10
Aktuelles Ethik Med 2004 · 16:298–307 DOI 10.1007/s00481-004-0324-z Online publiziert: 18. August 2004 # Springer Medizin Verlag 2004 Reinhard Merkel Lehrstuhl für Strafrecht und Rechtsphilosophie, Universität Hamburg Zur Frage der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen Eine notwendige Ergänzung der bisher in Deutschland geläufigen Argumente Die Problemlage Zu den meistumstrittenen Problemen sog. Patientenverfügungen (PV) gehört die Frage nach ihrer rechtlichen Bindungswirkung für den behandelnden Arzt bzw. einen gesetzli- chen oder gewillkürten Vertreter des nicht mehr einwilligungsfähigen Patienten. Von dieser Frage der Verbindlichkeit einer PV sind andere umstrittene Probleme zu un- terscheiden, vor allem die folgenden: erstens das ihrer Wirksamkeit als Willenserklärung, insbesondere Fragen der Verfügungs- (näm- lich Einwilligungs-)Fähigkeit ihres Verfas- sers, seiner möglicherweise gebotenen ärzt- lichen Aufklärung vor Abfassung der PV sowie deren Freiheit von Willensmängeln (Irrtum, Täuschung, Nötigung); zweitens das ihrer sachlichen Reichweite, vor allem die Frage, ob die PV in der abstrakten Be- schreibung ihrer Anwendungsbedingungen die jeweils konkrete Situation des Patienten tatsächlich erfasst, ob also diese unter jene eindeutig subsumierbar ist; und schließlich, drittens, das ihrer zeitlichen Reichweite (die freilich zugleich auch eine sachliche ist), nämlich die Frage, ob die Geltung jedenfalls solcher PVen, die eine lebenserhaltende Be- handlung untersagen, auf Situationen der zeitlichen Nähe zum Tod beschränkt werden darf oder sogar sollte. Diese Fragen werden mit der nach der Verbindlichkeit einer PV nicht selten ver- mischt. Der Transparenz des Gesamtpro- blems ist das wenig dienlich. Im Folgenden sollen sie nicht weiter behandelt werden. Vielmehr setze ich die Situation einer ein- deutig wirksamen, nach ärztlicher Aufklä- rung verfassten, in ihren Anwendungsbe- dingungen die aktuelle Lage des entschei- dungsunfähigen Patienten erfassenden und auf Behandlungsverweigerung gerichteten PV voraus. Ebenfalls vorausgesetzt und (et- was apodiktisch) behauptet wird die Unzu- lässigkeit einer Wirksamkeitsbeschränkung auf die Zeit der Todesnähe des Verfassers der PV. 1 Vor diesem Hintergrund bleibt der Streit um die Verbindlichkeit einer solchen PV. Zwei Positionen stehen sich in der deut- schen Diskussion gegenüber. Die einen for- dern eine unbedingte Bindungswirkung. Bei Strafe der Nötigung und der Körperverlet- zung sei der Arzt verpflichtet, die in der Verfügung untersagte Behandlung zu unter- lassen bzw. einzustellen. Das gebiete die Achtung vor der Autonomie des Patienten; diese sei nur dann hinreichend gewahrt, wenn der Patient seinem Willen auch für die Zeit seiner künftigen Willensunfähigkeit zwingende Geltung sichern könne (vgl. statt aller [19], S. A 109 f., m. w. N.) Die Vertreter der Gegenauffassung lehnen eine solche Verbindlichkeit ab. Sie betrach- ten eine PV, gleich welcher Deutlichkeit und Ethik in der Medizin 3 · 2004 298 1 Ein Paternalismus, der die Möglichkeiten des entschei- dungsunfähigen Patienten zur Disposition über den eigenen Körper prinzipiell anders, nämlich erheblich enger zuschnei- den will als die des einwilligungsfähigen (dessen Recht, sich jede Behandlung zu jeder Zeit zu verbitten, nirgendwo ernsthaft bestritten wird), und ihm daher für die Zeit vor seiner Todesnähe schlechterdings eine Duldungspflicht zur Behandlung auferlegen will, ist ethisch wie rechtlich nicht legitimierbar; dazu überzeugend ([19], S. A 107 f.).

Zur Frage der Verbindlichkeit von Patientenverf�gungen

Embed Size (px)

Citation preview

Aktuelles

Ethik Med 2004 · 16:298–307

DOI 10.1007/s00481-004-0324-z

Online publiziert: 18. August 2004

� Springer Medizin Verlag 2004

Reinhard MerkelLehrstuhl f�r Strafrecht und Rechtsphilosophie, Universit�t Hamburg

Zur Frage der Verbindlichkeitvon Patientenverf�gungenEine notwendige Erg�nzung der bisherin Deutschland gel�ufigen Argumente

Die Problemlage

Zu den meistumstrittenen Problemen sog.Patientenverf�gungen (PV) geh�rt die Fragenach ihrer rechtlichen Bindungswirkung f�rden behandelnden Arzt bzw. einen gesetzli-chen oder gewillk�rten Vertreter des nichtmehr einwilligungsf�higen Patienten. Vondieser Frage der Verbindlichkeit einer PVsind andere umstrittene Probleme zu un-terscheiden, vor allem die folgenden: erstensdas ihrer Wirksamkeit als Willenserkl�rung,insbesondere Fragen der Verf�gungs- (n�m-lich Einwilligungs-)F�higkeit ihres Verfas-sers, seiner m�glicherweise gebotenen �rzt-lichen Aufkl�rung vor Abfassung der PVsowie deren Freiheit von Willensm�ngeln(Irrtum, T�uschung, N�tigung); zweitensdas ihrer sachlichen Reichweite, vor allemdie Frage, ob die PV in der abstrakten Be-schreibung ihrer Anwendungsbedingungendie jeweils konkrete Situation des Patiententats�chlich erfasst, ob also diese unter jeneeindeutig subsumierbar ist; und schließlich,drittens, das ihrer zeitlichen Reichweite (diefreilich zugleich auch eine sachliche ist),n�mlich die Frage, ob die Geltung jedenfallssolcher PVen, die eine lebenserhaltende Be-handlung untersagen, auf Situationen derzeitlichen N�he zum Tod beschr�nkt werdendarf oder sogar sollte.

Diese Fragen werden mit der nach derVerbindlichkeit einer PV nicht selten ver-mischt. Der Transparenz des Gesamtpro-blems ist das wenig dienlich. Im Folgendensollen sie nicht weiter behandelt werden.Vielmehr setze ich die Situation einer ein-

deutig wirksamen, nach �rztlicher Aufkl�-rung verfassten, in ihren Anwendungsbe-dingungen die aktuelle Lage des entschei-dungsunf�higen Patienten erfassenden undauf Behandlungsverweigerung gerichtetenPV voraus. Ebenfalls vorausgesetzt und (et-was apodiktisch) behauptet wird die Unzu-l�ssigkeit einer Wirksamkeitsbeschr�nkungauf die Zeit der Todesn�he des Verfassersder PV.1

Vor diesem Hintergrund bleibt der Streitum die Verbindlichkeit einer solchen PV.Zwei Positionen stehen sich in der deut-schen Diskussion gegen�ber. Die einen for-dern eine unbedingte Bindungswirkung. BeiStrafe der N�tigung und der K�rperverlet-zung sei der Arzt verpflichtet, die in derVerf�gung untersagte Behandlung zu unter-lassen bzw. einzustellen. Das gebiete dieAchtung vor der Autonomie des Patienten;diese sei nur dann hinreichend gewahrt,wenn der Patient seinem Willen auch f�r dieZeit seiner k�nftigen Willensunf�higkeitzwingende Geltung sichern k�nne (vgl. stattaller [19], S. A 109 f., m. w. N.)

Die Vertreter der Gegenauffassung lehneneine solche Verbindlichkeit ab. Sie betrach-ten eine PV, gleich welcher Deutlichkeit und

Ethik in der Medizin 3 · 2004298

1 Ein Paternalismus, der die M�glichkeiten des entschei-dungsunf�higen Patienten zur Disposition �ber den eigenenK�rper prinzipiell anders, n�mlich erheblich enger zuschnei-den will als die des einwilligungsf�higen (dessen Recht, sichjede Behandlung zu jeder Zeit zu verbitten, nirgendwoernsthaft bestritten wird), und ihm daher f�r die Zeit vorseiner Todesn�he schlechterdings eine Duldungspflicht zurBehandlung auferlegen will, ist ethisch wie rechtlich nichtlegitimierbar; dazu �berzeugend ([19], S. A 107 f.).

Entschiedenheit, immer nur als Anhalts-punkt zur Ermittlung dessen, worauf es insolchen Situationen allein ankomme: desaktuell-gegenw�rtigen Willens des Patienten.Dass dieser Wille nicht mehr artikuliertwerden kann, stehe seiner Existenz als „na-t�rlicher Wille“ ebenso wenig entgegen wieseinem unbedingtem Vorrang vor dem fr�-her ge�ußerten autonomen Willen; nurm�sse er jetzt eben gemutmaßt werden, unddaf�r sei die PV ein mehr oder weniger ge-wichtiges Indiz. Dieses k�nne stets von an-deren, gegenl�ufigen Indizien widerlegtwerden; dann m�sse der Arzt die PV igno-rieren.2 Denn jede PV sei unstreitig frei wi-derruflich. Die Lebenserfahrung lehre aber,dass sich die Einstellungen vieler Gesunderzu Krankheit und Sterben �nderten, wennsie selbst erkrankten und vom Tod bedrohtseien. Daher sei in jedem einzelnen Fall zupr�fen, ob ein solcher (mutmaßlicher) Ein-stellungswandel angenommen werden m�s-se. Sei dies zu bejahen, so habe das dieWirkung eines Widerrufs der PV; sie habedann keinerlei Verpflichtungswirkung mehrf�r den Arzt; er m�sse sie nicht bloß, son-dern d�rfe sie gar nicht befolgen.

Derzeit scheint sich dieser theoretischeStreit in den politischen Raum hinein zuverl�ngern. Eine von BundesjustizministerinZypries eingesetzte Expertenkommissionunter dem Vorsitz des ehemaligen Richtersam Bundesgerichtshof Klaus Kutzer hat am10. Juni ihren Abschlussbericht vorgelegt.3

In ihm wird die erste der oben skizziertenAuffassungen bejaht und deshalb die weitgehende Verbindlichkeit wirksam abgefass-ter PVen gefordert. F�r den Sp�tsommer2004 ist die Ver�ffentlichung des „Zwi-schenberichts Patientenverf�gung“ der En-quete-Kommission des Bundestages „Ethikund Recht der modernen Medizin“ angek�-digt. Deren Vorsitzender Rene R�spel hat inmehreren �ffentlichen �ußerungen bereitsdeutlich gemacht, dass sich die Kommission

mehrheitlich f�r die zweite der oben darge-legten Positionen und damit gegen einezwingende Verbindlichkeit auch wirksamerPVen aussprechen wird. Wie die in abseh-barer Zeit erwartbare Vorlage eines Gesetz-entwurfs zur Regelung des Problems ausse-hen wird, ist vor diesem Hintergrund schwerzu prognostizieren.

Die Auffassungen beider Lager in diesemStreit und damit die meisten der bisherigenDebattenbeitr�ge in Deutschland sind jedochprinzipiell unzul�nglich. Sie verkennen oderignorieren ein Grundsatzproblem, das vonPVen aufgeworfen werden kann und nichtselten aufgeworfen wird: die Frage n�mlich,ob eine Verf�gung f�r die Situation, in dersie nach ihrem Wortlaut Verbindlichkeit be-ansprucht, ihrem Urheber in seinem aktuell-gegenw�rtigen Zustand noch pers�nlich zu-gerechnet werden kann. Kann sie das nichtmehr, so wird die Frage ihrer Verbindlichkeitobsolet: Wohl mag eine ehedem wirksamverfasste PV vorliegen; ist sie aber demheutigen Adressaten ihrer ehedem angeord-neten Wirkungen normativ nicht mehr zu-zurechnen, so liefert sie f�r die Frage, wiedieser zu behandeln sei, weder eine ver-bindliche noch auch nur eine indizielleMaßgabe. Salopp: Sie ist nicht mehr „seine“Verf�gung; oder genauer: er ist nicht mehrihr Verfasser. Die Behandlungsentscheidungmuss ohne sie getroffen werden. Warum undunter welchen Voraussetzungen das der Fallsein kann, soll im Folgenden gezeigt werden.

Zur Kritik der beiden streitendenThesen, insbesondere der vomVorrang des aktuellen „nat�rlichen“(n�mlich gemutmaßten) „Willens“

Nicht �berzeugend ist zun�chst die zweiteder oben skizzierten Positionen. Ein alleinzeitlich definiertes Rangverh�ltnis zwischenden beiden Willensmanifestationen, die hiermiteinander in Konflikt geraten, ist nichtbegr�ndbar. Es gibt keine einleuchtendenArgumente f�r den prinzipiellen Vorrangeines „nat�rlichen“, oft nur aus instinkthaf-ten Lebens�ußerungen erschließbaren Wil-lens vor dem vorherigen autonomen, der in

2 Statt aller [20]; weitere Nachweise bei ([19], S. A 109); dortauch weitere gel�ufige Argumente f�r diese Position.3 Im Internet unter http://www.bmj.bund.de/media/archive/734.pdf

Ethik in der Medizin 3 · 2004 299

Aktuelles

Ethik in der Medizin 3 · 2004300

einer PV pr�zise fixiert und genau f�r dieseSituation der bloß noch „nat�rlichen“ Wil-lensf�higkeit formuliert worden ist. Be-gr�ndbar w�re ein solcher Vorrang allenfallsdann, wenn der sp�tere „nat�rliche Wille“als eine Art R�cknahme des fr�heren auto-nomen Willens des Patienten gedeutet wer-den k�nnte. Das ist aber in solchen F�llenregelm�ßig nicht der Fall, n�mlich immerdann nicht, wenn der Patient aufgrund sei-ner Erkrankung zu jeder Beurteilung seinerLage und zu jeder auch nur halbwegs ange-messenen Entscheidung vollst�ndig unf�higgeworden ist.4 Exemplarisch zeigen l�sstsich das an drei typischen Fallkonstella-tionen. In ihnen m�sste die Maxime einesunbedingten Vorrangs des „nat�rlichen“Willens zu moralisch zweifelhaften oder in-akzeptablen Ergebnissen f�hren, n�mlichjedesmal dann,

(1) wenn der sp�tere „nat�rliche“ Wille desnicht mehr einwilligungsf�higen Patien-ten nur einen ganz allgemeinen Befundliefert, aus dem sich keine konkretenHandlungsanweisungen f�r die gegen-w�rtige Entscheidungssituation und vorallem f�r die in ihr indizierten klinischenMaßnahmen gewinnen lassen, w�hrendder in der PV artikulierte autonomeWille genau f�r diese Maßnahmen klareund eindeutige Regelungen trifft;

(2) wenn der fr�here autonome Wille auchund gerade die M�glichkeit eines sp�terabweichenden nat�rlichen Willens inBetracht gezogen und genau daf�r klareRegelungen zugunsten seiner selbst,n�mlich der autonomen Willensent-scheidung, festgelegt hat;

(3) wenn der sp�tere nat�rliche Wille vondem fr�her formulierten autonomendergestalt abweicht, dass er eine klini-sche Entscheidung gegen die weitereLebenserhaltung des einwilligungsun-f�higen Patienten zu fordern scheint.

Der Grundgedanke l�sst sich an konkretenBeispielen zu diesen abstrakten Falltypenplastisch veranschaulichen.

Zu (1). A sei ein an der Alzheimer-Erkran-kung leidender, schwer dementer Patient. Innoch gesch�ftsf�higem Zustand hat er f�rdie Zeit des Vollbildes seiner Krankheit ineiner PV verschiedene klar benannte klini-sche Maßnahmen der Lebenserhaltung un-tersagt, weil sie mit erheblichen Belastungenverbunden sind, etwa Herzoperationen,Chemo- und Strahlentherapie bei Krebser-krankungen sowie eine zeitlich unbegrenzteDialyse bei terminalem Nierenversagen.Nach Eintritt des Vollbildes der Krankheitstellt man fest, dass A nichts mehr von sei-ner fr�heren Verf�gung weiß und g�nzlichaußerstande w�re, deren Motive zu verste-hen oder auch nur zu begreifen, worum essich dabei handelt. Zugleich stellt man aberauch fest, dass A nun offensichtlich rechtgerne lebt und sich an den kleinen An-nehmlichkeiten seines Alltags freut: am Es-sen, Sitzen in der Sonne, Spazierengehen mitdem Pfleger u. �. (vgl. dazu die Er�rterun-gen in [15], S. 506 ff.). Das wird zwanglosund plausibel als „nat�rlicher Wille“ zumWeiterleben gedeutet. Freilich gibt dieserWille keinerlei Auskunft dar�ber, welchezum Erhalt dieses Lebens erforderlichenBelastungen dem Patienten noch zumutbarsind.

Erkrankt A nun an Krebs und bietet alleineine kombinierte Strahlen- und Chemothe-rapie die Chance einer Lebensrettung, soger�t der entscheidende Arzt in ein Dilem-ma, das �ber die schlichte Behauptung einesVorrangs des einen oder des anderen Wil-lens nicht aufl�sbar ist: Der gegenw�rtige„nat�rliche“ Wille des A spricht f�r die Le-benserhaltung, besagt aber nichts �ber diedaf�r in Kauf zu nehmenden Belastungen.Sein fr�her artikulierter autonomer Willemacht dagegen genau dazu pr�zise undfreilich ablehnende Vorgaben; diese schei-nen daher eine konkrete Entscheidung gegendie Lebenserhaltung zu fordern. L�sst mannun hier den aktuellen nat�rlichen Willenpro vita vorgehen und behandelt den Pati-

4 Grundlegende Erw�gungen dazu bei Dresser ([6], S. 379 ff),weiter entwickelt in ([7], S. 234 ff.); vgl. auch ([4], S. 154 ff.) inder deutschen Diskussion ausgearbeitet von Merkel ([14],S. 545; S. 566 ff.; [15], S. 502, S. 506 ff.).

enten, so b�rdet man ihm schwere Belas-tungen auf, f�r deren Zumutbarkeit unddamit Rechtfertigung sein „nat�rlicher Le-benswille“ keinerlei Anhaltspunkt bietet.Von seinem fr�heren autonomen Willensind sie dagegen ausdr�cklich und eindeutiguntersagt worden. L�sst man deshalb um-gekehrt diesen vorgehen, so erzwingt er eineEntscheidung contra vitam, n�mlich f�r diet�dliche Nichtbehandlung eines Patienten,der eigentlich und jedenfalls ohne schwereZusatzbelastungen ganz gerne leben w�rde.Und sucht der Arzt hier einen Kompromissund entscheidet zwar grunds�tzlich f�r dieLebenserhaltung, aber gegen die onkolo-gisch indizierten schweren Belastungen ei-ner Chemo- und Strahlentherapie, so kom-biniert er ersichtlich einfach beide Willens-�ußerungen (freilich mit einem konkretenResultat contra vitam). Damit w�rde aberdas Prinzip des Vorrangs irgendeiner derbeiden Willensmanifestationen ganz offen-sichtlich aufgegeben.

F�r keine dieser m�glichen Entschei-dungsoptionen l�sst sich dem entsprechen-den Vorrangspostulat eine schl�ssig be-gr�ndbare Anweisung entnehmen. Hervor-zuheben ist auch, dass der „nat�rliche“ Le-benswille auf die schwer belastenden The-rapiemaßnahmen, zu denen er nichts besagt,allenfalls im Modus einer Mutmaßung er-streckt werden k�nnte. Es widerspricht aberfundamentalen rechtlichen und ethischenPrinzipien, den nur mutmaßlichen Willeneiner Person ihrem wirklichen, autonomen,eindeutig erkl�rten und exakt auf die kon-krete Anwendungslage bezogenen Willeneinfach vorzuziehen, selbst wenn jenermutmaßliche diesem wirklichen Willenzeitlich nachfolgen sollte. Eine apodiktischeAufl�sung des Konflikts zugunsten eines vonaußen gemutmaßten Willens verletzt dahergrundlegende normative Prinzipien.

Zu (2). J sei ein streng gl�ubiger Zeuge Je-hovas und stehe vor einer zur Lebensrettungdringend indizierten Operation wegen einesGehirntumors. Aufgekl�rt �ber das erhebli-che Risiko einer anschließenden schwerengeistigen Behinderung verfasst er eine PV, in

der er festlegt, dass bei jeder nachfolgendenmedizinischen Behandlung die Regeln seinesGlaubens streng zu beachten seien, insbe-sondere niemals Bluttransfusionen vorge-nommen werden d�rften. Zuvor wird erdar�ber aufgekl�rt, dass er in einem sp�te-ren Zustand schwerer geistiger Behinderungvermutlich v�llig andere Pr�ferenzen alsdie Transfusionsabneigung seines jetzigenGlaubens haben werde, und wird eindring-lich aufgefordert, dies zu bedenken. Darauferwidert J, dass er gerade dies sehr genaubedenke und eben deshalb diese Verf�gungverfasse; denn nur so k�nne er sicherstellen,dass ihm sp�ter nicht etwas angetan werde,was er aus tiefster �berzeugung verabscheueund ablehne. Die Operation rettet J�s Leben,freilich um den Preis seiner schweren geis-tigen Retardierung, ungef�hr auf der Stufeeines zweij�hrigen Kindes. J weiß nichtsmehr von seiner fr�heren Pers�nlichkeit,seiner Religion, seiner PV, und ist v�lligaußerstande, irgendetwas von solchen Din-gen zu verstehen. Aber er lebt offensichtlichganz gerne und sch�tzt (wie A im erstenBeispiel) die kleinen trivialen Annehmlich-keiten seines Alltags. Dann erleidet er durcheinen Unfall Verletzungen, die unschwerheilbar w�ren, aber dringend eine Blut-transfusion erforderlich machen (s. dazu[14], S. 545, S. 566 ff.)

Wollte man hier sagen, der jetzige „na-t�rliche“ Lebenswille des J gehe vor, dieBluttransfusion m�sse daher durchgef�hrtwerden, so m�sste man freilich bereit sein,jemandem wie J schon im Aufkl�rungsge-spr�ch zu seiner PV zu sagen, dass sie ineiner k�nftigen Anwendungssituation g�nz-lich ignoriert werde: Er k�nne sie auf-schreiben, k�nne sie aber anschließend auchin den Papierkorb werfen; in einem sp�terenkonkreten Anwendungsfall werde man sichjedenfalls nicht daran halten. Denn genaudies ist es, was eine Entscheidung f�r denVorrang des „nat�rlichen Lebenswillens“erzwingt. Die Emp�rung eines autonomenPatienten wie J �ber eine Ank�ndigungdieser Art ist unschwer vorstellbar. Das vonihm Gewollte f�r die Zukunft wirksam zuverf�gen, wird ihm schlechterdings ver-

Ethik in der Medizin 3 · 2004 301

wehrt, wiewohl er in seinem augenblickli-chen, noch autonomen Zustand selbstver-st�ndlich jede Bluttransfusion verbindlichuntersagen k�nnte. Eine solche autonomeEntscheidung auch in ihrer k�nftigen Wir-kung abzusichern, und zwar auch gegen diebereits jetzt von ihm bedachten Folgen sei-ner eigenen sp�teren Inkompetenz und desdamit verbundenen „nat�rlichen Willens“,wird ihm unm�glich gemacht.

Spricht man, wie manche Stimmen in derLiteratur, metaphorisch von einer drohen-den „Versklavung des Betroffenen in einersp�teren Lebensphase“ durch seine eigenefr�here Verf�gung (z. B. [21], S. 161 ff), somacht nun dieser Fall deutlich, dass einsolches „Versklavungsverh�ltnis“ auch um-gekehrt bestehen kann. Und vielen d�rfte esin dieser Richtung weitaus problematischererscheinen. Denn hier w�rde der autonome,freie, rechtlich verbindliche Wille von einemunfreien, nichtautonomen, zur rechtlichenVerpflichtung anderer grunds�tzlich nichtmehr tauglichen Willen „versklavt“.5 Und dadessen Vorrang von Anfang an festst�nde,w�rde dem autonom Verf�genden, sofern erehrlich aufgekl�rt wird, �berdies das Gef�hlder vollst�ndigen Ohnmacht gegen�berdieser k�nftigen „Versklavung“ zugemutet.Das d�rfte von nicht wenigen Patienten alsgravierende Dem�tigung empfunden wer-den.

Wollte man andererseits einen solchenFall umgekehrt entscheiden und einfach denin der PV festgehaltenen fr�heren autono-men Willen f�r zwingend verbindlich er-achten, so m�sste man freilich bereit sein,einen Menschen, der gerne lebt und un-schwer zu retten w�re, aufgrund einer Ver-f�gung sterben zu lassen, mit der er kei-

nerlei subjektiven Zusammenhang mehr hat,von der er nicht das Geringste weiß oderauch nur begreifen k�nnte und die seinenheutigen Interessen so fern steht wie dieexzentrische Neigung eines beliebigen Drit-ten. Auch das erscheint ethisch wie rechtlichnicht akzeptabel.6

Dieses Dilemma ist mit dem apodikti-schen Postulat eines Vorrangs des nat�rli-chen (oder auch umgekehrt: des vorherigenautonomen) Willens des Patienten nichtangemessen zu erfassen, geschweige denn zul�sen, und zwar noch weniger als das obenzu (1) dargelegte.

Zu (3). Die dritte f�r das Vorrangspostulatnicht befriedigend l�sbare Konstellationverdeutlichen F�lle, in denen der sp�tere„nat�rliche Wille“ allenfalls als Wille contravitam, also nur gegen die weitere Lebenser-haltung, gedeutet werden kann, w�hrend dievorherige PV gerade f�r die jetzige klinischeSituation lebensverl�ngernde Maßnahmeneindeutig noch zul�sst, m�glicherweise so-gar fordert. Man nehme den empirischdurchaus nicht seltenen Fall eines schwerdementen Alzheimer-Patienten P, der (an-ders als A im obigen Beispiel) keinerleiLebensfreude mehr, sondern im Gegenteilalle Indizien einer chronischen schwerenDepression zeigt. Jede noch so banaleBehandlungsmaßnahme (Blutdruckmessen,orale Medikamentengabe u. �.), ja sogar

5 In der internationalen moralphilosophischen Diskussionwerden Konflikte dieser Struktur als „Ulysses dilemma“ be-zeichnet. Man erw�ge, ob man im Fall des auf eigenen, au-tonomen Wunsch an den Mast gefesselten Ulyssesf�r einenVorrang des aktuellen Willens (Losbinden) pl�dieren w�rde,n�mlich f�r die Verbindlichkeit des nun inkompetenten, vomGesang der Sirenen bet�rten Wunsches, und ob man daherden Gefesselten nun gegen seinen ausdr�cklichen fr�herenBefehl tats�chlich losbinden (und seinem Verderben auslie-fern) wollte.

6 Zu welchen nachgerade tragischen Konstellationen es f�h-ren kann, zeigt ein amerikanischer Bericht im Hastings CenterReport 28 (1), 1998, S. 28: Im Fall einer schwer dementen 73-j�hrigen Frau, die zuvor als aktive erfolgreiche Person eine PVmit Anweisungen zur Behandlungseinstellung f�r den Fallihrer Demenz verfasst hatte, entstand ein gravierender Mei-nungskonflikt zwischen den (ganz gewiss nicht �bel wollen-den!) Kindern der alten Dame und dem Personal des Pfle-geheims, in dem sie untergebracht war. Die Kinder vertei-digten das fr�here Bild ihrer Mutter und deshalb deren au-tonome PV; das Pflegepersonal verteidigte deren aktuellesWohl als das eines Menschen, der keinerlei subjektive R�ck-beziehung zu seiner fr�heren Verf�gung mehr hatte, aberersichtlich recht gerne lebte. Der Fall endete mit einer Ver-legung der Patientin in ein anderes Heim (von der alten Damemit Tr�nen sozusagen stumm, aber beredt kommentiert); dortstarb sie offenbar alsbald, nachdem die intensive medizinischeLebenserhaltung zur�ckgezogen worden war.

Ethik in der Medizin 3 · 2004302

Aktuelles

jede Nahrungsaufnahme verweigert er zu-n�chst, bevor er sich jeweils erst durch ei-nigen Nachdruck zur passiven Hinnahmedieser Dinge bewegen l�sst. Dies alles l�sstsich nicht anders denn als Fehlen eines na-t�rlichen Willens zum Weiterleben deuten.

Erkrankt nun der Patient an einer Lun-genentz�ndung, die mit Antibiotika prob-lemlos heilbar w�re, und gestattet seinefr�her verfasste PV eine solche Behandlungauch ohne weiteres, so muss man als Ver-fechter der Doktrin vom Vorrang des sp�-teren „nat�rlichen Willens“ diese Behand-lung hier gleichwohl f�r verboten erkl�renund P sterben lassen – ein Ergebnis, dasvielen nicht akzeptabel erscheinen d�rfte.Andererseits ist es nicht zul�ssig, die Vor-rangsdoktrin nun einfach fallweise und je-weils dann zu ignorieren, wenn sie (wie indiesem Fall) unerw�nschte Resultate pro-duziert. Denn ein solches Verfahren m�sstesie als taugliches Entscheidungskriteriuminsgesamt desavouieren.

Das wirkliche Problemund die notwendigen Erw�gungenzu einer normativ angemessenenL�sung

Was die skizzierten Fallkonstellationensinnf�llig machen, ist der oben angedeuteteUmstand, dass die ihnen jeweils zugrundeliegende Kollision des fr�heren autonomenWillens mit dem sp�teren „nat�rlichen“ungel�st bestehen bleiben kann. Damitkommt der eigentliche Grund des Problemsin den Blick: Die Deutung dieser Kollisionenim Schema normaler Willens�nderungen,wie sie bei jeder autonomen Person im Laufihrer Lebenszeit vielfach vorkommen, istverfehlt. Die Logik solcher normalen Wil-lenskorrekturen ist dadurch gekennzeichnet,dass der abweichende fr�here Wille modi-fiziert oder zur�ckgenommen wird (wieschwer immer das dem Wollenden auchfallen mag). Nach dieser Korrektur kanndeshalb, jedenfalls f�r die Mitmenschen desWollenden, ein echter Konflikt zweier fort-bestehender Willensmanifestationen nichtmehr bestehen. So liegen aber unsere F�lle

der Kollision von autonomer PV und sp�te-rem „nat�rlichen Willen“ gerade nicht. Dennder letztere kann nicht sinnvoll als R�ck-nahme des ersteren gedeutet werden, undzwar schon deshalb nicht, weil er diesensachlich auf keinerlei fassbare Weise auchnur zu erreichen, geschweige denn gedank-lich zu beurteilen und zu korrigieren ver-m�chte. Rechnet man nun beide Willens-manifestationen ein und demselben unver-�nderten Subjekt, n�mlich demselben sub-jektiven Bewusstsein zu, so ger�t man ineinen Konflikt, der in dieser Perspektivenicht l�sbar ist.

Zur Illustration: Im obigen Fall (2) w�rees offenbar sinnwidrig zu behaupten, dernun schwer demente Patient J nehme ein-fach seine eigene fr�here Willenserkl�rungals Zeuge Jehovas zur�ck. Denn J hat inseinem jetzigen Zustand keinerlei subjektiveBeziehung mehr zu jener fr�heren PV, alsoauch nicht die einer Einsicht in die Diffe-renz zweier „Willen“ oder einer R�cknahmedes fr�heren davon. Er ist außerstande, ir-gendetwas von dieser fr�heren Willensbe-kundung auch nur in Ans�tzen zu verste-hen. Und umgekehrt war es dem ZeugenJehovas J beim Abfassen seiner Verf�-gung unm�glich, die Wirkung jenes sp�ter(postoperativ) ver�nderten „nat�rlichen“Willens zu verhindern, wiewohl er diesengenau antizipiert und seinen Effekt auf die�rztliche Entscheidung zu untersagen ge-sucht hat. Beide „Willensmanifestationen“sind also f�r die Person J in ihrem dazujeweils zeitversetzten Zustand schlechter-dings nicht erreichbar, nicht kontrollierbar,nicht verf�gbar.

Und damit zeichnet sich auch die Strate-gie einer �berzeugenden L�sung ab. Einesolche muss den vollst�ndigen Bruch derpersonalen Identit�t in F�llen dieser Artanerkennen und zum Ausgangspunkt ihrer�berlegungen nehmen. Damit wird nichteine riskante metaphysische These �berPersonenidentit�ten im Ablauf der biogra-phischen Zeit vorausgesetzt. Die hierf�reinschl�gige philosophische Debatte spielt inunserem Zusammenhang keine Rolle undkann außer Betracht bleiben (s. dazu [15],

Ethik in der Medizin 3 · 2004 303

S. 505, Anm. 17). Es geht vielmehr allein umdie Kl�rung der Frage, ob willentliche Ver-f�gungen, die bestimmte personale Charak-teristika zur notwendigen Voraussetzunghaben, auch dann noch verpflichtend seink�nnen, also ihrem Urheber noch zure-chenbar sind, wenn ihre Auswirkungen einePerson treffen sollen, die von jenen Cha-rakteristika nicht (mehr) das Geringste auf-weist. Anders und etwas metaphorisch ver-k�rzt: ob Person A1 (z. Z. t1) verbindlichverf�gen kann, dass mit Person A2 (z. Z. t2)auf bestimmte Weise verfahren werde, wie-wohl A2 mit den Grundlagen f�r jene Ver-f�gung keinerlei subjektiven Zusammen-hang hat, und zwar nicht einmal den desVerstehenk�nnens, geschweige denn den desBilligens oder Einverstandenseins.

Eine solche Annahme widerspr�che er-sichtlich einem ethischen und rechtlichenFundamentalprinzip: dass n�mlich einePerson �ber grundrechtlich gesch�tzte Po-sitionen einer anderen Person nicht wirksamfrei verf�gen kann. Zur Vermeidung vonMissverst�ndnissen: Selbstverst�ndlich sindder autonome Verfasser einer PV und dernicht mehr autonome Adressat ihrer Wir-kungen in zahlreichen anderen Hinsichten,vor allem als biologisches Wesen aus Fleischund Blut, ein- und dieselbe Person.7 Abernicht in denjenigen Hinsichten, die allein alsGrundlage f�r eine PV in Betracht kommen.Denn PVen beziehen sich zwar auf den(sp�teren) Umgang mit dem Menschen ausFleisch und Blut, sie werden aber nicht voneinem K�rper in seinen biologischen, son-dern von einer Person in ihren „geistigen“Eigenschaften verfasst. Und sie zielengrunds�tzlich allein auf die Durchsetzungder Vorstellungen und Werte, die diesegeistige Person ausmachen, nicht dagegenauf die Garantie von biologischen Eigen-schaften, die jenen K�rper konstituieren.(F�r den letzteren Fall w�ren PVen sinn- undfunktionslos: Ohne Existenz einer PV ist die

bestm�gliche Erhaltung der k�rperlich-bio-logischen Eigenschaften eines Menschenohnehin Ziel und prinzipielle Pflicht jedermedizinischen Behandlung.) Anders for-muliert: Die fr�here PV, die allein auf derGrundlage bestimmter h�chstpers�nlicher�berzeugungen entstanden ist, kann demjetzigen Patienten nicht zugerechnet werden,weil er mit diesen �berzeugungen keinerleisubjektiven Zusammenhang (mehr) hat.Dann liegt es freilich auf der Hand, dass ihmdie belastenden, m�glicherweise t�dlichenFolgen der Verf�gung erst recht nicht zuge-rechnet werden d�rfen.

Die dargelegte Argumentation unter-scheidet sich in prinzipieller Hinsicht voneiner verbreiteten Auffassung, die eine Ver-bindlichkeit von PVen deshalb ablehnt, weiles bei Menschen in ehedem gesundem, nunaber gravierend krankem Zustand oft aneiner „Wertkonstanz“ in Fragen von Be-handlung, Leben und Tod fehle (so etwa [13],S. 539 ff.). Es geht aber nicht um die Frageder „Wertkonstanz“ bei einer und derselbenPerson; es geht vielmehr um die radikaleVerschiedenheit von Autor und Destinat�reiner PV unter genau denjenigen Aspekten,die der Verf�gung zugrunde liegen und dienotwendige Bedingung ihres Inhalts sind.Die Legitimation der zu treffenden �rztli-chen Entscheidung kann daher nicht daraufgegr�ndet werden, dass der „nat�rliche“gegenw�rtige „Wille“ des Patienten seineneigenen fr�heren autonomen Willen zu-r�cknehme und aufhebe. Denn im Zustandseiner v�lligen Inkompetenz kann der Pati-ent keinen Willen mehr bilden, der mit sei-nem fr�heren autonomen Willen auch nur inVerbindung, geschweige denn in Konkur-renz treten oder diesen sogar aufhebenk�nnte. Rechtlich gesprochen: Er ist nichtbloß nicht mehr einwilligungs-, er ist auchwiderrufsunf�hig. Daher geht es nun bei der�rztlichen Entscheidung nur noch um seinWohl, seine unmittelbaren Interessen. Da-rauf allein muss und kann die Entscheidungzur Therapie oder zu ihrem Unterlassengegr�ndet werden.

Erst wenn man das Entscheidungspro-blem so formuliert, wird auch sichtbar,

7 Zum Beispiel auch in den allermeisten zivilrechtlichen Be-ziehungen: als Namenstr�gerin, in s�mtlichen Verwandt-schaftsbeziehungen, als potenzielle Erbin, Erblasserin – undin zahlreichen weiteren.

Ethik in der Medizin 3 · 2004304

Aktuelles

welche Argumentlasten eine Rechtfertigungzu tragen hat. Sie kann sich eben nicht – wiedie Auffassung vom Werte- und „Willens-wandel“- behauptet – darauf st�tzen, dassder Arzt lediglich den Willen des Patientenratifiziere, also nicht auf dessen autonomeSelbstverf�gung (die st�rkste Form derRechtfertigung!), sondern nur darauf, dassder Arzt zum Wohl des Patienten entschei-det. Vor dem Hintergrund eines gegenl�ufi-gen fr�heren Willens des damals noch au-tonomen Patienten ist dies eine erheblichschw�chere und problematischere Rechtfer-tigung.8 Gelingen kann sie nur, wenn manzeigen kann, dass der jetzige Patient mitdem fr�heren Verfasser der Verf�gung ins�mtlichen Hinsichten, die verf�gungs- unddaher entscheidungsrelevant sind, personalnicht mehr identisch ist.

Die normative Konsequenz:notstandsanaloge Abw�gungund Nachrang des fr�heren autonomen,in der Patientenverf�gungfestgelegten Willens

Wichtig ist nun, sich nicht dar�ber hin-wegzut�uschen, dass damit eine Konkur-renzentscheidung getroffen wird, die eineder beiden Willensmanifestationen, n�mlichregelm�ßig die fr�here PV, durch eine Ent-scheidung von außen zur�cktreten und inihrer Wirkung gegenstandslos werden l�sst.Damit wird dem Verfasser der Verf�gungetwas Wesentliches vorenthalten, was ande-ren Menschen aus ethischen wie verfas-sungsrechtlichen Gr�nden fraglos zuzuge-stehen ist: die M�glichkeit der Vorausver-f�gung �ber den Umgang mit dem eigenenK�rper. Das ist ein gravierender Eingriff,und er bedarf deshalb einer besonderenRechtfertigung. Sie kann, so mein prinzipi-elles Argument, nicht darin bestehen, dassder jetzige Patient seine eigene fr�here Ver-

f�gung zur�ckgenommen h�tte. Vielmehrbesteht sie (um die obige Metapher nocheinmal zu bem�hen) darin, dass der K�rper,den die Wirkungen der PV treffen sollen,nun zu einem personalen Ich „geh�rt“, dasgenau in den entscheidenden Hinsichten einanderes ist als jenes, das die Verf�gungehedem verfasst hat. Und dieses sp�tere Ichhat, wenn sich die Verf�gung in der kon-kreten Anwendungssituation contra vitamauswirken m�sste, erheblich mehr zu ver-lieren als jener fr�here Verfasser: das eigeneLeben. Daher gehen seine Schutzbelangedenen des Autors der Verf�gung regelm�-ßig vor. Tragendes Normprinzip, das dieBeurteilung solcher (quasi-)interpersonalenKonflikte regelt und entscheidbar macht, istnicht das Prinzip der Autonomie, also desverbindlich artikulierten Willens eines unddesselben Betroffenen. Es ist vielmehr dasPrinzip zur Regelung der Kollision von In-teressen, die unterschiedlichen Inhabernzuzuordnen sind: das allgemeine rechtse-thische Prinzip des Notstands. Es gebieteteine Abw�gung der kollidierenden Belange.Grunds�tzlich wird dabei der Erhalt desLebens eines gegenw�rtig lebenswilligenPatienten Vorrang haben m�ssen vor denfr�heren h�chstpers�nlichen Integrit�ts-und W�rdevorstellungen des seinerzeitigenVerfassers der Verf�gung. Zwingend ist dieseMaxime der Lebenserhaltung allerdingsnicht. F�lle wie der obige des Alzheimer-Patienten A (Fall 1) sind mit dieser Regelallein nicht l�sbar. In solchen Konstellatio-nen m�ssen s�mtliche Erw�gungen zu denBed�rfnissen und dem Wohl der Patienten,also auch zu den Grenzen ihrer Belastbarkeitso gut wie m�glich gekl�rt und gegenein-ander abgewogen werden.

Damit ist ein weiterer wichtiger Unter-schied zu der obigen Auffassung von der„mangelnden Wertkonstanz“ angedeutet. Erbetrifft die Konsequenzen f�r Patienten imirreversiblen apallischen Syndrom („Wach-koma“). Nur wenn ein inkompetenter Pati-ent �berhaupt noch ein gegenw�rtiges sub-jektives „Wohl“ hat, kann dieses den Inhaltder �rztlichen Therapieentscheidung be-stimmen und eine Legitimation daf�r bieten,

8 Sie wird daher auch von einem so bedeutenden Rechts-philosophen wie Ronald Dworkin abgelehnt, der in unserenF�llen allein die fr�here autonome PV – auch gegen dieInteressen des sp�teren inkompetenten Patienten – f�r ver-bindlich h�lt (vgl. [8], S. 222 ff., S. 226).

Ethik in der Medizin 3 · 2004 305

dem fr�heren Verfasser der PV die Voraus-verf�gung �ber seinen K�rper zu verwehren.Bei irreversibel apallischen Patienten ist diesaber nicht der Fall. Dass sie in einer „Exis-tenzform eigener W�rde“ leben, ist richtig,ber�hrt diese Feststellung jedoch nicht.Nach allen Erkenntnissen der zust�ndigenWissenschaft sind solche Patienten nichtmehr subjektiv erlebensf�hig.9 Ihr subjekti-ves „Wohl“ kann daher dem autonomenWillen des Autors der PV nach dem allge-meinen Notstandsprinzip des Rechts undder Ethik nicht vorgeordnet werden. Dennsie haben kein solches subjektives Wohlmehr, weil sie �berhaupt nicht mehr in derLage sind, so etwas wie „Wohl und Wehe“subjektiv zu erleben. Daraus folgt, dassPVen, die genau den Fall eines sp�terenapallischen Syndroms regeln, f�r den ent-scheidenden Arzt zwingend verbindlich sind(sofern sie die allgemeinen Wirksamkeits-kriterien erf�llen). Der Staat hat dies ausGr�nden des verfassungsrechtlich gebotenenSchutzes fundamentaler Grundrechte sicher-zustellen.

Korrespondierender AutorProf. Dr. Reinhard Merkel

Lehrstuhl f�r Strafrecht und Rechtsphilosophie,Universit�t Hamburg, Schl�terstr. 28, 20148 Hamburg

Interessenkonflikt: Keine Angaben

Literatur

1. Ahronheim J, Gasner R (1990) The sloganism of starvation.Lancet 335:278–279

2. American Academy of Neurology (1989) Positionof the American Academy of Neurology on certainaspects of the care and management of the persistentvegetative state patient: adopted by the ExecutiveBoard, April 21, 1988, Cincinnati, Ohio. Neurology39:125–26

3. American Medical Association, Council on ScientificAffairs and Council on Ethical and Judicial Affairs (1990)Persistent vegetative state and the decision to withholdor withdraw life support. JAMA 263:426–430

4. Buchanan A, Brock D (1989) Deciding for others. CambrigeUniversity Press, Cambridge New York

5. Cranford RE (1988) The persistent vegetative state:the medical reality (getting the facts straight).Hastings Cent Rep 18:27–32

6. Dresser R (1986) Life, death, and incompetent patients.Ariz Law Rev 28:379–381

7. Dresser R, Robertson J (1989) Quality of life andnon-treatment decisions for incompetent patients:a critique of the orthodox approach. Law Med HealthCare 17:234–243

8. Dworkin R (1993) Life�s dominion. About abortion,euthanasia and individual freedom. Harper Collins, NewYork

9. Giacino JT et al. (2002) The minimally conscious state –Definition and diagnostic criteria. Neurology 58:353

10. Institute of Medical Ethics Working Party (England) (1991)Withdrawal of life-support from patients in a persistentvegetative state. Lancet 337:96–99

11. Jenett B (2002) The vegetative state. Journal of NeurologyNeurosurgery and Psychiatry 73:355–357

12. McQuillen MP (1991) Can people who are unconsciousor in the „vegetative state“ perceive pain? Issues Law Med6:373–383

13. Meran JG (1992) Lebensqualit�t – Anspruch und Wirk-lichkeit als medizinischer Parameter versus Lebensqualit�tals subjektbezogene Wirklichkeit. Wien Med Wochenschr142:539–543

14. Merkel R (1995) T�dlicher Behandlungsabbruch undmutmaßliche Einwilligung bei Patienten im apallischenSyndrom. Z Ges Strafrechtswissensch 107:545–575

15. Merkel R (1999) Personale Identit�t und die Grenzenstrafrechtlicher Zurechnung. Juristenzeitung 54:502–511

16. Multi-Society Task Force on PVS (1994) Medical aspectsof the persistent vegetative state (first of two parts).N Engl J Med 330:1499–1508

17. Multi-Society Task Force on PVS (1994) Medical aspectsof the persistent vegetative (second of two parts).N Engl J Med 330:1572–1579

18. Schiff ND et al. (2002) Residual cerebral activity and be-havioural fragments can remain in the persistent vege-tative brain. Brain 125:1210–1234

9 Vergleiche aus der umfangreichen internationalen Literaturnur ([14, 15], insbesondere S. 1576 f.; [2, 3, 9], S. 96 ff.; [5],S. 27 ff., S. 31; [1], S. 278 ff.) Studien aus j�ngerer Zeit habenwichtige Unterschiede zwischen dem echten, irreversiblenapallischen Syndrom („Persistent Vegetative State“, kurz„PVS“) und dem so genannten „Minimal Conscious State“herausgearbeitet; s. inbes. [18] sowie [9]; an der G�ltigkeit desoben im Text zum echten PVS Ausgef�hrten �ndert das nichts;vgl. dazu neuestens [11] und [22]; im �brigen ber�hrt der reinempirische Befund, dass es selbstverst�ndlich schwierigeZweifels- und Grenzf�lle des PVS gibt, die normative Frage,wie in zweifelsfreien F�llen zu verfahren ist, ohnehin nicht.Offenbar in allen F�llen des apallischen Syndroms am Zustandv�lliger Bewußtlosigkeit zweifelnd, freilich (erstens) vor mehrals 13 Jahren und (zweitens) lediglich mit dem wenig �ber-zeugenden agnostischen Argument, die subjektive Erlebnis-unf�higkeit des apallischen Patienten sei nicht sicher be-weisbar, McQuillen ([12], S. 373 ff, S. 383).

Ethik in der Medizin 3 · 2004306

Aktuelles

19. Taupitz J (2000) Empfehlen sich zivilrechtliche Rege-lungen zur Absicherung der Patientenautonomie amEnde des Lebens? Gutachten A f�r den 63. DeutschenJuristentag Leipzig 2000. Beck, M�nchen

20. Ulsenheimer K (1999). In: Laufs A, Uhlenbruck W (Hrsg)Handbuch des Arztrechts, 2. Aufl., § 149 Rnr. 13

21. Vollmann J (2001) Advance directives in patients withAlzheimer�s disease. Ethical and clinical considerations.Med Health Care Philos 4:161–167

22. Zeman A (1997) Persistent vegetative state. The Lancet350:795–799

123

Hier steht eine Anzeige

This is an advertisement