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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2014 oekom, Münchenoekom verlag, Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbH Waltherstraße 29, 80337 München

Layout: oekom verlagSatz: Volker Eidems, greentextUmschlaggestaltung: Elisabeth Furnstein, oekom verlagUmschlagabbildung: XXXDruck: AZ Druck- und Datentechnik, Kempten

Dieses Buch wurde auf 100%igem Recyclingpapier gedruckt.

Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-86581-700-6

Sächsische Hans Carl von Carlowitz Gesellschaft (Hrsg.)

Carlowitz weiter denkenMenschen gestalten

Nachhaltigkeit

Jahresschriften der Hans Carl von Carlowitz Gesellschaft e.V.Band 2014

9

13

25

29

Inhaltsverzeichnis

Vorwort des HerausgebersDieter Füsslein

Teil I – Reden anlässlich der Sächsischen Nachhaltigkeitskonferenz

am 6. November 2013 im Opernhaus Chemnitz

Klaus TöpferVergangenheit und Zukunft eines Begriffs,

des Begriffs der Nachhaltigkeit

Fritz Jaeckel»Manchmal hat man den Eindruck, dass

ohne Nachhaltigkeit gar nichts mehr geht.«

Dieter Füsslein»Gegensätze komplementär denken:

Wissenschafts entwicklung ohne Erkenntnisgrenzen einerseits und Ressourcengrenzen

des ›blauen Planeten‹ andererseits«

6 Inhaltsverzeichnis

33

41

49

Stanislaw Tillich»Wer es mit Nachhaltigkeit ernst meint,

der denkt in Generationen,nicht im Rhythmus von Quartalsberichten

oder Legislaturperioden.«

Jochen Bohl»Das Prinzip des nachhaltigen Umgangs

mit der Natur ist bereitsin den Schöpfungserzählungen

biblisch angelegt.«

Teil II – Vorträge anlässlich verschiedenerVeranstaltungen der Sächsischen

Hans-Carl-von-Carlowitz-Gesellschaft

Ulrich GroberNachhaltigkeit – Kind der Krise,

Schlussel zum Überleben

7Inhaltsverzeichnis

63

91

123

133

Stefan BrunnhuberDer neue Club-of-Rome-Bericht:

Geld und Nachhaltigkeit

Markus VogtCarlowitz weiterdenken.

Nachhaltigkeit als Basis fur eine

»Große Transformation« heute

K.-H. HublerWas hat der »Erfinder der Nachhaltigkeit«

von Carlowitz der Raumplanung von heute zu sagen?

Ilja Kogan, Sebastian LieboldSächsische Humanisten als Ideengeber

nachhaltiger Ressourcennutzung. Georgius Agricola und

Hans Carl von Carlowitz

Vor-nameaus-schrei-ben?

Benutzer1
Notiz
Karl-Hermann Hübler

Vorwort des Herausgebers

Hans Carl von Carlowitz (1645–1714) ist der Begründer des Nachhal-

tigkeitsbegriffes, und er gilt als Vordenker des prägenden Anliegens des

21. Jahrhunderts, des übergeordneten Prinzips, kurz des neuen Para-

digmas »nachhaltig«. Anlässlich seines 300. Todestages schrieb die

Frankfurter Allgemeine Zeitung am 1. März dieses Jahres unter dem

Titel »Eine Idee setzt sich nachhaltig durch«:

»Carlowitz schrieb Geschichte, ohne dass er Krieg führen oder Revolu-

tionen anzetteln musste.«

Die weltweite Suchbewegung für eine nachhaltige Entwicklung nutzt

sein Standardwerk »Sylvicultura oeconomica« (1713) als Navigations-

gerät für die in Angriff genommene Transformation der Weltgesell-

schaft. Hans Carl von Carlowitz wird auch im UN-Global Sustainable

Development Report – einem zentralen programmatischen Dokument

der UN – als Urheber von »sustainable development« genannt:

»… The origins of the concept of sustainable development has a very

long history in science. For example, already in 1713 Hans Carl von Car-

lowitz referred to ›sustainable yield‹ (nachhaltiger Ertrag) in the context

of sustainable forestry management …«

Carlowitz hat uns einen Kompass für das Wachstum heilender Kräfte

und gegen zerstörerisches Wachstum hinterlassen, und er hilft uns, ein

Gleichgewicht zwischen den Bedürfnissen der Menschen und der Trag-

fähigkeit des Planeten Erde zu finden.

9Vorwort

Vorwort10

Das Carlowitz’sche Postulat lautet: Nur wer als höchste Wertschöp-

fung seiner Arbeit größtmögliche Humanität, Umweltgerechtigkeit und

Wirtschaftlichkeit anstrebt, erreicht langfristig in jeder Hinsicht den

höchsten Wirkungsgrad.

Bereits der Untertitel des Carlowitz’schen Buches »Anweisung zur

wilden Baumzucht« hebt den Bildungsaspekt stark hervor. Die einfache

Einsicht, dass neues und verbreitetes Wissen zur Nachhaltigkeit neue

Fähigkeiten in ebendiesem Sinne erzeugt, neue Fähigkeiten bei entspre-

chender Einsicht nachhaltige Leistungen ermöglichen und nachhaltige

Leistungen die erweiterte Basis einer nachhaltig sich fortentwickelnden

Welt schaffen, was seinerseits wieder nachhaltigeren Fortschritt garan-

tiert, ist der eigentliche Grund für die Herausgabe einer Buchreihe unter

dem Leitbild des Namensgebers Hans Carl von Carlowitz.

Die Jahresausgaben beinhalten die Druckfassungen der Carlowitz-

Vorlesungen der Carlowitz-Gesellschaft sowie die Reden der Preisträger

und Laudatoren anlässlich der jährlichen Preisverleihung des Hans-

Carl-von-Carlowitz-Nachhaltigkeitspreises der Carlowitz-Gesellschaft.

Begleiten Sie mit uns die aktuelle Debatte um eine nachhaltige

Entwicklung im 21. Jahrhundert. Ihre Weggefährten im 1. Band sind re-

nommierte Politiker und Wissenschaftler ganz unterschiedlicher Wis-

senschaftsgebiete, die den transdisziplinären Ansatz des Nachhaltigkeits-

strebens abbilden.

Ein herzlicher Dank gilt den Autoren dieses Bandes für ihre Mit -

arbeit; wir bedanken uns beim oekom Verlag, der uns die Herausgabe

ermöglichte. Wir verstehen den »Band 2014« als Beitrag zur weltweiten

Suchbewegung nach einer nachhaltigen Entwicklung und wünschen

Ihnen eine anregende Lektüre.

Glück auf!

Dr. oec. habil. Dieter Füsslein

Vorstandsvorsitzender

der Sächsischen Hans-Carl-von-Carlowitz-Gesellschaft e.V.

zur Förderung der Nachhaltigkeit

Benutzer1
Notiz
in diesem Band

11

Teil I

Reden anlässlich der Sächsischen Nachhaltigkeits -konferenz am 6. November 2013

im Opernhaus Chemnitz

Klaus Töpfer

Vergangenheit und Zukunft eines Begriffs,des Begriffs der Nachhaltigkeit*

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Frau Oberbürgermeisterin,

Herr Staatssekretär, alle anderen hoch zu ehrenden Ehrengäste, lieber

Günther Bachmann.

Ich möchte mich erst einmal ganz herzlich dafür bedanken, dass Sie

mich eingeladen haben, auf dieser Bühne zu stehen.

Da wird man ja wirklich schauspielerisch gefordert, ich blicke in

etwas Schwarzes hinein und kann nur vermuten, dass da Menschen sit-

zen. Eines der in besonderer Weise nichtnachhaltigen Arrangements,

mit denen wir uns abzugeben haben.

Herzlichen Dank, dass Sie gekommen sind, und ich freue mich na-

türlich, dass die Nachhaltigkeit im Publikum belegt ist. Es sind die Car-

lowitzens da, über 300 Jahre eine Familie Carlowitz zusammenzuhalten,

und in diesen Bereich zu halten, Respekt der Familie, die das 300 Jahre

durchgehalten hat.

Ich weiß, wovon ich rede, bei mir sind es wesentlich weniger Jahre

in meiner Familie.

Gut, dass Sie da sind.

Genauso freue ich mich darüber, dass wir einen Nach-Nach-Nach-

folger von Carl von Carlowitz auch hier haben. Den Oberberghaupt-

mann Herrn Schmidt. Er sitzt und saß im alten Dienstzimmer von Carl

von Carlowitz und wird uns heute Nachmittag nach Freiberg führen.

Denn das kennzeichnet ja die gesamte Region.

Klaus Töpfer14

* Mitschrift der Rede von Prof. Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister a.D.

anlässlich der Sächsischen Nachhaltigkeitskonferenz am 6. November 2013

in Chemnitz

was?

Benutzer1
Notiz
Denn das kennzeichnete ja die gesamte Region, das Erzgebirge.

Die älteste Bergakademie nicht nur in Deutschland, in Europa, son-

dern weltweit ist in Freiberg, in Sachsen. Sie ist bis zum heutigen Tag

ein wissenschaftliches Zentrum bergbaulicher Forschung in dem heute

weiten Sinne des Wortes.

Es ist großartig, Herr Schmidt, dass Sie gekommen sind und dieses

Erinnern an Ihren Vorgänger mittragen.

Es ist auch deswegen wichtig, dass wir die Ausgangssituation noch

einmal genau aufgreifen.

Sehen Sie, wenn man durch die Welt zieht, dann ist die vordergrün-

dige Meinung immer: Nachhaltigkeit, das ist etwas Ökologisches, das

hat was mit Umwelt zu tun.

Wenn man dann 3oo Jahre Carl von Carlowitz bedenkt, dann ist

man auf einmal aus dieser Überlegung etwas herausgerissen.

Denn wie gesagt, er war Oberberghauptmann, er war nicht Ober-

förster. Und was ihn zum Schreiben dieses Buches gebracht hat, das war

die Rohstoffenergiekrise seiner Zeit, war Holz.

Also, er hat zunächst mal nicht gefragt, ob wir stabile Ökosysteme

brauchen in den Wäldern, sondern er hat schlicht und einfach die

Frage gestellt, was können wir tun, damit wir auch auf Dauer weiter

Bergbau in Sachsen und im Erzgebirge betreiben können als Grundlage

für Arbeitsplätze, für Wohlstand in dieser Region, auch für die Bedeu-

tung seines obersten Dienstherrn, des Großfürsten und Königs von

vielen Regionen.

Also, er war ökonomisch gefordert, und er musste eine Antwort da-

rauf geben, wie gehen wir mit dieser Rohstoff- und Energiekrise um.

Das hört sich dann schon sehr, sehr bekannt an, denn mit solchen

Krisen sind wir auch konfrontiert, und er hat in seiner Überlegung in

diesem Buch, das jetzt auch für uns heute hier gut lesbar vorliegt…

Herr Hamberger, Gratulation Ihnen, dass Sie dieses Werk, ich will

mal sagen, übersetzt haben. Damit wir es alle wirklich jetzt auch lesen

können, denn es ist ja eine der tragischen Erkenntnisse solcher Werke,

dass sie mehr zitiert als gelesen werden.

Das hat nicht nur dieses Buch, sondern das haben auch andere zu

ertragen, jetzt können wir es wirklich weiterlesen.

15Vergangenheit und Zukunft eines Begriffs, des Begriffs der Nachhaltigkeit

Diese Neufassung ist bei der letzten Buchmesse in Leipzig vorgestellt

worden, und ich glaube, es ist wichtig, das immer und immer wieder zu

unterstreichen. Nicht um Werbung zu machen für das Buch, sondern

um deutlich zu machen, lesen wir mehr als nur das eine Zitat. Deswegen

war es auch gut, dass nicht nur dieses eine Zitat vorgetragen wurde, son-

dern etwas breiter aus diesem Werk gelesen wurde.

Und dann sollen diese Hinweise daran erinnern, dass die entschei-

dende Frage für Hans Carl von Carlowitz war, das Wesentliche zu tun,

um die wirtschaftliche Basis dieser Region auf Dauer zu erhalten.

Seine Überlegungen da drinnen, man muss es immer und immer

wieder unterstreichen, gehen genau in die Richtung, mit denen wir ge-

genwärtig auf Krisen zu antworten und zu reagieren haben, ebendie

Energie- und Rohstoffkrisen.

Er fragt sich in diesem Buch sehr intensiv, was können wir denn tun,

um effizienter, sparsamer mit diesen Rohstoffen umzugehen, und macht

sehr detaillierte Vorschläge dafür bis hin zur Nutzung von Holz durch

Hausfrauen zum Kochen von Mittagessen und Abendessen, bis hin zu

vielen anderen Dingen. Effizienz als eine seiner Überlegungen zur Über-

windung dieser Rohstoffkrise.

Genauso fragt er sich, wenn mir das Holz ausgeht, kann ich die glei-

chen Zwecke nicht mit anderen Mitteln erreichen? Also, er fragt nach

Substitution, kann man das ersetzen, und er macht das auch sehr, sehr

konkret.

Schon auf dem Titelblatt steht, dass er sich Gedanken gemacht hat,

wie geht man mit Torf um, können wir Torf nicht nutzen, um Energie

zu erzeugen?

Günther Bachmann hat vor nicht allzu langer Zeit in diesem Zusam-

menhang gesagt: Dieser Torf bei Hans Carl von Carlowitz ist das Schema

von heute. Darüber nachzudenken, wie können wir substituieren, wie

können wir ersetzen und welche Konsequenzen hat das Ersetzen denn

für andere Zielsetzungen? Das galt für Torf damals genauso wie heute

für andere Rohstoffe. Also, auch das ist eine klassische Entwicklung, ge-

nauso wie er sich fragt, können wir nicht neue Wege gehen, insgesamt

Engineering zu betreiben?

16 Klaus Töpfer

wel-chesZitat istge-meint?

Benutzer1
Notiz
Zitat "anzustellenden sothanen Conservation und dem Anbau des Holzes, daß es eine continuirliche beständige und nachhaltende Nutzung gäbe."

Interessant zu wissen, dass etwa 200 Jahre später, nach Hans Carl

von Carlowitz, man in einer anderen Region von Europa in eine ver-

gleichbare Situation hineingeraten ist, nämlich im südlichen Bereich

der Toskana in Italien, wo heißes Wasser aus der Erde herauskam, es

war borhaltig, man wollte das Bor gewinnen, dafür brauchte man wie-

derum Energie, darum hat man wiederum die Bäume abgeschlagen,

und so kam man auch wieder auf die Frage, was machen wir denn jetzt,

wenn uns die Wälder dahinschwinden?

Zu deren Substitution wurde dann die Biothermie erfunden, das ist

dort zum ersten Mal genutzt worden. Also, Sie sehen, diese Überlegun-

gen waren immer ökonomisch motiviert. Dass sie darüber hinaus an-

dere Dimensionen hatten, und von Carlowitz schon angesprochen wur-

den, sollte nicht übersehen werden.

Er fragt sich, wenn wir mehr Bäume pflanzen müssen, wen können

wir denn in die Verantwortung dafür nehmen, dass sie gepflanzt werden?

Und er sagt, offenbar nicht die Landarbeiter oder einfachen Leute, son-

dern das ist die Verpflichtung derer, die wohlhabend genug sind, um

über die Generation hinaus zu denken. Und er nimmt den Adel in die

Pflicht, die damalige Oberschicht. Er hat sie also in die Pflicht genom-

men und gesagt, das sind die wenigen, die eigentlich die Möglichkeiten

haben, jetzt zu pflanzen, jetzt zu investieren und die Erträge daraus nicht

selbst zu haben, sondern sie in der Zukunft von anderen ernten zu lassen.

Wir können nicht darauf warten, dass dies die nicht dafür ökono-

misch ausgezeichneten Menschen tun, sondern dies muss in eine ganz

offensichtlich soziale Dimension, wenn er darauf hinweist, da sollen

nicht mehr nur so viele Paläste gebaut werden, sondern viel eher sollte

man in Häuser investieren. »Investieren« steht da nicht drin, ich will es

nur in die heutige Sprache übersetzen.

Also, Sie sehen, es ist eine ökonomische Inangriffnahme dieser Pro-

bleme. Und die Antworten auf eine den Menschen offenbar über alle

Generationen hinweg sehr naheliegende Verhaltensweise: dass er immer

wieder versucht, die Posten, die seinen gegenwärtigen Wohlstand dar-

stellen, nie gleich zu bezahlen, sondern zu sagen, das machen wir später.

Das ist das Verschieben von Posten. Und nur das zu machen, was wir

17Vergangenheit und Zukunft eines Begriffs, des Begriffs der Nachhaltigkeit

sie meinthier was?

Benutzer1
Notiz
Dass sie darüber hinaus auch ökologische und ethische Dimensionen hatten ....

jetzt kurzfristig brauchen. Wir können dann sagen, das ist noch immer

gut gegangen, oder das fällt uns später auch noch ein.

Also, der Mensch tendiert offenbar dazu, die kurzfristigen Folgen

seiner Entscheidungen alleine zu betrachten und nicht die mittleren

und langfristigen Konsequenzen zu sehen.

Das ist der entscheidende Veränderungsfaktor bei Hans Carl von

Carlowitz. Er bringt die Zeit in die Dimension der Entscheidung hinein.

Fragt sich nur, kann ich’s heut noch machen, möglicherweise sogar

heute sehr billig, weil ich nicht pflanzen muss?

Sondern welche Konsequenzen hat das Abhauen eines Baumes heute

für mittel- und langfristige Dinge, die nicht mehr mich betreffen.

Die Dimension der Zeit aufzuhalten!

Das geht in der Tat in die christliche Verantwortung sehr unmittelbar

ein, genau diese Dimension der Zukunft und die damit verbundene Ver-

antwortung für die Folgen des eigenen Tuns. Und das ist zugegebener-

maßen schon eine ethisch sehr herausfordernde Tatsache.

Wie können wir das machen, und natürlich, Herr Füsslein, bin ich

auch mit Ihnen der Meinung, das geht da sehr stark auch um die Frage

der ökologischen Dimension.

Aber ich möchte hier mal auf diese Dinge hinweisen, die wir heute

in besonderer Weise als nicht mehr nachhaltig oder noch nie nachhaltig

fast ausgeblendet haben, jedenfalls nicht unmittelbar mit diesem Namen

verbinden.

Also, es ist angesprochen worden, dass im Jahre 2006 Kurt Bieden-

kopfs Buch erschienen und zum Bestseller geworden ist, »Die Ausbeu-

tung der Enkel, ein Plädoyer für die Rückkehr zur Vernunft«, das ist

der Titel. Die Ausbeutung der Enkel. Da steht das Wort »nachhaltig«

nicht drin. Im Titel nicht, und es ist auch nicht unter dem Begriff »Nach-

haltigkeit« in besonderer Weise erörtert worden. Aber genau das ist eine

Definition der Nachhaltigkeit.

Ganz offenbar bedeutet die Ausbeutung der Enkel, dass wir die Kos-

ten unseres Wohlstands gegenwärtig nicht mehr in unseren Zahlungs-

verpflichtungen aufgreifen, sondern sie auf die Enkel fortschreiben und

sie damit indirekt ausbeuten.

18 Klaus Töpfer

er macht erstmalsauf die zeitlicheDimension jegli-cher Entschei-dung aufmerk-sam?

Benutzer1
Notiz
Diesen Satz ersetzen durch: In dem er in seinem Werk durchgehend auf die alternative Verantwortung der heutigen Entscheidungsträger für die zukünftigen Generationen dringt, bringt er die Zeit in die Dimension der Entscheidung hinein.

19Vergangenheit und Zukunft eines Begriffs, des Begriffs der Nachhaltigkeit

Im ökologischen Zusammenhang hab ich das mal gesagt, es gibt so

etwas wie eine ökologische Aggression. Das ist die soziale Aggression

gegenüber der nachfolgenden Generation. Und das ist ja nicht so was,

was wir nur in diesem Teilbereich abgehakt haben.

Meine Damen und Herren, bis in die Gegenwart hinein wissen wir,

dass dieses Verhalten, Verpflichtung von heute auf die Zukunft vorzu-

tragen, sowohl in der Zukunft der kommenden Generation als auch in

der Zukunft der mit uns an anderen Orten Lebenden weitergeht.

Und sehen Sie die aktuelle Diskussion in Europa, warum haben wir

einen Fiskalpakt in Europa? Was ist zu tun, damit wir die massive Über-

schuldung abbauen?

Und die kommen genauso wieder zu derselben Abwälzungs- und

Kurzfristigkeitsdiskussion, von der ich gerade mit Blick auf Carlowitz

gesprochen habe, der das in seiner Zeit als Grundlage für Fehlentwick-

lungen herausgearbeitet und durch dieses Buch versucht hat zu kom-

munizieren.

Ich wage die Behauptung, dass das, was wir gegenwärtig als besonders

nichtnachhaltig ansehen, die Finanzarchitektur dieser Welt ist und die

Wirtschaftsstrukturarchitektur dieser Welt, die dazu verleiten, Kosten

abzuwälzen. Und all die großen Konsequenzen dieses Abwälzens führen

dazu, dass sie die wirklichen Knappheiten verdecken.

Also, wir sehen, dass wir diese Grundmentalität des Abwälzens als

eine Dominanz der Kurzfristigkeit wiederfinden.

Was Nachhaltigkeit bei Carlowitz bedeutet, heißt, sich Freiräume zu

erhalten für zukünftige Entscheidungen. Und das ist wiederum eine sehr

herausfordernde Aufgabe. Wenn ich das in unsere Zeit hineintranspor-

tiere, sehe ich, dass wir in eine immer stärkere Kurzfristigkeitsmanie

hineinlaufen. Dass wir immer weniger die Möglichkeit haben, Alterna-

tiven zu entwickeln und damit Freiräume zu erhalten, wie Hannah Ah-

rendt das so richtig gesagt hat: dass man Alternativen haben muss. Al-

ternativen, neu anfangen zu können, ist für sie der Kern der Freiheit.

Wie kriegen wir es hin, dass wir Nachhaltigkeit so verstehen, dass wir

mittel- und langfristig die Konsequenzen unseres Handelns heute auf-

greifen und damit Freiräume für andere schaffen, die nach uns kommen?

So ist die offizielle Definition von Nachhaltigkeit dann hinterher in

den Bericht »Our Common Future, unsere gemeinsame Zukunft« der

sogenannten Brundtlandkommission hineingeflossen. Also, handele

heute so, dass dein Handeln nicht das Entscheiden und das Handeln

kommender Generationen infrage stellt. Genau diese Dimension der

Zeit also aufgreifen, um Freiräume zu erhalten.

Wir sind sehr besorgt darüber, dass die Vielzahl der Dinge und der

Entscheidungssituationen, die uns im Privaten bis in die hohe Politik

hinein als alternativlos vorgegeben werden, ein immer deutlicheres Zei-

chen dafür sind, dass wir nicht nachhaltig sind.

Deswegen ist es sinnvoll, so etwas wie einen Stabilitäts- und Wachs-

tumspakt im Ökonomischen zu machen.

Aber warum, meine Damen und Herren, machen wir dann nicht auf

europäischer Ebene einen Stabilitätspakt für die Umwelt?

Wir übernutzen sie jetzt, die Abschreibungen auf diese Nutzung neh-

men wir nicht vor: Carlowitz sagt, er pflanzt keine Bäume, aber er nutzt

sie nur. Wir sind destabilisierend und so, wie Kurt Biedenkopf sagt, die

Aus beutung der Enkel, die er aber in besonderer Weise im finanziellen

Bereich sieht.

Kann man denn so ein Buch schreiben über die Ausbeutung der

Enkel mit Blick auf die Möglichkeiten, die sie aus der Natur und ihrer

Leistung für den Menschen haben?

In eine Zeit hinein also, wo die Kenntnisse der Menschen über die

Bausteine von Natur und Leben immer tiefgehender werden, wo also die

Notwendigkeit, länger zu denken, ansteigt, weil es nicht mehr nur darum

geht, welche Konsequenzen hat das für meine Nächsten, sondern auch

für meine Fernsten, wie Hans Jonas es richtigerweise gesagt hat.

Also, wir sind in einer allgemeinen Entwicklung von Wissenschaft

und Technik, die immer weiter fortschreitet in der Entschlüsselung von

Natur und die damit immer weitgehendere Konsequenzen haben kann

oder haben wird, die wir alle jetzt mitbedenken müssten und dieses

nicht mehr mitbedenken können.

Hans Jonas, den ich zitierte, dieser große deutschjüdische Philosoph,

hat das in seinem Buch »Das Prinzip Verantwortung« mit folgendem

20 Klaus Töpfer

Bezug?

Satz?

Sinn?

Zusam-men-hang?

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Benutzer1
Notiz
Diesen Satz ersetzen: So ist die offizielle Definition von Nachhaltigkeit dann hinterher in den Bericht »Our Common Future, unsere gemeinsame Zukunft« hineingeflossen, den die so genannte Brundtlandkommission, die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen, 1987 veröffentlichte. Das heißt also, handele heute so, dass dein Handeln nicht das Entscheiden und das Handeln kommender Generationen infrage stellt. Genau diese Dimension der Zeit ist darum aufzugreifen, um Freiräume zu erhalten.
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Notiz
ihr
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Notiz
ihr
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Benutzer1
Notiz
wir beuten die Enkel aus, was er ....
Benutzer1
Notiz
ihren Leistungen

Satz formuliert, ich zitiere: »Unser Wissen muss dem kausalen Ausmaß

unseres Handelns größengleich sein.«

Und er führt fort: »Genau das ist es nicht.«

Und deswegen ist eine jede Entscheidung heute vor dem Hinter-

grund zu stellen: Können wir dies in die Verantwortung der Menschen

mit hineinnehmen?

Ich sage dies wissend, dass wir dazu tendieren, genau dies auszublen-

den. Die Bankenkrise, die wir 2008 erlebt haben, ist genau dadurch mit-

begründet, dass wir eine Trennung von Haftung und Risiko zugelassen

haben. Und wenn Sie die beiden trennen, wenn der, der die Risiken ein-

geht, nicht dafür haftet, dann werden Sie sich nicht darüber wundern

können, dass sie ein sehr optimistisches Bild von möglichen Risiken

vorgegaukelt bekommen haben.

Und genau das ist eingetreten. Also auch dies zeigt Hans Carl von

Carlowitz. Dass eine solche Entscheidung, die nicht mehr die Risiken

des heutigen Entscheidens in die Haftung derer bringt, die dann ja gar

nicht mehr da sind, offenbar die Wahrscheinlichkeit mit sich tragen,

dass sie eine zu optimistische Beurteilung von Risiken haben.

Das ist der Inhalt von Hans Jonas.

Das führt uns, wie ich meine, in die Perspektive von Nachhaltigkeit,

in die wir hineingehen.

Und wenn es so ist, dass der Mensch immer stärker durch sein Han-

deln und durch sein Wissen Natur beeinflusst, dann kommen wir of-

fenbar in eine neue erdgeschichtliche Perspektive. Dies ist nicht eine

Sache, die ich mir habe einfallen lassen, sondern der große Nobelpreis-

träger, der jetzt in diesem Jahr 80 Jahre alt werdende Paul Crutzen, hat

den Nobelpreis dafür bekommen, dass er den Zusammenhang zwischen

der Nutzung bestimmter Chemikalien heute und der Zerstörung der

Ozonschicht morgen hergestellt hat, und zwar nicht nur morgen son-

dern auch zu unserem Vorteil, gerade dort, wo das, was genutzt worden

ist, nie genutzt wurde, nämlich bei anderen. Intergenerativ und inter-

regionale Verteilung von Posten, sauber daraus abzulesen.

Dieser Paul Crutzen hat einen Beitrag geschrieben in dem renom-

mierten Journal »Loyal Nature« im Jahr 2001, mit der Überschrift:

21Vergangenheit und Zukunft eines Begriffs, des Begriffs der Nachhaltigkeit

Satz?

?

Benutzer1
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Entscheiden für Nachhaltigkeit.

»Idyologie of men, die Ideologie des Menschen«. Und hat darin heraus-

gearbeitet, dass wir eigentlich gar nicht mehr im alten erdgeschichtli-

chen Zeitalter, also nicht mehr im Holozän, leben, sondern dass wir

schon in einem menschengeprägten Zeitalter leben, und hat das »das

Antropozän« genannt. Und er hat darauf hingewiesen, dass das, was wir

gegenwärtig tun, eigentlich das ingenieurmäßige Bewältigen der nega-

tiven Konsequenzen vorangegangenen Tuns ist. Das ist Nachhaltigkeit

im Antropozän.

Auch wenn ein bisschen in den internationalen Diskussionen hinein

der Satz steht »Nature is out«. Was ist denn noch Naturkatastrophe ?

Ist ein Tsunami eine Naturkatastrophe? Oder ist es nicht dadurch

eine Katastrophe, dass eine der Welt immer immanentere Bewegung

dann zu einer Katastrophe führt, weil andere Menschen am Strand des

Meeres Kraftwerke gebaut haben? Wird nicht eine Katastrophe gerade

daraus, weil vorher Menschen gehandelt haben?

Ich glaube, darüber hat Carlowitz noch nicht nachdenken müssen,

wie denn das Anpflanzen von Bäumen Auswirkungen hat auf das glo-

bale Klima, welche Aufnahmefähigkeiten Wälder für CO2 haben, und

damit Antworten darauf zu finden, dass wir massenhaft CO2 freisetzen.

Also, das Nachdenken über die Auswirkungen menschlichen Han-

delns auf Nachhaltigkeit in dem Sinne ist gebotener denn je.

Deswegen ist es sehr gut, dass wir uns 300 Jahre nach dem Erscheinen

dieses Buches hier treffen. Und darüber nachdenken, was diesen großen

Mann motiviert hat, ein solches Buch zu schreiben, wie gesagt, nicht als

Oberförster, sondern als Oberberghauptmann, als jemand, der für die

Wirtschaft einer Region zuständig war und das sehr ernst genommen

hat. So wie wir auch heute noch sehen, dass immer wieder die Notwen-

digkeit, wirtschaftliche Perspektiven für die heutigen Menschen zu

schaffen, an die erste Stelle gestellt wird und eher etwas zufällig danach

gefragt wird, welche sozialen und ökologischen Konsequenzen unser

Handeln hat.

Ich freue mich, dass man vor dem Hintergrund dieser historischen

und zukunftsorientierten Perspektive mir die Ehre erweist, einen sol-

chen Preis zu bekommen.

22 Klaus Töpfer

Zusam-men-hang?

Benutzer1
Notiz
Ein weiterer Gedanke: Auch wenn ...

Es ist sicherlich richtig, dass man in seinem Lebenslauf relativ einfalls-

los war. Ich habe immer »Umwelt« gemacht. Andere Minister werden

wenigstens zwei- oder dreimal andere Minister, manche sogar noch mehr.

Aber man muss dann auch sagen, dass nicht zuletzt ein Hans Carl

von Carlowitz zeigt, dass, wenn der Schuster bei seinen Leisten bleibt,

ihn aber immer wieder auf die Notwendigkeiten seiner Zeit hin verän-

dert, er eine großartige Persönlichkeit sein kann.

Dass dies hier in Freiberg, in Sachsen, im Erzgebirge der Fall ist, be-

eindruckt mich ganz persönlich auch deswegen sehr, weil Freiberg, wie

vielleicht auch die Freiberger hier im Saal wissen, eine Städtepartner-

schaft mit Balschik in Schlesien hat. Balschik, das war Waldenburg, und

in Waldenburg bin ich geboren. Dass immer wieder, wenn man da hin-

kommt, sich zeigt, wie Europa eben nicht nur unter dem Gesichtspunkt

ökonomisch-ökologischer Notwendigkeiten zusammenwächst, sondern

dass die Menschen zusammenkommen und dass dies auch eine Heraus-

forderung für Nachhaltigkeit ist, alles daranzusetzen, dass wir durch un-

sere Entscheidungen heute nicht Ausgangspunkt von Spannungen und

von täglichen nur noch militärisch zu bewerkstelligenden Problemen

sind.

Dies also herauszuarbeiten war mir eine Freude.

23Vergangenheit und Zukunft eines Begriffs, des Begriffs der Nachhaltigkeit

Fritz Jaeckel

»Manchmal hat man den Eindruck, dass ohne Nachhaltigkeit gar nichts mehr geht.«*

26 Fritz Jaeckel

Wenn Sie, verehrter Herr von Carlowitz, sich zwischenzeitlich in Sach-

sen etwas umgesehen haben, werden Sie mir zustimmen, dass wir uns

schon lang nicht mehr damit trösten, dass »Holtz und Unglück über

Nacht wachsen«. Wir haben uns Ihre »Sylvicultura oeconomica« zu Her-

zen genommen, sowohl, was die »nachhaltende« Nutzung unserer Wäl-

der angeht, also auch Ihre sonstigen Vorschläge, um das Holz effizienter

zu nutzen. So gibt es heute bei uns beispielsweise sehr moderne Öfen,

die mit weniger »Holze mehr Wärme geben«, und auch beim Kochen

geht an modernen »Platten« »keine Hitze mehr umsonst weg«. Wir nen-

nen das Energieeffizienz, denn nach wie vor haben wir das Problem,

dass fossile Energieträger endlich und die erneuerbaren Energien noch

nicht grundlastfähig sind. Energie besser zu nutzen ist daher für mich

eines der wichtigsten Themen, wenn die Energiewende gelingen soll.

Doch Energieeffizienz ist nur ein Beispiel, wie wir die von Ihnen emp-

fohlene »nachhaltende« Nutzung verinnerlicht haben.

Das Prinzip, das einst in den sächsischen Wäldern heranwuchs und

für die Förster seit 300 Jahren modern ist, hat zwischenzeitlich einen

sagenhaften Aufstieg erlebt. Manchmal hat man den Eindruck, dass

ohne Nachhaltigkeit gar nichts mehr geht. Und doch hat die seit Ende

des 20. Jahrhunderts begonnene Karriere der Nachhaltigkeit vielen Men-

schen ins Bewusstsein gerufen, wie wichtig es ist, sorgsam mit unserer

Schöpfung umzugehen. Der Freistaat Sachsen hat dazu Anfang des Jah-

res eine eigene Nachhaltigkeitsstrategie erstellt, die als politische Leit -

* Rede von Herrn Staatssekretär Dr. Fritz Jaeckel zur Eröffnung des Forums

»Menschen gestalten Nachhaltigkeit« am 6. November 2013 in Chemnitz

linie langfristig eine positive, nachhaltige Entwicklung unseres Freistaa-

tes sicherstellen soll. Sie umfasst Bildung, Finanzen, Klima und Energie,

Natur und Umwelt, Stadt und Land, Wirtschaft und Fachkräfte sowie

Gesundheit und Lebensqualität. Dass wir dabei erfolgreich sind, hat erst

kürzlich wieder der bundesweite Schulleistungsvergleich gezeigt. Ob

Mathe, Chemie, Bio oder Physik – Sachsens Schüler sind am schlauesten.

Oder nehmen Sie unsere Finanzpolitik. Schon seit 2006 handeln wir da-

nach, nicht mehr auszugeben, als wir einnehmen. Verankert haben wir

das jetzt sogar in unserer Verfassung. Auch in anderen Bereichen brau-

chen wir uns nicht zu verstecken. Aus sauren Böden, fast toten Flüssen

und auf Verschleiß gefahrenen Betrieben wurde das dynamischste deut-

sche Bundesland mit einer intakten Umwelt und einer lebenswerten

Kulturlandschaft – und das scheinbar für viele. So wurde erst kürzlich

nach über 100 Jahren der erste Lachs in der Mulde gefangen – für mich

als Umweltstaatssekretär eine kleine Sensation!

Natürlich gibt es nicht nur Sensationen. Angesichts von weltweitem

Hunger, Armut, Umweltzerstörung, Klimawandel und politischer In-

stabilität ist Nachhaltigkeit aktueller und notwendiger denn je. Obwohl

wir hier im weltweiten Vergleich auf einem sehr hohen Niveau agieren

und bei uns andere Probleme anstehen, als Herr Prof. Töpfer aus Asien,

Lateinamerika oder Afrika kennt, so stehen doch auch bei uns neue Auf-

gaben an, die es für eine weiterhin positive Entwicklung unseres Frei-

staates zu lösen gilt. Ich nenne hier nur die Stichpunkte Demografie,

Klimawandel, Hochwasserschutz, Flächenverbrauch, Energiesicherheit

und Artenschwund.

Zusammen mit der Hans-Carl-von-Carlowitz-Gesellschaft wollen

wir Sie daher mit dieser Veranstaltung unter dem Motto »Menschen ge-

stalten Nachhaltigkeit« informieren und gleichzeitig anregen, darüber

nachzudenken, auch in Ihrem Verantwortungs- und Lebensbereich den

einen oder anderen Schritt zum nachhaltigen Handeln zu unternehmen.

Nachhaltigkeit funktioniert nur, wenn alle daran teilnehmen. Viele

Sachsen haben gerade in diesem Jahr gezeigt, dass wir das Carlowitz’sche

Erbe angenommen und weiterentwickelt haben. Wir würden uns freuen,

wenn wir über diese Veranstaltung weitere Mitstreiter finden.

27Ohne Nachhaltigkeit geht nichts mehr

29Die ökologische Dimension

Dieter Füsslein

»Gegensätze komplementär denken: Wis senschaftsentwicklung ohne Erkenntnisgrenzen einerseits und

Ressourcengrenzen des ›blauen Planeten‹ andererseits«*

Wer sich heute für Nachhaltigkeit engagiert (und es werden immer

mehr – weil Nachhaltigkeit Lust macht auf ein Leben, das weit ausgreift),

ist nicht nur Teil einer großen globalen Suchbewegung, er ist auch Teil

einer reichen Geschichte (U. Grober).

Diese Geschichte begann mit einem Buch. Darin hat uns Carlowitz

einen Kompass für das Wachstum heilender Kräfte und gegen zerstöre-

risches Wachstum mitgegeben. Er hilft uns, ein Gleichgewicht zwischen

den Bedürfnissen der Menschen und der Leistungsfähigkeit des Planeten

Erde zu finden.

Oft bedrückt uns heute die Diskrepanz, ja der oft schreiende Wider-

spruch zwischen dem, was wir wissen, und vielen noch immer destabi-

lisierenden Tendenzen wie der Kontaminierung und der Plünderung

unseres Blauen Planeten oder dem leichtfertigen Umgang mit Nah-

rungsmitteln. Viele destabilisierende Prozesse zielen auf Kollision. Ein

Verdrängen oder eine Marginalisierung der Nachhaltigkeit führt gera-

dewegs ins Aus! So wie von Carlowitz glauben auch wir an die Kreati-

vität und das Potenzial, um umzusteuern.

Aus den Quellen des von Carlowitz können wir dafür Impulse, An-

regungen und Weisheit für Gegenwart und Zukunft schöpfen.

Nachhaltigkeit ist nur mithilfe der Zivilgesellschaft zu bewirken,

Regierungen und Parlamente benötigen die Unterstützung der Zivil -

gesellschaft, und umgekehrt ist es ebenso, und deshalb ist es ein starkes

Zeichen dieser gemeinsamen Verantwortung, dass der heutige Nachhal-

30 Dieter Füsslein

* Rede von Dr. oec. habil. Dieter Füsslein, Vorstandsvorsitzender der Säch-

sischen Hans-Carl-von-Carlowitz-Gesellschaft e.V., am 6. November 2013

tigkeitstag von der Staatsregierung und der Carlowitz-Gesellschaft und

auch mit Unterstützung der Agenda-Beiräte getragen wird.

Am heutigen Nachmittag zeigt der Exkursionsteil wie sächsische

Bürger mit großem Engagement und großer Verantwortung in verschie-

denen Bereichen Nachhaltigkeitsprojekte realisieren, die zur Nachah-

mung einladen.

Der von Carlowitz 1713 erstmals beschriebene Dreiklang der Nach-

haltigkeit – ökologisches Gleichgewicht, ökonomische Sicherheit und

soziale Gerechtigkeit –, die Carlowitz’sche Verknüpfung der Faktoren

der Nachhaltigkeit gibt uns einen ganzheitlichen Handlungsansatz und

schützt unser Denken vor subjektiver Schwerpunktwahl.

Das Carlowitz’sche Postulat des nachhaltigen Wirtschaftens lautet

deshalb: Nur wer als höchste Wertschöpfung seiner Arbeit größtmög -

liche Humanität, Umweltgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit anstrebt,

erreicht langfristig in jeder Hinsicht den höchsten Wirkungsgrad.

Kein Mensch kann an dem rasanten Wissenszuwachs der Naturwis-

senschaft (zum Beispiel der Nano-, Bio- und Informationstechnologie)

und dem ebenso rasanten Wachstum der technischen Möglichkeiten

vorbeisehen; es ist in vielen Ingenieurdisziplinen überwältigend, wenn

ich daran denke, was von dem heute Gewussten und Gekannten noch

unbekannt war oder unmöglich schien, als ich zum Beispiel mein Uni-

versitätsstudium abschloss.

Heute lernen wir, zwei Gegensätze komplementär – also zusammen,

als »Sowohl-als-auch« und nicht als »Entweder-oder« – zu denken: Wis -

senschaftsentwicklung ohne Erkenntnisgrenzen einerseits (Effizienz,

Substitution, Engineering, Suffizienz) und räumliche und Ressourcen-

grenzen des Blauen Planeten andererseits. Mit der treffenden Metapher

»Raumschiff Erde« wird die Begrenztheit unseres Planeten in zwei Wor-

ten deutlich.

Erst die erwähnte Komplementarität führt zur begründeten Zuver-

sicht für die Lösungskompetenz der Menschheit und zur Maxime: »Glo-

bal denken – lokal handeln«.

Dank Prof. Klaus Töpfer wissen wir Nachhaltigkeitspolitik als Teil

weltweiter Konfliktprophylaxe, als Friedenspolitik (Wasserkriege) zu

31Gegensätze komplementär denken

verstehen, und Prof. Kurt Biedenkopf hat uns das Thema Enkelgerech-

tigkeit über Jahrzehnte quasi eingebläut.

Mit dem deutschen Terminus »Nachhaltigkeit« (nachhaltend) be-

gründete Carlowitz also einen ethischen Trend, ein Leitbild von univer-

seller Geltung – und einen Exportschlager »made in Sachsen/made in

Germany« erster Güte.

Die sogenannte Grüne Technik hat einen wachsenden Anteil am BIP

des Freistaates und ist auf dem Weg zu einer führenden Branche.

Das Standardwerk des Hans Carl von Carlowitz ist wie eine Partitur,

quasi für ein weltweites Orchester, die das Tonale, Rhythmische und

Melodische einer nachhaltigen Entwicklung beeindruckend ausdrückt.

So wie die 9. Sinfonie von Beethoven zur Europahymne avancierte,

so sollte das Carlowitz’sche Leitbild die ökologischen, sozialen und wirt-

schaftlichen Leitplanken, also die Kultur Europas, prägen.

Die Carlowitz-Gesellschaft versteht das Carlowitz’sche Leitbild

Nachhaltigkeit aber auch als rigorose Verantwortung des Einzelnen ge-

genüber seiner Mitwelt und gegenüber künftigen Generationen, aber

auch als Schutzschild gegen Hohlheit und Phrasenhaftigkeit im Umgang

mit dem Begriff »Nachhaltigkeit« (vgl. Johannes der Täufer, Lukas 3,

Vers 10-14).

In Abwandlung eines Buchtitels von Ernst Ulrich von Weizsäcker

»Jahrhundert der Nachhaltigkeit« möchte ich heute abschließend sagen:

Wir sind im Jahrhundert der Nachhaltigkeit.

32 Dieter Füsslein

33Die wirtschaftliche Dimension

Stanislaw Tillich

»Wer es mit Nachhaltigkeit ernst meint,der denkt in Generationen,

nicht im Rhythmus von Quartalsberichtenoder Legislaturperioden.«*

Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrter Herr Professor Dr. Klaus Töpfer,

die Carlowitz-Gesellschaft ehrt Sie heute für Ihr jahrzehntelanges En-

gagement für Nachhaltigkeit. Das ist freilich nicht die einzige Parallele

zwischen Ihnen und dem Namensgeber des Preises. Sie sind – das ist

die erste Verbindung zu Hans Carl von Carlowitz – nicht als klassischer

Naturschützer zu diesem Ihrem Lebensthema gekommen. Sie sind von

Haus aus Volkswirt und haben Ihre akademische Karriere mit einer öko-

nomischen Fragestellung begonnen: wie regionalpolitische Prämissen

die Standortentscheidung von Unternehmen beeinflussen. Sie können

heute noch aus dem Stegreif einen Vortrag darüber halten, wie die Höhe

des Benzinpreises oder die Pendlerpauschale den Siedlungscharakter

einer Region bestimmt.

Auch Hans Carl von Carlowitz war Ökonom und hat durch eine öko-

nomische Fragestellung zum Thema Nachhaltigkeit gefunden. Vor

300 Jahren drohte eine Wirtschaftskrise. Holzknappheit machte Bergbau

und Hüttenwesen, aber auch die Versorgung mit Bau- und Feuerholz

teuer. Der Holzmangel gefährdete Arbeitsplätze und verringerte die

Kaufkraft der Einkommen.

Für Carlowitz war die Lösung klar: konsequente Aufforstung, effi-

zientere Öfen und eben nachhaltige Nutzung der Wälder – nur so viel

34 Stanislaw Tillich

* Laudatio des Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich auf Prof. Dr. Klaus

Töpfer zur Verleihung des Carlowitz-Preises der Sächsischen Hans-Carl-

von-Carlowitz-Gesellschaft am 6. November 2013 in Chemnitz

hier würden wir gern »Es gilt dasgesprochene Wort« streichen

Benutzer1
Durchstreichen

Holz entnehmen, wie dank Aufforstung wieder nachwächst. Allerdings:

Heute meint Nachhaltigkeit viel mehr als nur den Wald. Das kann man

zum einen daran sehen, dass es in Dresden ein neues Forschungsinstitut

der Universität der Vereinten Nationen gibt, das sich mit dem Zusam-

menhang von Wasser, Boden und Müll beschäftigt. Es hat den schönen

Namen UNU-Flores.

Noch weiter gefasst: Nachhaltigkeit beschreibt einen Zustand der

Mensch-Umwelt-Beziehungen, in dem wir Menschen nur so viele Öko-

systemleistungen verbrauchen, wie die Umwelt wieder bereitstellen

kann, und nur so viel Müll an die Umwelt abgeben, dass die uns am

Leben haltenden Ökosysteme selbst am Leben bleiben. Das ist Umwelt-

schutz aus ökonomischen Erwägungen heraus – denn es geht darum,

die Grundlagen für unser Wirtschaften und Überleben langfristig zu si-

chern. Damit bin ich bei der zweiten Parallele zwischen Klaus Töpfer

und Carlowitz. Wer es mit der Nachhaltigkeit ernst meint, also mit der

langfristigen Sicherung unserer natürlichen Lebensgrundlage, der denkt

in Generationen, nicht im Rhythmus von Quartalsberichten oder Le-

gislaturperioden. So wie Carlowitz, der mit der Aufforstung und nach-

haltigen Bewirtschaftung der sächsischen Wälder ein Generationenpro-

jekt plante. Wer sich heute wie Klaus Töpfer für Nachhaltigkeit

engagiert, dem ist klar: Es geht darum, unsere Umwelt und ihre lebens-

erhaltenden Funktionen für künftige Generationen zu bewahren oder

sogar zu verbessern.

Nun ist die Betonung der langen Frist unbequem. Denn unser Wirt-

schaftsmodell beruht bisher darauf, kurzfristig den Ressourcenfluss

von der Umwelt durch die menschliche Gesellschaft hindurch zu maxi -

mieren. Das war schon im Jahre 1713 problematisch, als die mensch -

liche Wirtschaft in Relation zur sie umgebenden Umwelt ein nur

geringes Ausmaß hatte – sonst hätte Carlowitz ja nicht sein Buch ge-

schrieben. Jetzt, 300 Jahre später aber, haben die Menschheit und ihre

Wirtschaft ein Ausmaß erreicht, bei dem bereits 60 Prozent der Öko-

systeme degeneriert, übernutzt oder zerstört sind und deshalb ihre

lebenserhaltenden Dienste für die Menschen und andere Arten nicht

mehr erbringen können.

35Nachhaltigkeit ernst meinen – in Generationen denken

Anders ausgedrückt: Die Menschheit hat schon heute einen Umwelt-

verbrauch, der die Tragfähigkeit der Erde übersteigt. Es gibt Berechnun-

gen, wonach wir derzeit 1,8 Planeten pro Jahr verbrauchen. Und wenn

alle sieben Milliarden Menschen so viel verbrauchten wie die Amerika-

ner, bräuchten wir heut schon die Ressourcen und Ökosystemleistungen

von vier Erden.

Klaus Töpfer ist jemand, der auch solche unbequemen Gedanken zu

Ende denkt. Und er sagt: Wir in den reichen Ländern müssen drama-

tisch weniger verbrauchen und produzieren, damit die Menschen in den

armen Ländern es zu nachhaltigem Wohlstand bringen können. Ich

meine: Carlowitz würde heute die gleiche Schlussfolgerung ziehen. Ein

Hinweis darauf ist, dass er sich auch Gedanken machte über die Verrin-

gerung des Holzverbrauchs durch effizientere Öfen. Modern ausge-

drückt: Wenn die Ressourcenproduktivität wächst, kann der Ressour-

cenverbrauch sinken. Allerdings: Klaus Töpfers Nachhaltigkeitsbegriff

ist im Vergleich zu dem von Carlowitz ganzheitlich. Er denkt ökonomi-

sche, ökologische und soziale Gesichtspunkte zusammen.

Das kommt unter anderem daher, dass Sie, lieber Herr Töpfer, am

Anfang Ihrer politischen Karriere Staatssekretär im Ministerium für So-

ziales, Gesundheit und Umwelt in Rheinland-Pfalz waren. Das war

genau in dem Jahr, 1979, als der König des Himalayastaats Bhutan auf

die Frage eines ausländischen Journalisten nach dem Bruttoinlandspro-

dukt antwortete, ihn interessiere das Bruttoglücksprodukt seiner Un-

tertanen mehr. Glück, das weiß man aus vielen Studien seither, wächst

ab einem bestimmten Niveau von Produktion und Konsum nicht mehr.

Wohl aber nehmen dann Dinge zu, die unser Glück verringern, wie

Krankheiten durch zu viel Essen, eine verschmutzte Umwelt oder der

psychische Druck, den das Streben nach immer mehr auslöst.

Das ist, im Sinne einer Maximierung des Bruttoglücksprodukts,

eben nicht nachhaltig. Im Hinblick darauf ist es bezeichnend, dass

damals, Ende der 1970er-Jahre, in Ihrem Mainzer Ministerium Ge-

sundheit, Soziales und Umwelt unter einem Dach vereinigt waren. Das

ist eine wesentliche Quelle Ihres ganzheitlichen Verständnisses von

Nachhaltigkeit.

36 Stanislaw Tillich

Ein Drittes verbindet Sie mit Carlowitz. Er hat die Idee zu seinem

Buch lange mit sich herumgetragen. Auch Sie hatten in Ihrem Leben

Ideen, deren Realisierung sehr lange dauerte. Als Sie Bundesumwelt -

minister wurden, war die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl erst ein

Jahr her. Damals, 1988, gab es einen CDU-Parteitag in Bremen. Auf dem

wollten Sie einen Leitantrag einbringen, in dem es hieß, ich zitiere: »Wir

müssen eine Zukunft ohne Kernenergie, aber auch mit weniger fossilen

Energieträgern erfinden.« Der Leitantrag kam nie zur Abstimmung.

Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima wurden Sie von Kanzlerin

Merkel zum Vorsitzenden der Ethikkommission »Sichere Energiever-

sorgung« berufen. Das Votum der Kommission war jenes, welches beim

Bremer Parteitag 1988 nicht mal zur Abstimmung kam: der Ausstieg

aus der Kernenergie. So schloss sich nach 23 Jahren ein Kreis. Und zwi-

schendrin gab es eine steile Lernkurve. 1991 verabschiedete der Bun-

destag das Energie-Einspeisungsgesetz, den Vorläufer des Erneuerbare-

Energie-Gesetzes. Damit begann die Deutsche Energiewende in Ihrer

Zeit als Bundesumweltminister.

Heute decken wir mehr als ein Fünftel unseres Stromverbrauchs

aus erneuerbaren Quellen. Und der Anteil steigt weiter. Und für die sie-

ben Jahre Ihrer Amtszeit als Bundesumweltminister stehen noch mehr

Erfolge zu Buche.

Sie haben das Bundesamt für Strahlenschutz gegründet, für saubere

Flüsse gesorgt, das Duale System eingeführt, das Umweltverträglich-

keitsprüfungsgesetz und das FCKW-Verbot zum Schutz der Ozon-

schicht durchgesetzt, das Programm »Ökologischer Aufbau« in Ost-

deutschland vorangetrieben und waren nicht zuletzt 1992 der Retter des

Erdgipfels von Rio.

Sie haben damit Deutschlands Image als Vorreiter in Sachen Nach-

haltigkeit geprägt. 1998 wurden Sie Leiter der UNO-Umweltbehörde

UNEP. Sie zogen für acht Jahre nach Nairobi. Sie haben dabei viel über

Nachhaltigkeit gelernt. Vor allem, dass es oft nicht Technik, sondern

eine simple Verhaltensänderung ist, die Nachhaltigkeit schafft.

Ein Beispiel ist die kenianische Friedensnobelpreisträgerin Wangari

Muta Maathai, die Sie in Nairobi kennenlernten. Sie hatte eine Lösung

37Nachhaltigkeit ernst meinen – in Generationen denken

für die Trockenheit und Bodenerosion in Kenia gesucht – und gefunden.

Feigenbäume erreichen mit ihren tiefen, starken Wurzeln Wasserquellen

und bringen das kostbare Nass an die Oberfläche. Wangari Maathai

gründete 1977 die Grüngürtel-Bewegung. In den folgenden Jahrzehnten

wurden in Afrika Millionen Feigenbäume gepflanzt. Bis dahin waren

diese Bäume gefällt worden, um Platz für große, intensiv bewirtschaftete

Felder zu schaffen, damit die Lebensmittelproduktion wachsen kann.

Das hatte zur Folge, dass die Böden austrockneten, vom Wind weg-

geblasen, vom Regen fortgespült wurden. Hunger und Armut waren die

Folge. Die Lösung dieses Problems war nicht Wirtschaftswachstum, son-

dern das Wachstum der Natur, das Pflanzen neuer Bäume. Carlowitz

lässt grüßen.

Meine Damen und Herren, für Klaus Töpfer haben solche Einsichten

eine tiefere Bedeutung.

Er spricht davon, dass die fortgesetzte Aggression gegen die Umwelt

auf der Jagd nach Wachstum den Frieden auf der Welt gefährdet – Stich-

wort: Konflikte ums Wasser. Und er zieht daraus den Schluss: Frieden

mit der Natur, also nachhaltige Entwicklung, dient dem Weltfrieden. In

diesem Sinne berät er die Regierungen von Entwicklungs- und Schwel-

lenländern. Vor allem aber redet er immer wieder uns in den entwickel-

ten Industrieländern ins Gewissen. Wir hier müssen es schaffen, unseren

Wohlstand zu sichern und gleichzeitig den Umweltverbrauch so stark

zu reduzieren, dass mehr Umwelt für die armen Länder und deren Ent-

wicklung übrig bleibt.

Wie Klaus Töpfer nicht müde wird zu betonen, ist auch Deutschland

nicht durchweg ein Vorbild für nachhaltige Entwicklung. Oder, in Car-

lowitz’ Perspektive ausgedrückt: Wir verbrauchen immer noch viel mehr

Holz, als nachwächst.

Meine Damen und Herren, heute gibt Klaus Töpfer seine Erfahrun-

gen mit nachhaltiger Entwicklung als Hochschullehrer und Forscher

weiter. Er hat das Nachhaltigkeitsinstitut in Potsdam mitbegründet und

ist Professor für nachhaltige Entwicklung an der chinesischen Tongji-

Universität. Und an Ruhestand ist für ihn nicht zu denken. Denn die

38 Stanislaw Tillich

Welt, in der seine Enkelkinder aufwachsen, ist noch lange nicht nach-

haltig. Die Carlowitz-Gesellschaft vergibt heute also einen Preis für ein

Lebenswerk, das noch lange nicht vollendet ist.

Lieber Klaus Töpfer, ich gratuliere Ihnen sehr herzlich zur Verlei-

hung des Carlowitz-Preises und wünsche Ihnen für Ihr Engagement

weiterhin alles Gute und viel Erfolg.

39Nachhaltigkeit ernst meinen – in Generationen denken

41

Jochen Bohl

»Das Prinzip des nachhaltigen Umgangsmit der Natur ist bereits

in den Schöpfungserzählungen biblisch angelegt.«*

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, sehr geehrter Herr Staatsminister,

sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin, sehr geehrter Herr Professor

Töpfer, sehr geehrte Damen und Herren,

gestatten Sie mir eine Vorbemerkung: Als ehemaliger Student an der

Ruhruniversität Bochum ist es mir eine Ehre, heute die Laudatio auf

den ehemaligen Rektor der seinerzeit noch sehr jungen Alma Mater hal-

ten zu dürfen.

Sehr geehrter, lieber Herr Professor Biedenkopf,

nachdem wir uns nun schon viele Jahre kennen und viele anregende

Gespräche führen konnten, wird es mindestens für Sie nicht unerwartet

kommen, wenn ich heute meine Ausführungen mit einem Bezug auf

die Bibel beginne und einleitend feststelle, dass sich das Prinzip der

Nachhaltigkeit bereits in der Bibel findet. Das mag überraschen, denn

es hat ja im ökologischen Diskurs eine Argumentationslinie gegeben,

die den exzessiven Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen auf

die christliche Religion zurückgeführt hat. Damit wird aber der Schöp-

fungsauftrag der Bibel, wie wir ihn im ersten Buch Mose, Kapitel 1,

Vers 28 finden, missverstanden. Da heißt es bekanntlich: »Und Gott seg-

nete sie und sprach: ›Seid fruchtbar und mehret Euch und füllet die

42 Jochen Bohl

* Laudatio des Landesbischofs der evangelisch-lutherischen Landeskirche

Jochen Bohl für Ministerpräsident a.D. Dr. Kurt Biedenkopf zur Verleihung

des Hans-Carl-von-Carlowitz-Nachhaltigkeitspreises der Sächsischen

Hans-Carl-von-Carlowitz-Gesellschaft e.V. am 6. November 2013 in

Chemnitz

Erde und machet sie euch untertan‹…« Es wäre eine grobe Verzeich-

nung, dies im Sinne von »versklaven, knechten und ausbeuten« zu deu-

ten, wie es leider auch geschehen ist. Der Sinn des Schöpfungsauftrages

ist ein anderer. Gott eröffnet den Menschen durchaus die Möglichkeit,

die reichen Gaben der Natur zu nutzen – aber damit ist nicht gemeint,

es stehe ihr Gebrauch im Belieben der Menschen, und schon gar nicht

in gieriger, exzessiver, selbstsüchtiger Weise. Der Auftrag des Schöpfers

richtet sich vielmehr darauf, Verantwortung für den Zusammenhang

der lebensdienlichen Prozesse zu übernehmen. Das wird spätestens in

dem älteren Schöpfungsbericht im Ersten Buch Mose, Kapitel 2 Vers 15

erkennbar, wo es heißt: »Gott der Herr nahm den Menschen und setzte

ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte.«

Bebauen und bewahren, so kann man in der Verbform das Nachhal-

tigkeitsprinzip beschreiben, und insofern ist das Prinzip des nachhalti-

gen Umgangs mit der Natur biblisch bereits in den Schöpfungserzäh-

lungen angelegt. Der Gedanke zieht sich dann durch das Alte Testament

hindurch – beispielsweise in der Bedeutung des siebenten Tages, an dem

Mensch und Natur ruhen sollen, oder dann in der (umstrittenen) kul-

tischen Vorschrift des Sabbatjahres. Dabei handelt es sich um eine Re-

gelung, die bestimmt, dass in jedem siebten Jahr die Äcker liegen bleiben

sollen, um sich von der Nutzung erholen zu können: Ausdruck der Be-

stimmung, dass die Menschen das Land bebauen und bewahren sollen.

Das Sabbatjahr will aber auch einen Beitrag in Bezug auf die elementare

Frage nach der Gerechtigkeit unter den Menschen leisten – Schulden

sollen alle sieben Jahre komplett erlassen, Landverkäufe zu diesem Zeit-

punkt rückabgewickelt werden.

Es sind geradezu revolutionäre Ansätze, um die stets gefährdeten

Güter Gerechtigkeit und Frieden zu schützen. Nachhaltigkeit als Prinzip

wird in der Bibel in einem umfassenden Sinn verstanden, durchaus nicht

auf die Natur beschränkt; in der ganzen Schöpfung gilt der Glaubenssatz

»Die Erde ist des Herrn« (Psalm 24,1); sie darf nicht als Besitz der Men-

schen missverstanden werden. Es geht um das Prinzip Verantwortung,

um den wertgebundenen Gebrauch der Freiheit entsprechend dem

Maßstab der Nachhaltigkeit.

43Prinzip Nachhaltigkeit und Schöpfungserzählung

Lieber Herr Professor Biedenkopf,

Sie haben sich insbesondere um die Nachhaltigkeit im Sinne der Gene-

rationengerechtigkeit verdient gemacht. 2006 haben Sie ein Buch ge-

schrieben, das den bezeichnenden Titel »Die Ausbeutung der Enkel«

trägt. Darin haben Sie unter anderem gefordert, Gesetze nicht nur auf

ihre finanziellen Konsequenzen zu untersuchen, sondern insbesondere

auf die Auswirkungen auf die kommenden Generationen, also auf die

Bürgerinnen und Bürger, die entweder als Kinder noch nicht stimm -

berechtigt oder noch nicht einmal geboren sind – die Folgen unseres

Handelns aber werden tragen müssen. In diesem Zusammenhang sehe

ich auch Ihre bereits vor mehr als drei Jahrzehnten einsetzenden Be-

strebungen, unsere Sozialversicherungssysteme und vor allem die Ren-

tenversicherung so zu organisieren, dass sie den Kriterien der Nachhal-

tigkeit entspricht.

Interessant, dass das Prinzip der Generationengerechtigkeit bereits

in der Bibel zu finden ist, und zwar an zentraler Stelle. In der Abfolge

der zehn Gebote ist das vierte das erste der sieben, die sich auf das Zu-

sammenleben der Menschen richten. Bevor das Tötungsverbot ausge-

sprochen wird, geht es um das Leben in der Generationenfolge. Die

Menschen sollen nicht nur die Gegenwart gestalten und darin das Er-

gehen der eigenen Generation verantworten, sondern die Eltern fürsor-

gend ehren – und damit ist in einer Zeit, die keine Geburtenkontrolle

kannte, zugleich die Weitergabe des Lebens angesprochen. Das Men-

schenleben gibt es nur in der Abfolge der Generationen – und darüber

bestehen gegenwärtig leider viele Illusionen.

Die Umstellung auf eine nachhaltige Lebensweise ist ein großes, hof-

fentlich nicht zu großes Projekt, weil es um tief sitzende Einstellungen

und Verhaltensweisen in allen Lebensbereichen geht, von denen nahezu

jeder und jede betroffen ist. Die Energiewende, so komplex und schwie-

rig zu realisieren sie sich darstellt, ist ja nur ein Teil der Aufgabenstel-

lung. Nachhaltigkeit ist aber ein umfassendes Geschehen, zu dem ins-

besondere das Wirtschaften gehört.

Inzwischen zeigen die Bemühungen um einen nachhaltigen Umgang

mit den natürlichen Ressourcen erste bescheidene Erfolge; in Deutsch-

44 Jochen Bohl

land ist der Energieverbrauch seit einigen Jahren in etwa gleichbleibend

und vom Wachstum der Wirtschaft abgekoppelt – im Weltmaßstab

allerdings hat es in den zurückliegenden 40 Jahren ein geradezu unge-

bremstes Wirtschaftswachstum gegeben, und der weltweite Energie -

verbrauch hat sich seither verdoppelt, steigt auch weiter stark an. Da-

rüber treten die Grenzen unseres auf Verbrauch ausgerichteten

Lebensstils immer deutlicher vor Augen, dessen Übertragung auf die

Völker des globalen Südens schlechterdings nicht vorstellbar ist.

Umso wichtiger ist eine Diskussion der Frage, was denn gemeint ist,

wenn von Wachstum gesprochen wird; und auch für diese Debatte

haben Sie wichtige Impulse gegeben und darauf hingewiesen, dass schon

nach den Gesetzen der Logik ein ständiges Wachstum der Volkswirt-

schaften in eine unbegrenzte Zukunft hinein gar nicht denkbar ist; oder

dass es begrenzende Faktoren wie z.B. »gesättigte« Märkte gibt, auf

denen nur ein Verdrängungswettbewerb inszeniert werden kann, der

dann höchst schädliche Folgen hat in Bezug auf das soziale Leben und

auch auf die Wirtschaft.

In einem Interview mit Deutschlandradio Kultur zu Ihrem erwähn-

ten Buch haben Sie damals schon das letzte, nahezu unhinterfragt gel-

tende Dogma des Wirtschaftswachstums hinterfragt. Sie sagten damals:

»Ich befasse mich mit der Frage, ob die Gesellschaft ihre Dinge intelli-

gent genug organisiert, ob es nicht besser wäre, jetzt nicht quantitatives

Wachstum anzustreben, sondern eine Verbesserung der Intelligenz, mit

der wir unsere Dinge organisieren und damit auch mehr Sparsamkeit,

mehr Effizienz, mehr Wirtschaftlichkeit im Land. All das wird in Zu-

kunft eine dominierende Rolle haben.« Auch hier wird deutlich, wie Sie

Ihrer Zeit immer weit voraus waren.

Dementsprechend, lieber Herr Professor, haben Sie als Ministerprä-

sident die Grundlagen für eine nachhaltige Finanzwirtschaft im Freistaat

Sachsen gelegt. Andernorts hat man sich verlocken lassen, den großen

Rückstand zu den Ländern der früheren Bundesrepublik durch eine

großzügige Schuldenpolitik aufzuholen. Sie haben schon zu Zeiten, als

Verschuldung noch ein selbstverständlicher und unhinterfragter Teil

der Finanzpolitik war, gesehen, dass damit den folgenden Generationen

45Prinzip Nachhaltigkeit und Schöpfungserzählung

der Spielraum für eine eigenständige Politik genommen wird. Es ist

durchaus ein moralisches Gebot, den nachkommenden Generationen

nicht Belastungen aufzuerlegen, die sie nicht tragen können – das sollte

man vielleicht auch in die aktuellen Koalitionsverhandlungen eintragen.

Wir in Sachsen profitieren gegenwärtig von der soliden Finanzierung

des Staatshaushalts, und so werden die kommenden Generationen in

der Lage sein, den Herausforderungen der Zukunft zu begegnen. Die

Schuldenkrise in Europa hat gezeigt, wie weitsichtig diese Vorgehens-

weise war und wie sehr Ihre Politik zum Wohl und Nutzen der Bürge-

rinnen und Bürger Sachsens in Gegenwart und Zukunft beiträgt.

Erfreulicherweise scheint mir doch allmählich die Zustimmung zu

Ihren Impulsen stärker zu werden, und ich darf in diesem Zusammen-

hang auf die Initiative »anders wachsen« verweisen, die vor relativ kurzer

Zeit in unserer Landeskirche entstanden ist. Sie erfreut sich inzwischen

46 Jochen Bohl

Übergabe der Originalschrift der »Sylvicultura oeconomica« an Dr. D. Füsslein

47Prinzip Nachhaltigkeit und Schöpfungserzählung

Verleihung des Hans-Carl-von-Carlowitz-Nachhaltigkeitspreises an Prof. Dr. Kurt Biedenkopf und Prof. Dr. Klaus Töpfer

eines großen Zuspruchs und großer Unterstützung weit über die säch-

sischen Grenzen hinaus.

Und so möchte ich diese Laudatio mit einem ausdrücklichen Dank

dafür schließen, dass Sie den Gedanken der Nachhaltigkeit besonders

in Ihrem Amt als Ministerpräsident des Freistaates Sachsen in eine kon-

krete Politik umgesetzt haben.

Bleibt mir nur, Ihnen weiterhin Tatkraft und Schaffensfreude zu

wünschen – ad multos annos!

Teil II

Vorträge anlässlich von Veranstaltungen der Sächsischen

Hans Carl von Carlowitz Gesellschaft

48

49

Ulrich Grober

Nachhaltigkeit – Kind der Krise, Schlüssel zum Überleben

Vortrag bei der Abschlussveranstaltung »300 Jahre Nachhaltigkeit«

des Deutschen Forstwirtschaftsrates, Freiberg/Sachsen, 6. Februar 2014

50 Ulrich Grober

Glück auf!

Apropos »Stolz«. Das Wort und das Gefühl sind ja leitmotivisch für Ihre

Veranstaltung. Als ich in diesem Gedenkjahr in Sachen Carlowitz un-

terwegs war, habe ich ein nettes Bonmot aufgeschnappt: »Waldbau ist

wie Raketenwissenschaft. Nur wesentlich komplexer.« Ursprünglich

stammt es von dem kanadischen Forstmann Fred Bunnell. »Forestry is

not rocket science. It is much more complex.« Patrick Jansen von Pro-

bos, Prowald Niederlande, von dem ich den Spruch hörte, interpretierte

das so: »Nur ein stolzer Förster ist ein guter Förster.« Ihr Stolz, denke

ich, ist genau in dieser Komplexität begründet. Er speist sich heute aus

dem Bewusstsein, Teil einer globalen Suchbewegung zu sein. Einer Such-

bewegung, die nach dem Prinzip Versuch und Irrtum fortschreitet. Die

Fähigkeit, Irrtümer zu korrigieren, gehört untrennbar dazu. Ich komme

auf diese Zusammenhänge zurück.

Vielen Dank, Herr Schirmbeck, für die Einladung. Für mich schließt

sich heute ein Kreis. Im April vorigen Jahres hatte ich die Ehre, zum

Auftakt des Carlowitz-Jahres hier in Freiberg sprechen zu dürfen. Da-

mals auf Einladung des Rektors der TU, Prof. Meyer. Für mich eine

Sternstunde.

Nun geht das Gedenkjahr »300 Jahre Nachhaltigkeit« zu Ende. Eine

Bilanz zu ziehen steht mir nicht zu. Vielmehr möchte ich versuchen, ein

paar lange Linien aufzuzeigen, ausgehend von Eindrücken und Denk-

anstößen, die ich im Laufe dieses Gedenkjahres gewonnen habe. Ich

möchte Sie also einladen, mit Carlowitz in die Zukunft zu denken. Ich

berühre drei Fragen, die bereits Carlowitz vor 300 Jahren bewegten und

die, wie mir scheint, jetzt und in der nahen Zukunft mit aller Macht zu-

rückkommen.

1) Wie ist es um unsere Fähigkeit zum langfristigen Denken bestellt?

Müssen wir nicht vor allem unseren »Sinn für Zeit« neu schärfen?

2) Was ist eigentlich die »green economy«, von der die UN spricht?

Und was meinen wir, wenn wir von »Wachstum« reden?

3) Hat die Globalisierung in ihrer jetzigen Form Zukunft? Oder wird

die »Lokalisierung« der nächste große Trend?

I. Zu meinem ersten Punkt, dem Sinn für Zeit: ein ganz frischer Ein-

druck, gerade erst ein paar Tage alt. Ich sah diese Tür in der Domschatz-

kammer in Aachen. Sie besteht aus vier schlichten Brettern. Durch Holz-

dübel und Eisenbeschlägen zusammengefügt. Zwei Meter hoch, einen

Meter breit, aus Eichenholz. Am Rand zerbröselt es an einigen Stellen.

Man kann verschiedene Brauntöne sehen, ein paar Stockflecken, hier

und da Reste eines Lederbezuges. Nach einer kürzlich durchgeführten

dendrologischen Untersuchung hat man die Eiche, die für diese Tür das

Holz lieferte, um das Jahr 800 gefällt, vielleicht schon 766. Für den da-

mals im Bau befindlichen Aachener Dom, das spirituelle Zentrum des

karolingischen Reiches. Sie sehen »Karls Tür«. Durch diese Tür, so ver-

mutet man, betrat Karl der Große jeden Morgen die achteckige Basilika

seiner kaiserlichen Pfalz. Bis 1902 war die Tür in Gebrauch. Dann stellte

man sie in einer Rumpelkammer ab und vergaß sie. Nun hat man sie

hervorgeholt, untersucht und zum Publikumsmagneten der gerade er-

öffneten großen Jubiläumsausstellung über Karl den Großen gemacht.

Was ist ihre »Aura«?

Als ich sie in Augenschein nahm, wurde diese Holztür für mich zum

Medium einer rasanten Zeitreise: Da wird vor zwölf Jahrhunderten ein

Baum gefällt und zu einem Artefakt verarbeitet. Um die Tiefe der Zeit

zu veranschaulichen: Damals stand die Irminsul noch, das sagenhafte

hölzerne Heiligtum der heidnischen Angeln und Sachsen. Diese Tür

diente beinahe bis heute ununterbrochen an ein und derselben Stelle

ein und demselben Zweck. Mein spontaner Gedankenblitz: Aus einer

51Nachhaltigkeit – Kind der Krise, Schlüssel zum Überleben

Eiche, die heute, im Jahre 2014, gefällt wird, kann potenziell ein Ge-

brauchsgegenstand werden, der im Jahre 3214 noch von Nutzen ist. Was

für ein Vorstellung!

Aber der Gedanke geht weiter: Das Holz stammt mit Sicherheit aus

den Wäldern in der Umgebung von Aachen. Wie ist es eigentlich um

die Wälder dieser Region heute bestellt? Wer von Ihnen 2012 bei der

Forstvereinstagung in Aachen dabei war, konnte sich ein Bild machen.

Die Exkursionen führten in den Stadtwald, durch den Hürtgenwald, ins

Hohe Venn. Wir sahen einen Flickenteppich aus Nutzwald, Erholungs-

wald, Nationalparkareal. Da war der Hürtgenwald, der sich am Ende

des 2. Weltkriegs in ein blutgetränktes Schlachtfeld verwandelt hatte.

Da war Pionierwald der Renaturierungsphase aufgelassener Braunkohle -

tagebaue. Das ganze Spektrum also.

Die Wälder rings um Aachen haben sich seit der Herstellung von

Karls Tür sicherlich stark verändert. Ihre Fläche ist massiv geschrumpft.

Das restliche Waldland ist von Verkehrstrassen und Siedlungen durch-

schnitten. Andere Baumarten dominieren. Aber die Wälder sind auch

in der vielleicht fünften oder sechsten Waldgeneration nach Karl dem

Großen noch da. Es ist, könnte man sagen, der real existierende »ewige

Wald«, an den die karolingischen Beamten dachten, als sie ihre Kapitu-

larien über die Waldnutzung entwarfen, von dem die Forstleute der Rei-

chenhaller Salinen zur Zeit von Carlowitz sprachen, den noch Georg

Ludwig Hartig so bezeichnete.

Der »ewige Wald« und damit die »Stetigkeit der Holzversorgung« –

das ist ja die alte Vision der forstlichen Nachhaltigkeit. Daran anknüp-

fend, etablierte sich um 1900 das Wort »Dauerwald«. Doch der Anblick

von Karls Tür und dieses spirituell angehauchte Wort vom »ewigen

Wald« provozieren heute die Frage: Wird es im Jahr 3214 noch möglich

sein, in unseren Wäldern Holz zu ernten, Waldluft zu atmen, aus Quel-

len zu trinken? Großes Fragezeichen. Die Menschen des frühen Mittel-

alters kannten unsere Bedürfnisse nicht. Ebenso wenig kennen wir die

Bedürfnisse kommender Generationen. Doch wir haben die Pflicht, für

sie alle Optionen offenzuhalten. In diesem Fall die Option, Holz ein-

schlagen, frische Luft atmen und Süßwasser trinken zu können.

52 Ulrich Grober

»Keep the options open«: So hat das der Brundtland-Bericht über

»sustainable development« 1987 formuliert. Das ist die Aufgabe, die sich

jeder Generation neu stellt. Um sie zu lösen, bedarf es freilich der Fä-

higkeit, in langen Zeiträumen zu denken. Aber ist nicht genau diese

Fähigkeit heute in eine existenzielle Krise geraten? Jedenfalls in unserer

westlichen, technisch und industriell geprägten Kultur. Es könnte durch-

aus sein, dass ein solcher »Sinn für Zukunft« in den noch stärker tradi-

tionell gesprägten Kulturen der Welt besser aufgehoben ist. In Afrika

zum Beispiel sagt man, die menschliche Gemeinschaft bestehe aus

denen, die vor uns waren, denen, die hier und heute leben, und denen,

die nach uns kommen. So hat es der südafrikanische Bischof Tutu ein-

mal formuliert. Verantwortung für die Zukunft wird damit potenziell

zu einer Konstanten des Denkens.

An diesem Punkt habe ich noch mal in der »Sylvicultura oecono-

mica« geblättert. Welche Vorstellung von Zeit liegt eigentlich zugrunde,

wenn Carlowitz sich seinem Begriff »Nachhaltigkeit« nähert? Er spricht

von der »immerwährenden, beständigen Holzung«. Von der »perpetu-

ierlichen und stets wirkenden Kraft des Erdbodens«, von der »unend -

lichen Fruchtbarkeit«. Er spricht von den »Nachkommen«, den »Nach-

fahren«, der »Nachwelt«, der »lieben Posterität«. Es ist die Rede von

»zukünftigen Zeiten« und von Dingen, die »in perpetuum oder auf viele

Zeiten hinaus« dauern.

Schließlich spricht Carlowitz über Dinge, die »von Anbeginn der

Welt« da sind, und solchen, die »am Ende der Welt« da sein werden. Da

ist der Bezug zum biblischen »von Ewigkeit zu Ewigkeit«. Das ist das

sprachliche Umfeld, in dem Carlowitz seine Forderung nach einer »con-

tinuierlichen, beständigen und nachhaltenden Nutzung« formuliert.

Welche Philosophie verbirgt sich dahinter? Meine These: Sein Zeit-

genosse, der niederländische Philosoph Baruch Spinoza, hat Carlowitz

»nachhaltig« beeinflusst. Ich vermute, dieser Einfluss wurde vermittelt

durch den sächsischen Naturforscher und Philosophen Ehrenfried Wal-

ter von Tschirnhaus. Dieser arbeitete im Umkreis des Oberbergamts,

z. B. an der Nacherfindung des Porzellans. Als junger Mann hatte er zum

engsten Kreis um Spinoza gehört und galt auch später noch als Spinozist.

53Nachhaltigkeit – Kind der Krise, Schlüssel zum Überleben

Spinoza hatte drei verschiedene Konzepte von Zeit: duratio, die

Dauer. Das ist die Zeitspanne des Daseins eines Dinges. Tempus, die

messbare und einteilbare Zeitdauer. Und aeternitas, Ewigkeit. Spinoza

forderte dazu auf, die Dinge »sub specie aeternitatis« zu betrachten,

unter dem Aspekt der Ewigkeit. So gesehen, werden die Dinge der

Zukunft gleichermaßen real und relevant wie die Dinge der Vergangen-

heit und Gegenwart. Ja, es erhalten Dinge, die erst in der Zukunft her-

vortreten, bereits im Hier und Heute eine Präsenz und ihren Sitz im

Leben. In den Fokus kommt der Zusammenhang zwischen gegenwärti-

gen Phänomenen, vergangenen Ur-Sachen und künftigen Wirkungen

und Folgen. Diese Sichtweise führt in den inneren Bezirk des Nachhal-

tigkeitsdenkens.

Ist das nicht genau die Logik des forstlichen Denkens? Ich habe mich

früher immer gewundert, dass bei Waldführungen Förster bei ihren Er-

läuterungen erst mal bei der Eiszeit anfangen. Ich habe gestaunt, wie sie

beim Anblick eines spezifischen Waldbildes die potenziell natürliche Ve-

getation, den Ur-Wald, mit imaginieren und gleichzeitig die künftige

Sukzession über lange Zeiträume mit bedenken. Nun verstehe ich, dass

sich hier die Komplexität des forstlichen Denkens ausdrückt, die den

Vergleich mit der Raketenwissenschaft nicht zu scheuen braucht.

Doch hat nicht unsere moderne Industrie-Konsum-Zivilisation, die

sich mit der Globalisierung gerade weltweit ausbreitet, trotz ihrer tech-

nischen Wunderwerke genau an dieser Stelle einen »Filmriss«? Und

wenn ja, wie ließe sich die Erweiterung des Zeithorizonts neu entdecken

und einüben? Hier liegt aus meiner Sicht eine wichtige Aufgabe einer

jeden Bildung für nachhaltige Entwicklung. »Karls Tür« ist dafür nur

ein kleines, aber feines Medium.

II. Ein zweites Erlebnis im Carlowitz-Jahr möchte ich Ihnen erzählen.

Im November 2013 hörte ich Kofi Annan zu. Der frühere UN-General-

sekretär war ins westfälische Gütersloh gekommen, um den Reinhard-

Mohn-Preis der Bertelsmann-Stiftung in Empfang zu nehmen. Diese

Veranstaltung samt dem vorausgegangenen Symposium stand deutlich

sichtbar im Zeichen des Carlowitz-Jahres. Das Bedeutsame daran: Sie

54 Ulrich Grober

hob in einem international zusammengesetzten Teilnehmerkreis mit

Nachdruck den fundamentalen Rang des Nachhaltigkeitskonzepts her-

vor. Nämlich als globales »overriding concept«, also als übergeordnetes

Prinzip, als »shared vision«, »geteilte Vision«, als »emerging narrative«,

»aufstrebendes Narrativ« – kurz als »das neue Paradigma«.

Kofi Annan hat das folgendermaßen auf den Punkt gebracht. Zitat:

»Es gibt nichts Dringlicheres als das Bestreben nach nachhaltiger Ent-

wicklung – es ist das prägende Anliegen des 21. Jahrhunderts.«

Sein Satz wiegt schwer. Er rückt Prioritäten zurecht, die sich in den

letzten Jahren zu verschieben drohten. In der Rede des Friedensnobel-

preisträgers wurde wieder die Überzeugung spürbar: Nachhaltigkeit ist

der Schlüssel zum Überleben der Menschheit.

Ich empfand es als einen Befreiungsschlag. Denn in den letzten Jah-

ren war alles auf die Krise fokussiert. Die Welt starrte in den Abgrund.

In Europa und global ging es in Politik und Wirtschaft fast ausschließ-

lich um ein möglichst schnell wirkendes und effizientes Krisenmanage-

ment. Getrieben von der Angst vor dem Kollaps, herrschte ein Kult um

die »aufstrebenden Märkte«, die Ankurbelung der Wirtschaft und die

Rückkehr auf den Wachstumspfad. Mitten in der Krise verblasste das

Leitbild Nachhaltigkeit. Es wurde nicht als Denkrichtung, als Paradigma

wahrgenommen, das Auswege aus der Krise freimacht. Also als Naviga-

tionsgerät, als Kompass für die große Transformation. Vielmehr galt

Nachhaltigkeit als eine Art angenehmer Luxus, den man sich dann wie-

der leistet, wenn die Krise erst mal ausgestanden ist.

Gesucht wurde gleichsam nach einer Reset-Taste. Wir wollen es wie-

der so haben wie vorher. Wir wollen den Zustand wiederherstellen, wie

er vor Beginn der Krise war. Wir wollen wieder business as usual ma-

chen. Man vergaß, dass man nicht mit denselben Strategien aus der

Krise herauskommen kann, welche die Krise verursacht haben. Man

vergaß das Wesen einer Krise: dass sie nämlich die Phase der Zuspitzung

einer gefährlichen Entwicklung darstellt, in der diese auf einen entschei-

denden Wendepunkt zusteuert. Entweder führt sie zum Kollaps des alten

Zustands oder zum Durchbruch eines neuen Paradigmas. Man kurierte

an Symptomen und nicht an den Ursachen der Krankheit, den nicht-

55Nachhaltigkeit – Kind der Krise, Schlüssel zum Überleben

nachhaltigen Mustern von Produktion, Konsum und Lebensstil. So ent-

wickelte sich die Krise unter der Hand zu einem Dauerzustand.

Doch da stand – Ende 2013 – Kofi Annan auf dem Podium und skiz-

zierte gelassen eine Zukunftsagenda, die sich um Armutsbekämpfung,

Inklusion von Frauen, Korruptionsbekämpfung und »the rule of law«,

Rechtsstaatlichkeit, drehte. Und er sprach von der »green economy«.

Wieder ein Stichwort, das bei mir eine Kette von Assoziationen auslöste.

Was ist eigentlich eine »green economy«?

Wir verstehen darunter zunächst einmal die Einführung neuer Tech-

nologien, die dabei helfen, die drängendsten Umweltprobleme zu lösen,

so gleichzeitig neue Geschäftsfelder erschließen, neue Arbeitsplätze

schaffen, also einen umfassenden Modernisierungsschub und damit

Wachstumsimpulse auslösen. Das – auch von Kofi Annan gelobte – Pa-

radebeispiel ist die deutsche Energiewende: Windräder statt Kohlekraft-

werken. Elektroautos statt Spritschluckern. Das ist zweifellos immens wich-

tig. Ich verkenne keineswegs die Bedeutung angepasster Technologien.

Doch ist das alles, was die »green economy« ausmacht? Lassen Sie mich

mit diesem Zauberwort aus den Thinktanks der UN ein wenig spielen.

»Grün« ist die Farbe der Blätter – und der Nadeln, also der Bäume.

Genau genommen ist Grün die Farbe des Chlorophylls. Als Forstleute

wissen Sie das besser als ich. Chlorophyll ist der Farbstoff, der von Or-

ganismen gebildet wird, die Photosynthese betreiben. Er absorbiert das

Sonnenlicht und leitet es weiter zu den Zentren, in denen sich die an-

schließenden Stufen der Photosynthese vollziehen und die Energie für

Leben, Wachstum und Fortpflanzung von pflanzlichen Organismen er-

zeugt und bereitgestellt wird.

Und jetzt kommt mein Punkt: Eine nachhaltige »green economy«

setzt auf die Potenziale der Sonne und die Kraft des Chlorophylls statt

auf die Energie fossiler Brennstoffe. Sie nimmt wieder das naturale

Wachstum in den Fokus statt das Wirtschaftswachstum. In den Worten

Indira Gandhis, der damaligen indischen Ministerpräsidentin, auf der

UN-Umweltkonferenz 1972 in Stockholm: »Der moderne Mensch muss

neu lernen, sich der Energie wachsender Dinge anzuvertrauen.« Der Be-

griff »green economy« macht nach meinem Dafürhalten nur dann wirk-

56 Ulrich Grober

lich Sinn, wenn er das Primat der nachwachsenden Ressourcen und er-

neuerbaren Energien benennt und einfordert und so den Ausblick auf

eine solare Zivilisation öffnet.

Bei der »green economy« geht es primär um die Naturbindung der

Ökonomie. Sich der Energie wachsender Dinge anvertrauen. Was für

ein großes Wort! Doch »wachsende Dinge« und »nachwachsende Res-

sourcen« sind immer lebendige Ressourcen, lebende Organismen, also

Lebewesen. Das ist der Unterschied zu der Ökonomie, die wir in den

letzten 200 Jahren betrieben haben. Diese basierte auf fossilen Brenn-

stoffen, also auf längst abgestorbener, toter Materie. Diesen Unterschied

zu verstehen ist von entscheidender Bedeutung.

An dieser Stelle möchte ich noch einmal Carlowitz im O-Ton ein-

blenden. Nehmen wir einfach mal seine »Sylvicultura oeconomica« als

Handbuch der »green economy«, als Flaschenpost aus uralten Zeiten

für unseren Aufbruch in die Zukunft.

Das Chlorophyll kennt er noch nicht. Doch könnte es sein, dass in

seinem Buch ein Wissen, eine Weisheit steckt, die uns verloren gegangen

ist? Hören Sie mal auf seine Sprache: »Wie angenehm«, so schreibt er,

»die grüne Farbe von denen Blättern sey, ist nicht zu sagen.« Carlowitz

spricht vom Wunder der Vegetation, von der lebendig machenden Krafft

der Sonnen, von dem wundernswürdigen ernährenden Lebens=Geist,

den das Erdreich enthalte. Die Pflanze ist corpus animatum, belebter

Cörper, welcher aus der Erde aufwächset, von selbiger seine Nahrung

an sich zeucht, sich vergrößert und vermehret. Wir sprechen heute von

»Biomasse«. Merken Sie den Unterschied? So ebnen wir den Unterschied

zwischen »nachwachsenden« Ressourcen und toter Materie ein. Der

Bäume äußerliche Gestalt steht für Carlowitz in einem Zusammenhang

mit der innerlichen Form, Signatur, Constellation des Himmels, darun-

ter sie grünen und mit der Matrix, der Mutter Erde und deren natürli-

cher Wirkung. Matrix ist die Gebärmutter. Wir sprechen heute vom

»Standort« und von »Güteklassen«. Die Natur ist unsagbar schön. Sie

ist nimmermehr zu ergründen. Sie hält den Menschen noch viele Dinge

verborgen. Aber wir können im Buch der Natur lesen und im Experi-

ment erforschen, wie die Natur spielet und dann »mit ihr agiren«.

57Nachhaltigkeit – Kind der Krise, Schlüssel zum Überleben

Mit der Natur agieren. Das ist aus meiner Sicht die übergeordnete

Idee einer »green economy«, die wirklich diesen Namen verdient. Wir

sprechen von dem Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit. Und in die-

sem Modell ist die »Ökonomie« natürlich eine tragende Struktur. Aber

gemeint ist nicht die »Ökonomie«, die wir bisher betreiben, nicht die

fossile Ökonomie, der Raubbaukapitalismus, die verschwenderische

Konsumgesellschaft. Nachhaltigkeit ist ein ganzheitlicher Entwurf. Er

verbindet die drei Dimensionen Ökologie, Ökonomie und sozialer Zu-

sammenhalt organisch. Und zwar so eng, dass neue Muster des Produ-

zierens und Konsumierens sichtbar und wirksam werden. Muster, die

mit der Tragfähigkeit der Ökoysteme und dem Zusammenhalt der Ge-

sellschaft kompatibel sind, also unseren ökologischen Fußabdruck und

die Ungleichheit in den Gemeinwesen drastisch reduzieren. Im Prisma

der Nachhaltigkeit erscheint eine andere Ökonomie. Nicht eine, die sich

auf die Parole »let’s make money« reduziert. Sondern eine ressourcen-

leichtere, naturgebundene, sozialethisch fundierte »green economy«.

III. Warum bekommt das alte Wort »Nachhaltigkeit« im globalen Vo-

kabular des 21. Jahrhunderts einen so machtvollen Status? Um das zu

verstehen, möchte ich Ihnen einen archimedischen Punkt vorschlagen:

Die Fachleute nennen ihn »Peak Oil«. Gemeint ist das Fördermaximum

des Erdöls. Wir haben diesen Punkt möglicherweise bereits überschrit-

ten. Voraussichtlich werden in wenigen Jahrzehnten – trotz der hekti-

schen Suche nach »marginalen« Lagerstätten – die Ölquellen versiegen.

Akut wird ebenfalls der Klimawandel als Folge des fossilen Zeitalters.

Innerhalb weniger Generationen haben wir die »unterirdischen Wäl-

der«, also die fossilen Lagerstätten, geplündert und mit ihrer Verbren-

nung gleichzeitig unsere Lebensgrundlage, das Klima, zerrüttet.

Die fossilen Ressourcen haben uns in den letzten 200 Jahren eine

ungeheuer dynamische Entwicklung ermöglicht. Sie haben immense

Vorzüge. Sie lagern in der Erde. Man braucht sie nur zu »erschließen«,

also aus der Erde zu holen. Wo eine Ölquelle versiegt, braucht man nur

tiefer zu bohren. Oder woanders zu schürfen. Aber fossile Ressourcen

haben einen entscheidenden Nachteil. Man kann sie nur einmal nutzen.

58 Ulrich Grober

Sie wachsen nicht nach. Mit der Erschöpfung der fossilen Lagerstätten

ist ein »business as usual« nicht mehr möglich. Unsere bisherige Art, zu

produzieren und zu konsumieren, ist nicht länger fortsetzbar. Nachhal-

tigkeit ist jetzt nicht mehr das Sahnehäubchen auf dem Kuchen einer

fossil angetriebenen Lebensweise, sondern eine Überlebensstrategie und

ein neuer zivilisatorischer Entwurf. Wir haben die notwendigen geisti-

gen Ressourcen. Wir haben die sanften Technologien. Wir haben auch

eine – wenn auch immer wieder bedrohte – Sensibilisierung für die

Werte von Menschenrecht und Menschenwürde.

Der Zwang zu einer epochalen Wende birgt zugleich eine große

Chance. Der Übergang zu genuin nachhaltigen Mustern des Produzie-

rens und Konsumierens ist möglich. Wenn nachwachsende Rohstoffe,

erneuerbare Energien und angepasste Technologien weltweit in den Mit-

telpunkt der Ökonomie rücken, hat das weitreichende Konsequenzen.

Dann werden das Wissen über das »Nachwachsen« lebendiger Ressour-

cen und der Respekt vor den langfristigen Prozessen in der Natur – wie-

derum – zur entscheidenden geistigen Ressource. Das darauf ausgerich-

tete spezifische Wissen und Ethos werden in einer zukunftsfähigen

Ökonomie eine Schlüsselrolle spielen. Eine neue Bedeutung bekommen

nach meiner Überzeugung die Träger dieses Wissens. Diese Zweige der

Lebenswissenschaften – Biologie, Agrarwissenschaft und nicht zuletzt

die Forstwissenschaft – rücken ins Zentrum einer »Forschungswende«.

Das nachhaltige Forstwesen, die Agrikultur, die Solarindustrie, ein

»sanfter« Bergbau samt Recyclingtechnologie, auch die Bildung für

nachhaltige Entwicklung werden den Kern einer neuen »green eco-

nomy« bilden.

IV. Ein dritter und letzter Gedankengang. Er berührt das große Mantra

der aktuellen Politik: Globalisierung und Wettbewerbsfähigkeit. Diese

»Erzählung« – und mehr ist es nicht – handelt von den »emerging mar-

kets«, den aufstrebenden Schwellenländern. Sie handelt andererseits von

den abstiegsbedrohten Weltregionen, hier vor allem von dem vermeint-

lich erschöpften, überalterten und in die Bedeutungslosigkeit absinken-

den »alten Europa«. Im Prisma der Nachhaltigkeitsidee betrachtet, halte

59Nachhaltigkeit – Kind der Krise, Schlüssel zum Überleben

ich dieses Narrativ für grundfalsch. Es ist »geopolitisch«, also auf Macht-

strukturen, ausgerichtet und nicht auf »Erdpolitik«, also auf die Erhal-

tung der natürlichen Lebensgrundlagen. Es reduziert die Kulturen der

Welt – darunter so alte wie China, Indien, Russland, Brasilien – auf ihre

Fähigkeit, den Weltmarkt mit Massengütern zu überschwemmen und

selber die verschwenderischen westlichen Konsummuster zu überneh-

men. Und nicht zuletzt unterschätzt diese Erzählung auf fatale Weise

die Potenziale Europas als Ideenspeicher und Ideengeberin.

In China hat man vor einigen Monaten eine große Kampagne be-

gonnen: die Suche nach dem »chinesischen Traum«. Was hindert uns

eigentlich daran, uns auf die Umrisse eines »europäischen Traums« zu

verständigen? Ich wage die Prognose, dass in einem solchen Prozess der

Selbstverständigung die Idee der Nachhaltigkeit samt ihren tiefen Wur-

zeln im kulturellen Erbe Europas als ein wesentliches Leitmotiv hervor-

tritt. Könnten wir nicht auf diesem Weg in einen produktiven Dialog

der Kulturen der Welt – auf Augenhöhe – eintreten?

Ein Beispiel für einen solchen Dialog erlebte ich bei dem besagten

Symposium der Bertelsmann-Stiftung im November 2013. Dort kriti-

sierte der indische Regierungsvertreter Arun Maira die vorherrschenden

Muster des globalen Wachstums. Sie seien nicht inklusiv, nicht fair, nicht

nachhaltig. Die »local people« in seinem Land verlören das Vertrauen

in die Wirtschaft und die staatlichen Einrichtungen. Und dann entwarf

Maira die Vision von den »four hills«, den vier Hügeln einer nachhalti-

gen Entwicklung:

1) Localization – also die Wiederentdeckung der Nahräume, der

regionalen und lokalen Kreisläufe, der Nachbarschaften;

2) Greening – die Ökologisierung der Prozesse;

3) Learning – Bildung

4) Conscious listening – den Leuten bewusst zuhören und auf die

Signale aus den sozialen Medien achten.

Sollten wir nicht diese »vier Hügel« in unseren europäischen Horizont

aufnehmen, um unser Nachhaltigkeitsdenken zu vitalisieren?

60 Ulrich Grober

»Nachhaltigkeit ist der Schlüssel zum Überleben der Menschheit«:

so der srilankische Jurist Christopher G. Weeramantry, ehemaliger Vize -

präsident am Internationalen Gerichtshof. Aber es ging niemals nur um

das nackte Überleben, um ein »survivalism« nach dem atavistischen

Motto »Rette sich, wer kann«. Carlowitz sprach 1713 vom »Flor« des

Landes, also vom »Aufblühen«, von, wenn Sie so wollen, »blühenden

Landschaften«. Spinoza verfolgte das Ziel der »beatitudo«, der Glück-

seligkeit, heute würde man sagen, der Lebensqualität für alle.

Im Januar 2014 feierte man in der großen TV-Gala zum chinesischen

Neujahrsfest mit 700 Millionen Zuschauern den »chinesischen Traum«.

Ein Massenchor inonierte kurz vor Mitternacht das Lied »Nach vorn,

nach vorn, dem Traum des Wiederaufblühens folgen«. Die Sprache ist

vielleicht für unseren Geschmack etwas zu »blumig«. Doch wenn wir

bewusst hinhören, lassen sich möglicherweise Berührungspunkte für

einen globalen Dialog über eine geteilte Vision von nachhaltiger Ent-

wicklung entdecken. Eines scheint mir jedenfalls gewiss: Nachhaltigkeit

ist wie Raketenwissenschaft – nur wesentlich komplexer.

Glück auf!

Zum Weiterlesen: Ulrich Grober, »Die Entdeckung der Nachhaltigkeit –

Kulturgeschichte eines Begriffs«. Antje Kunstmann Verlag, München 2010.

Erweiterte Paperback-Ausgabe 2013

61Nachhaltigkeit – Kind der Krise, Schlüssel zum Überleben

Stefan Brunnhuber

Der neue Club-of-Rome-Bericht:Geld und Nachhaltigkeit

Rede am Reformationstag 2013 in der St.-Georg-Kirche

in Rabenstein anlässlich des 300. Geburtstags von

Carl von Carlowitz

Benutzer1
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Einen schönen Abend, vielen Dank für die Einladung nach Chemnitz

in die St.-Georg-Kirche und vielen Dank für die Einladung der Hans-

Carl-von-Carlowitz-Gesellschaft zum 300. Geburtstag.

Mit Carl von Carlowitz beginnt, wie wir bereits gehört haben, die Ge-

burtsstunde des Nachhaltigkeitsbegriffs vor 300 Jahren. Wir feiern dieses

Jahr sozusagen den 300. Geburtstag, und ich darf Ihnen den neuen Club-

of-Rome-Bericht zum Thema »Geld und Nachhaltigkeit« vorstellen.

Wenn man zu diesem Thema etwas schreibt, schreibt und spricht

man in eine laufende Diskussion hinein. Dabei ist man mit der Heraus-

forderung konfrontiert, einmal Gemeinplätze zu vermeiden und zum

anderen auf eine ständige Entwicklung zu reagieren.

Ich möchte Ihnen im Rahmen der nächsten 60 Minuten das Thema

des neuen Club-of-Rome-Berichts vorstellen. Dabei ist es nicht ganz zu

vermeiden, dass ich Ihnen einige Zahlen zumuten muss. Das Thema

»Geld und Nachhaltigkeit« wird hier gewissermaßen quer zum Wissen-

schaftsbetrieb und dessen Diskussion und auch quer zu dem, was wir

in der politischen Diskussion registrieren dargestellt. Der Original -

untertitel heißt »Von einem überholten Finanzsystem zu einem mone-

tären Ökosystem«. Ich habe für diese Veranstaltung einen anderen Un-

tertitel gewählt, weil ich vermeiden möchte, dass die Veranstaltung einen

Talkshowcharakter bekommt, in dem Sie gewissermaßen nach Hause

gehen und nur das hören, was Sie sowieso schon wissen. Ich werde Ihnen

folglich nichts erzählen über Exit-Strategien (ES), also über den Austritt

von Volkswirtschaften oder Nationen aus dem Euro-Raum. Ich werde

Ihnen auch nichts erzählen über Quantitatives Easing (QE) als einer

spezifischen Form der Geldpolitik der EZB bei Nullzins, um gewisser-

maßen die Wirtschaft zu stimulieren. Ich werde Ihnen auch nichts er-

64 Stefan Brunnhuber

zählen über Euro-Bonds (EB) und auch nicht über die aktuelle Stel-

lungnahme der Bundesregierung zum Thema European Stability Me-

chanism (ESM). Nicht weil es dazu nicht auch eine differenzierte Mei-

nung von Club of Rome und Europäischer Akademie der

Wissenschaften gäbe, sondern weil wir in dem Bericht eine zu dieser ak-

tuellen Diskussion quer liegende Position haben.

Bevor es richtig losgeht, möchte ich Ihnen zunächst zwei Fragen stellen.

Was glauben Sie, woher das meiste Geld (95 %) dieser Welt kommt?

A: Zentralbanken (ECB, FED)

B: Privat- und Geschäftsbanken

C: Parlamenten

D: Internationalen Finanzmärkten

Antwort B.

Zweite Frage. Was war wohl die Ursache der Finanzkrise 2008?

A: Staatsschuldenkrise

B: Immobilienblase

C: Rating-Agenturen

D: Bankenkrise

E: Marktversagen

F: keines von A-E

Antwort E: Ein System, das in sich instabil ist, kann durch unterschiedliche

Seiten zum Einsturz gebracht werden, wie ein Kartenhaus. Aber dazu

gleich mehr. In der folgenden Abbildung sehen Sie eine kurze Formel.

Wenn wir über Nachhaltigkeit sprechen, können wir in einer ersten

Näherung die Definition von Brundtland verwenden. Das N steht hier

65Der neue Club-of-Rome-Bericht: Geld und Nachhaltigkeit

N = D x T x W x I

Nach. Dem. Tech. Wert. Instit.

für Nachhaltigkeit, und im Brundtland-Report steht: »Nachhaltigkeit

ist eine Entwicklung, die aktuelle Bedürfnisse befriedigt und dabei zu-

künftige Generationen nicht einschränkt.« Es gibt eine umfangreiche

Diskussion darüber, ob die Definition selbst sinnvoll ist oder nicht. Carl

von Carlowitz hat es genannt: »… wenn nicht eine Gleichheit von Zu-

wachs und Nutzen erfolgt, dann entsteht Schaden.«

Wenn Sie nun Nachhaltigkeit zu einem zentralen Begriff in Ihrer

persönlichen oder auch gesellschaftlichen Weiterentwicklung betrach-

ten, dann werden Sie früher oder später auf vier Faktoren treffen, die in

unterschiedlichen Modellierungen in der wissenschaftlichen und par-

teipolitischen Diskussion eine Rolle spielen. Der erste wichtige Faktor

steht für »D«, das heißt Demografie. Das war, historisch betrachtet, die

Diskussion der 70er- und 80er-Jahre (Malthusianer), bei der es vor allem

um den Zusammenhang von exponentieller Bevölkerungsentwicklung

und Ressourcenverbrauch ging. Dabei spielt eine aktive Bevölkerungs-

politik (Immigration, Alterung, demografischer Faktor und soziale Ab-

sicherung) eine wichtige Rolle. Aber es geht in diesem Ansatz auch um

Fragen der Bildung für die weibliche Bevölkerung und etwa um Fragen

der Empfängnisverhütung. All das sind Betrachtungen, die darauf ab-

zielen, dass der entscheidende Faktor für eine nachhaltige Gesamtent-

wicklung letztlich in der demografischen Entwicklung liegt.

In der Folge wurde dieser wichtige Punkt schwerpunktmäßig durch

eine zweite Variable abgelöst, und jene steht für die Abkürzung »T«, das

heißt die Technologie-Variable. Das war die Diskussion vor allem der

80er-und 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts, die bis heute andauert:

Dabei geht es weniger um die Frage, wie viel Menschen leben in einer

Gesellschaft oder auf unserem Planeten, sondern viel wichtiger ist, wel-

che Technologie diese Gesellschaft verwendet? Wie sparen wir ein? Wie

effizient sind wir, wie verändern wir unsere Energiebasis? Wir Deutschen

sind stark, wenn es um diese Frage geht, weil es eine ingenieurwissen-

schaftliche Frage ist. Ernst Ulrich von Weizsäcker hat in »Faktor 4« mit

vielen anderen Forschern wichtige Impulse für diese Schwerpunktset-

zung geleistet. Bei der Steigerung von Effizienz und Entkopplung von

der Ressourcenbasis geht es vor allem um die eingesetzte Technologie.

66 Stefan Brunnhuber

Gleichzeitig ist in den letzten 15 bis 20 Jahren deutlich geworden, dass

alle Technologien und Erneuerungen in diesem Bereich mit Rebound-

Effekten versehen sind: Passivhäuser, IT, E-Mails, Nullemissionsautos

gehören eben nicht automatisch zu den nachhaltigen Technologien. Sie

lösen entweder eine Forward-Rebound aus, in dem die jeweilige Tech-

nologie überproportional genutzt wird und dann im Nettoeffekt eine

höhere Belastung für das System entsteht. Oder aber es entstehen andere

Rebound-Effekte: additive Effekte beim Hausbau, materieller Rebound

bei Seltenen Erden, räumliche oder zeitliche Verlagerungen, IT-Schrott

und vieles mehr. Auch wenn es bei einzelnen Produkten zu einer relati-

ven Entkoppelung von Technologie und Resourcenverbrauch kommt,

wird es durch den Mengeneffekt wieder neutralisiert. Und selbst eine

absolute Entkoppelung hat das Problem der Entsorgung noch nicht ge-

löst. Sie sehen, ein komplexes Thema, für das es keine eindimensionalen

Lösungen gibt.

Um die Jahrtausendwende gab es einen weiteren wichtigen Beitrag,

der mit der Abkürzung »W« beschrieben ist, und W steht für »Werte«.

Auch hierzu gibt es eine umfangreiche empirisch robuste Datenlage, die

sich mit der Frage beschäftigt, was eigentlich im Kopf der Menschen

passiert. Welche Bedürfnisse, Wünsche haben Menschen? Und ändert sich

das? Was man empirisch feststellen kann, ist, dass Menschen auf globaler

Ebene einen Bewusstseinswandel durchlaufen. Solche Veränderungen

im »Bewusstseinsschwerpunkt« jedes Einzelnen werden sichtbar, wenn

nicht mehr materielle und grobstoffliche Güter, ständige Wachstums-

phantasien und Karriere, sondern qualitative Werte wichtiger werden.

So hat die Generation Y beispielsweise einen anderen Wertekanon.

Dabei geht es um Spiritualität, Nachhaltigkeit, Öko-Food, Work-Life-

Balance, also um eine andere Wertestruktur. Faktor »W« ist unbestreit-

bar zentral für jede nachhaltige Entwicklung. Die Herausforderung liegt

jedoch darin, dass, wenn wir alle Vegetarier wären und den ganzen Tag

über meditieren würden, dann dieser Lebensstil auf die Grenzen der

vierten Variable treffen würde: »I«, und jene steht für »Institutionen«.

Gemeint ist damit, wie wir unser Gemeinwesen organisieren oder

regeln. »I« steht, wie man im Englischen sagt, für die Governance-Struk-

67Der neue Club-of-Rome-Bericht: Geld und Nachhaltigkeit

tur einer Gesellschaft, also die Anreizstrukturen, über die hinweg wir

Wohlfahrts- und Verteilungseffekte organisieren, unser Staatswesen ver-

walten. Beispielsweise macht es eben einen riesigen Unterschied, ob wir

Nachhaltigkeitsfragen über eine Planwirtschaft, einen freien Markt, den

dritten Sektor oder über ein demokratisches Mandat zu organisieren

versuchen. Die Forschung der letzten 15 Jahre hat gezeigt, dass diese Va-

riable »I« mit die entscheidende Variable ist, die alle drei anderen über-

steuert. Und was ich Ihnen im Folgen zeigen will, ist, dass nämlich eine,

wenn Sie so wollen, Untervariable von I, nämlich das Geld- und Finanz-

system, alles andere mehr oder weniger übersteuert. Das ist ein Grund,

weshalb Dennis Meadows, der 1972 den Bericht verfasst hat, der hier

im Vortrag auch erwähnt wird (»Grenzen des Wachstums«) im Vorwort

zu unserem Buch schreibt: »Seit 40 Jahren beschäftige ich mich mit

Nachhaltigkeit. Ich hatte eigentlich nie über das Finanzsystem nachge-

dacht, und ich habe es als selbstverständlich und neutral für alle

menschlichen Gesellschaften angesehen. Aber jetzt verstehe ich es besser,

unser vorherrschendes Finanzsystem ist mit einer nachhaltigen Ent-

wicklung unverträglich.« Aber nun zu unserem Thema. Im Folgenden

darf ich Ihnen zunächst einige Zahlen zumuten.

Instabilität der Finanzmärkte historisch (1970–2010):145 Banken-, 208 Währungs- und 72 Staatsschuldenkrisen

68 Stefan Brunnhuber

Number of systemic crises, with distinctions between the three types: sovereign-debt, monetary and banking crises (1970-2010). IMF, WB DATA

Seit 1950 gab es 186 Schuldenkrisen, 96 Staatsbankenkrisen, 180 Aus-

tritte aus Währungsunionen. Wenn Sie sich die letzten 40 Jahre genauer

ansehen, können Sie 425 Banken- und Währungskrisen aufaddieren;

das macht global die letzten 40 Jahre mehr als zehn Ereignisse im Jahr.

Das heißt, die 2008er-Krise war keine Ausnahme, sondern eigentlich der

Normalfall. Die Ausnahme war nur, dass diesmal erstmals drei Viertel

aller IWF-Mitglieder betroffen waren und die finanzkapitalintensiveren

Volkswirtschaften stärker betroffen waren als die Peripherie.

Währungsmarkt und Derivatmarkt – global

Die Grafik oben zeigt Ihnen im historischen Verlauf (1980–2013) – rot

gezeichnet und gemessen in Billionen US $ – die Entwicklung des Wäh-

rungsmarktes. Der Währungsmarkt ist der größte Einzelmarkt. Auf

einem Währungsmarkt werden Währungen gehandelt. Also US-$, Ren-

minbi, Euro und alle möglichen Währungen. Und am Währungsmarkt

werden am Tag vier Trillionen US-$ umgesetzt. Jeden Tag.

Warum zeige ich Ihnen diese Grafik? Eigentlich nicht wegen dieser

roten Linie des Währungsmarktes, sondern wegen der grünen, die da-

runter liegt. Sie brauchen für die Umsetzung realer Dienstleistungs- und

69Der neue Club-of-Rome-Bericht: Geld und Nachhaltigkeit

Instabilität: Währungsmarkt: $4 Trill/dDerivative: $100 Trill in 2000 auf $600 Trill in 2010 (IMF)

Gütertransfers auf der Welt, wo immer Sie irgendetwas hinschicken, nur

ungefähr zwei Prozent von dem, was auf den Währungsmärkten gehan-

delt wird, das heißt 98 Prozent dabei sind spekulativ.

Die zweite Zahl, die Sie hier sehen, ist die Entwicklung des Derivate -

handels. Im Jahr 2000 lag der Derivatehandel bei ca. 100 Trillionen; er

ist mittlerweile auf über 600 Trillionen gestiegen. Sie gilt als Anhalts-

punkt: Wir erwirtschaften auf der Welt jedes Jahr ungefähr ein globales

Bruttosozialprodukt von 50 bis 60 Trillionen US-$-Äquivalenten. Allein

auf dem Derivatmarkt wird das 12- bis 15-Fache umgesetzt.

Ist das alles Zufall, Ausdruck einer spezifischen nationalen Wirt-

schaftspolitik, ist es zyklisch, indem wir uns einfach darauf einstellen,

dass solche Krisen kommen und gehen, gleichsam schicksalhaft und en-

dogen? Oder ist es systemisch? Das heißt: Hat es etwas zu tun mit dem

Design unseres Geldsystems? Wenn Sie heute mit dem Auto hierher ge-

fahren sind, würden Sie wahrscheinlich, wenn Ihr Auto zehnmal im Jahr

einen Motorschaden hätte, wie unser Geldsystem weltweit, vielleicht zu

dem Schluss kommen, dass das nicht an Ihnen liegt, am Fahrer, sondern

am Design des Autos.

Kosten und Auswirkungen von Finanzkrisen

Das ist übrigens alles nicht billig (siehe Abbildung oben). Bis vor einigen

Jahren konnte man das nicht so richtig messen, mittlerweile kann man

die einzelnen Faktoren auch auseinanderhalten, und die empirische Da-

70 Stefan Brunnhuber

•! Output-Verluste •! Transferkosten •! Indirekte Kosten ----------------

25 % GDP •!Pensionslücke (prä-post) 13 % – 26 %

2008, OECD 2

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tenlage ist robuster. Wir wissen heute, dass Finanzkrisen für eine Volks-

wirtschaft extrem teuer sind. Und vor allem an vier Stellen wird das

sichtbar. Der erste Kostenfaktor nennt man einen Output-Loss, das

heißt, welche Auswirkungen hat diese Finanzkrise auf den Nichtfinanz-

sektor? Dabei sind ungefähr zehn bis 15 Prozent des Sozialprodukts be-

troffen. Der zweite Kostenfaktor, den Sie hier gut auseinanderhalten

können, beantwortet die Frage der Transferkosten. Also, es passiert eine

Banken- oder Währungskrise, und die Frage ist jetzt, wer zahlt das dann?

Und ich kann Ihnen sagen, in den letzten 300 Jahren war es immer eine

Bevölkerungsgruppe, die das gezahlt hat. Es war immer der Steuerzahler,

früher oder später. Das können Sie zurückverfolgen bis zur Tulpenkrise

in Holland 1650.

Der dritte Kostenfaktor, mit dem eine Volkswirtschaft zu rechnen

hat, wenn es zu einer Banken- und Währungskrise kommt, sind indi-

rekte Kosten. Dieser Faktor wird in der Regel in den Medien, im Wis-

senschaftsbetrieb, auch in der parteipolitischen Diskussion mit der Krise

assoziiert, weil jene nicht innerhalb von einigen Monaten – postcrisis –

passieren, sondern im Nachgang, vielleicht vier bis sechs Jahre später.

Auch das können Sie messen z. B. an der Zunahme an Armut, Arbeits-

losigkeit, Zunahme der Gesundheitskosten etc. Weltweit gab es etwa

eine Zunahme von Armut um 76 Millionen im Vergleich zur Situation

vor der Krise. Wenn man die Zunahme an Arbeitslosen, die Auswirkun-

gen einer Finanzkrise auf die sozialen Sicherungssysteme und die Kosten

für Gesundheitssysteme zusammennimmt, kommt man schnell auf eine

zusätzliche Belastung von bis zu zwei Prozent des Sozialproduktes über

mehrere Jahre hinweg. Da sind dann nicht mitgerechnet die Auswir-

kungen auf die Pensionslücke, die den Unterschied zwischen den an-

stehenden Verbindlichkeiten und dem faktischen Wert dieses Assets be-

schreibt. Die letzte Krise hat diese Lücke doppelt so groß werden lassen.

Diese Diskrepanz betrifft vor allem Länder wie Deutschland oder auch

Frankreich am stärksten, weil sie dort Pensionsansprüche haben, die

von einem hohen Pre-retirement-Einkommen ausgehen.

Nun sind wir jetzt 2013 – sozusagen 300 Jahre nach dem Buch von

Carlowitz – in der eigenartigen Situation, dass mit ganz großer Wahr-

71Der neue Club-of-Rome-Bericht: Geld und Nachhaltigkeit

scheinlichkeit innerhalb dieser Dekade mit zwei weiteren Ereignissen zu

rechnen ist. Und zwar unabhängig davon, welches Parteibuch Sie haben,

und auch unabhängig davon, was Sie studieren, und auch unabhängig

davon, wie alt Sie sind. Das erste Ereignis ist die Transformation unserer

Gesellschaft hin zu einem nicht-fossilen Energieträger. In Deutschland

steht dies unter dem Stichwort »Energiewende«. Wir wissen heute, dass

die Prävention der Kosten einer Energiewende ungefähr ein Prozent des

Sozialproduktes ausmacht, das heißt, wenn wir uns entscheiden, unsere

Gesellschaft auf regenerative Energien umzustellen, kostet es uns ein

Prozent. Wenn wir warten, bis die ganzen Kosten dann aufgelaufen sind,

kostet es ungefähr zehnmal so viel. Das zweite Ereignis, das in den

nächsten zehn Jahren mit großer Wahrscheinlichkeit auf uns alle zu-

kommt, ist von ganz anderer Qualität, nämlich die Pensionseingänge

der Babyboomer. In den USA gehen jeden Tag etwa 10.000 Menschen

in Pension. Was haben wir bisher alles gemacht, um diese Entwicklun-

gen aufzufangen und zu kompensieren? Das Thema des heutigen

Abends: Wir wollen nicht über Demografie, nicht über Technologie und

nicht über Wertewandel reden. Wir wollen heute über »Geld und Nach-

haltigkeit« reden. Und Sie werden, je nachdem, aus welchem Land Sie

kommen, welcher Partei Sie zugehören, im Wesentlichen einen Mix aus

vier Variablen wiederfinden, wenn es um konkrete Lösungen geht.

Konventionelle Lösungen: Eine Liste mit eingeschränktem Erfolg

72 Stefan Brunnhuber

Eine lange Liste mit eingeschränktem Erfolg Regulation: Bonus, Tobin-Steuer, Off-Sheet, Off-Shore, Basel III Privatisierungen: Private-Public-Partnership (PPP) Austeritätsprogramme: Budgetkürzungen, Steuererhöhungen Keynes´ Stimulus: 2 Prozent GDP in G-20 Nettoeffekt: mehr Geld, mehr Schulden, weniger Nachhaltigkeit

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IMF 2012, Sinn 2012, WB 2012, Koo 2013

Die erste ist, dass wir angefangen haben, auf europäischer Ebene oder

auch auf der Ebene der Bundesregierung die Systeme stärker zu regu-

lieren. Es gibt eine umfangreiche Diskussion der Bankenregulierung,

der Einführung von Bonusprogrammen, der Regulierung über eine so-

genannte Transaktionssteuer, die jetzt auch im Koalitionsvertrag stehen

soll, und vieles mehr. Die vorläufig letzte Maßnahme in diesem Zusam-

menhang ist die Einführung einer Euro-Derivat-Clearingstelle.

Der zweite Bereich betrifft die Privatisierung. Die Franzosen haben

ihr Autobahnsystem privatisiert, die Italiener über 10.000 öffentliche

Grundstücke, in der Regel über sogenannte Private-Public-Partnership-

(PPP-)Programme; die Griechen haben ihren Hafen an die Chinesen

verkauft usw.

Diese PPP-Programme, die Sie vielleicht auch aus Sachsen kennen,

sind zunächst mal ein toller technischer Begriff: Dahinter steckt natür-

lich, dass der Steuerzahler immer zweimal zahlen muss. Einmal, wenn

er beispielsweise als französischer Steuerzahler die Steuer bereithält,

damit die Autobahn gebaut wird, und dann ein zweites Mal, wenn er

sie dann privatisiert bekommen hat und dann eine Gebühr bezahlt, um

sie zu benutzen.

Der dritte Aspekt betrifft die Austeritätsprogramme, in der Regel

eine Kombination aus Steuererhöhungen und Abgabenkürzungen. Am

stärksten hat das in den letzten Jahren die mediterranen Länder getrof-

fen, vorrangig Griechenland. Die Griechen müssen teilweise mit einem

verfügbaren Einkommen auskommen, das bis zu 42 Prozent unterhalb

von dem liegt, was sie vor der Krise hatten. Die letzte Maßnahme ist

das, was die Ökonomen Quantitative Easing nennen, das heißt, es wird

zusätzliches Geld zur Verfügung gestellt, um eine deflationäre Depres-

sion zu verhindern. Der Nettoeffekt bisher war, dass mehr Geld im Sys-

tem war, immer noch mehr Schulden entstanden sind, weniger Wohl-

fahrts- und Nachhaltigkeitseffekte entstanden sind. Und warum? Das

sehen Sie in der nächsten Grafik.

73Der neue Club-of-Rome-Bericht: Geld und Nachhaltigkeit

Liquiditätsfalle

Hier sehen Sie eine Zeitreihe der letzten Jahre – relativ und saisonberei-

nigt, bezogen auf das Jahr 2009. Die Zahlenreihe zeigt Ihnen, wie viel

die Zentralbanken in Europa, in Großbritannien und in den USA an

zusätzlichem Geld (Quantitative Easing) geschaffen haben, um es der

Wirtschaft zur Verfügung zu stellen. In Europa um den Faktor 1,5, in

den anderen Regionen um den Faktor 3,0 bzw. 4,5. Das heißt über vier-

mal so viel wie vor der Krise. Das bedeutet es, wenn Sie in den Nach-

richten lesen, die Zentralbanken stellen viel Geld, viel Liquidität zur

Verfügung. Jetzt kommt der zweite Teil der Grafik. Der zeigt Ihnen, wie

viel die Geschäftsbanken der Realwirtschaft von diesem Geld wirklich

als Kredite zur Verfügung gestellt haben. Wie Sie sehen, ist der Wert

mehr oder weniger null im Vergleich zur Ausgangssituation. Man nennt

das in der Ökonomie eine Liquiditätsfalle. Auf der einen Seite wird viel

Geld, viel Liquidität zur Verfügung gestellt, auf der anderen Seite steht

es in der Realwirtschaft für notwendige Investitionen und für nötige

Aufbaumaßnahmen gar nicht zur Verfügung.

74 Stefan Brunnhuber

IMF 2012, Sinn 2012, WB 2012, Koo 2013

Schuldenfalle

Das hat etwas mit der obigen Grafik zu tun. Wir können davon ausge-

hen, dass über einen Zeitraum von drei Jahren die öffentliche Verschul-

dung um ungefähr 80 Prozent steigt (post-crisis). Manche Länder we-

niger, manche Länder mehr, das sind historische Zahlen aus den letzten

zehn Jahren. Und das Interessante ist, dass bei einem Schuldenstand von

ungefähr 90 Prozent zum BSP es zu Auswirkungen auf das Wachstum

einer Volkswirtschaft kommt.

Immer dann, wenn also das Geld- und Finanzsystem für eine Ge-

sellschaft für eine Nachhaltigkeitsentwicklung irgendwie relevant wird,

immer dann, wenn sich in den letzten 300 Jahren Krisen ereignet haben,

haben Wissenschaftler, Vertreter der Presse oder auch Vertreter der Po-

litik versucht, eine Geschichte zu erzählen, wer schuld ist und wer so-

zusagen die Verantwortung trägt. Es ist immer ein spezifisches Narrativ,

von den Tulpenzwiebelspekulationen 1650 bis zur letzten Krise 2008

geht’s immer im Nachhinein – ex post – darum, wer schuld ist. Im Au-

genblick stehen die Banker ganz oben auf der Liste dieses Narrativs.

Wir haben aber vorhin gesagt, wir gehen nicht diesen Weg. Uns in-

teressiert weniger die Frage, ob diese Entwicklung links oder rechts der

75Der neue Club-of-Rome-Bericht: Geld und Nachhaltigkeit

Kumulative Zunahme der Öffentlichen Verschuldung über drei Jahre nach einer Krise

Rogoff & Reinhardt 2011

politischen Mitte ausfällt. Uns interessiert weniger die Frage einer iso-

lierten Expertenmeinung, auch nicht, ob das jetzt einem neoliberalen

oder einem sozialdemokratischen Argument folgt. Uns interessiert auch

nicht, welche konkrete wirtschaftspolitische Maßnahme eine Rolle ge-

spielt hat, sondern uns interessiert das Thema »Geld und Nachhaltig-

keit« unter einem systemtheoretischen Zusammenhang.

Der gemeinsame Attraktor

Wissen Sie, was das ist? (Gezeigt wird ein Trichter.) Für einen System-

theoretiker ist das ein Attraktor. Die Ingenieurwissenschaftler wissen

das, die Physiker ohnehin: Ein Attraktor ist eine Variable, bei der nahezu

alle Parameter eines Systems früher oder später auf diesen Punkt zulaufen.

Es ist auch völlig egal, ob es dafür einen kausalen Zusammenhang gibt

oder nur eine statistische Korrelation oder eine zeitliche Koinzidenz.

Attraktoren übersteuern in einem System jede andere Dynamik.

Und wenn Sie sich dieses Bild ansehen, dann sehen Sie, dass es zu

allen einzelnen Faktoren eine umfangreiche Studienlage und Medien-

präsenz gibt. Von Wachstumszwang und Staatsschuldenkrise über das

Bonusprogramm oder Basel III oder über Off-Shore-Regulierungen und

chinesischem Merkantilismus etc. Und all diese Stellungnahmen sind

natürlich nicht falsch. Aber sie laufen alle früher oder später auf diesen

einen Attraktor zu, nämlich auf unser Geldsystem. Aber das beschreibt

leider noch nicht die ganze Tragweite des Geldattraktors.

76 Stefan Brunnhuber

Immobilienmarkt

Credit Default Swaps (CDS)

Off-Sheet

Off-Shore

Basel III

Prozyklische Interventionen von FED/ECB

Leverage bei Private Equities

Staatsschuldenkrise

Collateral Debth Obligations (CDO)

Kurzzeitbetrachtung

Bonusprogramme

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Wachstumszwang Einkommensdisparität

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fehlende

Quelle

stefanbrunnhuber
Notiz
Die Graphik ist von mir eigenständig erstelltCLub of Rome Berricht 2013 (Lietaer & Brunnhuber)

Die Nichtneutralitätsfalle

Denn selbst wenn wir keine Finanzkrise gehabt hätten, würden wir jedes

Mal, wenn wir einen Euro, einen Dollar oder einen Renminbi oder

irgendeine andere Währung in die Hand nehmen, um irgendeine Trans-

aktion durchzuführen, eine nachhaltige Entwicklung unserer Gesell-

schaft konterkarieren. Und das hat etwas mit dem Design des Geldsys-

tems zu tun. Es hat primär nichts mit der Wirtschaftspolitik und nichts

mit isolierten Expertenmeinungen links oder rechts der Mitte zu tun.

Es ist die Dynamik in der Mitte des Attraktors, die darüber entschei-

det, wie wir unsere komplette Realwirtschaft, vom internationalen Han-

deln bis zur Regionalwirtschaft, unser nationales Bildungssystem, von

Kindergärten bis zum Max-Plank-Institut, von Hochtechnologie bis

Handwerk, von Forstwirtschaft bis zur Rohstoffextraktion, vom Flug

auf den Mars bis hin zur Nachbarschaftshilfe, über ein Geldsystem

organisieren, welches einmal einen Zins trägt, von einer Zentralbank

monopolistisch herausgegeben wird, spekulativ ist, welches einem

Knappheitskriterium folgt und dabei über einen Kreditschöpfungsme-

chanismus der Geschäftsbanken (entlang der Eigenkapitalvorschriften

nach Basel III) herausgegeben wird, ständig Schulden generiert und

schließlich auf einem Glaubenssystem basiert. Für ein solches Geld -

system haben wir uns entschieden. 1667, wenn Sie es genau wissen

wollen, war nämlich der Zeitpunkt der Einführung des europäischen

Bankensystems.

77Der neue Club-of-Rome-Bericht: Geld und Nachhaltigkeit

1.! Prozyklisch: When it rains it pours

2.! Kurzzeitbetrachtung: Why the future is discounted

3.! Wachstumszwang: On debt and compound interest rate

4.! Wohlstandskonzentration: Poor versus super rich

5.! Negatives Sozialkapital: Competitive behavior overpowers cooperation

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Es gibt eine umfangreiche, recht robuste empirische Datenlage, die

wir auch im Bericht erwähnen, sowie eine historische und theoretische

Evidenz, dass dieses System, über das wir unsere komplette Gesell-

schaft – mehr oder weniger – organisieren, an mindestens fünf Stellen

menschliches Verhalten zuungunsten der Nachhaltigkeit fehlsteuert:

Das Erste ist, dass dieses Geldsystem immer eine prozyklische Ten-

denz hat. Das heißt, in der Kreditvergabe wie auch in der Geldschöpfung

werden die gegenwärtigen realökonomischen Zyklen immer verstärkt

(»When it rains it pours«).

Das Zweite ist, dass dieses Geldsystem immer eine Kurzzeitbetrach-

tung favorisiert. Wenn man die 500 Vorstandsvorsitzenden der wich-

tigsten Weltkonzern fragt, wie ihr Zeithorizont im privaten Bereich ist,

dann werden Ihnen fast alle sagen, 25 bis 30 Jahre. Denn dabei werden

im Wesentlichen die Ausbildung der nächsten Generation sowie die

eigene Pensionen integriert. Wenn Sie die gleiche Frage stellen und dann

sagen, wie ist der Zeithorizont im Unternehmen, werden Ihnen alle

500 Vorstände sagen: 30 Tage.

Das hat viele Gründe, aber eine liegt auch im Finanzsystem. Das hat

etwas zu tun mit dem sogenannten Discounted cash flow. Die Zukunft

wird über den Zins zur Gegenwart hin ständig abdiskontiert, und diesen

Effekt kennen Sie auch aus der Forstwirtschaft. Das führt zu einer Myo-

pie, eben zu einer Kurzzeitbetrachtung von Entscheidungen. Ich er-

wähne dies deshalb, weil es historische Gesellschaften gab, die hatten

keinen positiven Zins zum Abdiskontieren der Zukunft, sondern das

Gegenteil. Dann würde sich nämlich das komplette Investitionsverhal-

ten verändern.

Der dritte Punkt ist, dass unser Geldsystem eine Auswirkung auf die

Wachstumsdynamik hat. Die Ingenieurwissenschaftler und die Biologen

unter Ihnen wissen, dass jedes System nur dann nachhaltig ist, wenn es

früher oder später eine Wachstumsdynamik hat, die s-förmig ist. Unser

Geldsystem hat mit dem Zinseszinsmechanismus eine exponentielle

oder hyperexponentielle Variable eingebaut, die nie nachhaltig ist.

Das ist ein Grund – es gibt verschiedene –, weshalb wir in allen

OECD-Ländern höhere öffentliche Zinslasten haben, als wir Geld fürs

78 Stefan Brunnhuber

Gesundheitssystem ausgeben. Das ist ein Grund, weshalb die Kapital-

flüsse vom Süden an den Norden ungefähr 150 Billionen US-$ im Jahr

höher liegen als die Transferzahlungen der Hilfeleistungen vom Norden

an den Süden – was in wesentlichen Teilen den Wachstumszwang von

Volkswirtschaften auf Kosten von Sozial- und Umweltstandards er-

klärt.

Der vierte Bereich, weshalb unser Geldsystem nicht neutral ist, liegt

an der Unterstützung einer zunehmenden Einkommensdisparität. Sie

kennen die Diskussion vielleicht aus Ihrem Umfeld. Die Reichen werden

immer reicher, die Mittelschicht immer dünner, und die Armen werden

immer ärmer. Diese Unterschiede in der Vermögens- und Einkommens-

zusammensetzung haben viele Gründe, und die kann man auch sozial-

wissenschaftlich untersuchen. Dabei spielen die Wirtschafts- und

Steuer politik, Globalisierungseffekte, Ausbildungsstand usw. eine wich-

tige Rolle. Aber ein Punkt liegt auch im Finanzsystem. Jedes Mal, wenn

es eine Staatsschuldenkrise gibt und sich die Staaten zusätzlich verschul-

den müssen, tun sie das natürlich bei privaten Menschen, die vermögend

sind, und verstärken damit die Einkommensschere. Auch dafür gibt es

einige empirische Zahlen, die diesen Zusammenhang nicht nur theore-

tisch stützen.

Der letzte Punkt, weshalb unser Geldsystem nicht nachhaltig ist im

Hinblick auf menschliches Verhalten, hat mit dem zu tun, was Sozial-

wissenschaftler Sozialkapital nennen. Die Frage, die hinter dieser Dis-

kussion steht, ist: Was hält eine Gesellschaft zusammen? Es ist die zen-

trale Frage all der Forscher und Menschen, die sich mit dem Thema

Sozialkapital beschäftigen. Und zwei Forscher, F. Fukuyama und F. Put-

nam, haben das im Besonderen für Märkte und Demokratien gezeigt.

Gesellschaften funktionieren nicht dann am besten, wenn ihre Mit-

glieder die gleiche Religion haben, die gleiche Sprache sprechen oder

nahe beieinander leben, sondern wenn in der Gesellschaft die Vertrau-

ens-, Verantwortungs- und Solidaritätsquotienten hoch sind. Gesell-

schaften, die dies ausbilden können, sind Gesellschaften, die relativ stabil

sind. Warum ist die Diskussion für unsere Fragestellung wichtig? Weil

unser Geldsystem genau das Gegenteil tut. Unser Geldsystem favorisiert

79Der neue Club-of-Rome-Bericht: Geld und Nachhaltigkeit

nicht Vertrauen, Solidarität, Verantwortung, sondern Angst und Gier

und Wettbewerbsverhalten. Es gibt erstrangige Publikationen, die Ihnen

zeigen können, dass immer dann, wenn Menschen anfangen, sich mit

Geld zu beschäftigen, Hirnregionen aktiv werden, die dem eines Patien-

ten, der schwer suchtkrank ist oder schwere Ängste hat, ähneln.

Geld ist also kein neutraler Schleier, der sich einfach über die Real-

wirtschaft legt, und wir machen dann in der Realwirtschaft irgendetwas.

Unser Geldsystem produziert nicht nur ständig eine Liquiditätsfalle,

nicht nur eine Schuldenfalle, sondern auch eine Neutralitätsfalle: Also

jedes Mal, wenn wir einen Euro in die Hand nehmen, werden nicht-

nachhaltige Prozesse unterstützt.

Das heißt, die Idee, dass wir unsere komplette Realwirtschaft, unser

komplettes gesellschaftliches Handeln durch ein Geldsystem organisie-

ren, ist nicht nur, wenn Sie so wollen, unvorteilhaft für das Geldsystem

selbst, weil es instabil ist, nicht nur unvorteilhaft für die Gesellschaft,

weil es extrem teuer ist, sondern auch noch unvorteilhaft, weil es nicht

nachhaltig ist. Also, wenn wir uns für ein Design entschieden haben,

das Wachstumszwang, Kurzfristigkeit, Einkommensdisparität, reduzier-

tes Sozialkapital produziert, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn

das dann auch am Ende heraus kommt.

Wir haben vonseiten der Autorenschaft Wert darauf gelegt, dass wir

nicht parteipolitisch Stellung beziehen, sondern dass uns eine systemi-

sche Betrachtung wichtig ist und dass wir uns dabei auf die Ergebnisse

aus der Systemtheorie beziehen wollen. Auf dem Bild (siehe S. 81) sehen

Sie auf der linken Seite den Panamakanal und unten eine Monokultur

der Holzwirtschaft. Und auf Ihrer rechten Seite sehen Sie oben das

Hindu -Delta und unten den Regenwald. Die Frage, die einen System-

theoretiker interessiert, ist, warum halten manche Systeme nicht nur

zehn oder 15 Jahre, sondern Millionen Jahre. Die auf der rechten Seite

des Bildes verhalten sich in diesem Sinne nachhaltig, und die Frage ist:

Warum ist das so? Was sind die Parameter, und kann man diese Dis-

kussion gewissermaßen für unsere Fragestellung, nämlich für die Fra-

gestellung »Geld und Nachhaltigkeit«, nutzen. Das hat uns an der Stelle

des Berichts interessiert. Das Interessante ist, dass es letztlich nur zwei

80 Stefan Brunnhuber

Variablen sind, die ein System nachhaltiger gestalten lassen. Das gilt für

das Immunsystem, für biologische Systeme, für das Stromnetz und letzt-

lich auch für das Finanzsystem.

Und in der folgenden Abbildung (siehe Folgeseite) sehen Sie eine

hochaggregierte Grafik, die den Zusammenhang der beiden Variablen

deutlich macht. Einmal das Ausmaß an Effizienz in einem System. Effi-

zienz beschreibt dabei den Durchfluss oder den Through-put pro Zeit.

Und der zweite Parameter ist das Ausmaß an Resilienz eines Systems.

Der Begriff »Resilienz« kommt aus der Materialsystemforschung und

beschreibt die Fähigkeit eines Systems, auf einen äußeren Schock zu rea-

gieren. Und Resilienz wird hier gemessen im Umfang des Vernetzungs-

grads. Und was man empirisch findet, ist, dass das Ausmaß an Nach-

haltigkeit aus einer richtigen Balance zwischen Effizienz und Resilienz

entsteht, und zwar bei allen Systemen. Diejenigen, die in der Stromwirt-

schaft tätig sind oder bei der Flugsicherung, können das bestätigen, die-

jenigen unter Ihnen, die Biologen sind oder mit dem Immunsystem sich

beschäftigen, auch und diejenigen, die in der Landwirtschaft tätig sind,

sowieso.

81Der neue Club-of-Rome-Bericht: Geld und Nachhaltigkeit

Monokultur versus Ökosystem

fehlende

Quelle

stefanbrunnhuber
Notiz
Panama canal Authority 2007;Indus River Delta, WikipediaRainforestrescue.orghigherperspective.org

So sind Monokulturen beispielsweise extrem effizient, aber eben insta-

bil. Das Gegenteil einer Monokultur wäre völlige Vernetzung von allem

und jedem. Während das System an der Stelle nicht nachhaltig ist, weil

es sozusagen instabil wird, ist das System an der anderen Stelle ebenfalls

nicht nachhaltig, weil es sozusagen abstirbt. Und die richtige Balance

zwischen diesen beiden Extremen findet an diesem »Window of Viabi-

lity«, diesem Fenster der Nachhaltigkeit, statt. Und immer dann, wenn

ein System beispielsweise auf zu hohe Effizienz getrimmt wird, wie wir

es in der Forstwirtschaft bei den Monokulturen kennen, geht es früher

oder später in den Kollaps über, und es kommt dann wieder zu erneuten

recovery.

Nun kann man sich fragen, ob man das auch auf unser Geldsystem

übertragen kann. Das kann man natürlich, denn für unser Geldsystem

gilt die gleiche Systemdynamik wie beim Immunsystem oder bei biolo-

gischen Systemen oder bei der Flugsicherung. Unser System, wie etwa

am Beispiel der Derivate und des Währungssystems gezeigt, ist extrem

effizient. Und all die Maßnahmen, die wir in den Medien hören, die wir

in der Politik diskutieren und die wir wahrscheinlich auch im Koaliti-

onsvertrag in Deutschland niedergeschrieben bekommen, bewegen sich

82 Stefan Brunnhuber

Effizienz und Resilienz in Systemen

fehlende

Quelle

stefanbrunnhuber
Notiz
Lietaer, Brunnhuber 2013 CLub of Rome Bericht

auf dieser Ebene, indem die Effizienz des Systems erhöht wird, weil wir

all unsere wirtschaftlichen Aktivitäten durch eine Monokultur organi-

sieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieses System nicht hält, was es ver-

spricht, ist – wenn nun die Systemtheorie richtig ist – fast 100 Prozent.

Die Natur selektioniert eben nicht nach einem Maximum an Effizienz,

sondern einem Maximum an Balance zwischen Resilienz und Effizienz.

Und das ist beim Geld- und Finanzsystem nicht anders.

Die Fähigkeit, auf einen äußeren Schock zu reagieren, trifft nicht

nur beim Menschen zu, sondern auch bei biologischen Systemen, wie

z. B. bei Extremwetterlagen, in der Forstwirtschaft, in der Flugsicherung,

und wird gemessen als Ausmaß an systemimmanenter Vernetzung.

Diese Vernetzbarkeit eines System, das heißt ein hoher Anteil an Paral-

lelverschaltungen (Hindu-Deltas und nicht Panamakanal), garantiert

eine hohe Resilienz.

Und die Frage ist, wenn mehr oder weniger alle Systeme nach dieser

Systemdynamik funktionieren, nach der richtigen Balance zwischen Ef-

fizienz und Resilienz, was heißt das für das Geld- und Finanzsystem?

Wie sähe denn ein monetäres Ökosystem aus? Passiert das vielleicht

schon? Und wenn ja, wie müsste das geschaffen sein, damit wir nach-

83Der neue Club-of-Rome-Bericht: Geld und Nachhaltigkeit

Effizienz und Resilienz im Finanzsystem

fehlende

Quelle

stefanbrunnhuber
Notiz
Lietaer Brunnhuber 2013 Club of Rome Bericht

haltiger, billiger, resilienter und menschengerechter wirtschaften kön-

nen? Es geht im Bericht um den Zusammenhang von Geld und Nach-

haltigkeit. Allgemein betrachtet, geht’s also jetzt um die Frage eines kom-

plementären monetären Ökosystems. Was meint man damit eigentlich?

1980 gab es zwei solcher Systeme weltweit. Im Jahr 1990 gab es um 200

und im Jahr 2010 gab es 4000 solcher komplementären monetären Sys-

teme. Aber was ist damit eigentlich gemeint?

Konzept des monetären Ökosystems

In jeder Region dieser Welt, auch hier in Chemnitz, gibt es ungenutzte

Ressourcen, die vor dem Hintergrund des gegebenen Geld- und Finanz-

systems nicht hinreichend umsetzbar sind. Weltweit gibt es 200 Millio-

nen Arbeitslose. Weltweit gibt es 200 Millionen Kinder, die nicht in die

Schule gehen, sondern arbeiten. Oder denken Sie an die lokale kommu-

nale Infrastruktur, Frühförderung, Bildungs- und Kulturangebote. Ein

monetäres Ökosystem bedeutet sozusagen, dass die Kanäle, über die wir

unsere Realwirtschaft organisieren, nach unterschiedlichem monetären

Design organisiert werden und damit den Vernetzungsgrad in einer Re-

gion erhöhen. Solche Komplementärwährungen laufen eben parallel.

Und sie laufen optional zum konventionellen System. Bleiben wir beim

Bild mit dem Hindu-Delta. Da gibt’s eben nicht nur einen Fluss in das

Delta hinein, sondern da gibt’s verschiedene.

Im konventionellen System geht es immer darum, aus Geld mehr

Geld zu machen, und es fließt dann dorthin, wo die Rendite am höchs-

84 Stefan Brunnhuber

Monetäres Ökosystem: Komplementäre Währungen (CC)

Diversifikation: ungenutzte Ressourcen, erhöht den Vernetzungsgrad und Resilienz Parallel: verlaufen komplementär zum konventionellen System Balance: optionaler Einsatz, antizyklisch, stabilisierend, Re-regionalisierung, Ökonomie der Nähe: Preise sinken, Qualität steigt Im Einsatz: > 4000 CC weltweit im Einsatz (Furia-Kippu, WIR, TimeDollars, LETS, Regio, Frequent-Flyer, Barter C-3 etc.)

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fehlende

Quelle

stefanbrunnhuber
Notiz
eigene Darstellung SB

ten ist, nicht aber dorthin, wo es am dringendsten gebraucht wird, näm-

lich für soziale, ökologische und kulturelle Projekte.

Warum müssen wir mit dem gleichen System, mit dem wir in Japan

einen Taxifahrer zahlen und in China CDs hergestellt werden, unseren

Biobäcker um die Ecke bezahlen oder auch kommunale Infrastruktur

(Bibliotheken, Schwimmbäder, Stadtparks, Kindergärten und Kultur-

zentren) und dabei zusätzlich all die negativen Effekte, die wir hier be-

schrieben haben, ständig in Kauf nehmen? Die Standardantwort ist:

»Weil es so am effizientesten ist.« Das ist nicht ganz falsch, aber unvoll-

ständig, denn es ist gleichzeitig eben auch extrem instabil und daher teu-

rer und sicherlich nicht nachhaltiger.

Komplementärwährungen ersetzen das gegenwärtige Geldsystem

nicht, sondern ergänzen es, laufen parallel und versuchen ungenutzte

Ressourcen auf sektoraler oder/und regionaler Ebene zusammenzubrin-

gen. In der Regel haben sie eine eingebaute Zielsetzung (built-in target),

haben eine optionale Anreizstruktur mit einer standardisierten Verrech-

nungseinheit, erhöhen damit die Robustheit des Systems und die regio-

nale Liquidität, auch wenn sie aus der hier beschriebenen Systemdyna-

mik die Effizienz zugunsten der Resilienz verringern.

85Der neue Club-of-Rome-Bericht: Geld und Nachhaltigkeit

Monetäres Ökosystem: Eine Win-win-Situation

Brunnhuber 2006 – Stodder 2009 – Lietaer 2012

Investoren Risikobewertung, stabile Wertentwicklung, geringereVolatilität

Banken Kundenbindung, Branding, neue Geschäftsmodelle

Zentralbank antizyklisch, antiinflationär, Geldmengensteuerung

Politik Besteuerung, Schulden, kommunale Infrastruktur, in-direkte Kosten, Rating, Dominanz der Politik über dieWirtschaft

Industrie/KMU Arbeitsplätze, regionale Nachfrage

Bürger Sozialkapital, Nachbarschaft, Einkommen, Inklusion,Regionalisierung der Wertschöpfungskette

Hier einige Beispiele für private monetäre Lösungen (Einzelheiten

haben wir im Bericht dann ausführlicher dargestellt):

• Doraland in Litauen: Wechselseitiges Lernen und Lehren wird

über ein komplementäres Anreizsystem verstärkt und belohnt,

welches über eine NGO organisiert ist.

• Wellness Token unterstützen präventives Verhalten. Bei einem

üblichen ROI von 3:1 rentieren sich diese Parallelwährungen

für die Versicherungsbranche. Ein Umlauf in der Region ver-

stärkt die Nachfrage von gesundheitsförderlichen Produkten

und Dienstleistungen.

• Natural Savings: eine natürliche Sparanlage, welche vollständig

durch Bäume abgedeckt ist, zudem inflationssicher; darüber hinaus

werden Regionen wieder bewaldet und CO2-Senken geschaffen,

kombinierbar mit Mikrosparprogrammen.

• C3: ein B2B zur Reduktion von Arbeitslosigkeit in der Region, ab-

gedeckt durch die Lagerhaltung, verbessert zudem die kurzfristige

Kreditklemme der KMU.

• TRC: ein globaler B2B als Handelsreferenzwährung, für multina-

tionale Firmen mit Langzeiteffekt, inflationssicher mit einem Wa-

renkorb, unabhängig von geopolitischen Verwerfungen.

Beispiele für staatliche Initiativen:

• Torekes: eine kommunale Komplementärwährung zur Verbesse-

rung der Begrünung sowie der sozialen Kohäsion in einer Stadt

(seit 2010 in Ghent, BE).

• Biwa Kippu: verbindet den ökologischen Wiederaufbau des Biwasees

(größter See in Japan) mit der hohen Arbeitslosigkeit in der Region.

• CIVICS: unterstützt zivilgesellschaftliche Aktivitäten ohne weitere

Budgetbelastung im Bereich kommunaler Umweltprojekte, Kin-

derbetreuung, Aufbau von kommunalen Strukturen, basiert auf

Stundenbasis.

• ECOS: zinsfreie Währungseinheit, die von Regierungsseite an

86 Stefan Brunnhuber

Unternehmen (KMU), die sich sozialen und ökologischen Projek-

ten widmen und in ECO bezahlt werden, herausgegeben werden.

Dies sind Beispiele, einige hundert weitere sind bereits im Einsatz. Viele

werden scheitern, die erfolgreichsten werden sich durchsetzen. Welche

dann wo nachhaltig umgesetzt werden, wird von den Menschen abhän-

gen mit ihren spezifischen Bedürfnissen, Wünschen und Visionen vor

Ort. Es ist ein bisschen so wie vor 100 Jahren mit den Gebrüdern Wright

und ihren ersten Flugversuchen. Damals haben viele gelacht, und heute

ist es undenkbar, dass wir auf das Flugzeug verzichten.

Monetäres Ökosystem und Beispiele

So entsteht eine »Ökonomie der Nähe« als Ausgleich zur Ökonomie der

Globalisierung: Transportkosten fallen, aus Wegwerfartikeln wird Dau-

ernutzung, kollektive Nutzung, Reparatur und Nachbarschaftshilfe. Eine

Ökonomie der Nähe unter Berücksichtigung dieses monetären Aspekts

bedeutet so viel regional wie möglich und so viel global wie nötig, nicht

umgekehrt. Wir gehen immer noch davon aus, dass wir für die Umset-

zungen von ökologischen, sozialen Fragestellungen in der Region zuerst

auf dem Wettbewerbsmarkt einen Profit erwirtschaften müssen, den

wir dann über Steuertransferleistungen, über Stiftungen an soziale oder

karitative Einrichtungen freigeben. Ich habe Ihnen vorhin erzählt, dass

87Der neue Club-of-Rome-Bericht: Geld und Nachhaltigkeit

Euro, Y, USD

International Währungskorb, Terra, Barter Trans(-nationale) Währungen Euro, Y, USD Öffentlich-rechtlich CIVIC, Curitiba,

Torekes, Saber, Bristol Pound

Privatwirtschaft C3, Miles and More TimeBanking, P2P, WIR

Non-Profit Timedollars, LETS,

IthakaHours, Fureia Kippu, Wörgl, Wäda, REGIOs

Lokale Initiativen Barter

www.elbtaler.de

Monetäres Ökosystem: Beispiele

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fehlende

Quelle

stefanbrunnhuber
Notiz
Eigene Darstellung, SB

es 1980 zwei solcher Systeme weltweit gab, eines in Bali und das andere

in der Schweiz, welches dort seit über 60 Jahren im Einsatz ist. Es ist das

WIR-System. Ein WIR ist äquivalent zu einem Schweizer Franken. Und

das Interessante ist, der WIR ist abgedeckt durch die Lagerhaltung der

kleinen und mittelständischen Unternehmen. Immer dann, wenn es der

Schweizer Wirtschaft schlecht geht, gemessen in Schweizer Franken, die

Arbeitslosigkeit zunimmt oder die Wachstumsquote nach unten geht,

dann nimmt die Anzahl der Wirtschaftsaktivitäten im WIR antizyklisch

zu. Das ist kein marginaler Effekt, wir sprechen von circa 1,5 Milliarden

Schweizer Franken Äquivalenten und einer Beteiligung von ungefähr

60.000 kleinen und mittelständischen Unternehmen.

Ich komme gerade aus Istanbul, wo ich die Möglichkeit hatte, den

Zumbara kennenzulernen, in dem bereits über 20.000 Menschen lan-

desweit organisiert sind. Es sind regionale Wirtschaftskreisläufe, die pa-

rallel zur Landeswährung funktionieren und über ein Timedollar-Sys-

tem abgerechnet werden.

Das heißt die Werteinheit, die ausgetauscht wird, sind nicht Euro,

Dollar oder die Landeswährung, sondern Stunden. Der Wert eines Men-

schen lässt sich über eine Zeiteinheit, über eine Stunde, die zur Verfü-

gung steht, eher abbilden als über den Preis, den er für eine Stunde be-

kommt. Ein solches Anreizsystem verändert unser Sozialkapital und

damit auch unser Zusammenleben. So gibt es weltweit über 4000 Sys-

teme, die alle auf niedrigem Niveau zeigen, dass es geht. In Dresden habe

ich den Elbtaler kennengelernt, eine von 80 Regionalwährungsinitiati-

ven in Deutschland.

Lassen Sie mich drei Dinge zusammenfassen: Ich habe versucht

Ihnen zu zeigen, dass unser konventionelles System teuer, instabil und

nicht nachhaltig ist. Wir denken, dass wir alles über ein System organi-

sieren müssen. Wir haben in dem Bericht gezeigt, dass der Versuch, un-

sere komplette Realwirtschaft und unser komplettes Zusammenleben

über eine monetäre Monokultur zu organisieren, zwar extrem effizient,

aber eben nicht resilient und nicht nachhaltig ist. Ich habe Ihnen hier

einige Beispiele genannt, die wir im Buch auch erwähnen und deutlich

machen, wie ein monetäres Ökosystem aussehen kann.

88 Stefan Brunnhuber

Ich habe Ihnen zweitens versucht zu zeigen, dass die Systemtheorie deut-

lich macht, dass Systeme dann nachhaltig sind, wenn es ihnen gelingt,

die Balance zwischen Effizienz und Resilienz herzustellen. Und ich habe

Ihnen drittens gezeigt, dass, wenn man diesen Gedanken in die Geld-,

und Finanzwirtschaft übersetzt, man zu dem Konzept eines monetären

Ökosystems kommt.

Und solche komplementären – oder Parallelwährungen – sind op -

tional, je nachdem, an welcher Stelle des Konjunkturzyklus sie zur

Anwendung kommen. Sie wirken antizyklisch, stabilisierend auf die

Ökonomie, fördern die Re-Regionalisierung und schaffen die institu-

tionellen Voraussetzungen für eine Ökonomie der Nähe.

Von H.G. Wells stammt die Einsicht, dass sich die Geschichte als ein

Wettrennen zwischen Erziehung und Katastrophe darstellt. Für die

Eliten eines Landes bedeutet dies in Anlehnung an die Arbeiten von

A. Toynbee: Über 21 Zivilisationen gingen aus zwei Gründen unter: eine

zu hohe Wohlstandskonzentration und eine Elite, die nicht willens war,

sich an die geänderten ökologischen Bedingungen anzupassen.

Für Studenten der Wirtschaftswissenschaft bedeutet dies, dass es

darum gehen muss, das Paradigma der Ökonomie und des Geldsystems

offenzulegen und kritisch zu diskutieren. Und für uns alle gilt, dass wir

ein Verständnis für nichtlineare Prozesse insbesondere von exponen-

tiellen Vorgängen entwickeln müssen und dass unser Geldsystem auf

einer Verhaltensebene nicht neutral ist. Ein monetäres Ökosystem ist

sicherlich kein Allheilmittel, aber es ist eine notwendige, wenn auch

nicht hinreichende Bedingung für ein nachhaltiges Zusammenleben.

89Der neue Club-of-Rome-Bericht: Geld und Nachhaltigkeit

Konventionelles System: !"#"$%&'()!*+',&#(-&('./!0(*.//*,12&&Systemtheorie: 345'"(5&#(-&6")','"(5&&Monetäres Ökosystem: 7817(*,%&*(159:,')./%&)!*+',')'"$"(-%&&6"0$"2'7(*,')'"$#(2%&;:7(7<'"&-"$&=>/"&&

Zusammenfassung

Wir werden es uns bald nicht mehr leisten können, diese Zusammen-

hänge zu ignorieren.

Ich habe immer wieder die Möglichkeit, mit Akademikern und

Politikern dieses Thema zu diskutieren, und dann entsteht häufig die

Einschätzung, dass wir uns an einer Weggabelung befinden. Einer Weg -

gabelung, an der der eine Weg in mehr Armut, mehr militärische Aus-

einandersetzungen, mehr Angst, mehr Gier, mehr soziale Unruhen,

mehr Ungleichheit und mehr Umweltzerstörung und in weniger Chan-

cen für unsere Kinder führt. Und an der ein anderer Weg in die Nach-

haltigkeit führt. Auf diesem Weg werden wir ein monetäres Ökosystem

wieder treffen, vielleicht als eine der wichtigsten Einzelmaßnahmen.

Vielen Dank

90

Markus Vogt

Carlowitz weiterdenken. Nachhaltigkeit als

Basis für eine »Große Transformation«

heute

Vortrag zum 300. Todestag von Hans Carl von Carlowitz in der St.-Georgs-Kirche Chemnitz

am 3. März 2014

Manche Philosophen, Künstler oder Erfinder werden in ihrer Bedeutung

erst posthum entdeckt. Hans Carl von Carlowitz fand zwar schon zu

Lebzeiten große Anerkennung. Dennoch wird seine wegweisende Be-

deutung in ihrer grundsätzlichen und globalen Dimension erst heute

allmählich erkennbar. Der vor 300 Jahren gestorbene Chemnitzer Forst-

wissenschaftler und Praktiker ist im 21. Jahrhundert aktueller denn je:

Die »Große Transformation« unserer Gesellschaft zu einer dauerhaft

natur-, klima- und schöpfungsverträglichen Entwicklung ist heute eine

der zentralen Schicksalsfragen unserer Zivilisation.

Carlowitz hat hierfür wegweisende Gedanken und Maßstäbe formu-

liert. Es wäre viel zu wenig, nur das Schlagwort der Nachhaltigkeit, das

mit seinem Namen verbunden ist, in den Blick zu nehmen. Erst wenn

man seine begriffliche Innovation in ihrem Kontext würdigt, der durch

eine humanistische und christliche Bildung geprägt ist, gewinnt der von

Anfang an weit über die Forstwirtschaft hinausweisende Fachbegriff

seine wegweisenden Konturen. Er ist Teil eines auf das Gemeinwohl aus-

gerichteten Denkens, das den Staat in besonderer Weise für Zukunfts-

verantwortung in die Pflicht nimmt. Er ist bei Carlowitz eng mit seinem

Glauben an die göttliche Vorsehung und ihre Erkennbarkeit in der

Schöpfung sowie einer tiefromantischen Einfühlung in die geheimnis-

volle Schönheit der Naturordnung verbunden. Nachhaltigkeit ist bei

Carlowitz kein theoretisches Konzept, sondern durch einen praktischen

Sinn für Fragen des Managements von Problemen der Holzknappheit

und der Ressourcenbeschaffung »geerdet«.

All das ist aber nicht genug für heute. Die Transformation des

Mensch-Natur-Verhältnisses hat globale Dimensionen angenommen

und ist so eng mit den technischen und ökonomischen Entwicklungen

92 Markus Vogt

sowie mit dem Klimawandel verknüpft, dass sie heute nicht ohne deren

Analyse verstanden und gestaltet werden kann. All diese Zusammen-

hänge müssen in den Blick genommen werden, um Nachhaltigkeit wirk-

sam in die Gegenwart zu übersetzen. Deshalb habe ich meinem Vortrag

den Titel gegeben »Carlowitz weiterdenken. Nachhaltigkeit als Basis für

eine ›Große Transformation‹ heute«.

Ich möchte acht Aspekte herausgreifen, an denen wir das von Car-

lowitz begründete Konzept der Nachhaltigkeit weiterdenken müssen,

damit es nicht zu einer Leerformel wird. Carlowitz hatte sehr konkrete

Probleme vor Augen, die es damals zu lösen galt. Heute lassen sich die

Herausforderung einer zukunftsfähigen Entwicklung mit dem Begriff

der »Großen Transformation« umschreiben. Diesen 1944 von Karl Po-

nany eingeführten Begriff hat der »Wissenschaftliche Beirat für globale

Umweltveränderungen der Bundesregierung« (WBGU) 2011 in seinem

Hauptgutachten aufgegriffen: Während der deutsche Titel nur von

der Großen Transformation spricht, nennt der englische Titel des

WBGU-Gutachtens den Begriff der Nachhaltigkeit: »World in Tran -

sition – A Social Contract for Sustainability«. Die Herausforderungen

der Nachhaltigkeit bündeln sich in der Suche nach einem neuen Gesell-

schaftsvertrag hinsichtlich der Ziele, Regeln, Verantwortlichkeiten und

Chancenverteilungen unseres Sozialgefüges und seiner Naturbeziehung.

Nachhaltigkeit wird hier weitergedacht von der (oft etwas idealisti-

schen) Fokussierung auf wünschenswerte Ziele hin zur kritischen Re-

flexion derjenigen Kräfte und Hindernisse, die einen Transformations-

prozess der Gesellschaft ermöglichen bzw. verhindern. Aus Sicht der

WBGU ist dafür die Abkehr von fossilen Energien, extensivem Ressour-

cenverbrauch, materialistischer Konsumfixierung und zivilgesellschaft-

licher Passivität entscheidend. Jede Generation muss eine je eigene Ant-

wort auf die spezifischen Chancen und Hindernisse für Nachhaltigkeit

in ihrer Epoche neu finden. Deshalb genügt es nicht, Carlowitz für heute

zu kopieren und nachzuahmen. Wir ehren sein Andenken am besten,

wenn wir seinen Mut zum Wandel und zu einer radikalen Kritik kurz-

fristiger und nachlässiger Naturbewirtschaftung im Blick auf unsere

heutigen Herausforderungen und Chancen weiterdenken.

93Carlowitz weiterdenken

Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf Fragen des nor-

mativen Gehaltes von Nachhaltigkeit und benennen die aus meiner

Sicht notwendigen Klärungen für ein tragfähiges Verständnis der Nach-

haltigkeit anhand von acht Dimensionen: 1. ökologisch/forstwirtschaft-

lich, 2. politisch, 3. gerechtigkeitstheoretisch, 4. sozioökonomisch, 5. de-

mokratisch, 6. kulturell, 7. zeitpolitisch, 8. theologisch.

Zwei Leitthesen dieser Skizze zu den Dimensionen der Nachhaltig-

keit lauten, dass alle acht Perspektiven substanziell sind für ein volles

Verständnis des Konzeptes, dass es jedoch gegenwärtig in allen Dimen-

sionen fundamentale Missverständnisse gibt. Diese sind mitverantwort-

lich dafür, dass der Umwelt- und Entwicklungsdiskurs in den letzten

Jahren häufig in Sackgassen geraten ist und Nachhaltigkeit als vermeint-

lich inhaltsleeren »Gummibegriff« und unverbindlichen »Alleskleber«

in Misskredit gebracht hat. Das Ziel meines Vortrags ist ein Beitrag zur

»Rettung des Begriffs« durch die Abgrenzung gegen seine Verflachung

im undifferenzierten Gebrauch.

1. Ökologisch: Forstwirtschaftliche Impulse für das GemeinwohlDas Regulationsprinzip der Nachhaltigkeit, das zuerst 1713 von dem

sächsischen Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz formuliert

wurde (vgl. Carlowitz 1713/2013; Schanz 1996; Diefenbacher 2001, S. 58–

72; Grober 2010; Sächsische Hans-Carl-von-Carlowitz-Gesellschaft

2013), ist ein Produkt der Frühaufklärung. Die Herausbildung steht im

Kontext des Kameralismus, durch den er die bis heute prägende Orien-

tierung auf das Staats- und Gemeinwohl übernahm (Münk 1999, S. 228).

Carlowitz verwendet »nachhaltig« als Gegenbegriff zu »nachlässig«

(Hamberger 2013)). Nachhaltigkeit ist von daher nicht ein passives Be-

grenzungsprinzip, sondern zielt auf eine optimale Anpflanzung und

Pflege der zum jeweiligen Boden und Bedarf passenden Bäume in ro-

busten Kulturen. Es geht um aktive und innovative Zukunftsgestaltung,

nicht bloß um Grenzen dessen, was erlaubt bzw. verboten ist. Für den

von der Naturphilosophie Spinozas tief beeindruckten Carlowitz steht

dahinter die Vorstellung der »natura naturans«, also der Natur als einer

schaffenden, sich stets weiterentwickelnden Macht (Carlowitz 2013, bes.

94 Markus Vogt

45f., 114–126; Grober 2010, S. 108f.f). Es geht von daher nicht primär

um die Konservierung des Bestehenden, sondern darum, den Leben

schaffenden Kräften der Natur Raum zu geben.

Verallgemeinert man das Prinzip der Nachhaltigkeit als Regel für

den Umgang mit natürlichen Ressourcen insgesamt, bedeutet es: Das

Ressourceneigentumsrecht einer Generation ist nie unbeschränkt, son-

dern trägt immer den Charakter eines usus fructus, eines Rechts, sich

die Erträge anzueignen, solange die Ertragskraft als solche erhalten

bleibt. Weil der Mensch die Natur nicht geschaffen hat, kann er auch

nicht in einem emphatischen Sinn ihr Eigentümer sein (Weikard 2001,

S. 41; Höffe 1993, S. 185, mit Verweis auf Pufendorf, Descartes und

Marx). So formulierte es bereits der liberale Philosoph John Locke im

17. Jahrhundert. Bekannt ist diese Denkfigur heute insbesondere durch

die monotheistischen Religionen mit ihrem Hinweis auf Gott als den

eigentlichen Eigentümer der Schöpfung. Nachhaltigkeit braucht eine

kritische Reflexion des Eigentumsbegriffs.

Nachhaltigkeit ist also von Anfang an weit mehr als eine forstwis-

senschaftliche Erhaltungsregel. Dennoch ist die Kurzformel der forst -

lichen Nachhaltigkeit sehr einprägsam und für einen ersten Zugang zum

Begriffsverständnis gut geeignet: »Nicht mehr Bäume schlagen als nach-

wachsen« oder allgemeiner: »Nicht mehr Ressourcen verbrauchen als

sich im gleichen Zeitraum neu bilden.« Hierzu kann man in zahlreichen

Feldern anschauliche Analogien bilden. So beispielsweise in der Finanz-

wirtschaft: »Von den Zinsen und nicht vom Kapital leben« ist ein Maß-

stab finanzieller Nachhaltigkeit, der in Zeiten der Schuldenkrise zuneh-

mend postuliert wird (beispielsweise in den »Goldenen Regeln zur

Haushaltsstabilisierung«; Bundesregierung 2008, S. 24–27).

Bei aller Begeisterung für die vielseitige Verwendbarkeit der Nach-

haltigkeitsformel sollte man sich jedoch bewusst bleiben, dass es sich

dabei meist um metaphorische Übertragungen einer in dieser Abstrakt-

heit recht banalen bäuerlich-forstwirtschaftlichen Erhaltungsregel han-

delt. Der Impuls zu langfristigem Denken wird zwar von der Forstwirt-

schaft durch den Umgang mit Bäumen besonders anschaulich inspiriert,

ist aber, wissenschaftlich gesehen, nichts spezifisch Forstwissenschaft -

95Carlowitz weiterdenken

liches. Wenn man vom Naturbezug sowie von der Komponente aktiver

Gestaltungspflicht abstrahiert, verliert das Konzept seine Substanz. Kern

der Nachhaltigkeit ist die planend vorausschauende und umsichtige

Einbindung der Wirtschaft in ökologische Stoffkreisläufe und Zeitrhyth-

men (Ott/Döring 2004; Vogt 2013, S. 134–214, Sächsische Carlowitz-

Gesellschaft 2013, 144–153).

Viele verbinden mit der forstlichen Nachhaltigkeit eine Rechtferti-

gung des zeitlich erweiterten Nutzentheorems. Dies bedarf jedoch einer

Differenzierung: Der Nutzen des Waldes wird gegenwärtig neu entdeckt.

Der Wald ist im Erdsystem unverzichtbar als CO2-Senke und als Was-

serspeicher; er ist der entscheidende Rückzugs- und Erhaltungsort für

Biodiversität. Der vielfältige Nutzen des Waldes kann sich teilweise nur

dann entfalten, wenn er nicht direkt vom Menschen genutzt wird. In

dieser Paradoxie muss uns der Wald zu denken geben. Wer auf Einzel-

objekte des Nutzens fixiert ist, sieht vor lauter Bäumen den Wald nicht

und verliert das Ganze aus dem Blick. Den Menschen, der ökologischen

Dingen gegenüber offen ist, lehrt der Wald vernetztes, systemisches und

langfristiges Denken. Nachhaltigkeit im Anspruch von Carlowitz ist

mehr als eine bloße zeitliche Erweiterung des Nutzentheorems. Carlo-

witz greift das Nützlichkeitsdenken positiv auf und weist es doch zu-

gleich in seine Grenzen.

Dieser feine und nur scheinbar kleine Unterschied ist auch heute

entscheidend: Nur wenn sich die Forstwissenschaft als Teil einer um-

fassenden Landnutzungs- und Erdsystemforschung versteht, kann sie

zur notwendigen Perspektivenumkehr, die mit Nachhaltigkeit gemeint

ist, beitragen. Eine isolierte Übertragung und Generalisierung einzelner

Theorieelemente der Forstwissenschaft auf ökosoziale Gesamtzusammen-

hänge verstärkt möglicherweise eine – auf den messbaren menschlichen

Nutzen bezogene (platt anthropozentrische) – verengte Interpretation

von Nachhaltigkeit (zur komplexen Diskussion um Anthropozentrik

vgl. Vogt 2013, S. 216–262). Die anthropozentrische Nutzenperspektive

ist bei Carlowitz in ein erweitertes Verständnis von Gemeinwohl, das

auch den Eigenwert der Schöpfung im Blick hat, eingebettet. Ich bin

mir nicht sicher, ob er den ersten Grundsatz der Rio-Deklaration für

96 Markus Vogt

Nachhaltigkeit der Vereinten Nationen »Human beings are at the center

of sustainable development« unterschrieben hätte.

2. Politisch: Nachhaltigkeit als QuerschnittspolitikBei der UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio

de Janeiro 1992 hat sich die Völkergemeinschaft auf das Leitbild der

nachhaltigen Entwicklung verständigt und dieses in weit ausgreifender

Hoffnung und Selbstverpflichtung als »Handlungsprogramm für das

21. Jahrhundert« (Agenda 21) definiert. Im Kontext der UN fand eine

Neuprägung des Verständnisses von Nachhaltigkeit statt. Innovativ

waren vor allem die Verknüpfung der Themen Umwelt und Entwicklung

sowie ihre Integration in alle Politikfelder. »Sustainable development«

wurde so zu einem umfassenden Leitbild globaler Partnerschaft (Heins

1997, S. 37; BMU 1992, S. 9–17; Sächsische Carlowitz-Gesellschaft 2013,

141–171, 257–265).

Die systematische Akzentuierung der vielschichtigen Zusammen-

hänge von ökologischen, sozialen und ökonomischen Faktoren ist der

Kern dieses Zugangs zu Nachhaltigkeit (BMU 1992, bes. S. 58–67). Die

übliche Bezeichnung als »Dreisäulenkonzept« ist irreführend, da es nicht

um ein gleichberechtigtes Nebeneinander der drei Zugänge geht, son-

dern um deren Integration und Vernetzung. »Retinität« (Gesamtver-

netzung) nennt der Sachverständigenrat für Umweltfragen in seinem

Gutachten von 1994 von daher die konzeptionelle umweltethische

Grundidee von Nachhaltigkeit und stellt einen Bezug zu Steuerungs-

problemen vernetzter komplexer Systeme her (SRU 1994, Nr. 36–38;

Vogt 2013, S. 142–146). In der Planungspraxis ist als Pendant hierzu oft

von Querschnittspolitik die Rede.

Hinter dem Dreisäulenkonzept stecken zugleich eine tiefe Wahrheit

und eine grundlegende Gefahr: Richtig ist, dass aus ethisch-politischer

Sicht der entscheidende strategische Punkt von Nachhaltigkeit darin be-

steht, die ökologische Perspektive um soziale und ökonomische Zugänge

zu erweitern. Erst dies befreit die Umweltpolitik aus ihrer Isolierung

und vermag das nachsorgende Reparaturverhalten in eine zielorientierte

Programmatik zu wandeln, also in sozioökonomische Entwicklungs-

97Carlowitz weiterdenken

konzepte zu integrieren. Der defensive Schutz von Naturreservaten ist

zu wenig als konzeptionelle Grundlage von Nachhaltigkeit.

Missverstanden wird das Dreisäulenkonzept jedoch, wenn man

damit eine Gleichwertigkeit von Ökologie, Ökonomie und Sozialem be-

haupten will. Das sind völlig unterschiedliche Bereiche, die man nicht

eins zu eins vergleichen kann. Man vergleicht Äpfel mit Birnen und

kommt in der Wertung zu willkürlichen Aussagen (zur Kritik am Drei-

säulenkonzept SRU 2002, Nr. 9–19; Ott/Döring 2004; Eckard 2011; Vogt

2013, S. 134–153).

Wer Nachhaltigkeit als Summe aus sozialen, ökologischen und öko-

nomischen Zielen definiert, verfällt dem maximalis tischen Fehlschluss.

Da es kaum etwas gibt, was sich nicht unter diese drei Begriffe subsum-

mieren lässt, wird der Umfang des Begriffs nahezu unendlich – und

nach dem Gesetz der Logik sein Inhalt folglich nahezu null, da er ja

nichts begrenzt, nichts definiert und inhaltlich somit völlig leer ist. Soll

der Begriff der Nachhaltigkeit überhaupt einen Sinn machen, dann ist

er nicht als die Summe, sondern als die Wechselwirkung zwischen öko-

logischen, sozialen und ökonomischen Faktoren zu definieren. Es geht

nicht um die Gesamtheit aller ökosozialen und wirtschaftlichen Pro-

bleme, sondern um systemisches Denken angesichts der »Vergesellschaf-

tung von Umweltproblemen« (Beck 1986, 107; Vogt 2013, 347–372).

Carlowitz war ein Generalist, der nicht additiv, sondern systemisch ge-

dacht hat.

Diese Analyse hat erhebliche Konsequenzen für die konzeptionelle

Ausrichtung von Nachhaltigkeitsprozessen. Wer sie als Summe ökolo-

gischer, sozialer und ökonomischer Aspekte versteht, gerät in das Fahr-

wasser einer konturlosen und letztlich beliebigen Ausweitung. Diese

Problematik lässt sich deutlich auch in deutschen Nachhaltigkeitsdis-

kursen beobachten, sowohl auf Länderebene wie auf Bundesebene. In

der Regel reagiert man auf das Unbehagen gegenüber der beobachteten

Folgenlosigkeit mit dem Ruf nach Indikatoren, um die behaupteten Er-

folge kontrollierbar und messbar zu machen. Dies greift jedoch zu kurz,

da auf einer viel grundlegenderen Ebene Unklarheit besteht. Der zu-

grunde liegende Begriff von Nachhaltigkeit ist häufig zu weit, deshalb

98 Markus Vogt

werden die Konzepte diffus und fassadenhaft. Indikatoren sind sinnvoll,

ersetzen aber nicht die konzeptionelle Basis.

Mit anderen Worten: Der Anspruch von Nachhaltigkeit als Quer-

schnittskonzept muss im Blick auf die politische und gesellschaftliche

Gestaltung von Transformationsprozessen operationalisiert werden.

Eine aktuelle Herausforderung für Sachsen ist hier beispielsweise die

teilweise Verödung ländlicher Räume durch die Abwanderung der wirt-

schaftlich und kulturell aktiven Bevölkerungsteile sowie besonders vieler

junger Frauen (Vogt/Zimmermann 2013, bes. 29–44). Ich bin mir nicht

sicher, ob die sehr positiven Ergebnisse hinsichtlich der Bevölkerungs-

zufriedenheit der forsa-Studie des Sächsischen Umweltministeriums

von Januar 2014 hier die ganze Wirklichkeit widerspiegeln (vgl. Sächsi-

sches Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie 2014, bes. S. 8).

In jedem Fall sind die tief greifenden und höchst komplexen Wirkungen

des demografischen Wandels auf gesellschaftliche Transformationspro-

zesse eine typische Querschnittsherausforderung, ohne deren Beachtung

auch umweltpolitischer Gestaltungswille oft ins Leere läuft. Nachhal-

tigkeit muss heute im Blick auf die sehr komplexen Herausforderungen

des demografischen Wandels weitergedacht werden (Vogt 2012).

3. Gerechtigkeitstheoretisch: Intergenerationelle und globale VerantwortungDas Nachhaltigkeitskonzept von Rio setzt in seiner Argumentationslogik

nicht spezifisch ökologisch an. Stattdessen gründet es in der Erweiterung

des Verständnisses von Gerechtigkeit auf weltweite und generationen-

übergreifende Dimensionen (globale und intergenerationelle Gerech-

tigkeit). Dies ist eine logische Konsequenz der Globalisierung, deren

räumliche und zeitliche Entgrenzung wirtschaftlicher und sozialer In-

teraktionen eine entsprechende Erweiterung der Ethik erfordert (Höffe

1993, S. 179–195; Ekardt 2011).

Der wissenschaftliche Streit beginnt mit der Frage, ob »Gerechtig-

keit« egalitaristisch als »Gleichheit« interpretiert werden soll. Wenn man

es befürwortet (wie z. B. die Studie »Zukunftsfähiges Deutschland«, die

1996 vom Wuppertal Institut erstellt wurde), ergeben sich zwei ethische

99Carlowitz weiterdenken

Grundpostulate: 1. gleiche Lebenschancen für künftige Generationen,

2. gleiches Recht auf global zugängliche Ressourcen. Angesichts der tie-

fen Unterschiede hinsichtlich der geografischen, kulturellen und histo-

rischen Voraussetzungen, unter denen Menschen leben, sind solche

Gleichheitspostulate jedoch höchst problematisch. Sloterdijk spricht

von einem »Natursozialismus« pauschaler Gleichheitspostulate (Sloter-

dijk 2009, S. 695f.). Für die ethische Diskussion ihrer Differenzierung

und Eingrenzung sind die Begriffe »equity« und »fairness« hilfreich (vgl.

Diefenbacher 2001, S. 41–57 und 72–91; Wulsdorf 2005). Diese Begriffs-

varianten lösen jedoch keineswegs die philosophischen Grundlagenpro-

bleme (Vogt 2013, S. 386–426). Nach nonegalitaristischen Ansätzen (z. B.

Krebs 2000; Pauer-Studer 2000) kann Gleichheit nicht als eigenständiges

Ziel von Gerechtigkeit aufgefasst werden.

Weil sich Zukunft oft nicht ausrechnen lässt und die Bedürfnisse

und Fähigkeiten künftiger Menschen nur unvollständig bekannt sind,

sollte man der Freiheit einen hohen Stellenwert einräumen. Deshalb

hilft die Idee einer Gleichverteilung der Ressourcen zwischen den Ge-

nerationen in vielen Bereichen nicht weiter. Zielgröße sollte vielmehr

sein, den Nachkommen eine Welt zu hinterlassen, die ihnen genügend

Freiheitsräume und Mittel bietet, ihre eigenen Entscheidungen zu tref-

fen (Weikard 2001, S. 42f.). Welche Konsequenzen sich daraus für das

Verhältnis zwischen Postulaten der Bestandserhaltung und solchen der

Entwicklungsfähigkeit von Naturräumen sowie sozioökonomischen

und kulturellen Systeme ergeben, muss orts- und problemspezifisch

ausgehandelt werden. Carlowitz hat sich dabei für seine Zeit zu Recht

auf den Wald als zentrale Grundlage von Gemeinwohl konzentriert.

Heute müssen wird dies weiterdenken in Bezug auf die gegenwärtig vor-

rangig kritischen Umweltgüter wie z. B. Biodiversität, Zugang zu sau-

berem Süßwasser oder Klimastabilität.

Zentrale Bewährungsprobe für intergenerationelle Verantwortung

ist heute die CO2-Gerechtigkeit. Auf der Basis eines menschenrecht -

lichen Ansatzes ergibt sich, dass Armutsbekämpfung systematisch inte-

griert und ethisch vorrangig behandelt werden muss (Potsdam-Institut

für Klimafolgenforschung et al. 2010; Vogt 2010). Für die führenden In-

100 Markus Vogt

dustrienationen heißt CO2-Gerechtigkeit, dass sie ihren CO2-Ausstoß

bis 2050 um mindestens 80 Prozent reduzieren müssen. Für Deutsch-

land bedeutet das eine Reduktion von ca. zehn auf zwei Tonnen pro Per-

son und Jahr. Der scheinbare Erfolg in der Annäherung an diese Ziele

hat allerdings erhebliche blinde Flecken. Er beruht primär darauf, dass

wir die klima- und umweltbelastende Produktion in andere Länder aus-

gelagert haben und somit geschickt verstecken.

Wissenschaftlich gesehen, braucht Klimagerechtigkeit vor allem eine

Verbesserung der Informations- und Berechnungsbasis für die CO2-

Kreisläufe (z. B. Einbeziehung von Flugbenzin sowie der Senkenfunk-

tion von Wäldern und Boden) sowie belastbare Analysen zu den Funk-

tionsbedingungen von Märkten zum Emissionshandel, auf dem viele

Hoffnungen auf einen Kurswechsel zu nachhaltiger Energieversorgung

ruhen. Faktisch hat Deutschland bei den Verhandlungen in Brüssel je-

doch dazu beigetragen, dass die Wirksamkeit des europäischen Zertifi-

katehandels zerstört wurde, weil zu viele billige Zertifikate ausgegeben

wurden und werden. Eine der größten Schwächen des ethischen Zu-

gangs zu Nachhaltigkeit ist, dass es häufig ohne jede differenzierte Ge-

rechtigkeitstheorie entweder mit pauschalen Gleichheitspostulaten oder

mit einem blinden Vertrauen auf die Effektivität und Fairness von

Marktprozessen verbunden wird. Der Mangel an innovativer gerechtig-

keitstheoretischer Reflexion ist eine der Sackgassen des bisherigen Kon-

zepts von Nachhaltigkeit, das aus meiner Sicht mitverantwortlich ist für

das Scheitern der bisherigen Klimakonferenzen. Eine Spur, auf der man

hier Carlowitz in der nötigen Weise weiterdenken könnte, ist sein

umfassendes Konzept des Gemeinwohls, das heute jedoch nicht natio-

nal-kameralistisch, sondern global und in Bezug auf die ökologischen

Kollektivgüter wie Klima oder Wasserhaushalt zu entfalten wäre.

4. Sozioökonomisch: Operationalisierungen des NachhaltigkeitsprinzipsNachhaltigkeit konkretisiert sich im Bemühen um die Erhaltung des

»natürlichen Kapitalstocks«. Die konzeptionelle Diskussion um das

Theorem des natürlichen Kapitalstocks läuft entlang der beiden Begriffe

101Carlowitz weiterdenken

»starke Nachhaltigkeit« und »schwache Nachhaltigkeit«, wobei das

Zweite Substitutionen von Naturkapital durch ökologische, soziale oder

ökonomische Wertschöpfung zulässt, die erste Interpretation dagegen

nicht (Münk 1999; Ott/Döring 2004).

Das Postulat der »starken Nachhaltigkeit«, dem sich auch der Sach-

verständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung angeschlossen

hat (SRU 2002, S. 9–19), ist insofern für das Verständnis des Konzeptes

von entscheidender Bedeutung, als es dem lange vorherrschenden Miss-

verständnis des Dreisäulenmodells entgegentritt. Das vermeintlich

gleichberechtigte Nebeneinander der drei Dimensionen führte fast

zwangsläufig zur Aushöhlung der ökologischen Postulate. Die Regel,

dass unterschiedliche Kapitalformen von Ökologie, Ökonomie und So-

zialem sich wechselseitig substituieren dürfen, birgt die Gefahr, dass

ökonomische Maßstäbe, die in der Form monetarisierter Bewertungen

als Vergleichsgröße dienen, einseitig dominieren und man die komplexe

Sensibilität der ökologischen Funktionen unterschätzt. Die Erhaltung

des natürlichen Kapitalstocks darf gemäß dem Konzept der starken

Nachhaltigkeit nur sehr eingeschränkt als etwas betrachtet werden, das

durch ökonomische Wertschöpfung kompensiert werden kann. Nach

den Erfahrungen der Finanzkrise ist eine solche Vorsicht in verstärkter

Weise geboten, da diese unabweisbar gezeigt hat, wie fragwürdig die

Messgrößen für wirtschaftlichen Wohlstand und Fortschritt in Zeiten

der virtuellen Geldschöpfung sind.

Allerdings gibt es ein methodisches Problem. Der Begriff »Res-

source« wird im Modell der starken Nachhaltigkeit als vorsoziale Tatsa-

che vorausgesetzt. Aber etwas ist erst dann als Ressource definierbar,

wenn dafür eine Nutzungsperspektive gegeben ist. Wenn man beispiels-

weise Wasserstoffmotoren erfindet, wird Wasserstoff zur Ressource. Für

eine Gesellschaft, die mit Öl nichts anzufangen wüsste, wäre Öl auch

keine Ressource. Der Begriff ist aufgrund seiner Nutzenrelation eine ab-

hängige Variable von technischen und sozialen Innovationen. Durch die

Erfindung von neuen und effizienteren Nutzungsmöglichkeiten werden

Ressourcen gemehrt. Wenn man dies unterschlägt, degeneriert Nach-

haltigkeit zum passiven Begrenzungsprinzip. Aufgrund dieser Zusam-

102 Markus Vogt

menhänge ist nach meiner Überzeugung die bisher diskutierte Alterna-

tive von starker oder schwacher Nachhaltigkeit unterkomplex, weil sie

Differenzierungen, auf die es ankommt, nicht benennt und damit keine

sinnvoll entscheidbaren Alternativen formuliert.

Bei dem Bemühen um eine Ökologisierung der Ökonomie ist zu be-

achten, dass das Nachhaltigkeitsprinzip im rein bioökologischen Sinn

kaum auf das moderne Wirtschaftssystem übertragbar ist. So wäre bei-

spielsweise die urbane Siedlungsweise weitgehend unzulässig, weil sich

die Städte nicht selbst ernähren und insofern auch nicht nachhaltig sein

können. Das in der Natur vorfindliche Modell taugt hier nur begrenzt

als normativer Maßstab. »Letztlich müssen wir anerkennen, dass die

kulturelle Entwicklung der Menschheit, insbesondere im industriell-

technischen Stadium, sich über die nachhaltige Organisation der Natur

hinweggesetzt hat, und zwar irreversibel« (Haber 1994, S. 13). Gemessen

an ökologischen Gleichgewichtsmodellen, wäre der gesamte Zivilisati-

onsprozess im Grunde ein Störfaktor, den es zu eliminieren gilt. Auch

evolutionär gesehen, ist die Lebensentwicklung ein offener Prozess in

der Spannung zwischen Gleichgewicht und Ungleichgewicht, ohne die

es keine Sukzessionen und damit auch keine Entwicklung gäbe. Es wäre

also weder möglich noch sinnvoll, alle sozioökonomischen Prozesse der

Gesellschaft nach einem naturalistischen Modell von Nachhaltigkeit

umzugestalten. Ohne den Bezug auf gesellschaftliche Zielsetzungen und

Interessen, die erst die Betrachtungsebene mit ihrer räumlichen und

zeitlichen Struktur festlegen, wird Nachhaltigkeit inhaltsleer (Haber

2010, S. 48–65).

Die umweltgeschichtlichen Untersuchungen von Frank Uekötter

können das Misstrauen dagegen schulen, ideologisch aufgeladene Au-

tarkievorstellungen, die in Deutschland besonders in der Zeit des Na-

tionalsozialismus Konjunktur hatten, vorschnell auf das Nachhaltig-

keitskonzept zu übertragen (Uekötter 2009, S. 18f.). Nachhaltigkeit ist

ein normatives Konzept, das weder aus ökologischen noch aus ökono-

mischen Gleichgewichtsmodellen einfach funktional abgeleitet werden

kann. Es bedarf vielmehr einer ethisch-kulturellen Verankerung und,

darauf aufbauend, bewusster politischer Entscheidungen, die einen Rah-

103Carlowitz weiterdenken

men für das erlaubte Maß an Naturbeanspruchung setzen und den sozio -

ökonomischen Innovationsprozessen eine Richtung geben. Auf dieser

Basis ist dann freilich die ökonomische und technische Operationali-

sierung der Nachhaltigkeit im Sinne einer Kreislaufwirtschaft zugunsten

eines sparsamen und effizienten Umgangs mit den natürlichen Ressour-

cen, der Erschließung neuer Nutzungs- und Wiederverwertungsmög-

lichkeiten sowie zugunsten der Vermeidung schädlicher Reststoffe der

dynamische Kern des Konzeptes.

»Stark« ist Nachhaltigkeit nicht dann, wenn sie einen naturalisti-

schen Ressourcenbegriff voraussetzt, sondern wenn sie die komplexe

Wechselwirkung zwischen der je unterschiedlichen Eigenlogik sozio-

ökonomischer und ökologischer Systeme im Blick behält. Angesichts

der sich verdichtenden Krisen von Klimawandel, Finanzsystem, Arbeits-

losigkeit, Hunger, regionalspezifischem Süßwassermangel, Verlust von

Biodiversität, Aussterben von Fischbeständen, Bodenerosion und Roh-

stoffknappheiten – um nur einige Aspekte der multiplen Entwicklungs-

krise des frühen 21. Jahrhunderts zu nennen – sollte sich die Operatio-

nalisierung des Nachhaltigkeitskonzeptes künftig stärker auf Resilienz

und »Anitfragilität«, also den robusten Umgang mit Wandlungsprozes-

sen, fokussieren (Wolter 2012; Taleb 2013; Welzer 2013, S. 188–198).

Die üblichen Win-win-Modelle von Umweltschutz und wirtschaft-

lichem Gewinn sind oft viel zu optimistisch und führen bisweilen in die

falsche Richtung (vgl. hierzu auch die Kritik der rein utilitaristischen

Interpretation von Nachhaltigkeit im ersten Abschnitt). Nicht selten

verhindert eine biologische Interpretation von Nachhaltigkeit, die dem

differenzierten Denken von Carlowitz nicht gerecht wird, dass man die

Kräfte wirtschaftlicher Innovation in angemessener Weise würdigt und

zugleich für die Lösung der vorrangigen Probleme in die Pflicht nimmt.

5. Demokratisch: Pluralismus, Partizipation und demokratische InnovationDie konstruktive Dynamik einer gesellschaftlichen Anpassung an die

Bedingungen der Natur beruht wesentlich auf sozialen Innovationspro-

zessen sowie einem kulturellen Wertewandel, der die Ziele der Nach-

104 Markus Vogt

haltigkeit von Anfang an in die wissenschaftliche, technische und wirt-

schaftliche Entwicklung integriert. Sie ist nur im Rahmen eines Kon-

zeptes möglich, das die unterschiedlichen Präferenzen, Weltbilder und

Fähigkeiten in einer pluralistischen Gesellschaft anerkennt. Schon auf-

grund dieser Offenheit kann das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung

keine inhaltlich eindeutig festgelegte Zielbestimmung sein. Es ist viel-

mehr ein Zielsystem nicht aufeinander zurückführbarer Teilkomponen-

ten, das eine zukunftsorientierte Gesamtperspektive bietet, um in den

unterschiedlichen Situationen ethisch begründete und möglichst aus-

gewogene Zuordnungen auszuhandeln (Diefenbacher 2001, S. 98–105;

Vogt 2013, S. 1169–179). Es stellt ein plurales Leitbild dar, das nur durch

vielfältige gesellschaftliche Suchprozesse in Wirtschaft, Wissenschaft

und Kultur konkretisiert werden kann. Damit passt es hervorragend zur

Stadt Chemnitz, die ihr Image als »Stadt der Vielfalt« pflegt.

Die Offenheit des Leitbildes der Nachhaltigkeit fordert zur verstärk-

ten zivilgesellschaftlichen Mitgestaltung des öffentlichen Lebens auf.

Dies ist die demokratische Leitidee der Agenda 21. Eine »teilhabende

Demokratie« (Agenda 21, Kapitel 27 sowie Teil drei [Kapitel 23–32]) ist

nicht nur Mittel, sondern zugleich fundamentaler Inhalt des Konzepts

nachhaltiger Entwicklung. Die aktive Mitgestaltung des jeweiligen Le-

bensraumes kann nicht von oben verordnet werden, sondern muss lang-

sam wachsen. Durch Anerkennung und Mitgestaltung gedeiht Verant-

wortungsbewusstsein. Deshalb ist Partizipation ein ganz wesentliches

Element des ethischen Prinzips der Nachhaltigkeit.

In Zeiten der politischen Orientierungslosigkeit angesichts der gro-

ßen Herausforderungen wie Klimawandel und Umweltdegradation, Fi-

nanzkrise oder globalem Hunger braucht Nachhaltigkeit einen Auf-

bruch der deutschen, europäischen und globalen Zivilgesellschaft für

eine neue Qualität gesellschaftlicher Mitverantwortung. Aktuelle Be-

währungsprobe und Chance hierfür ist die 2011 von der deutschen Bun-

desregierung beschlossene Energiewende, die nicht ohne aktive Mitwir-

kung der Konsumenten durch neue Konsum- und Mobilitätsmuster

gelingen kann und die im Bereich der erneuerbaren Energien den »Pro-

sumenten« fordert, der zugleich Energie produziert und konsumiert.

105Carlowitz weiterdenken

»Vogt2013, S.1169–179«

=>169–179oder 1169-1179?

Benutzer1
Notiz
169-179

Eine solche Transformation vom zivilgesellschaftlichen Protest gegen

etwas hin zu – auch unternehmerischer – Mitgestaltung ist program -

matisch für das Konzept der Nachhaltigkeit.

Nachhaltigkeit fordert tief greifende demokratische Innovationen

im Sinne eines Mehrebenenansatzes, der Nachhaltigkeitspraxen von Pio-

niergruppen aufgreift, dem latent vorhandenen Wertewandel zivilge-

sellschaftlichen Entfaltungsraum gibt und ihn konsequent auch auf der

Ebene eines Institutionenwandels strukturell absichert (Ostrom 2005).

Eine primär von Expertenwissen gelenkte »Große Transformation« ist

demokratietheoretisch nicht zu befürworten. Im Bereich der Risikodis-

kurse gibt es differenzierte Beteiligungsansätze, die grundlegende Be-

achtung verdienen (Renn 2008). Man sollte aber das Konfliktpotenzial

von nachhaltigen Verhaltensmustern nicht unterschätzen: Harald Wel-

zer charakterisiert sein Buch »selbst denken«, das derzeit zu den scharf-

sinnigsten Analysen über Nachhaltigkeit gehört, als »Anleitung zum Wi-

derstand« (Welzer 2013). Diese Idee des mündigen Bürgers durch aktive

Mitgestaltung von Nachhaltigkeitsinitiativen, die in konkreten lokalen

Initiativen ihren Anfang nehmen, ist nicht nur als moralisch-politisches

Postulat, sondern in der inzwischen weltweiten »Transitionbewegung«

soziale Realität. Allein in Deutschland werden dieser mehr als 120 Grup-

pen und Initiativen zugerechnet. Rob Hopkins, der Begründer dieser

Bewegung, bringt deren Motto in seiner aktuellen Bilanz anschaulich

auf den Punkt: »Einfach. Jetzt. Machen. Wie wir unsere Zukunft selbst

in die Hand nehmen« (Hopkins 2014). Auch die Carlowitz-Gesellschaft

könnte man als eine solche Transitionbewegung bezeichnen.

Aus der Sicht des WBGU ist Bewusstseinsbildung ein Herzstück und

Motor nachhaltiger Entwicklung. Er spricht von transformativer Bil-

dung für ein systemisches Verständnis von Handlungsoptionen und

Lösungsansätzen (WBGU 2011). Die Bedeutung von »Transformations-

kompetenz« sei heute vergleichbar mit der grundlegenden Kulturtech-

nik des Lesen-und-Schreiben-Könnens als einer Voraussetzung für ge-

sellschaftliche Teilhabe und Mündigkeit in der modernen Welt

(»transformative literacy«: Schneidewind 2013, 39f.). Transformations-

kompetenz muss aber nicht immer akademisch vermittelt werden. So

106 Markus Vogt

hat der WBGU auch sein Gutachten zur Großen Transformation in

einen Comic übersetzt.

Konzeptionell gibt es in der demokratischen Umsetzung von Nach-

haltigkeit nach meiner Beobachtung vor allem zwei Grundprobleme:

Oft werden Partizipationskonzepte im Rahmen der Nachhaltigkeit von-

seiten der Politik primär als Instrumente zur Akzeptanzbeschaffung ge-

dacht und vonseiten der Bürger nach dem NIMBY-Prinzip (»Not in my

backyard«) praktiziert und so in kleinkarierten Eigeninteressen zerrie-

ben. Dies macht sich gegenwärtig insbesondere in der Energiewende

lähmend bemerkbar (vgl. Vogt/Ostheimer 2014). Alle wollen sie, aber

keiner will, dass die dafür nötigen Stromtrassen oder Windräder bei

ihm gebaut oder Einschränkungen von ihm erwartet werden. Darüber

hinaus dominiert die Angst um Arbeitsplatz und Wohlstandwahrung

häufig über den Willen zu demokratischen Partizipations- und Verant-

wortungskulturen. Die Kurzfristigkeit der wählerwirksamen Interessen

ist ein Webfehler der gegenwärtigen Modelle von Demokratie. Dieser

sollte im Interesse der künftigen Generationen durch strukturelle Re-

formen ausgeglichen werden, z. B. durch eine(n) Ombudsmann/-frau

für Langfristinteressen. Auch global muss Nachhaltigkeit vor allem in-

stitutionell weitergedacht werden, um politisch wirksame Steuerungs-

mechanismen zu etablieren.

6. Kulturell: Lebensstil und ein neues WohlstandsmodellNachhaltigkeit steht nicht nur für ein sozialtechnisches Programm der

Ressourcenschonung, sondern darüber hinaus für eine ethisch-kultu-

relle Neuorientierung. Das neuzeitliche Fortschrittsparadigma des un-

begrenzten Wachstums ist durch die Leitvorstellung von in die Stoff-

kreisläufe und Zeitrhythmen der Natur eingebundenen Entwicklungen

abzulösen. Als »Fortschritt« kann künftig nur bezeichnet werden, was

von den Bedingungen der Natur mitgetragen wird (Korff 1997).

Nachhaltigkeit steht für eine neue Definition der Voraussetzungen,

Grenzen und Ziele von Fortschritt. Statt »schneller, höher, weiter« wer-

den die Sicherung der ökologischen, sozialen und ökonomischen Sta-

bilität menschlicher Lebensräume sowie die umsichtige Risikovermei-

107Carlowitz weiterdenken

dung zur zentralen Bezugsgröße gesellschaftlicher Entwicklung und po-

litischer Planung (Renn 2008; Wolter 2012; Taleb 2013). Der dringendste

ökologische Handlungsbedarf und die größten finanziellen Einspar -

potenziale für ein neues postfossiles und postnukleares Wohlstands -

modell liegen im Bereich der Energie (Bundesregierung 2010). Entschei-

dend ist hier die Verbindung von innovativer Technik, organisatorischer

Optimierung sowie persönlichen Verhaltensänderungen und damit die

Verknüpfung von drei Strategien: Suffizienz (Sparsamkeit), Effizienz

(technische Optimierung) und Substitution (erneuerbare statt fossile

Energie).

Nachhaltigkeit kritisiert die Fixierung kultureller Vorstellungen des

guten Lebens auf wirtschaftlich bestimmte Lebensziele. Eine »Kultur

der Nachhaltigkeit« erkennt Naturschutz als Kulturaufgabe und inte-

griert Umweltqualität als fundamentalen Wert in die kulturelle, soziale,

gesundheitspolitische und wirtschaftliche Definition von Wohlstand.

Sie sind Ausdruck einer Wiederentdeckung der Ethik des Maßhaltens

(Welzer 2013, S. 49–53, 75–82, 204–206; Vogt 2013, 161–169).

Auf der gesellschaftlichen Ebene zielen sie auf ein neues ökologi -

sches Wohlstandsmodell. Ein nachhaltiger Lebensstil zielt nicht auf

Wohlstandsverzicht, sondern auf intelligente, rohstoff- und umwelt-

schonende Nutzungs- und Verteilungsstrukturen für möglichst viele

Menschen, einschließlich kommender Generationen. Langlebige und

reparaturfreundliche Produkte, Reparieren statt Wegwerfen, Qualität

durch maßgeschneiderte Dienstleistungen, gemeinsame Nutzung von

Gütern fördern Arbeitsplätze, schonen Ressourcen und sparen häufig

auch Geld.

Ein konzeptioneller Fehler vieler Nachhaltigkeitsmodelle ist, dass sie

den Bereich des Lebensstiles und Konsums allein der Privatsphäre zu-

ordnen. Es ist zwar richtig, dass dieser Bereich nicht unmittelbar poli-

tisch kontrolliert oder gesteuert werden kann und auch nicht soll. Den-

noch unterliegen die privaten Entscheidungen der Konsumenten

vielfältigen strukturellen Prägungen und Zwängen, die sehr wohl ver-

ändert werden können. Deshalb ist das Modell der Ökosozialen Markt-

wirtschaft (Ostheimer/Vogt 2004, S. 119f.; Weizsäcker u. a. 1995, S. 177–

108 Markus Vogt

225), für das sich beispielsweise die Kirchen bereits 1985 starkgemacht

haben, der notwendige ordnungspolitische Ausdruck des Konzepts

Nachhaltigkeit. Nur durch ein Wechselspiel von Angebots- und Nach-

fragewandel lassen sich eingeschliffene Konsummuster ändern.

Die Schwierigkeit besteht hier genau darin, dass Konsumenten, Pro-

duzenten, Handel und Politik jeweils auf den ersten Schritt der anderen

warten, um mit dem Wandel zu beginnen. Nachhaltigkeit braucht des-

halb Pioniere, die in der persönlichen oder unternehmerischen Praxis

neue Impulse setzen. Ebenso unverzichtbar sind Politiker, die die Rah-

menbedingungen verändern, um die Vorleistungen Einzelner strukturell

auf Dauer zu etablieren, sowie zivilgesellschaftliche Akteure (z. B. Me-

dien, Verbände, Bildungseinrichtungen und Kirchen), die Bewusstsein

fördern und an jeweils ihrem Ort Verantwortung praktizieren.

Häufig dient Nachhaltigkeit als grünes Mäntelchen für die Entwick-

lungs- und Wachstumsmodelle von gestern. Dies ist einer der Haupt-

gründe, warum die Glaubwürdigkeit des Konzeptes schwer angeschlagen

ist. Genügsamkeit und Maßhalten im Lebensstil der reichen Länder

sowie der Oberschichten in den Schwellen- und Entwicklungsländern

ist ein konzeptionell unverzichtbares Element von Nachhaltigkeit. Das

unbequeme Element der Suffizienz ist in den bisherigen Modellen der

politischen und ökonomischen Nachhaltigkeitsrhetorik jedoch wenig

beachtet. Man spricht lieber von »green economy« und »nachhaltigem

Wachstum« (so beispielsweise in der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie

der Bundesregierung 2011 sowie bei der UN-Konferenz für Nachhal-

tigkeit in Rio 2012).

Nachhaltigkeit fordert ein grundlegendes Hinterfragen des Wachs-

tumsparadigmas. Es geht im Kern darum, die Ambivalenzen der auf Ge-

winnmaximierung und Umsatzsteigerung fixierten gängigen Modelle

von Entwicklung im Blick auf Lebensqualität sowie auf manche öko-

soziale Auswirkungen deutlicher in den Blick zu nehmen. Nachhaltig

ist nicht die Maximierung von Wachstum, sondern die Optimierung

von Lebensqualität und Teilhabechancen für möglichst viele. Nur ein

ressourcenleichter Wohlstand ist gerechtigkeitsfähig. Als Maß- und Kon-

trollgröße hierfür kann der »Index of Sustainable Economic Welfare«

109Carlowitz weiterdenken

dienen, der Wohlstand nicht am Bruttosozialprodukt misst, sondern an

Kriterien eines umfassenden Konzeptes ökosozialer Entwicklung (Die-

fenbacher 2001, S. 133–170; Miegel 2010).

Wichtiger als solche Modelle ist die persönliche Bereitschaft eines

jeden, sich den Verführungen der Konsumversprechen zu entziehen und

die Kunst der Reduktion als Weg zu mehr Lebensglück zu entdecken

(Paech 2014; Linz 2014). Der nötige Wertewandel für nachhaltige Mus-

ter in Konsum, Produktion, Mobilität und Lebensstil wird nicht auf der

Basis von Moralappellen für Verzicht gelingen. Er braucht vielmehr eine

kulturelle Transformation der Vorstellungen von gutem und gelingen-

dem Leben. Eine wichtige und derzeit viel diskutierte Dimension der

kulturellen Transformation für Nachhaltigkeit ist das Wiederentdecken

des Wertes von Heimat und der Verwurzelung im je eigenen Lebens-

raum (Krebs 2011). Dies führt zu einem Aufblühen von Regionalbewe-

gungen und neuen Formen der lokalen Bürgermitverantwortung (Hop-

kins 2014).

Die Hoffnung, dass gestiegener Verantwortungswille der Konsumen-

ten zu einer »Moralisierung der Märkte« (Stehr 2007) führe, scheint

jedoch gegenwärtig weitgehend ernüchtert, da dieser Wirkungs -

zusammenhang von der ungebrochenen Jagd nach »Schnäppchen«

sowie vom internationalen Wettbewerb mittels Billigprodukten über-

lagert und verdrängt wird.

Das grüne Image von Produkten ist oft nur eine Fassade, deren

positive Ökobilanz durch umso eifrigeres Konsumieren kompensiert

wird. Der »mündige Konsument« ist weitgehend eine Fiktion und in

jedem Fall noch längst kein mündiger Bürger. Zu beobachten ist in

unübersichtlichen Zeiten eher das Gegenteil einer »Selbstentmündi-

gung in Grün« (Welzer 2013, S. 86), indem sich die Konsumenten gerne

mit grünen Versprechen und wirkungslosen Ersatzhandlungen täu-

schen lassen.

Will man Carlowitz in diesem komplexen Feld der Konsumenten-

verantwortung für heute weiterdenken, könnte man vermutlich vor

allem methodisch von seinem konsequenten Willen zu genauen und

umfassenden Bilanzierungen lernen.

110 Markus Vogt

7. Zeitpolitisch: Rhythmen jenseits der Beschleunigungsgesellschaft Die menschliche Zivilisation ist heute so erfolgreich, dass sie durch ihre

beschleunigte Expansion ihre eigene ökologische Nische destabilisiert

(z. B. Klimaveränderungen, Verlust von fruchtbarem Boden, Reduktion

der Süßwasservorräte). Die durch Entgrenzung und damit hohen Kon-

kurrenzdruck erzeugte Beschleunigung lässt der Gesellschaft kaum Zeit

für den mühsamen Prozess der öffentlichen Verständigung auf die an-

gestrebten Ziele ihrer Entwicklung (Rosa 2013). Man kann die atemlose

Beschleunigung der postmodernen Gesellschaft als Ausdruck und Folge

von Orientierungslosigkeit deuten: »Als sie das Ziel aus den Augen ver-

loren, verdoppelten sie ihre Geschwindigkeit.« (Mark Twain)

Das Lob der Langsamkeit, das in den Feuilletons bereits zu einem

festen Topos geworden ist, bietet allerdings keinen Ausweg. Verlangsa-

mung im Alleingang führt unter den Bedingungen moderner Gesell-

schaften zu selbstbestimmter Verelendung. Das Vermögen, langsam zu

handeln, ist kein Selbstwert wie das, schnell handeln zu können, sondern

es erhält seinen Sinn durch den Bezug auf Vorgänge in Natur und Ge-

sellschaft, die nicht nur schnelle Aktivität, sondern auch die Fähigkeit

des Wartens und der Synchronisation verschiedener Rhythmen erfor-

dern (Haeffner 2001, S. 85–89).

Langsamkeit und Bedachtsamkeit sind Haltungen, in denen der

Mensch nicht mit eigenen Kräften als Homo faber agiert, sondern auf

das Reifen der Saat wartet, sich sozialen und ökologischen Rhythmen

anvertraut. Wer auf den Wellen der Zeit reiten will (Haeffner 2001, S. 87),

braucht sowohl die Fähigkeit, sich abwartend an die Langsamkeit und

die Eigenzeiten mancher Prozesse anzupassen, als auch die Fähigkeit,

gezielt einzugreifen und rasch zu handeln.

Letztlich steht hinter dem haltlosen Sturz unserer Beschleunigungs-

gesellschaft in die Zukunft eine metaphysische Einstellung. Die Kunst,

sich Zeit zu lassen, braucht Zustimmung zur zeitlichen Bedingtheit und

eine Verabschiedung von der Illusion, dass all unsere Wünsche in der

Zukunft erfüllt werden könnten. Wer das Leben als »letzte Gelegenheit«

ansieht, verfällt fast unweigerlich den Imperativen der Maximierung

und Beschleunigung (Höhn 2011; Rosa 2013).

111Carlowitz weiterdenken

Im Horizont des reinen Zweckdenkens ergibt sich automatisch eine

Konzeption der Zeit als bloßer, für sich sinnleerer Zwischenraum (Haeff-

ner 2001, S. 92). Es geht darum, der zeitlichen Bedingtheit selbst einen

Sinn abzugewinnen, die Eigengeschwindigkeiten und Rhythmen des Le-

bens, der Natur, aber auch der Verläufe und Ereignisse unseres Lebens

und des sozialen Zusammenlebens als Bestandteil ihrer Identität und

Dignität zu erkennen und zu achten. Nachhaltigkeit braucht eine »Öko-

logie der Zeit« (Held).

Im Blick auf das Zeitdenken kann der Wald ein Lehrmeister für

Nachhaltigkeit sein. Bäume gehören zu den ältesten Lebe wesen der Erde

und geben uns schon allein durch ihre bloße Existenz langfristig zu den-

ken auf. Die Jahresringe eines Baumes repräsentieren den Rhythmus

der Jahreszeiten, nie exakt gleich, aber ähnlich. Erst durch solche variable

Ähnlichkeit, also einen Rhythmus im Unterschied zum bloßen Takt,

entsteht Zeitbewusstsein. Zeit ist also mehr als Dauer. Zeit ist Prozess

im Rhythmus von Werden und Vergehen. Das durch die Beo bachtung

des Waldes geschulte Zeitdenken ist ein Grundimpuls des Nachhaltig-

keitskonzeptes von Carlowitz.

Zeitpolitik ist eine Querschnittsaufgabe, die in allen Politikfeldern

soziale und ökologische Eigenzeiten berücksichtigt und schützt und

sich der Entrhythmisierung der Industriekultur entgegenstellt (Held

1995). Die Achtung und Wiederentdeckung natürlicher und sozialer

Rhythmen sind ein zentrales Entwicklungsprinzip der Nachhaltigkeit

(Geißler 1995, S. 9). Denn Rhythmen sind das entscheidende Medium

der Bindung, durch das Gesellschaften zusammenhalten und das es den

Individuen ermöglicht, sich im sozialen Raum zu lokalisieren (Geißler

1995, S. 16).

Unter sozialen Aspekten zielt Zeitpolitik auf Zeitwohlstand als Er-

höhung der individuellen Zeitsouveränität durch selbstbestimmte Zeit-

gestaltung, auf eine Kultur der Zeitvielfalt, die zeitliche Monokulturen

durch Vielfalt ersetzt, und auf ein Finden der rechten Zeitmaße im Um-

gang mit der Natur. Die zentrale Bedeutung des Zeitaspektes für eine

nachhaltige Gesellschaft fehlt in den meisten der bisherigen Analysen

und Konzepte.

112 Markus Vogt

8. Theologisch: Schöpfungsglaube und NachhaltigkeitDas Worldwatch Institute in Washington geht davon aus, dass der »Kurs-

wechsel« der Weltgesellschaft zu einer nachhaltigen Entwicklung gelin-

gen kann, wenn die Religionen intensiv Mitverantwortung übernehmen.

Die spezifisch religiösen Potenziale liegen in der spirituellen Orientie-

rung, der langfristigen Ethik, der globalen Gemeinschaftsbildung, der

rituellen Sinnstiftung und ihrer institutionellen Verankerung (Gardner

2003, S. 291–327). Diese werden bisher nur eingeschränkt aktiviert

(Vogt 2013, S. 482–494).

Mit anderen Worten: Der Nachhaltigkeitsdiskurs ist »religionspro-

duktiv«, insofern er grundlegende Fragen nach langfristiger Zukunft

und globaler Verantwortung stellt und von daher auch die Religionen

kritisch nach ihrem Beitrag zur Problembewältigung befragt (Sloterdijk

2009). Als älteste globale Institution auf unserem Planeten ist die Kirche

in besonderer Weise beauftragt, für globale und intergenerationelle

Gerechtigkeit einzutreten.

Der Brückenschlag zwischen Schöpfungsverantwortung und Nach-

haltigkeit ist jedoch auch für die Kirchen ein mühsamer Lernprozess.

So wie der christliche Gedanke der Caritas jahrhundertelang nur

tugendethisch verstanden und erst in der Verbindung mit dem Soli -

daritätsprinzip politisch wirksam wurde, so braucht der Schöpfungs-

glaube eine Übersetzung in ordnungsethische Kategorien, um politik-

fähig und justiziabel zu werden und die konkreten Konsequenzen in

den organisatorischen Strukturen und wirtschaftlichen Entscheidungen

deutlich zu machen.

Deshalb sollte Nachhaltigkeit heute als viertes Sozialprinzip in der

christlichen Ethik verankert werden (Vogt 2009, S. 456–481). Die frei-

heitliche Demokratie beruht nicht nur auf den Werten bzw. Sozialprin-

zipien der Personalität, Solidarität und Subsidiarität, sondern ebenso

auf dem Prinzip der Nachhaltigkeit. Nachhaltigkeit ist der kategorische

Imperativ zeitgemäßer Schöpfungsverantwortung. Für die Christen

kann und muss das Konzept dazu dienen, die ethischen Impulse des

Glaubens in die Handlungsfelder der gesellschaftlichen Zukunftsgestal-

tung zu übersetzen.

113Carlowitz weiterdenken

Zur politischen Bedeutung der religiösen Dimension von Nachhal-

tigkeit gab es bei der Nachhaltigkeitskonferenz 2012 in Rio einen inte-

ressanten Impuls einiger lateinamerikanischer Länder. So hat u. a. Peru

unter dem Rückgriff auf präkolumbianische Naturbegriffe den Schutz

der »Mutter Erde« in der Verfassung verankert und eine entsprechende

ethische Neuorientierung auch in der internationalen Politik eingefor-

dert. Das »Institute for Advanced Sustainability Studies« (IASS; www.

berlin-institut.org/index.php?id=39), das unter der Leitung von Klaus

Töpfer in Potsdam gegründet wurde, setzt sich in der wissenschaftlichen

und politischen Debatte für eine Stärkung solcher religiös konnotierten

Naturvorstellungen – gerade auch im Kontext der pluralistischen Kultur

der Weltgesellschaft – ein, um einen weniger ressourcenintensiven Weg

der Moderne zu ermöglichen.

Ein Schöpfungsglaube, der mit einer gewissen Demut und Beschei-

denheit auf die Grenzen des Menschen verweist, ist ein entscheidendes

Korrektiv zu manchen Interpretationen des Konzeptes der Nachhaltig-

keit, die daraus die Leitutopie des 21. Jahrhunderts für ein globales öko-

soziales und ökonomisches Management machen. Oft dient das ökolo-

gische Wissen im Rahmen der Nachhaltigkeit nur dazu, den Anspruch

auf Naturbeherrschung auszuweiten, statt zugleich auch kritisch nach den

ethisch-politischen und kulturellen Bedingungen für eine langfristige

Beherrschbarkeit dieses Wissens zu fragen. Ohne die Tiefendimension

einer Anthropologie und Naturphilosophie bleibt der Nachhaltigkeits-

diskurs unkritisch und degeneriert oft zum bloßen Anpassungsdiskurs.

Manches, was gegenwärtig unter dem Stichwort »Geoengineering« dis-

kutiert wird, ist nicht nur in hohem Maße riskant, sondern auch miss-

brauchbar. Aus Sicht aller Weltreligionen braucht die Fähigkeit zu Ver-

antwortung intelligente Selbstbeschränkung.

Die mentalen Barrieren einer Abkehr vom Modell des grenzenlosen

Wachstums haben auch theologische Ursachen. Der Mensch hat das Be-

dürfnis nach einem offenen, Sinn stiftenden Horizont. Da viele diesen

heute nicht mehr in einer – wie auch immer gearteten – religiösen Vor-

stellung von Transzendenz finden, projizieren sie ihn in die Zukunft als

Raum vermeintlich unbegrenzter Möglichkeiten. So hat das »Prinzip

114 Markus Vogt

korrekterLink?

Benutzer1
Notiz
ja

Hoffnung« (Bloch) eine auch sozialpsychologisch tiefe Funktion und

kann trotz aller kognitiven Einwände kaum verabschiedet werden.

Darüber hinaus hat das neuzeitliche Fortschritts- und Wachstums-

modell auch eine naturphilosophische Basis von hoher Evidenz: die

Newton’sche Mechanik, die Zeit und Raum als leere Behälter auffasst,

also als etwas, das von sich her keine Richtung und keine Struktur hat,

keinen Anfang und kein Ende kennt. Zeit und Raum sind demnach le-

diglich Hindernisse, die es zu überwinden gilt. Die Beschleunigungs -

gesellschaft, die in atemlosem Tempo die Energieressourcen aus Jahr-

millionen verbraucht und unser Lebenstempo durch den Imperativ

»Jederzeit immer alles« bestimmt, ist eine Konsequenz dieser Naturdeu-

tung. Der christliche Schöpfungsglaube sucht nach Alternativen hierzu

und kann in der Prozesstheologie auf der Basis eines Gesprächs mit

Quantenphysik, Relativitätstheorie sowie den Theorien komplexer

adaptiver Systeme neue naturphilosophische Anknüpfungspunkte fin-

den (Faber 2003; Vogt 2009, S. 323–330). Die Grenzen von Raum und

Zeit sowie das Denken in Beziehungsgefügen und konkreten Kontexten

gewinnen hier neue Bedeutsamkeit und widersprechen den Zeit- und

Raumvorstellungen der neoliberalen Ökonomie.

Das Wissen um die begrenzte Möglichkeit des Menschen, komplexe

historische Prozesse zu steuern, kann zu Gelassenheit führen. Religiöse

Sprache drückt dies metaphorisch aus: »Die Zukunft liegt in den Hän-

den Gottes.« Eine solche Haltung des Gottvertrauens ist strikt von Pas-

sivität zu unterscheiden und eher als ein aufmerksames Erwarten zu

charakterisieren. Bei der Herausbildung einer Haltung aufmerksamer

Gelassenheit, die für Nachhaltigkeit eine Schlüsselbedeutung hat, kann

der christliche Glaube eine substanzielle Rolle spielen. Man kann diese

Haltung der Zuversicht auch anhand einer philosophischen Waldmeta-

pher veranschaulichen: »Ein wachsender Wald macht weniger Lärm als

fallende Bäume.« (Laotse) Der Wald wächst still, unentwegt. In ihm

steckt eine Lebenskraft, der es sich anzuvertrauen lohnt.

Häufig nimmt der Umweltdiskurs jedoch gerade in umgekehrter

Weise auf die verbliebenen Reste religiöser Vorstellungen Bezug. Sie wer-

den benutzt, um moralische Schuldvorwürfe und apokalyptische Zu-

115Carlowitz weiterdenken

kunftsängste zu untermauern. Das passt zwar zur medial geprägten Kul-

tur, wo nur bad news Aufmerksamkeit finden, widerspricht aber dem

christlichen Grundimpuls als »Evangelium«, also einer Frohbotschaft,

die sowohl gegenüber den Verheißungen des neuzeitlichen Fortschritts-

optimismus als auch gegenüber dessen apokalyptischer Umkehrung kri-

tische Distanz wahrt. Eine solche höchst sensible Balance ist ein ent-

scheidendes Element des Nachhaltigkeitskonzeptes. Sie lebt von dem

Vertrauen in den Sinn und die Möglichkeit der Zukunftsgestaltung,

jedoch ohne die utopische Verheißung einer zivilisatorischen Emanzi-

pation von der Natur. Sie ist Zukunftshoffnung jenseits von Fortschritts-

optimismus. Ohne eine transzendente, religiös-spirituelle Dimension –

ob christlich oder nicht christlich – droht das Zukunftsversprechen der

Nachhaltigkeit zur gefährlichen Ideologie zu werden (Reis 2003;

Vogt/Uekötter/Davis 2009, S. 38–41).

Für den tiefreligiös empfindenden Forstpraktiker Carlowitz, dessen

Denken christlich-lutherische, teilweise auch von der Naturphilosophie

Spinozas geprägte Wurzeln hat, geht es bei Nachhaltigkeit nicht nur um

eine Managementregel, sondern um eine Geisteshaltung, die er als Ehr-

furcht vor der Schöpfung sowie als Teilhabe an deren kreativ-schöpfe-

rischer Macht beschreibt (Carlowitz 2013, bes. 45f., 114–126, Hamber-

ger 2013, 136; Grober 2010, S. 108ff.). Von Carlowitz her gedacht, zielt

Nachhaltigkeit auf eine Haltung, in der das Wissen um die eigenen

Grenzen nicht in Resignation mündet, sondern in Demut im Sinne des

Mutes zu Verantwortung. Deren Quelle ist Dankbarkeit für die Schöp-

fung und Freude an ihrer Schönheit, aus der die Bereitschaft wächst, sie

als Lebensraum mit allen Geschöpfen gerecht zu teilen.

116 Markus Vogt

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121Carlowitz weiterdenken

K.-H. Hübler

Was hat der »Erfinder der Nachhaltigkeit«

von Carlowitz der Raumplanung von heute zu sagen?

Vornamen ausschreiben?

Wie lautet dieser korrekt?

Benutzer1
Notiz
Karl-Hermann Hübler

Es ist vermessen, rund 300 Jahre nach dem Tod von Hans Carl von Car-

lowitz seine Ideen und Konzepte so auszulegen, wie wir es heute brau-

chen könnten. Seine Grundideen, die er 1713 in dem über 450 Seiten

umfassenden Folioband »Sylvicultura oeconomica« in dem Leipziger

Verlag J. F. Braun veröffentlicht hat, müssten erst einmal in den Kontext

der damaligen politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen und öko-

logischen Situation in Sachsen gestellt werden, um eine Bewertung der

Relevanz für heute und morgen vornehmen zu können. In Deutschland

herrschten nach dem Dreißigjährigen Krieg Armut, Hunger, Verwüstungen,

die Pest und niedergebrannte Städte und Dörfer waren kennzeichnend.

Diskussionen über Nachhaltigkeit fanden überwiegend in Krisenzei-

ten statt. Heute herrschen in Europa Wohlstand, eine früher nicht vor-

stellbare Mobilität und eine »kulturelle Übersättigung«. In dem von Die-

ter Füsslein edierten Sammelband »Die Erfindung der Nachhaltigkeit« ist

versucht worden, diesen Zustand von damals in Bezug zu heute zu setzen.

Raumplanung im heutigen Verständnis, also Raumordnungspolitik,

Landes- und Regionalplanung oder Territorialplanung gab es damals

nicht, und so ist die Beantwortung der Frage, die in der Überschrift mei-

nes heutigen Referates steckt, ziemlich hypothetisch. Allerdings: die

Organisation der Raumnutzung ist schon seit alters Gegenstand staat-

licher oder herrschaftlicher (oder genossenschaftlicher) Tätigkeit gewe-

sen, wie David Blackbourn es für Deutschland beschreibt. Ich erinnere

an viele Beispiele aus der jüngeren Geschichte wie die Melioration des

Oderbruchs durch Friedrich I., die Regulierung des Oberrheins durch

Tulla, die Tätigkeit des Ritterordens oder die Implementation des

Reichssiedlungsgesetzes in den 20er-Jahren des vorigen Jahrhunderts

durch die sogenannte Innere Kolonisation. In dem Buch von Carlowitz

124 K.-H. Hübler

sind unmittelbare räumliche Bezüge im Sinne von Raumordnung nicht

enthalten; natürlich ist Forstwirtschaft immer räumlich determiniert.

Wohl sind aus Carlowitz’ Beschreibungen Hinweise auf kleinräumige

Nutzungskonzepte für die Böden im Erzgebirge abzuleiten.

Die neuere Diskussion in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhun-

derts über den alten neuen Begriff »Nachhaltigkeit« hatte auch ihre

Ursachen in der Erkenntnis, dass die »Philosophien« des wirtschaft -

lichen Wachstums von Gesellschaften (gemessen an den Steigerungs -

raten des Bruttosozialproduktes) keine Zukunft haben können.

Dieses Wachstum bedeutet vor allem eine Mehrung von Gütern zulasten

der natürlichen Lebensgrundlagen. Freilich hatte dieses Wachstum auch

vor allem in den Industrieländern eine ungeahnte Steigerung des Wohl-

standes (wie auch immer definiert) zur Folge. In den vormals sozia -

listischen Ländern hatte die Steigerung der Produktivkräfte oberste

Priorität und alle anderen Ziele – vielleicht außer der militärischen Auf-

rüstung und der inneren Sicherheit – mussten sich dem unterordnen.

Sogenannte Weltmodelle von Meadows (Grenzen des Wachstums) oder

Bariloche (Grenzen des Elends) oder die Ergebnisse der Brundtland-

Kommission bestimmten damals die Diskussion (Hauff, 1987) in West-

europa und auch in Ländern der Dritten Welt. Sie wurden intensiv dis-

kutiert, und eine neue Nachdenklichkeit setzte vieler Orts ein.

Ehe ich mich an die Beantwortung der dem Referat zugrunde lie-

genden Frage wage, noch eine zweite Vorbemerkung: Ich finde es groß-

artig , dass neben den berühmten Sachsen wie der Neuberin, R. Schu-

mann, G. E. Lessing, R. Wagner, Karl May oder dem sächsischen

»Lokomotivenkönig« Hartmann aus Chemnitz ein anderer Sachse,

nämlich Hans Carl von Carlowitz, in das Blickfeld öffentlichen Interes-

ses gerückt und seine zukunftsweisenden Ideen als kulturelles Erbe do-

kumentiert werden, nicht zuletzt dank der rührigen Chemnitzer Carlo-

witz-Gesellschaft. U. Grober schreibt in dem Buch über die Erfindung

der Nachhaltigkeit: »Nachhaltigkeit ist ein Geschenk der deutschen

Sprache an die globalisierte Welt des 21. Jahrhunderts. In dem Wort ist

alles enthalten, worauf es ankommt. Es hat die nötige Gravität, also die

125Was hat von Carlowitz der Raumplanung von heute zu sagen?

existentielle Perspektive der umfassenden Daseinsvorsorge. Es hat die

nötige Elastizität, also die Fähigkeit, diese Substanz an die jeweiligen

konkreten Bedingungen anzupassen. So wird es zum Kompass für die

Erkundung eines unbekannten Terrains.«

Ich war gestern in Chemnitz und habe an der Festveranstaltung teil-

genommen, die von der Carlowitz-Gesellschaft und dem Sächsischen

Umweltministerium organisiert war, und in der im Opernhaus Chem-

nitz den Herren Biedenkopf und Töpfer die Carlowitz-Nachhaltigkeits-

preise verliehen wurden. Die Laudatoren, der evangelische sächsische

Landesbischof Bohl für Kurt Biedenkopf und der Ministerpräsident von

Sachsen Tillich für Klaus Töpfer, haben u. a. versucht, herauszuarbeiten,

was beide für die Nachhaltigkeit in ihrer früheren politischen Tätigkeit

geleistet haben, und damit den selben Versuch unternommen, Carlowitz

von vor 300 Jahren auf heutige Fragestellungen zu transferieren, wie ich

das heute hier soll. Dieser Transfer schien gestern – so mein Eindruck –

gelungen. Ich will heute in 30 Minuten einen ähnlichen Versuch unter-

nehmen, allerdings bezogen auf eine sehr viel »engere« Angelegenheit,

nämlich die Raumplanung in Deutschland.

Ich selbst bin erstmals mit dem Begriff des »sustainable development«

konfrontiert worden, als ich im Bundesinnenministerium 1971/72 den

Auftrag erhielt, Statements für die UN–Umweltkonferenz 1972 in Stock-

holm vorzubereiten (der Bundesminister des Innern Genscher war in

den 70er-Jahren in der Bundesregierung auch für die Raumordnungs-

politik und die neu konstituierte Umweltpolitik zuständig). Es war also

in einer Zeit, als in Westeuropa die öffentliche Diskussion über Nach-

haltigkeit noch nicht im Gange war. Zwar zeigten sich damals die Hilf -

losigkeit der Industrieländer und ihr Verhältnis zu den früheren Kolo-

nialländern und den massiven Umweltzerstörungen als Folge dieser

Historie in vielen Verhandlungen und Diskussionen. Fündig zum

Thema Nachhaltigkeit in Deutschland wurde ich u. a. in dem 1961 ver-

öffentlichten SARO-Gutachten (einem Gutachten im Auftrag der Bun-

desregierung, von zehn Sachverständigen erstattet, die in der Mehrzahl

in die frühere Reichsraumordnung involviert gewesen waren), und ent-

126 K.-H. Hübler

sprechend ideologisch verbrämt waren viele Vorstellungen in diesem

Gutachten über Ordnung und Unordnung des Raumes (auf 144 Seiten)

formuliert. In Kapitel 14 (Landschaftspflege, Landespflege) fanden sich

einige allgemeine Aussagen zur Nachhaltigkeit, u. a.: »Nachhaltige Nut-

zung der von Natur dargebotenen Gaben ist aber Lebensvoraussetzung.«

Das SARO-Gutachten hatte jedoch deshalb politische Bedeutung, weil

es nach jahrelangen Auseinandersetzungen in Bonn 1965 zum Erlass

eines Raumordnungsgesetzes beim Bund führte (die Reichsraumord-

nung war nach einer Kontrollratsverordnung von den Besatzungsmäch-

ten 1947 für die BRD für obsolet erklärt worden). Der Begriff der Nach-

haltigkeit aus dem SARO-Gutachten wurde indes nicht in die

Grundsätze der Raumordnung im § 2 Abs. 1 des Raum ordnungsgesetzes

(ROG) aufgenommen, wohl aber die »Philosophie« des Erhalts der »na-

türlichen Hilfsquellen«. 1997 wurde dann sowohl das ROG und nach-

haltige städtebauliche Entwicklung (BbauG) in Gesetzesnovellen durch

den Deutschen Bundestag nachgebessert. Es waren jedoch »Placebo-

Normen« (Leerformeln), wie ich später noch erläutern will, um die sich

die Planungspraxis in der Folgezeit wenig gekümmert hat!

Zuzugeben ist indes, dass ich schon zuvor mit den Ideen einer nach-

haltigen Entwicklung konfrontiert wurde. Ich erinnere mich an drei

Episoden: In einer Vorlesung an der Humboldt-Universität 1952 berich-

tete der damalige (bürgerliche) Ökonomieprofessor Sennewald über

Pachtverträge, die die preußische Domänenverwaltung vor 1914 über

jeweils zwölf Jahre abschloss und die Pächter zur nachhaltigen Bewirt-

schaftung der zu pachtenden Domänen (großen landwirtschaftlichen

Betrieben) durch Normierung von Fruchtfolgen, Düngungsvorschriften

usw. verpflichteten. Und zweitens an eine Exkursion in das fränkische

Fichtelgebirge. Dort berichtete ein Forstmeister, dass nach dem Kahl-

schlag der Wälder im 17. Jahrhundert zum Zwecke der Verwendung des

Holzes im Bergbau eine Wiederaufforstung mit Sämlingen aus der Mark

Brandenburg erfolgt ist (weil auf die Schnelle einheimisches Pflanzgut

nicht verfügbar war und das Markgrafentum Bayreuth zu Preußen ge-

hörte). Diese dort aufwachsenden Fichtenwälder waren nicht dauerhaft

und nachhaltig: Windbruch und andere Schadenereignisse führten zu

127Was hat von Carlowitz der Raumplanung von heute zu sagen?

»1997wurde ...nachge-bessert«=> bitteSatz prü-fen: waswurdenachge-bessert?

Benutzer1
Notiz
ROG und BbauG wurde nachgebessert

geringen Erträgen. Nun zur dritten Episode: Ein bekannter und auch

erfolgreicher Regionalplaner aus Niederbayern entgegnete mir einmal

in einer öffentlichen Veranstaltung in den 90er-Jahren, Raumplanung

sei seit Anbeginn nachhaltig gewesen. Um dies festzustellen, brauche

man keine Evaluierungen oder spezifische Bewertungsverfahren, son-

dern dazu reiche das »raumplanerische Hirn« aus.

So einfach war das damals! Mit diesen drei Beispielen wollte ich zei-

gen, dass nachhaltige Elemente schon zuvor in vielen privaten und öf-

fentlichen Bereichen eine auch ökonomisch begründbare Funktion hat-

ten und nicht nur das Gedankengut von »spinnerten Umweltschützern«

waren. Das Etikett »nachhaltig« war indes vielseitig interpretierbar, oft

nicht werbewirksam, und Herr von Carlowitz war vergessen.

Einige Essentials der Nachhaltigkeit in der jetzigen Raumplanung (imSinne von Carlowitz)Das Werk von Hans Carl von Carlowitz enthält nicht nur den Begriff

der Nachhaltigkeit in seiner heutigen Bedeutung. »Entscheidend ist

auch, dass in dessen Kontext embryonal, aber mit klaren Konturen das

›Dreieck der Nachhaltigkeit‹ erscheint. Dieses Zusammendenken von

Ökologie, Ökonomie und sozialer Gerechtigkeit ist heute grundlegend

für eine Theorie der Nachhaltigkeit« (Grober, 2012).

Wir haben Ende des vorigen Jahrhunderts in der TU Berlin unter

Auswertung der damaligen aktuellen Diskussion einen »Prüfraster« für

die Nachhaltigkeit für die Raumplanung in Deutschland zusammenge-

stellt (Umweltbundesamt 1999), das noch heute geeignet scheint, die

Arbeitsinstrumente von Landes- und Regionalplanung – das sind im

Regelfall Pläne oder Programme – auf ihren Nachhaltigkeitsgehalt zu

beurteilen. Ich kann das ernüchternde Ergebnis dieser Studie im Ein-

zelnen aus Zeitgründen nicht referieren.

Als »Messlatte« zur Beurteilung haben wir damals die folgenden

Kriterien zusammengestellt (ich nenne zur Erläuterung nur wenige

Stichworte):

• Vernetzung (nicht nur mit administrativen Systemen, sondern auchmit Betroffenen, Initiativen und anderen »Denkschulen«)

128 K.-H. Hübler

• Vielfalt im ökologischen Sinne, Wohn- und Lebensformen, auch Nut-zungsmischung

• Effizienz: Ein Aspekt der Effizienz ist mittlerweile in vielen Plänenals Planungsgegenstand erkennbar; Reduzierung des Flächenver-

brauchs (Bodenversiegelung), andere Aspekte von Effizienz sind in

der Raumplanung völlig außer Acht geblieben wie Rohstoffverbrauch,

verbesserte Lebensbedingungen durch verminderten Ressourcenein-

satz (vgl. Haase, 1978, Hofmeister/Hübler, 1990)

• Suffizienz: bedeutet Genügsamkeit hinsichtlich der Überversorgungvon Teilsystemen, Aufwertung immaterieller Werte gegenüber den

materiellen Werten

• Konsistenz: bedeutet die dauerhafte Ausrichtung der räumlichen Ent-wicklung an der Tragekapazität ökologischer Systeme und Anpassung

der Zeitmaße der Eingriffe in Systeme an natürliche Prozesse

• Risikovorsorge: bedeutet Definition kritischer Konzentrationen, vonEintragsraten, Vermeidung von irreversiblen Prozessen, Entwicklung

neuer Bewertungsparameter, Hochwasserschutz durch Ursachenver-

meidung, erst dann höhere Dämme

• Intergenerative Gerechtigkeit: Verantwortung für künftige Genera -tionen (Dauerhaftigkeit, Langfristorientierung, Verschuldung u. a.),

offenhalten von Optionen

• Intragenerative Gerechtigkeit:Verteilungsgerechtigkeit, Zugänge undEntwicklungschancen, gerechte Verteilung von Nutzen und Lasten

• Partizipation, diskursive und kooperative Planungs- und Entscheidungs-verfahren, Koordination mit anderen Planungen und Maßnahmen

• Transparenz: Offenlegung aller die Planung determinierenden Para-meter (Ressourcenbilanzen, Stoff- und Energiebilanzen, ökologische

Fußabtritte oder Rucksäcke u. a.) Durchlässigkeit verschiedener Er-

fahrungswelten und Bildungsstile als Voraussetzung für Transparenz

Sie können sich aus diesen zehn Kriterien, die noch leicht erweiterbar

sind, die Kriterien selbst aussuchen, die Sie in Ihren Plänen berücksich-

tigt haben, und jene, die Sie aus Ihrer regionalen Sicht für untauglich

halten.

129Was hat von Carlowitz der Raumplanung von heute zu sagen?

Ergebnis der damaligen Untersuchung, deren Ergebnisse im Jahre

1999 veröffentlicht wurden, war, dass – abgesehen von verbalen Bekun-

dungen zur nachhaltigen Raumentwicklung und von Einzelfällen ab-

gesehen – die Institutionen der Raumplanung bei Bund und Ländern

die Mehrzahl dieser Nachhaltigkeitskriterien nicht erfüllten und diese,

falls sie nachhaltige Konzepte realisieren wollen, noch einen weiten Weg

zu gehen hätten.

Und in der Sache hat sich seit zwölf Jahren wenig geändert! Als Beleg

für diese Behauptung mag der vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und

Raumforschung 2012 veröffentlichte Raumordnungsbericht 2011 die-

nen, in dem der Begriff »Nachhaltigkeit« sorgfältig vermieden wird. Und

auch bei einer Evaluierung der Regionalplanung aus demselben Institut

ist der Begriff »nachhaltige Entwicklung« nicht einmal Gegenstand die-

ses Monitorings (2). Dort sind auch ausgewählte sächsische Regional-

pläne untersucht. Zwar sind einige Einzelmaßnahmen als Nachweis der

Berücksichtigung von Nachhaltigkeitserfordernissen dargestellt, die aber

allesamt in den Bezugsrahmen einer umfassenden Nachhaltigkeitsstra-

tegie nur kleine Einzelbauteile sind!

Die verschiedenen Institutionen der Raumplanung in Deutschland

haben m.E. die große Chance, die sich in den 90er-Jahren eröffnet hat

(auch wegen der Transformation zumeist ungeeigneter Konzepte von

den alten Ländern nach Ostdeutschland), nicht genutzt, eine zukunfts-

weisende neue Konzeption zur Nutzung des Raumes im Sinne einer

Nachhaltigkeit zu organisieren und vor allem eine neue Legitimation

für diese ehemals bedeutsame staatliche oder kommunale Aufgabe zu

begründen. Die Mitwirkung und die Mitgestaltung der Raumplaner/

innen bei der Energiewende ist marginal (Netzausbau, Mix der verschie-

denen Formen der Erzeugung und Verwendung u. a.). Ich würde die

heutige Situation nach einer etwa 50-jährigen Erfahrung in dem Bereich

wie folgt beschreiben: Raumordnung und Landes- und Regionalpla-

nung, so unterschiedlich ihre Aufgaben auf den verschiedenen Ebenen

und in den 13 Flächenländern auch sind, »laufen zumeist gesellschaft-

lichen Veränderungen nach«. Andere Institutionen eignen sich Lösungs-

kompetenzen für die Dinge an, die eigentlich die Raumplaner regeln

130 K.-H. Hübler

könnten und sollten! Die Legitimation (und das Interesse der Politik)

sowie die Akzeptanz in der öffentlichen Meinung für diese Aufgabe wird

zunehmend geringer (wo war Raumplanung in den letzten Jahren bei

Bund und Ländern Gegenstand von Koalitionsverhandlungen oder von

Regierungserklärungen?).

Die mögliche Ansage des Hans Carl von Carlowitz 2013 an die säch-

sische und deutsche Raumplanung:

• Befasst euch mit Zukunft, sonst erledigen andere euren Job (z. B. neu-

erdings Netzplanungsagentur) und das vielleicht besser, als Ihr das

könnt. Sonst werdet ihr eines Tages entbehrlich, und euch geht die Le-

gitimation immer mehr verloren, noch Raumplanung zu betreiben!

• Bezieht in eure Planung die Zeitkomponente und die voraussichtli-

chen ökologischen, sozialen und kulturellen Wirkungen eures Tuns ein –

der Wiederaufbau eines Waldes kann 150 bis 300 Jahre dauern, und

eine Brücke kann (mit Reparaturen) 50 bis 150 Jahre den Raum prägen.

• Nehmt euren Anspruch und Auftrag des Koordinierens (Querschnitts-

funktion) ernster als bisher.

• Entwickelt neue Methoden der Vorausschau und versucht, sie anzu-

wenden (der Verhandlungs- und Planungsgegenstand »zentrale Orte«

war für Planer/innen vielleicht gestern oder vorgestern aktuell, heute

im Zeichen von Internet und Breitband, Amazon- oder Otto-Ver-

sand – ist das eine interessante Geschichte für Historiker

• Denkt daran, was euer Planen den Steuerzahler kostet, und nehmt die

Interessen der Planungsbetroffenen ernst!

(1) Kurzfassung eines Referates, das der Verfasser am 7. November 2013

anlässlich der Sächsischen Regionalplanertagung in Freiberg/Sachsen, ge-

halten hat

(2) In dem 250 Druckseiten umfassenden Raumordnungsbericht 2011 er-

scheint der Begriff »nachhaltige Entwicklung« drei- oder fünfmal und in

einer Quellenangabe ist von einem Nachhaltigkeitsbarometer die Rede.

Weshalb sich das Bundesinstitut trotz der gesetzlichen Vorgaben der Auf-

gabe entzieht, sich intensiv mit nachhaltiger Entwicklung auseinanderzu-

setzen, wird in den Veröffentlichungen nicht erklärt.

131Was hat von Carlowitz der Raumplanung von heute zu sagen?

LiteraturSächsische Carlowitz-Gesellschaft (Hrsg.): Die Erfindung der Nachhal-

tigkeit, Werk und Wirkung des Hans Carl von Carlowitz (editiert

von Dr. Füsslein), oekom Verlag, München, im Folgenden »die Er-

findung« zitiert.

Blackbourn, D.: Die Eroberung der Natur – eine Geschichte der deut-

schen Landschaft, Pantheon, Deutsche Ausgabe DVA, München,

2008

Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumplanung (Hrsg): Raumord-

nungsbericht 2011, Bonn 2012

Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumplanung (Hrsg): Evaluation

in der Regionalplanung, H. 1 – 2 der Informationen zur Raument-

wicklung, Stuttgart 2012

Die Raumordnung der Bundesrepublik Deutschland (SARO-Gutach-

ten), Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1961

Grober, U.: Von Freiberg nach Rio – Carlowitz und die Bildung des Be-

griffs »Nachhaltigkeit«, in »die Erfindung«

Haase, G.: Zur Ableitung und Kennzeichnung von Naturpotentialen, in:

PGM Nr. 2/78 (ehemals DDR), Berlin 1978

Hauff, V.: Unsere gemeinsame Zukunft, Greven 1987

Hofmeister, S./Hübler, K.-H.: Stoff- und Energiebilanzen als Instrument

räumlicher Planung, Beiträge der ARL Bd. 118, Hannover 1990

Lendi, M./Hübler, K.-H.: Ethik in der Raumplanung – Zugänge und Re-

flexionen, Bd. 221 der Forschungs- und Sitzungsberichte der ARL,

Hannover 2004

Ritter E.-H./Zimmermann, H. (Hrsg): Nachhaltige Raumentwicklung –

mehr als eine Worthülse? Forschungs- und Sitzungsberichte der

ARL, Hannover 2003

Schneider, M.: Raum – Mensch – Gerechtigkeit, sozialethische Reflexio-

nen zur Kategorie des Raumes, Schöning-Verlag, Paderborn 2012

Umweltbundesamt (Hrsg): Weiterentwicklung und Präzisierung des

Leitbildes der nachhaltigen Entwicklung in der Regionalplanung und

regionalen Entwicklungskonzepten (Bearbeiter K.-H. Hübler, J. Ka-

ther, U. Weiland u. a.), Berlin 1999

132 K.-H. Hübler

bei Groberfehlen Ortund Jahr/was heißt»die Erfin-dung«?

Benutzer1
Notiz
"Die Erfindung der Nachhaltigkeit" 2013

Ilja Kogan, Sebastian Liebold

Sächsische Humanisten als Ideengeber nachhaltiger

Ressourcennutzung. Georgius Agricola und

Hans Carl von Carlowitz

Mit dem ersten »großen« Buch zur Bergkunde ist der Name Georgius

Agricola (1494–1555) verbunden. Er war ein Generalist jener Zeit, die

nicht umsonst »Renaissance« genannt wird. Dass in seinem Opus mag-

num »De re metallica libri XII« (Agricola 1556), einer Synthese zu Berg-

bau, Hüttenwesen und Mineralogie, nicht nur von der Erkundung, der

Gewinnung und Verarbeitung aller damals bekannten Erze die Rede ist,

von Technologie und Infrastruktur, sondern auch von den natürlichen

(Abbildung 1) und gesellschaftlichen Folgen des Bergbaus, blieb kaum

in Erinnerung. Sachsen als Land großer Silbervorkommen ist bekannt –

wie der Metallverbrauch in der Ära von Reformation, geografischen

Entdeckungen, aber auch von gewandelten Lebensgewohnheiten stieg,

weniger (Abbildung 2). Die Schattenseiten des Erzreichtums blendete

der Bergforscher nicht aus.

Wie kam Agricola zu den ungewohnten »Randbemerkungen« über

die Nutzung natürlicher Ressourcennutzung, zu gravierenden Umwelt-

problemen und den besonderen Bedingungen einer ganz auf den

Bergbau ausgerichteten Gesellschaft? Bereits die Studienfächer an der

Universität Leipzig zeugen von Interesse für interdisziplinäre Zusam-

menhänge: Er studierte Philologie (Griechisch und Latein), Philosophie,

Theologie und Jura. Während eines nahezu dreijährigen Italienaufent-

haltes erhielt er den Doktorgrad eines Mediziners, die Grundlage für

seinen späteren Hauptberuf: Stadtarzt und Apotheker. In dieser Funk-

tion lebte er in St. Joachimsthal, später in Chemnitz und betrachtete

pflanzliche und mineralische Substanzen zunächst hinsichtlich ihrer

Verwendung als Arzneien. Bald befasste sich Agricola nicht allein mit

Krankheiten und Verletzungen der Bergleute, sondern mit verschiedens-

ten Details des Bergwesens selbst: mit Erzgängen und Klüften, mit den

134 Ilja Kogan, Sebastian Liebold

Wasserrädern, mit Gestängen, den Luftverhältnissen und dem Vortrieb.

In Chemnitz, wo er mehrfach als Bürgermeister diente, nahm er die

überregional bedeutende Kupferhütte in Augenschein, beteiligte sich an

dieser und heiratete schließlich in die Besitzerfamilie ein (Kramarczyk

2003).

Neben kleineren Veröffentlichungen ist das Wirken Agricolas bis

heute mit einer didaktisch überlegten lateinischen Grammatik, mit einer

Systematisierung von Maßen und Gewichten, nicht zuletzt mit einer

Geschichte der Wettinerfamilie und dem Leben am Hofe verbunden

(Agricola 1520, 1533, 1555). Für die Erforschung vergangener Erdzeit-

alter ist sein Begriff »Fossil« grundlegend – so nannte er Funde, die dem

Erdreich entrissen wurden (Agricola 1546). Gemeinsam ist all diesen

Studien: Der humanistisch Gebildete suchte Ordnung in seine Umwelt

zu bringen – zuweilen machte er mit diesem Anspruch bahnbrechende

Entdeckungen, manchmal gleichen die Ausführungen eher einer »Be-

standsaufnahme«.

Das universale Herangehen an seine Forschungen, die Breite seines

Denkens und seiner wissenschaftlichen Interessen ermöglichten es Agri-

cola, die Beschreibung der Ressourcennutzung über die Geowissenschaf-

ten hinaus in den Kontext von Natur und Gesellschaft zu stellen. Am

Anfang von »De re metallica« notiert er in einer Zusammenschau:

»Der Bergmann [muss] vieler Künste und Wissenschaften kundig

sein: zuerst der Philosophie, dass er den Ursprung, die Ursachen und

die Eigenschaften der unterirdischen Dinge erkenne. Denn er wird dann

auf leichterem und bequemerem Wege zum Abbau gelangen und bes-

seren Nutzen von den geförderten Erzen haben. Zweitens der Medizin,

dass er für die Häuer und anderen Bergarbeiter sorgen könne, damit sie

nicht in Krankheiten verfallen, von denen sie vor anderen bedrängt wer-

den, oder wenn sie in solche verfallen sind, dass er entweder selbst sie

kurieren oder dafür sorgen könne, dass Ärzte sie kurieren. Drittens der

Astronomie, damit er die Himmelsgegenden kennenlerne und nach

ihnen die Ausdehnung der Erzgänge beurteilen könne. Viertens der

Lehre von den Maßen, dass er einerseits messen könne, wie tief der

Schacht zu graben sei, damit er zu dem Stollen reiche, der darin getrie-

135Sächsische Humanisten als Ideengeber nachhaltiger Ressourcennutzung

ben wird, und dass er andererseits einer jeden Grube, besonders in der

Tiefe, bestimmte Grenzen setze. Sodann soll er auch die Rechenkunst

verstehen, damit er die Kosten, die für die Gezeuge und Arbeiten der

Häuer aufzubringen sind, zu berechnen vermag. Ferner die Baukunst,

damit er die verschiedenen Kunstgezeuge und Grundbauten selbst ma-

chen oder wenigstens anderen die Art und Weise angeben könnte, wie

sie zu machen seien. Alsdann soll er auch die Zeichenkunst kennen, dass

er die Modelle aller Gezeuge abzeichnen könne. Endlich soll er auch des

Rechtes, vor allem des Bergrechtes kundig sein, damit er einerseits den

anderen nichts wegnehme, andererseits für sich selbst nichts Unbilliges

begehre und das Amt übernehme, anderen Rechtsbescheid zu geben.«

(Agricola 1556, dt. Übersetzung von Carl Schiffner u. a., 1928: 1–2)

Agricola versah das Bergwesen nicht nur mit anwendungsnahen Illus -

trationen (sein Buch gibt den Nichtlesern 292 technisch ausgefeilte

Stiche an die Hand), er beschrieb auch die – oft mühseligen – Bedin-

gungen des Bergbaus und die Folgen für die Umwelt, für den Menschen

und die Landschaft. Er sprach den hohen Holzverbrauch nicht nur in

den Erzminen, sondern auch bei der Weiterverarbeitung an, betonte

dabei zudem den Rückgang der Waldbestände in den angrenzenden Re-

gionen und die Notwendigkeit, Holz aus entfernteren Gegenden her-

beizuschaffen.

Er ging auf Befürchtungen der Bergbaugegner ein: »Durch das

Schürfen nach Erz werden die Felder verwüstet; deshalb ist einst in Ita-

lien durch ein Gesetz dafür gesorgt worden, dass niemand um der Erze

willen die Erde aufgrabe und jene überaus fruchtbaren Gefilde und die

Wein- und Obstbaumpflanzungen verderbe. Wälder und Haine werden

umgehauen; denn man bedarf zahlloser Hölzer für die Gebäude und

das Gezeug sowie um die Erze zu schmelzen. Durch das Niederlegen der

Wälder und Haine aber werden die Vögel und andern Tiere ausgerottet,

von denen sehr viele den Menschen als feine und angenehme Speise die-

nen. Die Erze werden gewaschen; durch dieses Waschen aber werden,

weil es die Bäche und Flüsse vergiftet, die Fische entweder aus ihnen

vertrieben oder getötet.« (Agricola 1556, dt. Übersetzung von Carl

Schiffner u. a., 1928: 6; vgl. Abbildung 1).

136 Ilja Kogan, Sebastian Liebold

Obgleich Agricola die ökonomische Bedeutung des Bergbaus für die

Wohlfahrt des Landes hervorhob, vernachlässigte er die negativen Fol-

gen dieses Wirtschaftszweiges etwa für die Gesundheit der Bergleute

nicht. Auf seine Ausführungen zur toxischen Wirkung bestimmter

Mineralien bezogen sich Mediziner jahrhundertelang – ebenso wie auf

Passagen über die heilsame Kraft der zutage geförderten Stoffe. Dass

dabei zuweilen seltsame, ja wunderliche Zuschreibungen vorkommen,

liegt wohl ebenso in der Zeit begründet wie die an einzelnen Stellen

durch das Werk geisternden »Trulli« – auch hier befasst sich Agricola

eher mit der Systematisierung als mit dem Wahrheitsgehalt von Berich-

ten über Berggeister.

Bis heute wegweisend sind dagegen Agricolas Äußerungen über die

schädliche Wirkung von Epidemien und von Kriegen, die seinerzeit

ganze Landstriche entvölkerten und so nicht nur die Wirtschaft, son-

dern das gesamte gesellschaftliche Leben zum Stillstand brachten (Horst

1955). Es brauchte einen umsichtigen Humanisten wie Georgius Agri-

cola, um den Bergbauunternehmern wie den Politikern (Stadträten bzw.

den Ratgebern der Dresdner Herzöge) klarzumachen: Nicht kurzfristige

137Sächsische Humanisten als Ideengeber nachhaltiger Ressourcennutzung

Abbildung 1: Drei Darstellungen der Waldnutzung für den Bergbau Mitte des 16. Jahrhunderts. Quelle: Agricola (1556): De re metallica, Basel, S. 135, S. 270, S. 350.

A

Gewinne, vielmehr langfristiges Wachstum sollten Ziel jedes Minenge-

schäfts sein.

Der Bericht über die Chemnitzer Kupfersaigerhütte, eine Art »Hand-

buch« und »Techniksoziologie« in einem, macht exemplarisch den sy-

noptischen Blick Agricolas nachvollziehbar: Nach der Analyse der Funk-

tionsweise der eigentlichen Saigertechnik, dem Material, der Bauweise

der Hütte und den Arbeitsgängen kommt Agricola auf die Risiken des

Hüttenwesens zu sprechen, er wägt zwischen Nutzen und Nachteil mit

Gespür für die Interessen der Geldgeber wie für die – oft unter misera -

blen Bedingungen beschäftigten – Arbeiter ab (Kramarczyk 2003). Auch

in »De re metallica« zählt Agricola die Probleme im Bergbau auf, ohne

die Bedingungen dieses – auch für ihn selbst – einträglichen Wirtschafts-

zweigs im Ganzen zu hinterfragen. Für ihn existieren die Schwierigkei-

ten fast schicksalhaft, menschliches Handeln muss sich im Wesentlichen

darauf einstellen. In einem zeitgenössischen Berglied heißt es: »Der

Bergmann muss viel tragen …« Strukturell verbesserte Arbeitsbedin-

gungen und ein im engeren Sinne kritischer Blick auf die Umweltschä-

den jener Zeit sind bei Agricola nicht zu finden.

Agricola war sich allem Anschein nach der endlichen Natur der Erz-

vorkommen nicht bewusst. Wer sich vor Augen hält, dass im 16. Jahr-

hundert viele Bergbaugebiete weltweit ihrer »Entdeckung« harrten,

kann ermessen, dass die für Sachsen beschriebenen Probleme wohl in-

sofern nicht als grundlegend erschienen, da der Mensch an vielen an-

deren Stellen des Globus neu »anfangen« und die bereits erschöpften

Minen und abgeholzten Regionen hinter sich lassen konnte. Das Zeit-

alter der Entdeckungen (man denke an die Goldvorkommen in Latein-

amerika) setzte den Schwerpunkt in der Erkundung und – oft mit Waf-

fengewalt – in der Besitzergreifung. Die Zeit der Glaubenskriege tat ihr

Übriges, wenig Augenmerk auf kritische Berichte über das – in dieser

Periode sowieso im Niedergang befindlichen – Bergwesen zu legen (Ab-

bildung 2).

Nicht zuletzt die Nöte der »Edlen Bergwercke« veranlassten den

sächsischen Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz (1645–

1714), sich mit dem Problem der nachhaltigen Ressourcennutzung aus-

138 Ilja Kogan, Sebastian Liebold

einanderzusetzen. Der Bergbau und die verarbeitende Industrie seien

rechte »Holtzfresser« (Carlowitz 1713: 97). Da beide für die Einwohner

des »Meißnischen Ertz-Gebürgischen Creyses« in jeder Hinsicht

»höchstnöthige Wercke« seien, müsse Bedacht auf dem »würcklichen

Anflug und Wiederwachs« der Wälder liegen, um die ökonomische

Prosperität zu sichern. Jahrhunderte der Übernutzung hatten zu einer

spürbaren Abnahme von Waldgegenden nicht nur in Mitteleuropa ge-

139Sächsische Humanisten als Ideengeber nachhaltiger Ressourcennutzung

Abbildung 2: Bevölkerungsdynamik (A), Bergbau (B) und anteilsmäßige Entwicklungder Waldflächen (C) in Sachsen zwischen 900 und 2000 n. Chr. A und C umgezeichnet

nach Ueberfuhr & Miethke (2007), B nach Daten von Wagenbreth (1990) für dasSächsische Erzgebirge. Dargestellte Erzausbeute (hellgrau: Silber; grau: Zinn; dunkel-

grau: Wismut- und Kobalterz) gilt summarisch für das jeweilige Jahrhundert; die Skaleneinteilung ist für jedes Erz unterschiedlich.

führt: »Ein dergleichen wahres Exempel wird aus America von Potosi,

alwo die reichen Bergwercke sind / geschrieben / dass nehmlich alda

von allen Dingen / so der Mensch nöthig habe / ein großer Überfluß

sey / und über nichts / als über den Holtzmangel / Klage geführet

werde.« (Carlowitz 1713: 44) Wie Agricola hielt von Carlowitz die Erz-

vorkommen – mit dem Einwand, dass solcherlei Gestein nicht nach-

wachse – für »unendlich« (Carlowitz 1713: 98). Verbraucher großer

Mengen Holz wurden neben Berg- und Schiffbau immer stärker die gro-

ßen Städte, die aufwendiger bauten und in kalten Wintern buchstäblich

»ihren« Wald verfeuerten. Wer auf die Geschichte »nachhaltigen Den-

kens« schaut, sollte die Differenzierung des Handwerks im 17. Jahrhun-

dert nicht vergessen – viel Holz sei nötig für das »Rösten / Brennen /

Schmeltzen und [die] Gutmachung der Metallen / welches der grund-

gütige Gott diesen Landen auch nicht versaget« (Carlowitz 1713: 98).

Daher legte von Carlowitz besonderen Wert auf die ausgeglichene

Fortwirtschaft (Carlowitz 1713), auch wenn die Grenze des Verbrauchs

(so viel, wie nachwächst) zunächst eine Einschränkung – »Suffizienz« –

bedeutete. Es mag erstaunen oder nicht: Im werkbiografischen Vergleich

mit Agricola liegt dem Denken des wichtigsten sächsischen »Wirt-

schaftsmanagers« jener Zeit eine ähnliche und ähnlich breite humanis-

tische Bildung zugrunde. Hans Carl von Carlowitz hatte eine etwa fünf-

jährige Grand Tour durch Europa hinter sich, als er bei der Verwaltung

des sächsischen Forsts die Probleme »stapelweise« vor sich sah. Allein

die Neubauten Augusts des Starken in Dresden verschlangen ein Mehr-

faches der in Sachsen zu jener Zeit angepflanzten Bäume. Zuvor hatten

die Verwüstungen des 17. Jahrhunderts – vor allem des Dreißigjährigen

Krieges – ihr Scherflein zur Waldarmut beigetragen.

Die von Carlowitz vorgeschlagenen Maßnahmen zum Senken des

Energieverbrauchs, zum Ersetzen des Materials Holz (u. a. durch Torf

zum Heizen) und zum konsequenten Aufforsten beruhen nicht zuletzt

auf Ideen, die er auf seiner »Europatournee« gesammelt hatte. So sind

Grundlagen seines »nachhaltigen Programms« in Jean-Baptiste Colberts

»Grande réformation des forêts« (Devèze 1962) zu finden. Der For-

scher-Manager aus Rabenstein hatte an vielen Standorten selbst gese-

140 Ilja Kogan, Sebastian Liebold

hen, welche Folgen der ungezügelte Holzverbrauch hatte. Der Bezug zu-

rück zu Agricola fällt nicht schwer; Hans Carl von Carlowitz beeinflusste

wiederum bekannte Wissenschaftler wie Abraham Gottlob Werner oder

Alexander von Humboldt, die sich mit Geologie befassten. Eher schlep-

pend nahmen sich Ökonomen des Wissens an, das nicht zuletzt unter

dem Stichwort der »Frucht-Niessung« (Carlowitz 1713: Vorrede) den

fruchtbaren Nutzen einer nachhaltigen Forstwirtschaft für die künftigen

Generationen darlegt. In jüngster Zeit beziehen sich vor allem Studien

zu »externen Kosten« in der Wirtschaftstheorie auf Agricola und Car-

lowitz (Endres 2013, Kleeberg 2013, Sächsische Carlowitz-Gesellschaft

2013, Sauer 2013).

Sächsische Humanisten haben in überzeugender Weise die Probleme

der Ressourcennutzung angesprochen und eine nachhaltige Produkti-

onsweise – zum Wohle der Zeitgenossen wie der zukünftigen Genera-

tionen – angemahnt. Während Agricola darauf aus war, Gewinne durch

technische Verbesserungen zu steigern und Risiken für Mensch und

Natur zu minimieren, warb von Carlowitz für einen nachhaltigen Ge-

brauch von Ressourcen, die es nachfolgenden Generationen erlaubt, ein

ähnliches Maß an Wohlstand zu erreichen, wie es die gegenwärtige be-

sitzt. Das humanistische Grundverständnis wirtschaftlicher Aktivität

beider Forscher sollte zu den Prinzipien modernen Ressourcenmana-

gements gehören.

Ilja Kogan, TU Bergakademie Freiberg, Geologisches Institut, Geowis-

senschaftliche Sammlungen & Bereich Paläontologie

Dr. Sebastian Liebold, Technische Universität Chemnitz, Institut für

Politikwissenschaft

141Sächsische Humanisten als Ideengeber nachhaltiger Ressourcennutzung

LiteraturAgricola, G. (1520): Georgii Agricolae Glaucii Libellus deprima ac sim-

plici institutione grammatica, Leipzig.

Agricola, G. (1533): Georgii Agricolae Libri quinque de mensuris et pon-

deribus. Paris.

Agricola, G. (1546): De natura fossilium libri X, Basel.

Agricola, G. (1555): Vier Bücher von der hochlöblichen Sippschaft des

Chur- und fürstlichen Hauses zu Sachsen.

Agricola, G. (1556): De re metallica libri XII, Basel. [dt. Carl Schiffner

u. a. (1928), München].

Carlowitz, H. C. von (1713): Sylvicultura oeconomica. Leipzig.

Devèze, M. (1962): La grande réformation des forêts sous Colbert

(1661–1680). Thèse pour le doctorat ès lettres. Nancy.

Endres, A. (2013): Umweltökonomie. 4. Aufl., Stuttgart.

Horst, U. (1955): Das Agricola-Büchlein. Dresden.

Kleeberg, K. [Hrsg.] (2013): Hans Carl von Carlowitz und die Nachhal-

tigkeit, eine 300-jährige Geschichte. Duderstadt.

Kramarczyk, A. (2003): Die Kupfersaigerhütte des Ulrich Schütz in

Chemnitz. Unternehmensgeschichte, Dokumentation, Perspektiven

eines Bodendenkmals. Agricola-Gespräch 12: 3-17.

Sächsische Carlowitz-Gesellschaft [Hrsg.] (2013): Die Erfindung der

Nachhaltigkeit. Leben, Werk und Wirkung des Hans Carl von Car-

lowitz. München.

Sauer, T. [Hrsg.] (2013): Ökonomie der Nachhaltigkeit. Grundlagen, In-

dikatoren, Strategien. 2. Aufl., Marburg.

Ueberfuhr, F., Miethke, A. (2007): Atlas zur Geschichte und Landes-

kunde von Sachsen. F IV 4, Waldflächen 1800 und 2000. Leipzig.

Wagenbreth, O. [Hrsg.] (1990): Bergbau im Erzgebirge: Technische

Denkmale und Geschichte. Leipzig.

142 Ilja Kogan, Sebastian Liebold

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