhelm Wigand: Kurzgefasste Geschichte des zum Dome gehörenden Waisenhauses, nebst eines Anhanges, Reval, 1777, S. 2ff. 20. Ph. v. Willigerod: Das Gouvernements=Gymnasium zu Reval im 18. Und 19. Jahrhundert. In: Archiv für die Geschichte Liv-, Esth- und Kurlands, hrsg. von Dr.. F. G. von Bunge, Bd. 1, Dorpat, 1842, S. 92ff. 21 Dieser konnte aber auch dieselbe Person sein, welcher für beide Schulen tätig war, wie der ab 1750 an Gymnasium und Ritter- und Domschule tätige Johann Christoph Prave. 22 v. Willigerod: Gouvernements=Gymnasium, S. 106f.

Michael Rocher Pietistische Schulpraxis im Baltikum

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Entscheidungsbefugnisse.23 An dieser Stelle wird dann auch erkennbar, in welch

unterlegender Stellung sich die Collegen befanden. Hierbei wird eine Stelle aus dem

Protokoll des Jahres 1726 interessant, als die beiden Collegen Hirschhausen und Bieck, die

zumindest in der Nähe zu pietistischen Ideen gestanden haben könnten, dabei ertappt

wurden „Speners Katechismus“ im Unterricht verwendet zu haben. Sie wurden darauf vom

gesamten Collegium angewiesen, dies zukünftig zu unterlassen.24 Es scheint also zumindest

in diesem Zeitraum eine starke allgemeine Abneigung des Collegium Gymnasiarchums

gegen pietistische Einflüsse gegeben zu haben.

Laut der erhaltenden Protokollbücher traf sich dieses Gremium für gewöhnlich einmal

im Jahr, nur bei besonderen Problemstellungen trat es öfter zusammen, welche eher selten

waren. Der tatsächliche Hauptzweck war die jährliche Rotation des Rektorats, welches unten

den vier Professoren wechselte.25

Die Lehrer hatten in dieser Struktur tatsächlich wenig Einfluss, auch was die größeren

konzeptionellen Fragen betrifft. Das zeigt am deutlichsten ein Protokollausschnitt, welcher

das neue Schulprogramm von 1768 betrifft:

"Consul Prases eröfnete hierauf daß das Collegium Gymnasiarcharum die Abschrift gegeben hätte,

durch Veränderung der Lectionum die man für nöthig befunden hätte, das Gymnasium aufzuhelfen

und in Flor zu bringen, es wäre in der Abschrift auch ein Entwurf angefertigt und dann Herren

Professonen communicieret worden, von denen einigen darauf Anmerkungen [machten] die gar nicht

zu Sache gehörten und füglicher hätten wegbleiben können[…]“.26

Es ist an diesem Ausschnitt gut erkennbar, dass die konzeptionellen Änderungen von

Seiten der Stadt kamen. Die Professoren konnten zwar Einwände erheben und bedingt

daran mitwirken, die Verordnung an sich konnten sie aber letztlich nicht verhindern, sie trat

gut acht Monate später am 29.02.1768 in Kraft.27

Besonders an diesem Punkt ist also festzustellen, dass was die Verfassung der

Schulen und die Einbindung der Lehrkräfte in die Organisation betrifft, die Ritter- und

Domschule einen sehr ähnlichen Modus wie die halleschen Schulen fand, insbesondere im

Vergleich zum Pädagogium28, da die Lehrer hier ein erhöhtes Mitspracherecht hatten,

während dies für das Gymnasium nicht der Fall war.

Wie sah es nun aber bei der Verbindung der Lehrkräfte zu ihrem Halleschen

„Zentrum“ aus und inwiefern waren einzelne Lehrer „pietistisch“? Der estnische Historiker 23 Talinner Stadtarchiv (Talinna Linnaarhiiv) weiterhin TLA: TLA.230.1.Bp 13, Protokolle des Collegium Gymnasiarchums 1726 – 1755 und 1763 – 1796. Es gäbe mehrere Protokolle dem dieser Vorgang zu entnehmen ist, als Beispiel: Protocollum vom 12. May 1764, S. 5. 24 TLA.230.1.Bp.13 Protocollum November 1726, S. 5f. 25 Teilweise bestehen Protokolle einiger Jahre nur aus diesem Vorgang. Beispiel: TLA.230.1.Bp 13, Protocollum vom 13. May 1765, Protocollum vom 17. May 1766, S. 10f. 26 TLA.230.1.Bp 13, Protocollum vom 14.May 1767, S. 14f. 27 TLA.230.1.Bp 13, Protocollum vom 14.May 1768, S. 19ff. 28 Oberschelp: Das Hallesche Waisenhaus, 172ff.

Michael Rocher Pietistische Schulpraxis im Baltikum

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Arvo Tering stellte hierzu Ende der 90’er Jahre des letzten Jahrhunderts in einem in

deutscher Sprache erschienen Aufsatz fest, dass nicht nur die Domschule durch einen

direkten Schüler Franckes geführt wurde, nein auch „die Revaler Schulen lagen in der ersten

Hälfte des 18. Jahrhunderts fast völlig in den Händen von in Halle ausgebildete[n]

Schulmeister[n]: sowohl das Gymnasium, an dem ab Ende der [17]30’er Jahre ein Zögling

der Universität Halle Theologieprofessor war [es handelt sich um Peter Sixtus Krause, M.R.],

als auch die Stadtschule (Trivialschule) an der ein früherer Hallescher Student Rektor war“.29

Die offene Frage bleibt hierbei, ob diese zwei genannten Lehrkräfte ausreichen, um

sagen zu können, dass das Revaler Schulwesen durch deren bloße Anwesenheit pietistisch

beeinflusst wurde, was Terings Aussage mit impliziert. Und unterhielten diese Lehrkräfte

auch ständige Kontakte mit den Franckeschen Stiftungen in Halle? Denn dies würde einen

wichtigen Parameter darstellen, anhand welchem sich die Anbindung und den Austausch

zwischen der halleschen „Zentrale“ und ihren vermeintlichen „Außenstellen“ abbilden ließe.

Um dies festzustellen, habe ich im Folgenden die Lehrkräfte der Ritter- und Domschule und

des städtischen Gymnasiums tabellarisch zusammengefasst und diese mit der Datenbank

der Einzelhandschriften in Halle abgeglichen.30 Zu Terings Verteidigung möchte ich jedoch

anmerken, dass er zur Zeit seiner Aufsätze noch nicht über die Datenbank der

Einzelhandschriften in Halle verfügen konnte, diese entstand erst mit dem DFG-Projekt

„Franckens Schulen“ welches erst 2004 abgeschlossen wurde.31 Der besondere Wert dieser

Datenbank für diese Untersuchung liegt nicht nur darin, dass dort nahezu sämtliche Briefe,

welche aus Reval die Franckeschen Stiftungen erreichten, verzeichnet sind. In der

Datenbank sind zusätzlich die Lebensläufe der in den Briefen erwähnten Personen kurz

wiedergegeben, wobei zum Beispiel verzeichnet ist, ob diese Personen in Halle studierten

und dort eine Lehrertätigkeit in den Schulen der Stiftungen ausübten.

Tabelle 1: Lehrkräfte an der Ritter- und Domschule Reval

Anstellungs-zeitraum

Name und Funktion Durch die Datenbank der Einzelhandschriften in Halle belegten Kontakte

1725 -66 Johann Jacob Preusse, Rector Studium in Halle, zwei Briefe mit A.H. Francke 1720

1726 – 39 Michael Weber, Cantor (wenn es sich um Michael Weber *1690 in Dobis bei Wettin handelt) Ein Brief an A.H. Francke, war selbst Informator im Waisenhaus bis 1716

1726 – 27 Johann Friedrich Becker, Subrector

Biografie ist bis 1717 in Halle erfasst

29 Tering: Die Ausbildung der baltischen Prediger, S. 136. 30 Alle nachfolgenden Tabellen sind anhand folgender Quellen gebildet: Dem Lehrerverzeichnis in: Pabst/ Croessmann: Beiträge zur Geschichte der ehstländischen Ritter- und Domschule, S. 77ff. Dem Lehrerverzeichnis in: A.J. Berting: Lehrer-Album des Revalschen Gymnasiums 1631-1832, Reval, 1862, S. 19ff. Eesti Ajalooarhiiv – Estnisches Historisches Archiv in Tartu, weiterhin EAA: EAA.854.2.2720. Akte betreffend die Besetzung der Lehrerstellen in der Ritter- und Domschule. Sowie die jeweiligen Einträge in der Datenbank der Einzelhandschirften der Franckeschen Stiftungen Halle(Saale). 31 Oberschelp: Das Hallesche Waisenhaus, S. 12 (Fußnote 49). Seitdem wird diese Datenbank aber beständig ergänzt und entwickelt sich dementsprechend weiter.

Michael Rocher Pietistische Schulpraxis im Baltikum

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1728 – 37 Gottfried Hilmer,Conrector 5 Briefe, davon 4 an A.H. Francke, einer 1727 an G.A. Francke

1729 -36 Johann Christoph Schmidt, Subrector

drei Briefe nach Halle, einer an A.H. Francke, zwei an J. Lange

1737 – 38 Johann Jacob Tegtmeyer, Subconrector

Keine Kontakte

1736 – 39 Peter Sixtus Christian Krause, Subrector

2 Briefe an G.A. Franke nach Halle, Ende der 1740’er Jahre, war selbst Informator in Halle, wechselte 1739 zum Gymnasium

1737 – 43 Johann Georg Tideböhl Conrector

16 Briefe an G.A. Francke erst ab 1748, ab 1743 Nachfolger von Vierroth als Kompastor der Domkirche,

1740- 45 Johann Ehrenfried Buntebarth Subconrector

Eintrag zur Biografie, Vater hatte Kontakt nach Halle. (Verließ der Schule - 1744 Herrnhuter Unruhen)

1740 – 42 Christian Saalwachter, Subrector Keine Kontakte (ging bereits 1742 zur Brüdergemeine)

1741- 45 Johann David Elster, Cantor Keine Kontakte (Verließ die Schule 1744 - Herrnhuter Unruhen)

1743 – 44 Johann Friedrich Herlin, Subconrector

Wechselte 1744 als College ans Gymnasium

1744 – 49 Zacharias Roebel, Conrector Keine Kontakte

1744 – 52 Johann Gottlieb Ludwig, Conrector

Informator am Waisenhaus, 2 Briefe nach Halle

1745 – 54 Michael Kelch, Subconrector, 1750 Subrector, 1752 Conrector

Kontakte zu G.A. Francke, in einem Brief erwähnt er, dass er Lehrer in den Stiftungen war

1746 – 49 Heinrich Benjamin Hessler, Cantor

Biografie in Halle erfasst, war Schüler des Waisenhauses, wechselte erst an die Stadtschule, dann 1753 ans Gymnasium

1750 – 68 Carl BogislausTideböhl, Subconrector, 1752 Subrector, 1754 Conrector

Ein Brief an G.A. Francke, Biografie ist in Halle erfasst

1750 – 78 Johann Matthäus Malsch, 1750 Cantor, 1752 Subconrector

Keine Kontakte

1752 – 78 Johann August Bruckhoff, Cantor Keine Kontakte

1754 – 1762 Anton Mickwitz 1 Brief nach Halle, wechselte 1762 ans Gymnasium

Die in der Tabelle kursiv gestalteten Namen in violetter (grauer) Schriftfarbe, sind

diejenigen Lehrer, welche Kontakte nach Halle unterhielten, wobei die meisten dieser Lehrer

jedoch nur wenige Briefe nach Halle verfassten. Der Großteil der überlieferten Briefe

stammte aus den Federn des Oberpastors Mickwitz und dessen Kompastor Vierroth,

beziehungsweise nach dessen Abgang ab 174332, wurde die Aufgabe der Korrespondenz mit

den Franckeschen Stiftungen vom neuen Kompastor am Dom Johann Georg Tideböhl

übernommen. Dennoch wird anhand dieser Auflistung deutlich, dass ein Großteil der

Lehrkräfte in Halle studierte oder Verbindungen dorthin hatte, teilweise sogar an den

Schulen des Waisenhauses zuvor gelehrt hatte, was die These einer exportierten 32 Der Weggang resultierte aus den in der Tabelle erwähnten Herrnhuther Unruhen, auf die ich jedoch im Rahmen dieses Artikels nicht detailliert eingehen werde. Pabst/ Croessmann: Beiträge zur Geschichte der ehstländischen Ritter- und Domschule, S. 79. Sowie Eintrag der Biografie zu Albert Anton Vierroth in der Datenbank der Einzelhandschriften der Franckeschen Stiftungen: http://192.124.243.55/cgi- bin/gkdb.pl?x=u&t_show=x&wertreg=PER&wert=vierorth%2C+albert+anton++-+BIOGRAFIE&reccheck=,92245 abgerufen am 25.04.2015.

Michael Rocher Pietistische Schulpraxis im Baltikum

10

Schulpraxis bestätigen würde. Interessant ist hierbei auch der nicht abreißende Kontakt nach

Halle bis weit in die 1750’er Jahre hinein. Die Auflistung zeigt bereits, dass es

Schwierigkeiten gab, tatsächlich alle Lehrerstellen zu besetzen. Zudem beweist das

Lehrerverzeichnis von Pabst und Croessmann, dass bei Zeiten von Personalknappheit,

Lehrer des Waisenhauses in der Vorstadt auch an der Ritter- und Domschule in den unteren

Klassen unterrichteten.33

In Tabelle 1 unterstrichen sind die Namen der Lehrer, welche von der Domschule aus

ans Gymnasium wechselten. Waren es also diese Lehrer, welche eine „pietistische“

Beeinflussung am städtischen Gymnasium Reval bewirkten?

Tabelle 2: Professoren Stadtgymnasium Reval

Anstellungszeit Professoren, Geburtsorte und Studienorte in Klammern soweit bekannt

Eintragungen Datenbank Halle

1710 – 1730 Johann Rudolf Brehm – (Erfurt, studierte in Jena) keine Kontakte

1714 – 1716 Eberhard Reimers – (Reval, in Halle studiert) keine Kontakte

1718 – 1750 Adolph Florian Sigismundi – (Reval, studierte in Pernau)

keine Kontakte

1722 – 1738 Carl Christian Pfützner - (Reval, studierte in Wittenberg)

keine Kontakte

1730 – 1757 Johann David Gebauer - (Walthershausen/Gotha) ein Brief mit Ernst Salomon Cyprian (Vertreter der Orthodoxie), also keine Kontakte

1730 – 1733 Johann Georg Heinsius - (Spremberg, studierte in Wittenberg und Leipzig)

keine Kontakte

1733 – 1739 Andreas Bartholomäi - (Reval, kein Studium bekannt) keine Kontakte

1739 – 1753 Peter Sixtus Krause - (Stendal, war Schüler an der Lateinischen Schule Halle, studierte in Halle und war Informator)

zwei Briefe überliefert. Einmal zum Tode von C.F. Mickwitz und Anton Thor Helle, ein zweiter ist eine Empfehlung für einen zukünftigen Studenten

1740 – 1760 Joachim Johann von Thieren keine Kontakte

1744 – 1755 Johann Friedrich Herlin - (Estland, kein Studium, erst 1753 Professor)

keine Kontakte

1751 – 1767 Georg Salomon keine Kontakte

1753 – 1766 Heinrich Benjamin Hessler - (Bamme bei Brandenburg, 1753 College, 1754 Professor)

im Hallischen Waisenhaus 1732, an der Lateinischen Schule 1733

1756 – 1763 Michael Richter - (erst College, ab 1759 Professor) keine Kontakte

1757 – 1759 Johann Friedrich Rauchfuss keine Kontakte

1761 – 1777 Christoph Heinrich Siegel keine Kontakte

1762 – 1770 Anton Mickwitz (* 1738 Reval, war seit 1754 Subrector der Domschule, erst College am Gymnasium, 1763 Professor)

Ein Brief nach Halle

33 Pabst/Croessmann: Beiträge zur Geschichte der ehstländischen Ritter- und Domschule, S. 77ff.

Michael Rocher Pietistische Schulpraxis im Baltikum

11

Während sich an der Lehrerschaft der Ritter- und Domschule ein pietistischer Einfluss

ablesen könnte, ist dies am städtischen Gymnasium nicht erkennbar. Nur drei Professoren,

jene also, welche von der Ritter- und Domschule ans Gymnasium wechselten, hatten in

fünfzig Jahren Untersuchungszeitraum nennenswerte Kontakte nach Halle und diese sind

nicht als intensiv zu bezeichnen. Der von Tering postulierte „pietistische Einfluss“ durch den

Lehrer Peter Sixtus Krause, welcher im Vergleich zu den Pastoren und Lehrern der Ritter-

und Domschule nur eine sehr bescheidene Korrespondenz mit Halle unterhielt, ist nicht

plausibel. Ein Professor, Johann David Gebauer, hatte gar Kontakte zu Ernst Salomon

Cyprian, einem bekannten Gegner der pietistischen Bewegung im mitteldeutschen Raum.

Interessant wird dann wiederum der Blick auf die Collegen, also die Lehrer in den

unteren Klassen am Stadtgymnasium:

Tabelle 3: Collegen am Stadtgymnasium Reval

Anstellungszeit Collegen, Geburtsorte in

Klammern soweit bekannt

Eintragungen Datenbank Halle

1716 - ? Christian Ludwig Heimbrodt – (Halle) Keine Kontakte

1725 – 1750 Johann Friedrich Mentz (es gab einen J.F. Mentz in Halle aus Moskau, zuerst an der Lateinschule, ab 1713 im Waisenhaus)

Ein Dankesbrief an A.H. Francke 1713

1726 - ? Hirschhausen – Johann Adam (?) Wurde von A.H. Francke ins Waisenhaus nach Alp 1718 verschickt. Am Gymnasium zusammen mit Bieck 1726 wegen Verwendung des Speners im Unterricht getadelt, stand in Kontakt mit A.H. Francke und H. Milde

1726 – 1743 Christoph Erdmann Bieck Kontakt zu Sophie-Charlotte von Stolberg-Wernigerode, welche wiederum enge Kontakte zu G.A. Francke hatte

1737 – 1738 Marcus Kelch (Dorpat) Hatte selbst keine Kontakte, aber sein Bruder stand in direkter Verbindung mit Halle

1738 – 1744 Johann Gottlieb Albrecht keine Kontakte

174? – 1768 Jeremias Hain keine Kontakte

1745 – 1777 Johann Konrad Grewe keine Kontakte

1750 - ? Johann Christoph Prave keine Kontakte

1759 – 1762 Thomas Sabler Vater war Lehrer ab 1722 in Alp, Sohn studierte in Halle, aber keine Kontakte

1763 – 1784 Justus Friedrich Grohmann keine Kontakte

Bei den Collegen des Gymnasium ist nämlich ein intensiverer Kontakt mit Halle,

jedoch nur bis in die 1740’er Jahre hinein erkennbar, danach spielten die Halleschen

Anstalten kaum noch eine Rolle.

Was schließt sich daraus? Erste Anlaufstelle für die in Halle ausgebildeten Studenten

war also in Reval immer die Ritter- und Domschule. Einige dieser Lehrer wechselten von dort

aus aber dann bald weiter auf das Gymnasium. Die Gründe hierfür dürften zum einen die

Michael Rocher Pietistische Schulpraxis im Baltikum

12

niedrigen Gehälter sein, eine These die auch bei Indrek Jürjo finden lässt.34 Des Weiteren

sind aber sicherlich auch die Streitigkeiten innerhalb des Kollegiums bedeutsam, so wie die

oben erwähnten „herrnhutischen Unruhen“ in den 1740’er Jahren. Während dieser Unruhen

wechselte auch der bisherige Kompastor der Domgemeinde, Anton Albert Vierroth um das

Jahr 1743 nach Wolmarhof (heute Valmiermužia in Lettland) und wurde später

herrnhutischer Bischof.35

Aus meiner Aufstellung ergibt sich, von den ersten Jahren nach der Wiederaufnahme

des Schulbetriebs abgesehen, dass zu keinem Zeitpunkt alle fünf regulären Lehrerstellen an

der Schule besetzt waren. Die Einrichtung muss also mit permanenten finanziellen und

zudem um 1743 religiös-dogmatischen Streitigkeiten im Lehrerkollegium zu kämpfen gehabt

haben. Dies widerspricht dem unisono in jeglicher Sekundärliteratur behauptete Satz: „Nach

Mickwitz Tod ist die Domschule, deren Einnahmen immer noch karg bemessen waren,

wieder in Verfall geraten“.36 Nur sehr selten blieb eine Lehrkraft über fünf Jahre an der

Schule – an dieser Situation änderte sich sowohl vor, als auch nach dem Tod Mickwitzs

nichts. Die Ritter- und Domschule krankte demzufolge offensichtlich die gesamte Zeit an

einer schlechten Ausfinanzierung, welche aber zu keinem Zeitpunkt einen tiefen personellen

Einschnitt bedeutete, sondern vielmehr lediglich eine hohe Fluktuation unter den Lehrkräften.

Ob die inhaltliche Arbeit nach dem Tode von Mickwitz sich wirklich enorm verschlechtert hat,

ist heute nicht mehr festzustellen. Die Struktur, welche durch ihn und die anderen Lehrkräfte

aufgebaut wurde, war dem Halleschen Modell sehr ähnlich und bestand auch nach dem Jahr

1748 weiter.

Ein nachhaltiger Einfluss von Studenten aus Halle die als Lehrkräfte des städtischen

Gymnasiums wirkten, ist indessen beileibe nicht festzustellen. Nur vereinzelt gab es

Kontakte zwischen leitenden Personen in Halle und den Lehrkräften. Ein größeres Interesse

an einen umfangreichen Briefwechsel nach Halle gab es nicht. Zudem hatten nur sehr

wenige Lehrer auch in Halle studiert – die meisten von Ihnen wurden ebenso nicht dezidiert

von dort aus angeworben. Interessant ist dann wiederrum der höhere Anteil der als Collegen

angestellten Lehrer am Gymnasium in den 1720’er bzw. 1730’er Jahren, welche Kontakte

nach Halle unterhielten; dass diese sich mit vermeintlich pietistischen Ideen gerade am

Gymnasium nicht durchsetzen konnten, zeigte bereits ein Blick auf die Struktur des dortigen

Lehrkollegiums, welches den Collegen als Lehrer der Unterklassen nur wenig Einflussnahme

auf den Schulbetrieb bot.

34 Jürjo: Bildungsreformen, S. 384. 35 Siehe Fußnote 32. 36 Jürjo: Bildiungsreformen, S. 384. Jürjo zitiert hier Plate, von dem dieser Befund in allen folgenden Abhandlungen über die Schule übernommen wurde. So auch bei Pabst/Croessmann: Beiträge zur Geschichte der ehstländischen Ritter- und Domschule, S.43.

Michael Rocher Pietistische Schulpraxis im Baltikum

13

Unterrichtsgestaltung und Methode

Die Forderungen an die Pädagogik lauteten bereits im 17. Jahrhundert37, den

Unterricht ‚anschaulicher‘ und ‚fassbarer‘ zu gestalten. Eine vielleicht ewige Forderung an die

Pädagogik wenn wir über moderne Diskurse nachdenken. Das Pädagogium in Halle wie

auch später das Philanthropin in Dessau später stellten den Versuch dar, diesen Ruf aufs

angemessenste zeitgenössisch zu erfüllen.

Tabelle 4: Fächerauswahl Pädagogium38

Selecta: Philosophica selecta, Latina selecta, Theologia Selecta, Graeca selecta, Hebraica

selecta, Gallica selecta, Oratoria(germanico) selecta

Weitere Fächer: Latina I, II sup., II inf., III, IV, V, Theologia I, II, III, IV, Gallica I, II. sup., II.

inf., III, Graeca I, II., III., Hebraica I., II., Latina I privata., II. priv., III. priv., IV. priv., V. priv.,

Geografica I, II, III, IV, V, Historica I, II, III, IV, Oratoria germanico I., II., Arithmetica,

Mathematica I., II, III, Logic, Anatomica, Physica experimentalis, Physiologica

“Recreationsunterricht”: Handwerken, Orthographie, Kräuter, Lackieren, Calligraphie,

Drechseln, Glasschleiffen, Optic, Zeichnen, Pappfabrik, Metalle, Bücher, Elemente, Tempel,

Flöte, Botanic, und weitere…

Allein wenn man sich die unterrichteten Fächer, welche bereits zu Beginn des 18.

Jahrhunderts dort eingeführt wurden anschaut (siehe Tabelle 4), erscheint es schwierig ohne

eine nahe Universität dieses System in seiner Vielfalt hier im nördlichen Baltikum zu

kopieren. Dabei ist die Fächerauswahl für dieses Thema eher zweitrangig, sondern vielmehr

die aus Halle kommenden pädagogischen Besonderheiten, auf die ich im Folgenden

eingehe, welche als äußerst Personalintensiv anzusehen sind.

Zunächst ist für das Pädagogium festzustellen, dass die Schüler dort nicht wie

gewöhnlich in Jahrgängen unterrichtet wurden, sondern innerhalb eines

Fachklassensystems. Das bedeutete im Idealfall, dass jeder Schüler in dem Unterricht saß

der seinen Fähigkeiten entsprach. Ein Schüler, der beispielweise sehr gut in Latein war,

besuchte dann dort die Prima Klasse, derselbe Schüler war jedoch in Mathematik wesentlich

schlechter und besuchte dann wiederum nur die Klasse auf dritthöchstem Niveau, also die

Tertia. Bei den zahlreichen Unterrichtsangeboten hatten insbesondere die Eltern ein

enormes Mitspracherecht welche Fächer der eigene Zögling lernen sollte. Zudem gab es

37 Besonders bei Jan Amos Comenius. Ehrenhard Skiera Reformpädagogik in Geschichte und Gegenwart: eine kritische Einführung. München, 2010, S. 36ff. 38

Archiv der Franckeschen Stiftungen (AFSt)/ Schularchiv (S): A, I, 123. Diese Zusammenstellung ist aus den 1740’er bis 1760’er Jahren und nur eine Übersicht, einzelne Angebote konnten sich von Halbjahr zu Halbjahr ändern.

Michael Rocher Pietistische Schulpraxis im Baltikum

14

sogenannte „Recreationsstunden“, in denen die Schüler zwischen einzelnen Fächern wie:

‚Bücher‘, Drechseln‘, ‚Papparbeiten‘ oder im Sommerhalbjahr auch ‚Botanic‘ wählen konnten.

In den Schulprogrammen, welche für alle drei von mir untersuchten Schulen in Riga

und Reval vorlagen, ist festzustellen, dass es am Gymnasium in Reval wie auch am Lyceum

in Riga bis Ende des Jahrhunderts kein solches Fachklassensystem gab. In der

Schulordnung des Gymnasiums von 1768 wird explizit angegeben, was ein Schüler in allen

Fächern wissen musste, um bis ins nächste Jahr versetzt zu werden.39 Dies war ebenso am

Lyceum in Riga der Fall. Auch ein umfangreicher Recreationsunterricht muss

ausgeschlossen werden, da er an keiner Stelle erwähnt wird.

Für die Ritter- und Domschule ist kein solches Schulprogramm für die Zeit Mickwitz

vorhanden, erst mit der Reform 1768 gab es mehrere solcher programmatischer Schriften.

Auch welche Fächer unterrichtet wurden, lässt sich erst ab 1768 bestimmen. Die

Fächerauswahl unterscheidet sich dabei nicht grundsätzlich von der des Gymnasiums.

Recreationsstunden und handwerklichen Unterricht scheint es auch nach 1768 nicht

gegeben zu haben.

Es gab aber vermutlich ab 1768 dann ein Fachklassensystem, wie ein Zitat des

Direktors Johann Bernhard Heinrich Göbel beweist:

"Die lateinische Sprache muß nicht mehr der Maasstab seyn, nach welchen die Klassen

untereinander gemessen werden. Ein jeder muß sich des Unterrichts in denselben, nach seiner

Absicht bedienen dürfen: und eben deswegen muß der gesamte Unterricht so verrtheiltseyn, daß ein

jeder das, was er zu lernen hat, just zu der Zeit lernen könne, da er es lernen muß. Es ist sehr leicht

möglich, daß ein Jüngling in gewissen Disciplinen gut fortkommen, und andere vielleicht in allem

übertreffen könne, ohne es ihnen just im lateinischen gleich zu tun: und warum solte man ihn da

aufhalten, wo er mehr vermag?"40

Dies bestätigt so auch Jürjo, indem er den Kurator und Gouvernementsmarschall

Kursell zitiert, welcher das fehlende starre Klassenystem hervorhob und demgegenüber das

an der Schule praktizierte „Fachprinzip“ betont.41 Jürjo fügt dazu ergänzend hinzu: „An dem

Fachprinzip des Unterrichts hat man festgehalten, doch man gestattete den Schülern nicht,

ihren Stundenplan völlig frei und willkürlich zusammen zu setzen.42 Ein Fachklassensystem

war durchaus schwierig in die Praxis umzusetzen und für die Umsetzung am Pädagogium,

wie auch später für das Philanthropin, hat die Forschung dazu bisher keine Antworten aus

dem Schulalltag präsentieren können.

39 TLA.230.1.Bp 14, Verordnung für das Gymnasium vom 29. Februar 1768, S. 57ff. 40 Johann Bernhard Heinrich Göbel: Grundsäzze der Erziehung. In Verbindung mit einem Plane der akademischen Ritterschule zu Reval, Reval, 1774, S.7. 41 Jürjo: Bildungsreformen und –diskussionen in Reval, S. 403f. 42 Ebd., S. 408.

Michael Rocher Pietistische Schulpraxis im Baltikum

15

Allgemein ist für die Halleschen Schulen zu betonen, dass sich die pädagogische

Konzeption dadurch auszeichnete, weg vom Auswendiglernen des Unterrichtsstoffes, hin zur

eigenen Wiederholung des Erlernten durch den Schüler zu gehen. Diese Methode wurde

„Katechese“ genannt.43 Ebenso waren die bereits erwähnte Anschaulichkeit im Unterricht

und auch eine auf die Schüler zugeschnittene Einteilung des Unterrichtsstoffes von oberster

Priorität. Die Schüler sollten also möglichst das Erlernte behalten und anwenden. Hier war

insbesondere der Realienunterricht von Bedeutung. Dabei ging es nicht nur um den Einsatz

von Instrumenten, Bildern, Präparaten oder Landkarten. Das Pädagogium versuchte eng mit

seiner städtischen Umgebung zu kooperieren. Handwerklicher Unterricht wurde meistens in

Kooperation oder in den Werkstätten ansässiger Handwerker gegeben. Ebenso waren auch

Spaziergänge beliebt. Hierbei war der Übergang zum Recreationsunterricht fließend.44

Für die Unterrichtsmethodik wurde bereits bei den Theologiestudenten in Halle

großen Wert darauf gelegt, dass sie die Methode der „Katechese“ beherzigen.45 Also das

Erlernte regelmäßig zu wiederholen - um es zu festigen. Des Weiteren wurde immer wieder

die Anschaulichkeit des Unterrichts hervorgehoben. So sollten sinnvolle Einheiten kombiniert

werden, wie beispielsweise die Verwendung geographischer Karten im Geschichtsunterricht.

Die Frage die hierbei bestehen bleibt ist, ob all diese Methoden nun genuine Erfindungen

aus Halle waren, was ich in Zweifel ziehen möchte. Sie wurden bereits, wie oben bereits

angegeben, beispielsweise bei Comenius im 17. Jahrhundert so formuliert. Das Pädagogium

in Halle ist also vielmehr nur ein Ort der Überführung dieser Ideen in die Praxis.

Die katechetische Methode lässt sich besonders gut im handschriftlichen

Schulprogramm von Johannes Loder für das Lyceum in Riga erkennen.

„Repetitio. In einem deutschen Gespräche zweyer Scholaren, oder in einer deutscher Erzählung wird

wiederholet vor dem Schluß dieser Stunde was den ganzen Vormittag gelernt worden ist. Die

Scholaren müsten dabei angewiesen werden, daß sie ohne Furcht, ordentlich, und mit geziehmender

Bescheidenheit, etwas vorstellen lernen. Mit Dancksagung zu Gott, und mit einem kurzen Anfang wird

hierauf geschloßen.“46

Solche „Repetionen“ sollten jeweils in allen Klassenstufen nach dem Unterrichtsblock

am Vormittag stattfinden, immer nach dem gleichen Muster.47

43 Oberschelp: Das Hallesche Waisenhaus, S. 69f. 44 Gertrud Zapernick: Kurzer Bericht zum Pädagogium Regium 1695-1784. In: Schulen machen Geschichte. 300 Jahre Erziehung in den Franckeschen Stiftungen zu Halle, Halle, 1997, S. 67ff. 45 Oberschelp, S.70. 46 Historisches Staatsarchiv Lettland (Latvijas Valst vestures arhivs), weiterhin LVVA: LVVA 4038.2.1003, Bericht zum Lyceum, S. 7 47 Ebd., S. 8ff.

Michael Rocher Pietistische Schulpraxis im Baltikum

16

Auch der Anspruch der Anschaulichkeit lässt sich gut aus dem Programm

herauslesen, so im folgenden Beispiel aus dem Geschichtsunterricht in der zweithöchsten

Klasse:

„Des Herrn von Puffendorf Einleitung zur Historie der vornehmsten Reiche und Staaten in Europa, bis

auf den Badischen Friede vermehret, 4 Theile in 8[Octav]. Franckfurt 1719, ist für diese Lection gut:

So woll des deutschen Styli wegen, auf den bey hiesigen Scholaren immer muß Sorgfalt seyn; als

auch darum, weil dieser große Historicusfidem hat. Geographie und Land=Charten, genealogische

Fragen und Tabellen, sind immer dabeynöthig.“48

Dieser Form des Unterrichts ist sowohl für das Gymnasium spätestens ab 1768

nachweisbar49, aber sicherlich bereits zuvor angewendet worden und für die Ritter- und

Domschule ab den 1720’er Jahren anzunehmen. In diesem Punkt formulierten alle drei

Schulen den gleichen Anspruch. Es bleibt trotzdem die Frage, ob dies tatsächlich in der

Praxis täglich so durchgeführt werden konnte, da meistens weitere Faktoren hineinspielten.

Schulprogramme bilden an sich hierbei immer eine Quellengruppe, die mit Vorsicht zu

genießen ist, da sie versuchen eine Idealform darzustellen, die in der Realität nur schwer

erreichbar war.

So war die finanzielle Ausstattung der Schulen im 18. Jahrhundert immer wieder

problematisch, wie folgendes Beispiel zeigt:

„Es wurde hiernächst das unter dem 12ten May 1764 von H. Professor Siegell eingelieferte

Verzeichnis von den anzuschaffenden Instrumenten perlustriert und demselben und dem

Rathsverwandten Nottbeck aufgetragen wegen deren Anschaffung so wohl als wegen Ausbeßerung

der schadhaften Instrumente vorläufig nach Leipzig zu corespondieren und sich der Preisen zu

erkundigen."50

Das Protokoll stammt aus dem Jahr 1768. Es dauerte in diesem Fall über vier Jahre,

bis die von Professor Siegel vorgeschlagenen Ausbesserungen der alten Geräte und die

Anschaffung neuer Instrumente realisiert wurde.

Dabei ist davon auszugehen, dass dies kein Einzelfall war, der nur auf das

Gymnasium zutraf. Materialen für den Realienunterricht kosteten viel Geld und mussten

meist aus weit entfernten Gebieten bestellt werden.

48 LVVA 4038.2.1003, Bericht zum Lyceum, S. 13. 49 Mit der bereits zitierten Verordnung: B.p. 14, S. 4 – 45 – Über die Lehrart. 50 TLA.230.1.Bp13, Protocollum vom 12. May 1768, S. 21.

Michael Rocher Pietistische Schulpraxis im Baltikum

17

Schüler und deren Disziplin

Kommen wir deshalb nun zu dem letzten Untersuchungsgegenstand, den Schülern

der höheren Schulen Revals. Ich hatte zuvor von den Faktoren gesprochen, welche den

Schulalltag beeinflussen. Diese sind neben der Infrastruktur und den finanziellen Mitteln

natürlich auch die Zusammensetzung und Disziplin der Schülerschaft. Dabei haben wir es

hier mit Schülern zweier unterschiedlicher Stände – Adel und Bürgertum - zu tun.

In der Forschung zum Pädagogium in Halle überwog lange ein negatives Bild, was

die Disziplin der Schüler anging. Dies wurde anhand des Standesunterschiedes zwischen

den bürgerlichen Lehrern und den vielen adligen Schülern ausgemacht, wobei die Annahme

war, dass adligen Schüler sich nicht von „bürgerlichen“ Lehrern zurechtweisen ließen. Ich

kann vorweg sagen, dass auch hier sind „Adel“ und „Bürgertum“ zu große Kategorien bilden.

Ebenso wurde dieses vereinfachende Forschungsurteil in neueren Arbeiten stark hinterfragt.

Der bereits zitierte Oberschelp konnte zuletzt nachweisen, dass das größte Problem nicht

der Standesunterschied war, sondern vielmehr der Anspruch der 24- stündigen Aufsicht. Am

Pädagogium gab es jeweils eine Aufsichtsperson für eine Wohnung mit mehreren Schülern.

Die Schüler hatten kaum eigenen Freiraum und waren ständig unter Beobachtung der Lehrer

oder der Aufseher. Dies brachte natürlich Konflikte mit sich. 51

Was die Schülerschaft der Revaler Schulen betrifft, bestand eine ähnliche Situation

nur am Pensionat der Ritter- und Domschule ab 1768, auf welche ich hier kurz eingehe. In

einem erst kürzlich erschienenen Aufsatz anlässlich einer Tagung im Jahr 2011 in Riga zur

dortigen Domschule, schrieben Maria Tilk und Vadim Ruok, dass die Schule ab 1765 in eine

„standesgemäße geschlossene Bildungsstätte für adlige Schüler“ verwandelt habe.52

Ich habe hierzu ein Schülerverzeichnis aus den Anfangsjahren nach der

Umgestaltung der Schule im Jahre 1768 finden können, indem die vier Professoren 1771

Antwort auf die Frage geben: „Hat die Ritterschule in den letzten diesen Jahren Nutzen

gestiftet?“53

Es wird dort ein Verzeichnis aller Schüler wiedergegeben, welche bis Januar 1771 die

Schule besuchen und besuchten seit dem Jahr 1768. 38 davon gingen dort zur Schule, ohne

in der Pension zu sein. Die Pension war jungen adligen Schülern vorbehalten, von der

Ritterschaft war vorgesehen, dass dort Kinder ärmerer Landadliger untergebracht werden,

51 Oberschelp: Das Hallesche Waisenhaus, S. 204ff. 52 Maria Tilk und Vadim Rouk: Zur Geschichte der Tallinner Domschule. In: Rigas Domskola un izglitibas pirmsakumi. Skolu Vesture Igaunija un Lietuva, hrsg. von Baltijas Pedagogijas vesturnieku asociacija Riga, 2011, S. 174. 53 Das Verzeichnis ist ein Bestandteil einer ganzen Akte: Eesti Ajaloomuseum (im weiteren Verlauf EAM): 34.2.99, Blatt 6 - 14: Einzelner Bericht aus dem Konvolut: „Auszüge der Landtags-Protokolle in Betreff der Unterhaltung der Ritter und Domschule, der Massregeln zur besseren Ordnung in der Pension, der gegenseitigen Beziehungen zwischen Pension und Domschule, eine Abhandlung und Verzeichnis der Schüler, ihres Abgangs usw., Text einer Eidesleistung bei dem Antritt des Schulamtes bei der Ritter und Domschule und eine Instruktion: Was denen Hn. Informatoribus im Pädagogio zu beobachten".

Michael Rocher Pietistische Schulpraxis im Baltikum

18

welche sich keine privaten Hauslehrer leisten konnten.54 In dieser Pension wiederum waren

es 22 Schüler. Von den erstgenannten 38 Schülern entstammten nur 18 dem Adel, 20

Schüler kamen aus dem Bürgertum. Damit waren immerhin ein Drittel der Schüler zu diesem

Zeitpunkt Bürgerliche. Zudem wird in der Quelle auch des Öfteren auf den Unterschied

zwischen Pension und Schule abgestellt. Erst mit der Pension gemeinsam wird sie zu einer

in der Mehrzahl von Adelssöhnen besuchten Schule, aber sie wurde nach wie vor auch von

einem großen Anteil von Bürgerssöhnen besucht.55

Die Ritter- und Domschule ist also in Hinsicht auf das Pensionat eventuell mit dem

Pädagogium vergleichbar und den dort herrschenden Problemen hinsichtlich des

Anspruches der ständigen Aufsicht der Schüler. Dieser Eindruck wird noch bestärkt durch

Erik Thomsons 1969 erschienene Monographie „Geschichte der Domschule 1319 – 1939“,

indem dieser Paul Blosfeld, einen Direktor der Schule um 1920, anführt: „[Mit Gründung der

Pension, M.R.] trat das Schmerzenskind ins Leben, […] das der Schule fast hundert Jahre

lang viele Sorgen bereitet hat.“

Ein Blick auf die Schülerliste bestätigt dann jedoch ein anderes Bild. Neben den

Namen und ihren Eintritt und Weggang aus der Ritter- und Domschule, hielten die Lehrkräfte

in dem oben genannten Verzeichnis ebenso die Disziplin der Schüler fest. Von den

Einträgen zu allen 60 Schülern dieses Zeitraumes, bekamen 14 Schüler Mangel im Fleiß

oder schwerere Verfehlungen bescheinigt. Von diesen 14 waren nur 4 Schüler der Pension.

Auch bei den schweren Disziplinarverstößen, also solche, die zum Verweis oder Weggang

aus der Schule führten, bestätigt sich dieses Bild56:

Tabelle 5: schwere Disziplianrverstöße Ritter- und Domschule

Außerhalb der Pension: Innerhalb der Pension:

1. 13. in der 2.ten Classe. Ihre Ausschweiffungen

machten es nothwendig, beiden 1769 das Consilium

abeundi zu geben, und das revalsche Gymnasium

konnte den Älteste so wenig bessern, daß es sich ihn

ebenfalls relegieren müßte

11. v. Mullern in die 4te Classe. Aus

Überzeugung, daß er in die Pension

Unordnungen anrichtete, und in der Ritterschule

nichts lernen wollte, ward er aus beiden im Jul.

1770 genommen.

2. 14. v. Gersdorff. Siehe oben.

3. 22. Holz. 1768 in der 2ten Classe. Seine

Wiederspenstigkeit wurde endlich so groß, daß, als er

deswegen bestraft werden sollte, er die Ritterschule

verlies, in das revalsche Gymnasium ging, und von da

im vorigen Jahr nach Universitates reißte.

54 Jurjö: Die Bildungsreformen und –diskussionen in Reval, S. 369. 55 EAM: 34.2.99, Blatt 8-11: Bericht „Hat die Ritterschule in den letzten diesen Jahren Nutzen gestiftet?“ 56 Ebd., Blatt 8-11.

Michael Rocher Pietistische Schulpraxis im Baltikum

19

4. 30. Baron v. Ungern-Sternberg. 1768 in der 2ten

Classe. Seine Nachlässigkeit und seine Unarten, die

nicht länger geduldet werden konnten, nöthigten ihn

1769 abzugehen. Vor kurtzen excludierte ihn die

Dorpater Stadtschule.

Die Schüler in der Pension waren disziplinarisch weniger auffällig, als die Schüler,

welche nicht im Pensionat untergebracht waren, auch dann nicht, wenn man das

unterschiedliche Zahlenverhältnis der beiden Schulteile ins Verhältnis zueinander setzt. Dies

lässt freilich keine Schlüsse für weitere Probleme im Pensionat in der Folgezeit zu, lässt aber

zumindest erkennen, dass schwere Disziplinarverstöße bei beiden Schülergruppen zu finden

waren.

Zu den Disziplinierungsmechanismen vor der Umgestaltung der Ritter- und

Domschule im Jahre 1768 sind leider keine Quellen überliefert. Es ist aber davon

auszugehen, dass diese Mechanismen ähnlich funktionierten, wie an anderen Schulen auch.

Am Pädagogium verfassten die Lehrkräfte sowie die Aufseher ebenso einzelne Bewertungen

über die Schüler, was ihre Hygiene, Kleidung, aber eben auch Fleiß im Unterricht betraf.57

Diese waren im Vergleich zu den oben präsentierten Verzeichnissen der an der Ritter- und

Domschule wesentlich ungenauer. Es wurden nur einzelne schwere Fälle auf Konferenzen

behandelt58, ähnlich „Buch“ über jeden einzelnen Schüler wurde aber bis in die 1770’er Jahre

nicht geführt.

Ähnlich verlief die Disziplinierungspraxis ebenso am städtischen Gymnasium Revals.

Bei schweren Disziplinarverstößen der Schüler wiederum folgten sofortige Besprechungen

der Lehrer. Beispiele hierfür sind in den Protokollen des Gymnasiums Strafen wie ein

mehrtätiger Aufenthalt im Karzer oder öffentliche Abbitten vor allen Schülern und Lehrern

vorhanden.59 Solche Maßnahmen stellten aber äußerst seltene Ausnahmen dar und sind

nicht ungewöhnlich für die Zeit. Auch am Pädagogium gab es noch den Karzer als

Strafmaßnahme.60 An der Ritter- und Domschule gibt es Belege für eine Rutenstrafe nach

1770.61

Schlussendlich ist keine besondere Problematik mit einer allzu schlechten Disziplin

an den Schulen Revals zu erkennen, die geringe Anzahl von Fällen aus dem untersuchten

Zeitraum lässt hier keinen anderen Schluss zu. Es ist jedoch erkennbar, dass sich auch in

Reval im 18. Jahrhundert eine Entwicklung analog zum Pädagogium und Philanthropin

57

AFSt/S A, I, 199 (Beurteilungen von Scholaren). 58 Oberschelp: Das Hallesche Waisenhaus, S. 172ff. 59 Ein sehr ausführlicher Fall findet sich um Professor A. Mickwitz und einem Primaner namens Grewe, der aufgrund der Länge hier nicht zitierbar ist. TLA.230.1.Bp 13, Protokolle der Jahre 1763 – 1796. Protocollum 12. May 1768, S. 22 – 28. 60 Oberschelp, Das Hallesche Waisenhaus, S.210ff. 61 Jürjo: Die Bildungsreformen und –diskussionen in Reval, S. 397.

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vollzieht. An allen Schulen findet eine zunehmende Dokumentierung der Disziplin der

Schüler statt. Das oben erwähnte Schülerverzeichnis ist ein Ausdruck davon, ab dem Jahre

1784 werden zudem auch am Gymnasium sogenannte Conduiertenlisten62 eingeführt,

welche unter Anderem den Fleiß und die Aufmerksamkeit jedes Schülers im Unterricht

dokumentieren. Das Philanthropin in Dessau führte beispielsweise ein umfangreiches

Meritenbuch, mit Lob und Tadeln zu jedem einzelnen Schüler, ähnliches wird dann ab 1786

auch am Pädagogium der Franckeschen Stiftungen eingeführt.63 Diese Entwicklung setzt

dabei eindeutig am Ende des 18. Jahrhunderts ein und entspricht dem gewissermaßen dem

damaligen Zeitgeist.

Fazit & Ausblick

An dieser Stelle komme ich also noch einmal auf die anfänglichen Thesen zur

Ausstrahlung von Oberschelp, sowie Tröhlers Einschränkung dazu, dass die Fokussierung

auf den „Pietismus“ als Wirkungsgeschichte relativiert werden müsste, zurück:

1. Als Initiatoren von Schulreformen waren die im Halleschen Waisenhaus ausgebildeten Lehrer weitgehend

bedeutungslos.64

Von den von mir untersuchten Schulen weicht also eine von den bisherigen

Forschungsergebnissen, welche die Ausstrahlung der Halleschen Schulpraxis betreffen, ab.

Für die Ritter- und Domschule ist eindeutig eine Schulreform durch einen in Halle

ausgebildeten Lehrer zu erkennen, die sich in wesentlichen Punkten mit dem Pädagogium

der Franckeschen Stiftungen deckt. Dies betrifft vor Allem die Schulstruktur. Das Gymnasium

schien besonders in den 1720’er und 1730’er Jahren ein Gegenpol zur Ritter- und

Domschule gewesen zu sein. Der zweite Aspekt ist die Funktionsweise der Kommunikation

zwischen der Außenstelle in Reval und dem Zentrum in Halle. Diesen übernahm in diesem

Fall die Spitze - also der Pastor und sein Kompastor, der zu der Schule gehörigen

Kirchgemeinde. Die Lehrer, welche selbst weniger Kontakt nach Halle unterhielten, hatten

trotzdem dort ihre Ausbildung erhalten und wurden verstärkt von dort aus angeworben.

2. Die Reformbestrebungen pietistischer Lehrer und Geistlicher zielten vor allem auf Unterrichtsinhalte und

weniger auf geistliche Prägung.65

Anhand der wenigen vorhandenen Quellen zur Ritter- und Domschule vor 1768 ist

eine Antwort zu Oberschelps zweiten Punkt schwierig. Es ist davon auszugehen, dass

62 TLA.230.1.Bp13, verschiedene Blätter am Ende der Akte. 63 AFSt/S A, I, 213. Reliquae Philanthropini (Nachlass Philanthropin): I, 2 (Meritenbuch). 64 Siehe Fußnote 4. 65 Siehe Fußnote 4.

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gerade ein umfassendes pietistisches Schulsystem wie es hier mit höherer Schule,

Waisenhaus und Mädchenschule vorhanden war, auch versucht wurde im pietistischen

Sinne die Schüler durch zu prägen. Dies erfolgte weitestgehend durch Morgenandachten,

Dankgebete und vor Allem das Auswendiglernen protestantischen Schriftgutes, wie es in

dem Schulprogramm von Johann Loder erkennbar ist. Grundsätzlich zählt hier aber Tröhlers

Einwand – es ging zusätzlich auch um allgemeine Veränderungen der Lehrpraxis, die nicht

unbedingt „pietistisch“ per se war. Gerade in dem Punkt meiner Untersuchung zur

Unterrichtsgestaltung und Methodik wurde nämlich deutlich, dass gar nicht so sehr von einer

„pietistischen“ Unterrichtsführung und Gestaltung, bis auf die eben genannten Punkte der

„christlichen“ Elemente des Unterrichts, gesprochen werden kann. Der Punkt der Methodik

ist zu sehr abhängig von den Bedingungen, welche in den jeweiligen einzelnen Schulen

vorherrschten. Es ist davon auszugehen, das im Verlauf der 18. Jahrhunderts, mehr oder

minder ähnliche Ideale für die Schulpraxis formuliert wurden – wie diese in der Wirklichkeit

ausgestaltet wurden, ist dabei eine spezifische Fragestellung für jede einzelne Schule. Es ist

also festzuhalten, dass in diesem Zusammenhang die Fokussierung auf pädagogische

Strömung des „Pietismus“ weniger bedeutsam ist und eher von einer Allgemeinen

Entwicklung der Pädagogik im 18. Jahrhundert die Rede sein muss.

3. Im Verhältnis von Pietismus und Aufklärung sollten statt der trennenden stärker die verbindenden

Elemente betont werden.66

Oberschelps dritte These schwingt in diesem Aufsatz nur zwischen den Zeilen mit,

aber allein meine bisherigen Recherchen im Rahmen meines Dissertationsvorhabens zum

Schulalltag am Philanthropin Dessau als „Musterschule der Aufklärung“ und dem des

Pädagogiums lassen keine allzu großen Unterschiede erkennen, mit Ausnahme der

Disziplinierungsmechanismen, welche sich am Philanthropin zunächst wesentlich

tiefgreifender waren, als am Pädagogium der Franckeschen Stiftungen. Und auch anhand

dieser Untersuchung, welche sich im zeitlichen Zwischenraum zwischen beiden Strömungen

befand, lassen keine völlig neuartigen pädagogischen Entwicklungen an den hiesigen

Schulen erkennen.

Abschließend möchte ich einen Blick auf weitere bisher wenig beachtete

Forschungsfelder wagen. Das gesamte Schulwesen im Dombezirk Revals war durch die

Schulpraxis aus Halle beeinflusst. Zahlreiche Quellen zur Ritter- und Domschule sind zwar

verloren gegangen, aber zum Waisenhaus, wie auch zur Mädchenschule konnte ich im

Stadtarchiv das private Kirchenbuch67 aufspüren, in welchen Mickwitz alle Schüler und

66 Siehe Fußnote 4. 67 TLA.237.1.21, „Privat Kirchen-Buch von besondern Umständen der Gemeinde zur eigenen Nachricht angefertigt. Reval, anno 1724" (1724 – 1831) – begonnen von Christoph Friedrich Mickwitz.

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Schülerinnen des Waisenhauses und der Mädchenschule vermerkte. Diese Verzeichnisse

wurden bisher noch nicht ausgewertet.

Aus den Korrespondenzen in Halle erschließen sich weitere, nicht berücksichtigte

Forschungsfelder. Dies betrifft in erster Linie das Waisenhaus in Alp, dessen Geschichte

bisher weitgehend im Dunkeln liegt.

Ein wesentliches größeres Forschungsfeld wäre dann das, welches ich am Ende

ansprechen möchte. Das Verhältnis von pietistischer Schulreform und der anschließenden

Herrnhuter Bewegung, welche neue Landschulen für die estnisch- und lettischsprachige

Bevölkerung im nördlichen Baltikum gründete, welche hier in Estland teilweise unversöhnlich

aufeinander stieß. Dabei liegt ein wichtiger Fokus auch auf das Verhalten der Oberschicht zu

beiden Phänomenen. Wer waren die Adligen die pietistische Reformen und später

herrnhutische Reformen unterstützen, die beide auf eine Besserstellung der estnisch- und

lettischsprachigen Bevölkerung, welche meist Leibeigene der adligen Gutbesitzer waren und

nur wenig Rechte hatten? Und wer waren ihre Gegner? Denn beide Strömungen hatten

Gegner unter der adligen und städtischen Oberschicht. Ich habe dazu beispielsweise in Riga

drei große Bände Untersuchungsakten zu dieser Thematik gefunden, welche über die

„Untriebe“ der Herrnhuter, aber auch Pietisten berichtet.68

Quellen- und Literaturverzeichnis:

Quellen:

Archiv der Franckeschen Stiftungen Halle:

- AFSt H A 188b : 554 2: Brief von Christoph Friedrich Mickwitz an Joachim Lange vom 12.06.1738

- AFSt/S: A, I, 123

- AFSt/S A, I, 199

- AFSt/S A, I, 213

- Franckesche Stiftungen zu Halle (Saale) / Datenbank zu den Einzelhandschriften in den historischen

Archivabteilungen – http://192.124.243.55/cgi-bin/gkdb.pl

Talinner Stadtarchiv (Talinna Linnaarhiiv) - TLA:

- 230.1.Bp 13

- 230.1.Bp 14

- 237.1.21

Eesti Ajalooarhiiv – Estnisches Historisches Archiv in Tartu - EAA:

- Bestand 854.2.2720

Eesti Ajaloomuseum - EAM:

- Bestand 34.2.99

68 LVVA: Fond 1395, Findbuch 1, Akten 737 – 739.

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Historisches Staatsarchiv Lettland (Latvijas Valst vestures arhivs), LVVA:

- Fond 4038 Findbuch 2 Akte 1003

- Fond 1395, Findbuch 1, Akten 737 – 739

Nachlass des Philanthropin Dessau (Reliquae Philanthropini):

- I, 2 (Meritenbuch)

Sekundärliteratur (alphabetisch):

Ältere Sekundärliteratur aus den Baltica Beständen der Akademischen Bibliothek der Universität

Tallinn (teilweise auch als Primärquelle im Text verwendet):

- A.J. Berting: Lehrer-Album des Revalschen Gymnasiums 1631-1832, Reval, 1862

- Johann Bernhard Heinrich Göbel: Grundsäzze der Erziehung. In Verbindung mit einem Plane der

akademischen Ritterschule zu Reval, Reval, 1774

- Heinrich Wilhelm Wigand: Kurzgefasste Geschichte des zum Dome gehörenden Waisenhauses, nebst

eines Anhanges, Reval, 1777

- Ph. v. Willigerod: Das Gouvernements=Gymnasium zu Reval im 18. Und 19. Jahrhundert. In: Archiv für

die Geschichte Liv-, Esth- und Kurlands, hrsg. von Dr.. F. G. von Bunge, Bd. 1, Dorpat, 1842, S. 88 - 117

- Probst R. Winkler: Aus den Jugend- und ersten Amtsjahren des Oberpastors am Dom zu Reval –

Christoph Friedrich Mickwitz, Reval, 1908

* verwendet wurden zudem zahlreiche Lexikas des Baltica Lesesaals der Akademischen Bibliothek, wie

Petra Gottzmann und Carola Hörner: Lexikon der deutschsprachigen Literatur des Baltikums und St.

Petersburgs. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Berlin, New York, 2007

Weitere Sekundärliteratur:

- Erich Donnert: Agrarfrage und Aufklärung in Lettland und Estland. Livland, Estland und Kurland im 18.

und beginnenden 19. Jahrhundert, Frankfurt/Main New York, 2008

- Indrek Jürjo: Die Bildungsreformen und –diskussionen in Reval im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts.

In:Baltische Literaturen in der Goethezeit. Hrsg. von Heinrich Bosse (u.a.), Würzburg, 2011

- Janis Kreslins: Der Einfluss des halleschen Pietismus auf Lettland. In: Halle und Osteuropa. Zur

europäischen Ausstrahlung des halleschen Pietismus, hrsg. von Johannes Wallmann und Udo Sträter,

Tübingen, 1998, S. 145 - 156

- Peter Menck, Das „Pädagogium“ der Franckeschen Anstalten in Halle an der Saale. In: Dimensionen

der Erziehung und Bildung. Festschrift zum 60. Geburtstag von Margret Kraul, hrsg. von Andreas

Hoffmann-Ocon (u.a.), Göttingen, 2005, S. 29 - 48

- Wolfgang Neugebauer: Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit in Brandenburg-Preußen. Berlin,

New York, 1985

- Axel Oberschelp: Das Hallesche Waisenhaus und seine Lehrer im 18. Jahrhundert. Lernen und Lehren

im Kontext einer frühneuzeitlichen Bildungskonzeption, Tübingen, 2006

- Axel Oberschelp: Ausstrahlung und Gravitation von Franckes Schulen. In: Zwischen christlicher

Tradition und Aufbruch in die Moderne. Das Hallesche Waisenhaus im bildungsgeschichtlichen Kontext,

hrsg. von Juliane Jacobi, Tübingen, 2007

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- Ehrenhard Skiera: Reformpädagogik in Geschichte und Gegenwart: eine kritische Einführung. München,

2010

- Arvo Tering: Die Ausbildung der baltischen Prediger an deutschen Universitäten. In: Halle und

Osteuropa. Zur europäischen Ausstrahlung des halleschen Pietismus, hrsg. von Johannes Wallmann

und Udo Sträter, Tübingen, 1998, S.129 - 144

- Maria Tilk und Vadim Rouk: Zur Geschichte der Tallinner Domschule. In: Rigas Domskola un izglitibas

pirmsakumi. Skolu Vesture Igaunija un Lietuva, hrsg. von Baltijas Pedagogijas vesturnieku asociacija

Riga, 2011

- Daniel Tröhler: Historische Bildungsforschung zwischen narrativer Fiktion und lokaler Persistenz.

Kommentar zu Axel Oberschelps „Ausstrahlung und Gravitation von Franckes Schulen“, in: Zwischen

christlicher Tradition und Aufbruch in die Moderne. Das Hallesche Waisenhaus im

bildungsgeschichtlichen Kontext, hrsg. von Juliane Jacobi, Tübingen, 2007, S. 139 – 145

- Gertrud Zapernick: Kurzer Bericht zum Pädagogium Regium 1695-1784. In: Schulen machen

Geschichte. 300 Jahre Erziehung in den Franckeschen Stiftungen zu Halle, Halle, 1997, S. 67 –82