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Römisch-Germanisches Zentralmuseum Forschungsinstitut für Vor- und Frühgeschichte WEIBLICHE ELITEN IN DER FRÜHGESCHICHTE FEMALE ELITES IN PROTOHISTORIC EUROPE Internationale Tagung vom 13. bis zum 14. Juni 2008 im RGZM im Rahmen des Forschungsschwerpunktes »Eliten« Verlag des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz 2011 Dieter Quast (Hrsg.) Sonderdruck aus

Weibl Eliten Rast Eicher Perin

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Römisch-Germanisches ZentralmuseumForschungsinstitut für Vor- und Frühgeschichte

WEIBLICHE ELITEN IN DER FRÜHGESCHICHTE

FEMALE ELITES IN PROTOHISTORIC EUROPE

Internationale Tagung vom 13. bis zum 14. Juni 2008 im RGZMim Rahmen des Forschungsschwerpunktes »Eliten«

Verlag des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz 2011

Dieter Quast (Hrsg.)

Sonderdruck

aus

Dieter Quast

Weibliche Eliten – eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Hierarchien und Selbstdarstellung weiblicher Eliten in der Frühgeschichte

Matthias Hardt

Königstöchter – Konkubinen – Hausherrinnen. Gesellschaftliche Stratifizierungen weiblicher Mitglieder der merowingerzeitlichen Oberschicht anhand schriftlicher Quellen . . . . . . . . . . . . 7

Ursula Koch

Hierarchie der Frauen merowingerzeitlicher Hofgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

Ulla Lund Hansen

Women’s World? Female Elite Graves in Late Roman Denmark . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

Max Martin

Merowingerzeitliche Wagengräber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

Antoinette Rast-Eicher, Patrick Périn

Die merowingerzeitlichen Frauenbestattungen aus der Basilika von Saint-Denis. Neue interdisziplinäre Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

Gabriele Graenert

Grabausstattung und Standesbewusstsein – eine Problemskizze zur romanischen Beigabensitte mit Fallbeispielen aus der Burgundia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

Orsolya Heinrich-Tamáska

Frühe »Awarinnen« und späte »Germaninnen«? Bemerkungen zur Interpretation reicher Frauengräber der Frühawarenzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

Lotta Fernstål

Female Boat Graves in Sweden. Aspects of Elite and Cosmopolitanism during the Late Iron Age . . . . 111

Dieter Quast

Der Schatz der Königin? Völkerwanderungszeitliche Schatzfunde und weibliche Eliten . . . . . . . . . . . . 121

Weibliche Eliten in Kult, Religion und Jenseits

Michael J. Enright

Warlords and Women in the First Millennium. The Case of the Prophetess, and the Experience of the Followers’ Wives and Daughters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

INHALT

Jacek Andrzejowski

Out of the Social Structure? A Late Roman Period Female Grave from Jartypory, Eastern Poland . . . . 185

Eszter Istvánovits, Valéria Kulcsár

Satana and Others: Priestesses, Witches and Queens of the Steppe-Region . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

Rudolf Simek

The Late Roman Iron Age Cult of the matronae and Related Germanic Deities . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

Margrethe Watt

Images of the Female »Elite«? Gold Foil Figures (Guldgubbar )

from the 6th and 7th Century Scandinavia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

John Ljungkvist

Mistresses of the Cult – Evidence of Female Cult Leaders from an Archaeological Perspective . . . . . . 251

Anne-Sofie Gräslund

Female Elites in Viking Age Scandinavia during the Christianization . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

Antje Kluge-Pinsker

Weibliche Würdenträger in klerikalen Kontexten des Frühmittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

Vernetzung weiblicher Eliten

Timo Stickler

Römisch-barbarische Heiratsbeziehungen in der Völkerwanderungszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

Jan Schuster

Frühe Gräber weiblicher Eliten bei den Germanen und ihre Vernetzung im Barbaricum . . . . . . . . . . . 307

Marzena J. Przybyła

Die Regionalisierung der reichen Frauentracht und die Nachweismöglichkeiten

jüngerkaiserzeitlicher Heiratskreise am Beispiel Nordeuropas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321

Karen Høilund Nielsen

Animal Style and Elite Communication in the Later 5th and 6th Centuries . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361

Alexandra Pesch

Gold Bracteates and Female Burials. Material Culture as a Medium of Elite Communication

in the Migration Period . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377

Dieter Quast (unter Mitwirkung von Dominique Wiebe)

Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399

Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409

ANTOINETTE RAST-EICHER · PATRICK PÉRIN

DIE MEROWINGERZEITLICHEN FRAUENBESTATTUNGEN

AUS DER BASILIKA VON SAINT-DENIS

NEUE INTERDISZIPLINÄRE UNTERSUCHUNGEN

Die lange Zeit nicht zugänglichen und in verschiedenen Depots verstreuten Funde aus der Basilika vonSaint-Denis (dép. Seine-Saint-Denis) von den Grabungen von Édouard Salin (1953/54 und 1957) undMichel Fleury (in verschiedenen Etappen von 1957 bis 1980) sind seit 1994/1996 im Musée d’ArchéologieNationale (MAN) in Saint-Germain-en-Laye gelagert 1. Seit 1998 werden sie im MAN auch ausgestellt, mitAusnahme der Schmuckstücke der Königin Arnegunde, die im Louvre gezeigt werden. Die Dauerleihedieser Schmuckstücke an den Louvre ist im Dezember 2008 abgelaufen, sodass sie ab Frühjahr 2009 imMAN gezeigt werden können. Beim Inventarisieren dieser Grabfunde stellte die Konservatorin Françoise Vallet fest, dass nicht nur einigeObjekte, wie z.B. die Glasflasche aus dem Grab der Arnegunde, sondern – bis auf Goldfadenstickereien derÄrmel – auch sämtliche organische Materialien menschlicher, tierischer oder pflanzlicher Natur fehlten, dieaus den anderen merowingerzeitlichen Sarkophagen der Dionysius-Basilika geborgen worden waren.Dieses organische Fundmaterial war seit den 1970er-Jahren in Vergessenheit geraten und in der großenPublikation von Fleury und France-Lanord aus dem Jahr 1998 zum großen Teil nicht veröffentlicht worden 2.Glücklicherweise wurden 2003 die organischen Reste zufällig wieder gefunden. Sie waren sorgfältiggeordnet in zwei Abstellräumen der Verwaltung aufbewahrt worden, an die sich der 2002 verstorbeneFleury und seine Mitarbeiter nicht mehr erinnerten. Seitdem sind sie Teil einer interdisziplinären Neu -auswertung, die nun durch die Wiederentdeckung des verloren geglaubten Fundmaterials ermöglichtwurde 3. Das neue Forschungsprojekt zu den merowingischen Gräbern aus Saint-Denis, das im Jahr 2000 begonnenwurde, hat das Ziel, mit Hilfe des Teilchenbeschleunigers AGLAE des Centre de recherche et de restaura-tion des musées de France (C2RMF, Louvre) alle Schmuckgegenstände sowie den metallischen Zierrat derKleidungsstücke nach der PIXE-Methode systematisch zu untersuchen. Außer den Metallverbindungen vonGold und Silber waren auch die Edelsteine – insbesondere der Granatschmuck – Gegenstand speziellererUntersuchungen. Wir gehen hier nicht näher darauf ein, da die Ergebnisse, vor allem die geographischeHerkunft der fünf unterschiedenen Granat-Typen, bereits veröffentlicht wurden 4. Seit 2004 werden nun auch die wieder aufgefundenen organischen Reste interdisziplinär untersucht, seienes die Skelettreste, die Textilien oder Accessoires aus Stoff bzw. Leder.

ANTHROPOLOGIE

Von den 75 Gräbern, die Salin (1953/54, 1957) und Fleury (1957-1976) ausgegraben haben, waren 28ungestört; von diesen enthielten 19 Gräber organische Reste, 14 Goldfäden und 20 Beigaben (im Wesent-lichen Schmuck, Gurtschnallen und Gürtelgarnituren). 47 Gräber waren ganz oder teilweise gestört, dieeinen vor langer Zeit, andere erst während der Grabungsvorbereitungen. Vier dieser Bestattungen ent -hielten immer noch organische Reste, sieben Goldfäden und sieben Beigaben.

67Weibliche Eliten in der Frühgeschichte

In insgesamt 32 Gräbern wurden Schmuckgegenstände undTeile von Bekleidung gefunden, nicht in großer Zahl, aber vongroßer Qualität. Diese Funde gestatteten es, vier Männer (dankeines Saxes und eiserner Sporen) und 13 Frauen nachzuweisen;die Beigaben der übrigen 13 Gräber können keinem bestimmtenGeschlecht zugewiesen werden. Goldfäden fanden sich mehr-heitlich in den Frauengräbern; es ist jedoch andererseits nichtauszuschließen, dass die unbestimmbaren Gräber auch Männer-bestattungen waren.Weitere Erkenntnisse zur Belegung des merowingischen Fried-hofs der Dionysius-Basilika konnten durch die anthropologi-schen, pathologischen und biologischen Untersuchungen derKnochenfunde gewonnen werden, die vom Centre d’étudesPréhistoire, Antiquité, Moyen Age (CEPAM-CNRS) in Valbonne(dép. Alpes-Maritime) bearbeitet wurden 5.Vorrangig wurde die Untersuchung der Gebeine der KöniginAregunde durchgeführt (Abb. 1). Die Zahnschmelzanalyse ergabaussagkräftige Resultate, sodass etwa das Sterbealter von Arne-gunde von 45 auf 61± 3 Jahre korrigiert werden konnte. DieUntersuchungen wiesen auch verschiedene Pathologien nach; soist z.B. der rechte Fuss der Arnegunde von einer im Kindheits-alter ausgebrochenen Kinderlähmung verkümmert (Abb. 2).DNA-Analysen, die durch das Center for Human Genetics inLeuven/Belgien durchgeführt wurden (im Moment nur auf Arne-gunde begrenzt), verliefen positiv und werden künftig weitereStudien ermöglichen – insbesondere zur Frage der Verwandt-schaft unter den Individuen.Aus den 48 durch Michel Fleury untersuchten Gräbern sind 13,in elf Sarkophagen bestattete Individuen gebor gen worden(Abb. 3). Ihre anthropologische Untersuchung wurde durch

68 A. Rast-Eicher · P. Périn · Merowingerzeitliche Frauenbestattungen aus der Basilika von Saint-Denis

Abb. 2 Hypoplasie des rechten Fußes der Arnegunde durch Kinderlähmung(Poliomyelitis). – (Foto V. Gallien).

Abb. 1 Basilika von Saint-Denis: im Jahre 2003wieder aufgefundene Skelett reste der Arne-gunde. – (Foto V. Gallien). zwei größere Schwierigkeiten be -

hindert: einerseits durch den mittel -mäßigen bis sehr schlechten Erhal-tungszustand der Knochen und ande-rerseits durch die, angesichts der Zahlder freigelegten Bestattungen, zu ge -ringe Knochenmenge. Beides ver hin -dert ein verbindliches Resultat für dieGrab lege.Das untersuchte Ensemble setzt sichaus zehn erwachsenen Individuen unddrei weniger als zwölf Jahre altenKindern zusammen (Tab. 1). Unterden Erwachsenen sind die Bestattun -gen von zwei Männern (Gräber 37A

und 44) und drei Frauen (Gräber 38, 49 und 50) zuunterscheiden. Unter den vier übrigen Erwachsenenwären noch zwei Männer (Gräber 51 und 60) undzwei (?) Frauen (Grab 37B und 41[?]) 6 auszu -sondern, wenn man die Form der Kiefer und dieRobustheit des post-cranialen Skeletts in Betrachtzieht. So gesehen, erhält man eine mög liche Unter-scheidung von vier Männern und fünf Frauen, zudenen auch Arnegunde zählt.Unter den Erwachsenen gibt es einen jungen Mann,der zwischen 17 und 25 Jahre alt wurde (Grab 61),und einen betagten Mann (Grab 44). Beide weisenein degeneriertes Gesundheitsbild auf (Arthrose,Forestier-Krankheit und Hyperosotose frontale in -terne; Abb. 4-5).

69Weibliche Eliten in der Frühgeschichte

Abb. 3 Grundlage der anthropologischen Untersuchung waren lediglich 13 Skelette aus 11 Sarkophagen. – (Nach V. Gallien).

Grab-Nummer Altersstufe Geschlecht

A 9 Kind

29 A Kind

29 B Kind

37 A erwachsen Mann

37 B erwachsen Frau?

38 erwachsen Frau

41 erwachsen Frau?

44 erwachsen Mann

49 erwachsen Frau

50 erwachsen Frau

51 erwachsen Mann?

60 erwachsen Mann?

61 erwachsen

Tab. 1 Die anthropologische Unterscheidung nach Geschlechtund Alter. – (Tabelle V. Gallien).

Der Erhaltungszustand der Knochen und Zähne ließ keine Analyse des Gesundheitszustands der Gruppe zu– insbesondere Untersuchungen zu Wachstumsstörungen oder anderen Abnutzungserscheinungen. Beizwei Männern wurden Beschädigungen der unteren Gliedmaßen (Fibula) beobachtet (Gräber 37 und 44).

Einer davon ist der ältere Mann aus Grab 44, dessen Krankheit möglicherweise auf das Reiten zurück -zuführen ist.In fünf Fällen war es möglich, zwischen den Grabbeigaben und der anthropologisch möglichen Differen-zierung nach Geschlechtern eine Beziehung herzustellen: Drei der mit Sicherheit bestimmten Frauen hattenweibliche Trachtbestandteile. Von den mit Sicherheit identifizierten Männern hatten alle eine Gürtel-schnalle, einer trug sogar ein mit Goldfäden geschmücktes Gewand.Die Zusammenstellung der archäologischen und historischen Fakten ergab eine Gruppe von 15 Frauen undacht Männern; dadurch wird die Annahme von Fleury bestätigt, dass in der Nekropole von Saint-Denismehr Frauen als Männer bestattet wurden. Dieser statistische Befund ist allerdings nur von relativem Wert,da zum einen nur ein Viertel der Bestatteten anthropologisch untersucht werden konnte und zum anderenmindestens 30% der Sarkophage teilweise oder ganz zerstört waren.

TEXTILIEN

Ab 2006 wurden die Textilien neu untersucht, angefangen mit Sarkophag 49 (Arnegunde) 7, 2007 und2008 folgte die Materialaufnahme der anderen Bestattungen. Insgesamt sind aus 29 Sarkophagen Textil-reste erhalten – in einzelnen Fällen auch nur die Goldfäden einer Borte. Wie oben ausgeführt, wurden die organischen Reste 2003 wiedergefunden, und zwar meistens in Karton-,Blech- oder Holzschachteln, die mit der Sarkophagnummer – im besten Fall auch mit einem näheren Be -fund – bezeichnet waren, wie z.B. »vertèbres«. Viel mehr Informationen gibt es zum Befund leider nicht. Dadie Grabungsdokumentation bisher noch nicht aufgetaucht ist, werden wir uns mit dem Stand der Publika-

70 A. Rast-Eicher · P. Périn · Merowingerzeitliche Frauenbestattungen aus der Basilika von Saint-Denis

Abb. 4 Lendenwirbel mit einer Verkalkung des vorderen Seh-nenbandes, mit Tendenz zu einer Versteifung der Wirbelsäule. –(Foto V. Gallien).

Abb. 5 Ein durch eine Knochenbrücke mit dem rechten Hüft-bein verbundenes Kreuzbein. – (Foto V. Gallien).

tion von Fleury und France-Lanord aus dem Jahr 1998 begnügen müssen 8; die Befundauswertung ist alsobegrenzt.Jede dieser Schachteln wurde detailliert untersucht, d.h., es wurden mit der Pinzette alle Fragmente unter demBinokular angesehen. Leder, Knochenreste und Textilien wurden sortiert, die Textilien im Katalog aufgenom -men und fotografiert. Wie viel sich das Material seit der Grabung in den 1950er-Jahren noch verändert hat,kann man nur erahnen: Es gibt einzelne Fotos – z.B. der Ärmel aus dem Grab 49 –, die auf noch viel mehrMaterial hinweisen. Was jetzt von diesem Stück bleibt, sind zwei kleine Fragmente (Samit Z, s. unten) 9.Die Faserbestimmungen erfolgten vorwiegend durch Rasterelektronenmikroskopie (REM). Wir finden in sol -chen reichen Gräbern vorwiegend feine bis sehr feine Gewebe; sie sind gerade durch ihre Feinheit nicht im -mer gut erhalten. Die wichtigen Merkmale der Fasern aus solchen Sarkophagbestattungen sind vielfachschlecht erkennbar. Dieses organische Material war in der Bestattung zuerst feucht und trocknete dannaus, sodass es häufig – vor allem die pflanzlichen Fasern – sehr geschrumpft und schlecht erkennbar ist.Die tierischen Fasern sind nicht immer mit der Schuppenschicht erhalten. Die REM-Analysen ermöglichenmit starken Vergrößerungen ein dreidimensionales Aufsichtsbild mit guter Tiefenschärfe. So genügen auchkleine Proben von 1-2mm, um einzelne Fasern mit ihren typischen Merkmalen zu bestimmen (Abb. 6). AlsFasern konnten bisher bestimmt werden: Wolle, Leinen, Seide, eventuell Baumwolle, Fischotter, Biber undHaare der Verstorbe nen.Ausgehend von der Faserbestimmung konnte an gut erhaltenen Wollgeweben Wollfeinheitsmessungendurchgeführt werden, die auf die verwendete Wollqualität schließen lassen. Farbanalysen sind im textilen Bereich eine außerordentlich wichtige Informationsquelle. Farben könnenauch Auskunft über den Herstellungsort eines Gewebes geben. Wo es möglich und sinnvoll war, wurdenProben genommen. Die Untersuchungen werden von Witold Nowik durchgeführt und sind noch nichtabgeschlossen.Aus St. Denis sind anhand der Textilien eine ganze Anzahl Frauen aus der Elite auszumachen. Denn Textilienaus Seide und Verzierungen mit Goldfäden wurden nur von Angehörigen höherer Gesellschaftsschichtengetragen. Dasselbe gilt für Stoffe, die mit echtem Purpur (Schneckenpurpur) gefärbt wurden. Breiteund/oder aufwendig gestaltete Brettchengewebe sind ebenfalls nur in sehr reichen Gräbern zu finden.Fassen wir diese textilen Merkmale für Frauen zusammen, so ergeben sich für St. Denis zwölf Bestattungenmit solchen Geweben (Tab. 2). Goldfäden gibt es als flache Metall-Lahne oder um eine Seidenseele ge -spon nene Gold-Lahne (alle S-gesponnen); beide Typen sind aber – über alle Bestattungen hin auch mikro-skopisch untersucht – einander sehr ähnlich und vermutlich auf gleiche Art hergestellt.

71Weibliche Eliten in der Frühgeschichte

Abb. 6 REM-Bild mit Wollfasern (Grab 49). Bei dergroßen Faser ist die Schuppenschicht nicht mehr erhalten und die darunterliegenden Fibrillen sichtbar. Ein kleines Fragment in der Bildmitte weist die bestim-menden Haarschuppen auf. – (Foto A. Rast-Eicher).

Die Seiden sind als Samit gewebt (meist Samit mit S-Grat, nur im Grab der Arnegunde auch ein Samit mitZ-Grat) oder als Taft, die einfachste Bindung (= Leinwandbindung bei pflanzlichen Fasern). Der Samit ist diewichtigste Bindungsart, mit der man von der Spätantike an bis ins Mittelalter gemusterte Seiden gewebthat. Er hat als Merkmale zwei Ketten, eine Hauptkette und eine Musterkette, ein oder mehrere Schuss-fäden und ist in Köper 2/1 gewebt. Die Stellen mit Farbwechsel – die eine Farbe erscheint oben, die andereverschwindet auf die Rückseite – sind dann als feine Linie im Gewebe sichtbar (Abb. 7). Technische Unter-schiede, wie z.B. eine doppelt oder einfach geführte Hauptkette, geben Hinweise auf den Produktionsort.Ein Samit mit einem einfachen Faden in der Hauptkette und S-Grat werden allgemein als »byzantinisch«definiert, die andern mit doppeltem Faden in der Hauptkette haben einen zentralasiatischen oder sassa -nidischen Ursprung 10. In Grab 49 sind beide Typen belegt, der Samit S (Abb. 7) und der Samit Z mitdoppeltem Faden in der Hauptkette; in den anderen Bestattungen wurde nur Samit (S-Grat) mit einfachemFaden in der Hauptkette gefunden.Für die Geschichte der Weberei sind die Gräber von St. Denis mit ihrem reichen Bestand außerordentlichwichtig, da die Funde aus Kirchenschätzen schlecht datierbar sind. Der Samit aus Grab 41 (wahrscheinlichein Mann, 6. Jahrhundert 11) ist dreifarbig und bisher der älteste Beleg für einen dreifarbigen Samit. Die Brettchengewebe aus St. Denis haben verschiedene Breiten. Das Breiteste stammt aus dem Grab 49und ist rund 9,5 cm breit (es ist fast die ganze Breite erhalten). Es wurde mit mindestens 100 Brettchengewebt und mit einem dreifachen Seidenfaden broschiert (Abb. 8). Die Brettchengewebe aus den anderenBestattungen sind mit einem Wollfaden oder sogar mit einem Goldfaden gemustert. Die Vergleiche zudiesen Verzierungen (in Schussrichtung) sind bisher vor allem im nordischen Raum gefunden worden.Gewisse verwendete Techniken sind in Mitteleuropa schon in der Eisenzeit belegt.Die Bestattung der Arnegunde enthält die vielfältigsten Textilien. Es war hier auch möglich, anhand vonkleinen, übereinander gelagerten Geweberesten (z.T. auf bestimmten Knochen), ihre Stratigrafie und teil-weise den Befund nachzuweisen und so die Beschreibungen der Ausgräber zu ergänzen: – Die äußerste Schicht besteht aus einem Lein- oder Hanfgewebe in Leinwandbindung und kann als Leichen -

tuch interpretiert werden. Kleine Fragmente dieses Textils sind auch auf der Vase am Fußende erhalten. – Erst nach der Materialaufnahme wurde anhand eines Röntgenbildes in der Publikation klar, dass Arne-

gunde vermutlich einen mit Goldfäden verzierten Schleier trug 12. Kleine Reste eines Broschier fadens ausGold-Lahn sind auf diesem Bild in der Nähe der Zähne zu erkennen. Damit ist eine »vitta« zu vermuten,

72 A. Rast-Eicher · P. Périn · Merowingerzeitliche Frauenbestattungen aus der Basilika von Saint-Denis

Grab- Geschlecht Datierung Gold Seide Brettchen-nummer gewebe

23 Salin weibl. 2. Hälfte 6. Jh. Dekor auf Leder

63 weibl. Ende 5./Anfang 6. Jh. Fäden, flach Samit S X

38 weibl. 500-550 Fäden, S Samit S

50 weibl. Ende 5./Anfang 6. Jh. Fäden, S Taft

37A+B weibl. u. männl. 6. Jh. Fäden, S + flach X

42 weibl. u. imm. 6. Jh. Fäden, S Samit S

47 weibl. 6. Jh. Fäden, flach Samit?

13 weibl. 6./7. Jh. Taft + Samit S

48 weibl. 6. Jh. Taft X

28A+B weibl. u. imm. Ende 6. Jh. Fäden, flach

32 Salin weibl. 7. Jh. Fäden, S + flach

49 weibl ca. 580 Fäden, Dekor auf Leder Samit S, Samit Z X

Tab. 2 Weibliche Bestattungen mit Seide, Goldfäden oder Brettchenkanten. Wo nicht anders vermerkt, handelt es sich um eineNummer aus der Grabung Fleury. – (Tabelle A. Rast-Eicher).

die offenbar auch von einer alten Königin ge -tragen wurde.

– Die zweite gut belegte Schicht besteht aus einemWoll-Biberhaar-Mischgewebe, dessen Oberflächeschlecht erkennbar ist.

– Der Samit 2/1 S-Grat (rot-gelb) wurde von Fleuryauf dem Kopf und den Schultern gefunden (vgl.Abb. 7). Er war als oberstes Gewebe auf Wirbel-säuleknochen und auf einem Lederfragment desGurtes nachzuweisen. Der Gewebetyp und derBefund lassen die Interpretation dieses Stoffes alsUmhang zu, wie wir ihn auch auf den Mosaikenvon Ravenna erkennen können.

– Der Samit 2/1 Z-Grat bildete das Ärmelende einesObergewandes. An einem Fragment ist der Saumerhalten. Die Goldstickerei war ca. 7cm von die semSaum entfernt angebracht (nicht direkt auf demSamit, sondern auf einem weiteren nicht er hal -tenen Gewebe). Diese Stickerei wurde von France-Lanord anhand des Röntgenbildes auf Wachs re -konstruiert 13.

73Weibliche Eliten in der Frühgeschichte

Abb. 7 Grab 49, Samit mit S-Grat, rot/gelb. In der Mitte des Gewebes ist eine feine vertikale Linie sichtbar, wo sich die zwei Farbenkreuzen. – (Foto A. Rast-Eicher).

Abb. 8 Band in Brettchenweberei im Grab 49. Das Fragmentauf dem Bild weist die fast vollständige Breite auf. – (FotoA. Rast- Eicher).

– Zum gleichen Gewand wie der Samit Z gehörte vermutlich das broschierte Brettchengewebe, ein breitesBand in der Längsachse, das France-Lanord bis zu den Füßen dokumentierte und das in der neuen Unter-suchung auf Knochenfragmenten der Wirbelsäule gefunden wurde (Abb. 8). Reste die ses dreifachen

Broschierfadens wurden auf der linken Knie-scheibe nachgewiesen. Die Beschreibung derAusgräber und die noch erhaltenen Frag mentelassen auf einen langen, in der Mitte offenenMantel schließen. Ein kleines seidenes Band aufder Rückseite des breiten Gurtleders stammt vomBrettchengewebe und beweist, dass der großeGurt auf diesem lag (Abb. 9).

– Das Trägergewebe, auf dem das Brettchen -gewebe angebracht war, ist das schwierigsteTextil in diesem Grab (Abb. 10). Es erscheintviolett. Das eine Fadensystem ist sehr dicht unddie Fasern noch erkennbar, obwohl sie gebrochensind und z.T. herausstehen. Das andere Faden-

74 A. Rast-Eicher · P. Périn · Merowingerzeitliche Frauenbestattungen aus der Basilika von Saint-Denis

Abb. 9 Rückseite des Gürtelleders aus Grab 49 mit dem Seidenband, das auf die Brettchenkante weist. – (Foto A. Rast-Eicher).

Abb. 10 Das »violette« Gewebe aus Grab 49. – (Foto A. Rast-Eicher).

system, vermutlich der Schussfaden, ist eine weißliche Masse und die Faser meist nicht mehr erhalten.Wir können anhand kleinster Reste am REM eine mehrheitlich zerstörte pflanzliche Faser vermuten. DieProben des Kettfadens ergaben zum Teil Seide, zum Teil eine sehr feine Wolle. Es ist nicht klar, inwie-fern das darauf liegende Woll gewebe dieses Gewebe »kontaminierte« oder tatsächlich eine Mischungaus Seide und Wolle vorliegt. Das Gewebe als Ganzes erscheint durch den dichten Kettfaden und

breiten Schussfaden gerippt. Es ist so schlechterhalten, dass die Bindung nicht mit Sicherheitbestimmt werden kann.

– Unter diesem »violetten« Gewebe liegen mehrereSchichten leinwandbindiger Gewebe. Ein Gewebekann als Futterstoff des »violetten« Gewandesinterpretiert werden, ein anderes, das direkt aufeinem Wirbel liegt, könnte der Rest einer Unter -tunika darstellen. Die einen Proben ergaben Wolle,die anderen pflanzliche Fasern, sodass wir auf -grund der Bestimmungen von mehreren Tex ti lienausgehen müssen.

Das Grab 49 kann durch diese Untersuchungen neurekonstruiert werden (Abb. 11). Der breite Gurt lagauf dem breiten broschierten Brettchengewebe, daseine Zierkante des violetten Gewebes bildete. Nunhaben wir hier statt den von Fleury und France-Lanord postulierten zwei Kleidungsstücken 14 nurnoch ein Gewand. Trotz gesicherter Punkte, wie dieLage des Gurtes, ist diese Rekonstruktion nach wievor nur ein Vorschlag, da viele Elemente im Dunkelnbleiben.Die Gewebe aus den merowingischen Bestattungenvon St. Denis gehören zu den herausragenden früh-mittelalterlichen archäologischen Textilien Europasdieser Epoche. Die Interpretation und Rekonstruk-tion der Kleidung werden aber durch die einge-schränkte Auswertung des Befundes letztlich nichtin vollem Umfang möglich sein. Zusammenfassend können wir nun festhalten, dassam organischen Material, das Fleury und France-Lanord vor einem halben Jahrhundert aus den Sarkophagen entnommen haben und das 2003wie dergefunden wurde, heute dank neuer Metho -den viele neue Ergebnisse gewonnen werdenkonnten. So war es möglich, die Bestattung vonArnegunde in allen Bereichen vollständig neu zuinterpretieren.

75Weibliche Eliten in der Frühgeschichte

Abb. 11 Neue Rekonstruktion der Bekleidung der Arnegundenach den Arbeiten von A. Rast-Eichner und M. Volken. – (© F. Vincent, mit Erlaubnis von »Histoire et Images médié -vales«/Editions Astrolabe).

Anmerkungen

1) Fleury / France-Lanord 1998.

2) Ebenda.

3) Musée d’Archéologie Nationale, Saint-Germain-en-Laye: Pat -rick Périn, Françoise Vallet, Daniel Perrier, Christian Landes(Konservatoren), Clotilde Proust (Restauratorin). – C2RMF,

Paris, Louvre: Thomas Calligaro, Jean-Paul Poirot. – CEPAM,Sophia-Antipolis, Valbonne (Alpes-Maritimes): Luc Buchet,Véronique Gallien, Yves Darton, Claude Rücker. – CenterHuman Genetics, Louvain: Jean-Jacques Cassiman (DNA). –Archeotex, Ennenda/CH: Antoinette Rast-Eicher (Textilien). –EHESS, Ecole des Hautes en Sciences Sociales, Paris: Sophie

76 A. Rast-Eicher · P. Périn · Merowingerzeitliche Frauenbestattungen aus der Basilika von Saint-Denis

Desrosiers (Seide). – Laboratoire de Recherche des Monu-ments Historiques, Champs-sur-Marne: Witold Nowik (Farb-stoffe). – Gentle Craft. Centre de Calcéologie et Cuirs anciens,Lausanne: Marquita Volken. – Université de Paris 1 Panthéon-Sorbonne, UMR 7041 Archéologie environnementale: OlivierPutelat, Aurélia Borvon (Archaeozoologie).

4) Calligaro u.a. 2008.

5) V. Gallien führte die anthropologische Untersuchung der 13erhaltenen Skelette durch.

6) Bei Grab 41 handelt es sich laut anthropologischer Bestim-mung um eine Frau, nach archäologischer Bestimmung auf-grund der Beigaben jedoch um einen Mann.

7) Textilkatalog, Faseruntersuchungen und generelle Auswer-tung: Antoinette Rast-Eicher (ArcheoTex); Vergleiche zu denSeiden: Sophie Desrosiers (EHESS/Paris); Farbanalysen: Witold

Nowik (Laboratoire de Recherche des Monuments Historiquesin Champs-sur-Marne).

8) Fleury / France-Lanord 1998.

9) Fleury / France-Lanord 1979, 64.

10) Desrosiers 2004, 20. – Samit mit Doppelfaden in der Haupt-kette wird erst vom 8. Jh. an auch im Mittelmeergebiet produ-ziert.

11) Vgl. Anm. 7.

12) Fleury / France-Lanord 1998, 222.

13) Ebenda 159.

14) Ebenda 132f.

Literatur

Zusammenfassung / Abstract / Résumé

Die merowingerzeitlichen Frauenbestattungen aus der Basilika von Saint-Denis. Neue interdisziplinäre UntersuchungenDie merowingischen Funde aus der Basilika von Saint-Denis (Grabungen 1953-1980) sind in einem großen interdiszi-plinären Projekt neu untersucht worden. So bestimmten Anthropologen bei den 13 erhaltenen Skeletten mit moder -nen Methoden Geschlecht, Alter und Krankheiten der Verstorbenen; Königin Arnegunde beispielsweise war als Kindan Kinderlähmung erkrankt und starb mit 61 Jahren. Die Untersuchung der Textilien brachte neue Erkenntnisse zurBekleidung, u.a. zu der von Königin Arnegunde. Nebst Fellen gehörten Seiden und Goldfäden in Borten zur Ausstat-tung der weiblichen merowingischen Elite.

Merovingian Period Female Burials from the Basilica in Saint-Denis. New Interdisciplinary InvestigationsInvestigations on merovingian finds from the basilica in Saint-Denis (excavations 1953-1980) have been reassumedwithin a large interdisciplinary project. Physical anthropologists found modern methods to determine gender, age ofdeath and illnesses for the 13 preserved sceletons; Queen Arnegundis, for example, was taken sick with polio as a childand died at 61 years. The examination of textile fragments brought new insight on clothing, among others on QueenArnegundis’ habits: Furs and trimmings with silk and golden thread were among the endowings of the female Mero-vingian elite. Translation: G. Pare

Les tombes de femmes d’époque mérovingienne dans la basilique de Saint-Denis. Nouvelles recherches interdisciplinairesLes découvertes d’époque mérovingienne provenant de la basilique de Saint-Denis (fouilles 1953-1980) ont été réétu-diées dans le cadre d’un vaste projet interdisciplinaire. Sur les 13 squelettes conservés, les données anthropologiquesconcernant le sexe, l’âge et les maladies des défunts ont ainsi pu précisées avec des méthodes modernes; la reineArégonde, par exemple, a souffert de la poliomyélite durant son enfance, et est décédée à l’âge de 61 ans. L’étudedes textiles a apporté de nouvelles connaissances sur l’habillement, notamment pour la reine Arégonde. En plus desfourrures, l’équipement de l’élite féminine mérovingienne se caractérisait également par des bordures en soie et en filsd’or. Traduction: G. Pierrevelcin

Calligaro u.a. 2008: T. Calligaro / P. Périn / F. Vallet / J.-P. Poirot,Contribution à l’étude des grenats mérovingiens (Basilique deSaint-Denis et autres collections du musée d’Archéologie natio-nale, diverses collections publiques et objets de fouilles récen-tes). Nouvelles analyses gemmologiques et géophysiques effec -tuées au Centre de Recherche et de restauration des musées deFrance. Antiquités Nationales 38, 2006/07 (2008), 111-144.

Desrosiers 2004: S. Desrosiers, Soieries et autres textiles de l’Anti-quité au XVIe siècle (Paris 2004).

Fleury / France-Lanord 1979: M. Fleury / A. France-Lanord, Bijouxet parures d’Arégonde. Les Dossiers de l’Archéologie 32 (Jan.-Febr.), 1979.

1998: M. Fleury / A. France-Lanord, Les trésors mérovingiens dela basilique de Saint-Denis (Woippy 1998).