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Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg RAINER BRUNNER Einige schiitische Stimmen zur Frage der Koranfälschung Originalbeitrag erschienen in: Stefan Wild u.a. (Hrsg.): Akten des 27. Deutschen Orientalistentages : Bonn, 28. September bis 2. Oktober 1998 ; Norm und Abweichung. Würzburg: Ergon-Verl., 2001., S. [447] - 457

Einige schiitische Stimmen zur Frage der Koranfälschung

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Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

RAINER BRUNNER Einige schiitische Stimmen zur Frage der Koranfälschung Originalbeitrag erschienen in: Stefan Wild u.a. (Hrsg.): Akten des 27. Deutschen Orientalistentages : Bonn, 28. September bis 2. Oktober 1998 ; Norm und Abweichung. Würzburg: Ergon-Verl., 2001., S. [447] - 457

Einige schiitische Stimmen zur Frage derKoranfälschung

RAINER BRUNNER, Freiburg i.Br.

Als Ignaz Goldziher vor neunzig Jahren seine Vorlesungen über den Islamhielt, war die Welt noch übersichtlich.' Die Schia erschien ihm ganz selbst-verständlich als eine „sektiererische Bewegung" und als ein „Nährboden fürAbsurditäten (...), geeignet, die Gotteslehre des Islam völlig zu zersetzenund aufzulösen."2 Seine an anderer Stelle geäußerte Ansicht über die schiiti-sche Koranexegese war nicht minder deutlich: Den polternden TheodorNöldeke zitierend nannte er sie ein „elendes Gewebe von Lügen und.Dummheiten", nicht ohne aber hinzuzufügen: „Ihre historische Berücksich-tigung ist jedoch für die volle Kenntnis der religiösen Strömungen im Islamnicht zu umgehen." 3 Was beide Gelehrte so sehr in Rage versetzte, war derUmstand, daß in zahlreichen frühen schiitischen Quellen behauptet wurde,die Gegner der Schia hätten den Korantext gefälscht, um 'Ali und seineNachkommen von der legitimen Führung der Gemeinde fernzuhalten. Daßdiese Meinung mehr oder minder grundsätzlich und unverändert immernoch gültig sei, zogen beide nicht ernsthaft in Zweifel.

Bekanntlich, so die verbreitete (sunnitische) Tradition, soll der dritte Ka-lif Utmän rund ein Vierteljahrhundert nach dem Tode des Propheten einegrundlegende Redaktion des vorhandenen Offenbarungsmaterials veranlaßtund den Koran in seine heutige Form gebracht haben. 4 Nicht alle Gläubigenwaren mit dem Ergebnis einverstanden, am wenigsten die verschiedenenschiitischen Strömungen. Denn bei ihnen nährte sich der Argwohn, die Re-dakteure und ihre Auftraggeber hätten absichtlich bestimmte Passagen weg-gelassen. Besonders schmerzlich vermißten sie jeglichen Hinweis auf die

Bei den folgenden Ausführungen handelt es sich um einen Teilabschnitt eines von der Deut-schen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts über das Thema ”Schiitische Koranexegeseund die Frage der Verfälschung des Korantextes (tahrif al-queän) in der innerislamischen Dis-kussion des 20. Jahrhunderts". Folgende Abkürzungen werden verwendet: zig = Muhsin al-Amin: A`yän ab.fira. Hrsg. v. Hasan al-Amin. I-X mit Ergänzungen. Beirut 1986; PTS = Äää Bo-zorg at-Tehräni: ad-Darfa ilä ta.sänif ag-gfa. I-)0CVI. Beirut 1983; El 2 = The Encyclopaedia ofIslam. New Edition. Leiden 1954ff.; Elr = Encyclopaedia Iranica. London u.a. 1982ff.; TA� =Nä Bozorg at-Tehräni: Tabaqät dläm a.§-.fra. 1/1-4: Nuqabä' al-ba.far fi 1-qarn ar-räbir War.Nagaf 1954-68,1/1-2: al-Kiräm al-barara fi" 1-qarn at-tälit bdd alJagara. Nagaf 1954, 1958.Ignaz Goldziher: Vorlesungen über den Islam. Heidelberg 1910, S. 208, 220.Ignaz Goldziher: Die Richtungen der islamischen Koranauslegung. Leiden 1920, S. 309.Diese Sichtweise wird im großen und ganzen auch von der westlichen Wissenschaft geteilt, vgl.jüngst E. Whelan: Forgotten Witness: Evidence for the Early Codification of the Qur'än. In:Journal of the American Oriental Society. Bd. 118. 1998, S.1-14, hier S. 13.

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Designierung 'Alls zum Nachfolger des Propheten und überhaupt die Er-wähnung der Imame. Manche begnügten sich damit, mit einer eigenwilligenKoranauslegung den „eigentlichen" inneren Sinn eines Verses zu ergründenund so dieses Manko wettzumachen. 5 Nicht wenige andere behaupteten da-gegen unverblümt, der Koran sei der Verfälschung «abriß durch die Gegnerder Schia zum Opfer gefallen. Erst zur Zeit der schiitischen „Kirchenväter"Ibn Bäbüya, al-Mufid, ag-Sarif al-Murtadä und at-Tüsi setzten sich gemä-ßigtere Ansichten durch. Man war nun gleichfalls bereit, die (utmänischeKoranredaktion anzuerkennen und wollte in eventuell weggefallenen Passa-gen allenfalls noch einen Kommentar sehen.

All das ist hinlänglich bekannt. Etan Kohlberg, Mohammad Ah i Amir-Moezzi und andere haben diese Entwicklung nachgezeichnet und die viel zugrobschlächtige Sicht Goldzihers und Nöldekes revidiert. 6 Gelegentlich fin-det man auch Hinweise auf ein vorübergehendes Wiedererstarken der tafrif-Auffassung im Zuge der innerschiitischen Auseinandersetzung zwischenUsülis und Abbäris im 17. und 18. Jahrhundert. Diesen „nachklassischen"Äußerungen wird aber längst nicht dieselbe Beachtung zuteil wie den Kir-chenvätern des 10. und 11. Jahrhunderts. 7 Eigentlich könnte man die ganzeSache damit als erledigt und den Streit über die angebliche Koranfälschungals nicht mehr aktuell betrachten. Bereits ein oberflächlicher Blick auf diewechselseitige Polemik und Apologetik unserer Tage zeigt allerdings, daßgenau das Gegenteil der Fall ist. So gut wie keine sunnitische Streitschriftkommt ohne ein meist ausführliches Kapitel aus, in dem die Schiiten be-zichtigt werden, an einen anderen als den allgemein verbreiteten Koran zuglauben, und in so gut wie jeder schiitischen Antwort wird eben das bestrit-ten und die aufrichtige Verehrung beteuert, die die Schia schon immer und

5 J. van Ess: Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert der Hidschra (..). Berlin, NewYork 1991ff., Bd. IV, S. 647f.

6 E. Kohlberg: Some Notes on the Imämite Attitude to the Qur'än. In: S.M. Stern u.a. (Hrsgg.): 15-lamic Philosophy and the Classical Tradition. Festschrift Richard Walzer. Oxford 1972, S. 209-224; M. A. Amir-Moezzi: Le guide divin dans Je Shfisme originel: aux sources de l'&otirismeen Islam. Lagrasse 1992, S. 200-227; M. Ayoub: Die Speaking and the Silent Quren (...). In: A.Rippin (Hrsg.): Approaches to the History of the Interpretation of the Qur'än. Oxford 1988, S.177-198; M. Bar-Asher: Deux Traditions heterodoxes dans les anciens commentaires imamitesdu Coran. In: Arabica. Bd. 37. 1990, S. 291-314; ders.: Variant Readings and Additions of theIrnämi Shfa to die Quran. In: Israel Oriental Studies. Bd. 13. 1993, S. 39-74;Goldziher: op. cit.(Anm. 3), S. 263-309; J. Eliash: Die `Slifite Queän'. A Reconsideration of Goldziher's Inter-pretation. In: Arabica. Bd. 16. 1969, S. 15-24; die schiitische Sicht repräsentiert H. Modarressi:Early Debates on the lntegrity of the Qur'an. A Brief Survey. In: Studia Islamica. Bd. 77. 1993,S. 5-39.

7 B. Todd Lawson: Note for the Study of a „Shisi Qur'än". In: Journal of Semitic Studies. Bd. 36.fi1991, S. 279-295; ders: Akhbäri Sh Approaches to tafsir. In: G.R. Hawting (Hrsg.): Approa-

ches to the Qur'än. London 1993, S. 173-210; A. Falaturi: Die Zwölferschia aus der Sicht einesSchiiten. Probleme ihrer Untersuchung. In: E. Griff (Hrsg.): Festschrift Werner Caskel. Leiden1968, S. 62-95.

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in ihrer überwältigenden Mehrheit dem Koran entgegengebracht habe. AnWichtigkeit dürfte der Streit um die Koranfälschung den grundsätzlichenDisput um das Imamat mittlerweile eingeholt haben.

Vertieft man sich daraufhin, neugierig geworden, in das einschlägigeschiitische Schrifttum der vergangenen Jahrhunderte, stellt man fest, daß dieZahl derjenigen schiitischen Autoren, die die Echtheit und Vollständigkeitdes vorliegenden Korans bestreiten, größer als erwartet ist - und daß es sichdabei keineswegs nur um unbekannte oder um Gelehrte von zweitrangigerBedeutung handelt. Auch reichen diese Stellungnahmen bis nahe an die Ge-genwart heran, von einem automatischen Verschwinden der talyrif-Auffassung mit der Niederlage der Abbäris kann nicht die Rede sein. Einigedieser Äußerungen sollen im folgenden vorgestellt werden, wobei ich inumgekehrter zeitlicher Reihenfolge vorgehen möchte. Diejenige Schrift ausdem 19. Jahrhundert, die die neuzeitliche taiirif-Debatte auf die Spitze ge-trieben hat, steht am Anfang, gefolgt von weiteren einschlägigen Aussagen,die eine durchaus beachtliche Minderheitentradition innerhalb der Schia inSachen Koranfälschung erkennen lassen.

Bei der genannten Schrift handelt es sich um das Buch Fats1 al-bitäb fitahrif kitäb rabb al-arbäb, das m.W. nur in einer fast 400 Seiten starken Li-thographie aus dem Jahre 1881 vorliegt. 8 Ihr Verfasser ist kein Unbekann-ter: Es handelt sich um Mirzä Husain Taqi an-Nüri at-Tabrisi (oder auchTabarsi, 1839-1902), der von Manchen als der größte schiitische Hadit-Gelehrte seit den Tagen Mubammad Bäqir al-Maglisis betrachtet wird. 9 Zeitseines Lebens reiste er, der bei einigen der bedeutendsten schiitischen Ge-lehrten seiner Zeit studiert hatte, zwischen den irakischen catabät und Iranhin und her, viermal führte ihn sein Weg zur Pilgerfahrt nach Mekka, erstarb schließlich bei der Rückkehr von einem Besuch des Heiligtums zuKerbela. Man wird ihn also wohl einen „guten Schiiten" nennen dürfen, derüberdies aus einer Familie stammte, die auch später von sich reden machte:Sein Schwiegersohn war Fadlalläh Nüri, der während der KonstitutionellenRevolution in Iran als Gegner der Verfassung bekannt und für seine Haltung1909 öffentlich hingerichtet wurde. 1 °

Seiner kladitgelehrsamkeit konnte er in diesem talyrif-Werk freien Lauflassen, denn fast alle entsprechenden Überlieferungen der Frühzeit gehen inder einen oder anderen Form auf eine Äußerung eines Imams zurück. An

8 Vgl. De, Bd. XVI, S. 231f.; laut Fehrest-e ketäbhä-ye api-ye färsi. Bd. II. Teheran 1974, Sp.2446 existiert auch eine (offensichtlich gekürzte) persische Übersetzung; die Angabe von Abü I-Hasan an-Nadwi: Süratän mutaclädditän (...). Kairo 1406/1985, S. 74, Anm. 4, wonach dasBuch „kürzlich" in Pakistan gedruckt worden sei, beruht möglicherweise auf einem Mißver-ständnis; gemeint ist vielleicht der teilweise Abdruck von Kapitel 11 und 12 bei Ihsän IlähiZahir: a.e-gfa wa-l-queän (...). Lahore 1983, S. 141-344.

9 El 2 , Bd. X, S. 41; ferner TA.. Bd. 1.2, S. 543-555; A. Bd.V1, S. 143f.10 Über diesen s. El 2 , Bd. VIII, S. 140.

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den Gründen, die ihn zur Abfassung des Buches bewogen, ließ er von vorn-herein keinen Zweifel aufkommen, spricht er doch schon auf der erstenSeite von „der Bestätigung (itbät) der Verfälschung des Korans und derSchändlichkeiten der Unterdrücker und Feinde"." Das Werk besteht ausdrei einleitenden Kapiteln sowie zwei ungleichgewichtigen Hauptteilen. DieEinleitungen dienen dazu, mittels entsprechender Hadite zu „belegen", daßder vollständige und richtige Koran nur von Ali gesammelt worden sei, 12

ferner der Definierung der verschiedenen Arten von tahrif13 sowie schließ-lich der Zitierung anderer schiitischer Gelehrter, die sich bereits vor Nürizum Thema geäußert hatten. 14 Bemerkenswert ist dabei sein Verständnisvon Fälschung, das weit über die Weglassung etwaiger pro-schiitischer Pas-sagen hinausgeht und bis hin zur Sureneinteilung oder der Vokalisierungeinzelner Wörter reicht. Nur zwei der solcherart festgestellten 19 Arten vontafrif, nämlich die Hinzufügung bzw. Ersetzung einer ganzen Sure, werdenexplizit und unter Berufung auf den Koran selbst (2/23) abgelehnt»

Diesen Prolegomena folgt ein über 320 Seiten langer erster Teil, in demder Autor in 12 Kapiteln alle ihm erreichbaren Nachrichten über die Fäl-schung des Korans ausbreitet. Kaum ein Aspekt der Textgeschichte und-gestaltung wird dabei ausgelassen. Den Beginn macht eine relativ langeAbhandlung über den (seit alters her bekannten und im Koran selbst mehr-fach angesprochenen) Vorwurf, die Juden und Christen hätten die an sie er-gangenen heiligen Schriften ebenfalls verfälscht. Da aber der muslimischenumma all das widerfahre, was zuvor schon den vorislamischen Gemein-schaften zugestoßen sei - Nüri beruft sich dabei auf einen Hadit, den er ohnenähere Erläuterung auf den sechsten Imam ödfar as-Sädiq zurückführt -,müsse dementsprechend auch der Koran verfälscht worden sein. 16 Es folgenweitere Abschnitte über die Koransammlung 'Alls, die Codices von (Ab-dalläh b. Masiid und Ubayy b. Kal und die offizielle Redaktion durch denKalifen (U1män. 17 Inhaltlich interessanter sind Nüris Ausführungen über dasProblem der Abrogation und über die Existenz verschiedener Lesarten. Er-stere lehnt er insbesondere in der Form, nach der der Wortlaut eines Versesabrogiert sein könne, sein Inhalt jedoch weiter Gültigkeit besitze, strikt ab.In seinen Augen handelte es sich bei dieser Konstruktion um nichts weiter

H klusain Taqi an-Nüri" a1-Tabrisi: Fa.s1 al-higib fi tahrif kitäb rabb al-arbäb. Lith. Teheran1298/1881,S. 1.

12 Ibid., S. 1-23.13 Ibid., S. 23-25.14 Ibid., S. 25-35.15 Zu diesem und ähnlichen Versen s. M. Radscheit: Die koranische Herausforderung. Die

tahaddi- Verse im Rahmen der Polemikpassagen des Korans. Berlin 1996, S. 94ff.16 at-Tabrisi: op. cit. (Anm. 11), S. 35-96; s. allg. E. Kohlberg: Some Shri Views on the Antediluvi-

an World. In: Studia lslamica. Bd. 52. 1980, S. 41-66.17 at-Tabrisi: op. cit. (Anm. 11), S. 120-171.

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als den durchsichtigen Versuch der Sunniten, von der Schändlichkeit ihrerKoransammlung abzulenken, indem sie die weggelassenen Passagen kur-zerhand für abrogiert erklärten. 18 Auch an den von den Sunniten akzeptier-ten unterschiedlichen Lesarten läßt er kein gutes Haar und wertet sie alsBeleg dafür, daß es in zahlreichen Fällen zu Veränderungen des koranischenWortlauts gekommen sei. 19

Im Zentrum des ersten Teils stehen jedoch jene beiden Kapitel von insgesamt 125 Seiten, in denen Nüri allgemeine sowie nach Koranversen geord

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-nete Belegstellen zusammenträgt, die mehr oder minder direkt das Vorhan-densein von tahrif belegen sollen. 20 Nicht weniger als 1063 derartigeÜberlieferungen - und zwar aus sunnitischen wie schiitischen Quellen - sinddas beeindruckende Ergebnis. Nicht immer freilich sind diese Zitate frei vonWidersprüchen: So heißt es an einer Stelle, drei Viertel der sürat al-bardaseien weggefallen, und unmittelbar darauf: zwei Drittel der mimt at-tauba.Beides aber sind Namen für ein und dieselbe Sure (9). 21 Auch pflegt Nürimitunter einen nonchalanten Umgang mit seinen Quellen, etwa wenn er„aus einem alten Buch von einem unserer Altvorderen" zitiert 22 oder in eineÜberliefererkette die Angabe „von einer Anzahl der Unseren" einfließenläßt.23 Der zweite, mit knapp 40 Seiten wesentlich kürzere Teil widmet sichder Zurückweisung möglicher Einwände von tahrif-Gegnern, wobei Nüriauch vor heftiger Kritik an schiitischen Autoritäten wie ag-Sarif al-Murtaclänicht zurückschreckt. 24

Die Zurückweisung dieses Buches, das nach seinem Erscheinen an denirakischen Lehrstätten offenbar für gehörigen Wirbel gesorgt hat,25 ließnicht lange auf sich warten, und sie kam zuerst von schiitischer Seite. Siescheint so heftig ausgefallen zu sein, daß sich Nüri zu der beschwichtigen-den Bemerkung veranlaßt sah, er habe im Titel des Buches einen Fehler be-gangen, eigentlich hätte es Fatyl al-hitäb fi (adam talyrif al-kitäb heißen sol-len, denn um genau das sei es ihm gegangen. 26 Unter den sunnitischen

18 Ibid., S. 105-120, hier S. 109; zu nash allg. s. EI 2, Bd.VII, S. 1009-1012 sowie J. Burton: TheSources of lslamic Law. Islamic Theories of Abrogation. Edinburgh 1990.

19 at-Tabrisi: op. cit. (Anm. 11), S. 209-234.20 Ibid., S.234-359.21 Ibid., S. 173; vgl. ibid., S. 246f.22 Ibid., S.59.23 Ibid., S. 236, 246; vgl. S. 171 (Nr. g).24 Ibid., S. 359-397; aä-Sarif al-Murtadäs (gest. 1044; s. El 2, Bd. VII, S. 634) vielzitierte Kritik an

der tahrif-These wurde von dem bedeutenden schiitischen Korankonunentator Abü 'All al-Fadlb. al-klasan at-Tabrisi in seinem Hauptwerk Mama al-bayän .fi" tafsir al-queän überliefert (Te-heran 1382-83/1962-63. Bd. I, S. 15; zum Autor [gest. 1154] s. EI ' , Bd. X, S, 40f.).

25 (Abd ar-Ridä al-Marcagi aä-gahrastäni: al-Mdärif al-g aliya fi tabwib akwibat al-masä'il ad-diniya. Nagaf 1972,S. 21; Mandi b. Malynüd Borügerdi: Borhän-e rougan. al-Burhän 'ad: (adamtabrif al-queän. Teheran 1954,S. 143f.

26 TA..'. Bd. 1.1, S. 550f.

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Polemikern dauerte es etwas länger, ehe sie das Buch zur Kenntnis nahmenund entsprechend reagierten. Der m.W. erste sunnitische Kritiker war derdamals noch der Wahhäbiya nahestehende (Abdalläh al-Qasimi, der sich1938 am Ende einer zweibändigen Fundamentalkritik der Schia 20 Seitenlang Nüris annahm. Dabei ging es ihm aber weniger um eine theologischeoder quellenkritische Auseinandersetzung. Statt dessen beschränkte er sichauf die recht platte Feststellung, hier komme besonders deutlich der Haß derschiitischen Perser auf die muslimischen Araber zum Ausdruck. 27

Das eigentlich schmerzliche an Nüris Buch - jedenfalls in den Augen derSchia - war der Umstand, daß hier zum ersten Mal auch entlegenste Überlie-ferungen aus einer ansonsten kaum zu überschauenden Anzahl von ver-streuten Werken zusammengetragen worden waren - worauf später dennauch sunnitische Polemiker nicht ohne Süffisanz hinwiesen. 28 Außerdemwar Nüri bei weitem berühmter als z.B. sein Zeitgenosse Muhammad HädiAmin at-Tihräni al-öarawi (1837-1903), der in seinem rechtstheoretischenWerk Mahageat aPulamä' gut 70 Seiten der tafrif-Problematik widmete. 29

Vieles an seinen Ausführungen erinnert in Inhalt und Tonfall an Nüri (bishin zur Kritik an ag-Sarif al-Murtaclä) 30, wenngleich seine Abhandlung beiweitem nicht dessen Systematik erreicht.

Auf der anderen Seite finden sich Beispiele dafür, wie die tahrif-Vermutung gewissermaßen stillschweigend vorausgesetzt und en passantgeäußert werden konnte, bei zwei der bedeutendsten schiitischen Gelehrtendes 19. Jahrhunderts. Der erste war Murtaciä al-Ansäri (gest. 1864), der um1850 zum alleinigen Maria' at-taqlid der Schia aufstieg und einen großenEinfluß auf die Fortentwicklung des religiösen Rechts hatte. 31 Er schrieb inseinem Grundlagenwerk Fardid a1-Kül eher nebenher, das Vorhandenseinvon tahrifim Koran dürfe den Gläubigen nicht davon abhalten, dem äußerenSinn des Wortlauts zu folgen, da es kein gesichertes Wissen gebe, ob dieseräußere Sinn schadhaft sei. Und in den praktischen religionsgesetzlichenVorschriften sei der Gläubige schließlich dazu aufgefordert, dem Wortlautdes Korans zu folgen. Nüri zitierte diese Sätze beifällig. 32 Der zweite der

27 (Abdalläh al-Qasimi: as-Sird bain al-isläm wa-l-wataniya. Neuauflage Kairo 1402/1982. Bd. II,S. 861-881.

28 Muklibb ad-Din al-tlatib: al-tlupit aParida li-l-usus allati qäma (alaihä din a.f.-Ita al-imämiyaal-itnä (agariya. Kairo 0 1982, S. 11,

29 Muhammad Hädi b. Muhammad Amin at-Tihräni al-Garawi: Maljaggat alJulamä'fi huggiyat al-qaf wal-gann. Lith. Teheran 1318/1900-01, S. 107-178, hier S. 107; zum Autor s. MuhammadHädi al-Amini. Murgam rig äl al-fikr wa-l-adab fi n-Nagaf hiläl alf cötn. Nagaf 2 1413/1992. Bd.II, S. 856f, Ag, Bd. X, S. 233; Mubammad Mandi al-Käzimi: Ahsan al-wadfa fi" taräg im agharmu gtahidi .f-.§fa. Beirut 1413/1993. Bd. I, S. 146-148; zum Buch DTS, Bd. )0C, S. 146f.

30 al-Garawi: op. cit. (Anm. 29), S. 128ff.31 M. Momen: An Introduction to Shi'i Islam (...). New Haven 1985, S. 140, 186f., 311.32 Murtacli al-Ansäri: Fardid al-u,sül. Lith. o.O. 1342/1923, S. 36f.; at-Tabrisi: op. cit. (Anm. 11),

S. 364; s.a. Kohlberg: op. cit. (Anm. 6), S. 218; ähnlich wie Ansäri äußerte sich auch dessen

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angesprochenen Gelehrten war ödfar an-Nagafi, dessen Buch Kagf al-,eijä'ihm und den nachfolgenden Generationen seiner Familie den EhrennamenKägif al-gitä' eintrug. Darin streitet sein Autor zwar die Möglichkeit vonHinzufügungen zum Koran kategorisch ab. Hinsichtlich eventueller Weglas-sungen ist er jedoch weniger eindeutig: Die entsprechenden Hadite bedürf-ten der Interpretation, und außerdem seien die weggefallenen Stellen beimPropheten „und seinen Leuten" (ä/iiii) verwahrt. Die darin enthaltene An-spielung ist eine zweifache: auf den Koranvers 15/9, der von Gegnern destahrif als Garantie Gottes gegen Verfälschung bezeichnet wird (Rückertübersetzt „Gesendet haben wir die Kunde / Und werden sie behüten"), undzum anderen auf die Imame der Schia und v.a. den Mandi, bei dem in denAugen der tahrif-Befürworter der „eigentliche", von 'Ali gesammelte Koranliege. 33

Andere waren weniger zurückhaltend. Der 1826 gestorbene (Abdalläh b.Muhamtnad al-Uusaini Subbar zitierte jenen Imam-kladit, demzufolge derKoran in Vierteln herabgekommen sei, je ein Viertel über die Imame, ihreFeinde, über die Sitten und Gebräuche sowie die Pflichten und Vorschriften.Den deutlichen Widerspruch zum real existierenden Koran löste er kurzer-hand dadurch auf, daß er erklärte, der allgemein verbreitete Wortlaut seieben bei weitem nicht vollständig. 34 Und Atimad b. Mubarnmad Mandi an-Narägi (gest. 1829), als Lehrer Ansäris ebenfalls kein Unbedeutender, 35

resümierte erst ausführlich die Standpunkte der Usülis (gegen tahrif) undder Abbäris (dafür), um sich anschließend eindeutig auf die Seite der letzt-genannten zu schlagen. Daß Dinge aus dem Koran weggefallen seien, stehefest, man wisse nur nicht genau, in welchem Ausmaß und an welchen Stel-len; sogar eventuelle Hinzufügungen mochte er nicht völlig ausschließen. 36

Das Stichwort ist gefallen: Es waren, wie zuvor schon einmal kurz ange-deutet, die Abbäris, die sich in erster Linie der Aufrechterhaltung der talyrif-Theorie verschrieben. Der Grund dafür liegt auf der Hand: In ihrer Beto-nung des unbedingten Vorrangs des Imam-Hadit vor rationalen Erwägungenkonnten sie nicht umhin, auch den auf die Imame zurückgeführten tahrif-

Schüler Mohammad Käzem al-Horäsäni (gest. 1911; vgl. Elr, Bd. I, S. 732-735; El 2 Bd. V, S.61f.) in seinem rechtstheoretischen Werk Kifdyat al-u.sül. Beirut 2 1412/1991, S. 284f.

33 öa'far an-Nagafi: Kagf al-kild. Lith. Teheran 1271/1854, unpag., achter Abschnitt über den Ko-ran; ähnlich bei 'All Asgar Borügerdi: cilqäld ag-gfa. Teheran o.J. (1940), S. 31 (Borügerdi starb1895).

34 (Abdalläh al-Husaini Subbar: Ma.säbih al-anwär fi hall mugkilät al-abbär. Nagaf 1952. Bd. II, S.294f.; zum Autor s. MS; Bd. 11.2,S. 777-779, zum Buch De, Bd. XXI, S. 85f.

35 Momen: op. cit. (Anm. 31), S. 311, 318.36 Ahmad an-Naräqi: Manähig a1-ahkäm fi uszil al-fiqh. Lith. Teheran 1269/1852, S. 152-154, hier

S. 154 oben; zum Autor s. EJ 2 , Bd. VII, S. 960f.; TA., Bd. 11.1, S. 116E; Muhammad Ahmad at-Tunikäbuni: Qisa.s absulamä'. Beirut 1413/1992, S. 143-145; zum Buch s. pe, Bd. XXII, S.340f.

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Überlieferungen Gültigkeit zuzubilligen. 37 So ist es denn auch nicht weiterverwunderlich, daß in so manchem abbärischen Korankommentar ganzselbstverständlich und ohne ein Zeichen der Distanzierung einschlägigetafrif-Überlieferungen zitiert werden, auch wenn der Verfasser selbst sichnicht explizit zum talyrifbekennt. 38 Das dazu nötige Material hatte nicht lan-ge vorher der große Muhammad Bäqir al-Maglisi (gest. 1699/1700) in seinermonumentalen Hadit-Sammlung Bilgir al-anwär zur Verfügung gestellt. 39

Daneben gibt es allerdings eine Reihe von Autoren, die aus ihrem Herzenkeine Mördergrube machten und die Hadite durch eigene Argumente be-kräftigten. Auch hier seien zwei Beispiele herausgehoben. Da ist zum einender Zeitgenosse Maglisis, Ni`matalläh al-öazä'iri (gest. 1701), der an sichals durchaus moderat galt und sich sogar dafür einsetzte, die VerfluchungAbü Bakrs und (Umars zu unterlassen. 40 In seiner Schrift al-Anwär an-

ndmäniya stellte er dessenungeachtet fest, daß die Vielzahl der Überliefe-rungen keinen Zweifel daran lasse, daß der Koran nach dem Tode Muham-mads verfälscht worden sei, indem man die Passagen zum Lob der äl al-baitebenso wegfallen ließ wie die Stellen, in denen die Scheußlichkeiten derHeuchler beschrieben wurden. Diejenigen schiitischen Gelehrten, die vondieser Meinung abwichen - wie etwa ag-Sarif al-Murtaclä - hätten dies ausmancherlei Interesse getan, zuvorderst, um den Verleumdungen (von Seitender Sunniten) ein Ende zu bereiten. Also im Endeffekt, auch wenn es nichtso genannt wird, aus taqiya.41

Noch ausführlicher ging der zweite hier zu nennende Gelehrte vor. Abü 1-1:lasan b. Muhammad ag-Sarif al- (Ämili (gest. um 1727), bezeichnenderwei-se ein Schüler Maglisis und öaz,ä'iris, stellte seinem Buch Mieät al-anwärwa-mi.vskät al-asrär eine Einleitung voran, deren zweiter Abschnitt von demhandelt, „was einige Veränderungen im Koran verdeutlicht." 42 Darin äußerter sich in einer Art und Weise, die an Eindeutigkeit nichts zu wünschen üb-rig läßt. Nicht nur, daß er diejenigen aus den eigenen Reihen, die tafrif ab-lehnen, einer herben Kritik unterzieht und ihre Einwände Punkt für Punkt

37 Vgl. allg. Elr, Bd. 1, S. 716-718 und die dort genannte Literatur; ferner E. Kohlberg: Aspects ofAkhbäri Thought in the 171h and 18th Centuries. In: N. Levtzion u. J.O. Voll (Hrsgg.): Eigh-teenth-Century Renewal and Reform in Islam. Syracuse 1987, S. 133-160.

38 Vgl. z.B. den 1112/1700 gestorbenen ( Abd 'Ali al-Huwaizi: Kitäb tafsir nür at-tagalain. Qom1383-85/1963-65. Bd. I, S. 382f. (zu Vers 3/110), 438 (zu 4/3) und 651-658 (zu 5/67); zu diesemtafsir vgl. Todd Lawson: op. cit. (Anm. 7), S. 178-180.

39 Muhammad Bäqir al-Maglisi: Bihär al-anwär. Beirut '1983. Bd. XCII, S. 40-77, v.a. 60ff.; dazuIM Bd. III, S. 16-27, Eir, Bd. IV, S. 90-93, E/ 2 , Bd. V, S. 1086-1088.

40 Kohlberg: op. cit. (Anm. 37), S. 148.41 Ni`matalläh al-azä'iri: al-Anwär an-ndmäniya JF mdrifat an-nara al-insäniya. Tabriz

1382/1963. Bd. I, S. 97,277, Bd. II, S. 357ff.; dazu Drg, Bd. II, S. 446.42 Abü 1-Hasan d-Sarif al- ( Ämili: Miret al-anwär wa-mieät al-asrär. Lith. Teheran 1303/1885-

86, S. 25-36; s.a. ibid., S. 69, 86; pe, Bd. XX, S. 264f.; zum Autor s. AS, Bd. VII, S. 342f. (mitausf. Werkverzeichnis), Elr, Bd. I, S. 931f.; Lawson: op. cit. (Anm. 7), S. 195-201.

EINIGE SCHIITISCHE STIMMEN ZUR FRAGE DER KORANFÄLSCHUNG

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zurückweist. Auch der (diesmal gar nicht diskrete) Verweis auf die taqiyafindet sich hier. Am bemerkenswertesten ist freilich die Darstellung derRolle Gottes, der mit den Fälschern des Korans Katz und Maus spielte. Daer im Voraus um deren schändliches Tun wußte, beließ er es nämlich nichtbei den Stellen, an denen direkt auf die Schia Bezug genommen wurde (unddie weggefallen sind), sondern streute allerlei versteckte Hinweise ein, diemit Hilfe des toewil zu entschlüsseln den schiitischen Exegeten vorbehaltenblieb.43 Nüri kannte dieses Buch im Übrigen, besaß sogar eine eigenhändigeAbschrift davon, und auch wenn er es nur an einer Stelle direkt zitiert, darfman annehmen, daß es eine äußerst wichtige Quelle für ihn darstellte.

Auf eine letzte Stelle ist hinzuweisen, auf die vielleicht überraschendste.Es geht um das Buch Tadkirat al-aimma, das oft fälschlich MuharrunadBäqir al-Maglisi zugeschrieben wird, in Wirklichkeit aber von MubammadBäqir al-Lähigi stammt und 1674/75 verfaßt wurde. 45 Darin findet sich zu-nächst einmal der bereits hinlänglich bekannte Vorwurf, (Utmän habe beiseiner Redaktion alle Hinweise auf die Vorzüge der äl al-bait und dieSchlechtigkeiten der Quraig unter den Tisch fallen lassen. Das eigentlichÜberraschende an diesem Werk ist aber, daß darin zwei komplette Suren zi-tiert werden, die angeblich aus dem Koran weggelassen wurden, nämlicheine sog. „Zweilichtersure" (sürat an-nürain) sowie eine Sure, die Lähigisürat al-wulät nennt.46

Beide angebliche Suren sind für sich genommen nicht neu: Bei der zuletztgenannten Sure handelt es sich um jene sürat al-wiläya, die W. St. ClairTisdall 1913 in der Zeitschrift Moslem World mitsamt Photo vorgestellthatte.47 Allerdings wurde dort ohne genauere Angabe nur auf eine „ungefähr200 oder 300 Jahre alte" Koranhandschrift verwiesen, die im Juni 1912 imindischen Bankipur entdeckt worden sei. Die viel längere Zweilichtersureschließlich ist schon seit den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts in der westli-chen Literatur bekannt und wurde bereits von Theodor Nöldeke eingehendbehandelt (und in das Reich der Fabel verwiesen). 48 Dabei berief man sichals Quelle bislang stets und ausschließlich auf das persischsprachige Werk

43 al-cAmili: op. cit. (Anm. 42), S. 32,33.44 4-Tabrisi: op. cit. (Anm. 11), S. 31; Modarresi Tabätabei u. Reiä Ostädi: Äenä'i bä eand nosab-

e hei. Qom 1335ä/1956, S. 149 und De, Bd. XX, S. 264f.45 De, Bd. IV, S. 26; zum Autor s. Aig, Bd. IX, S. 185; Mearnmad Sarif Räzi: Gankine-ye

dänegmandän. Qom 1974-76. Bd. VII, S. 12; Mirzä Mokuunmad 'All Modarres: Raihänat al-adab (.). Tabriz 1967-70. Bd. V, S. 123f., Muktanunad Bäqir Uwänsäri: Rauclät al-gannät fi -

ahwäl alJulamä'wa-s-sädät. Lith. Teheran 1367/1947, S. 120 (paenult.).46 Muhannnad Bäqir al-Lähigi: Tadkirat al-airnma. Lith. Teheran 1260/1844, S. 20f.47 hie Moslem World. Bd. 3. 1913, S. 227-241 (Photo vor 225).48 M. Garcin de Tassy: Chapitre inconnu du Coran. In: Journal Asiatique. 3eme serie. Bd. 13.

1842, S. 431-439; dazu Mirzä Alexandre Kazem-Beg: Observations (.) sur le „Chapitre incon-nu du Coran". In: Journal Asiatique. diene s6rie. Bd. 2. 1843, S. 373-429; n. Nöldeke u. F.Schwally: Geschichte des Qoräns. Leipzig 2 1919. Bd. II, S. 100-112.

456 RAINER BRUNNER

Dabastän-e mazä heb, das allem Anschein nach nicht-schiitischer Herkunftist und die religiöse Situation auf dem indischen Subkontinent um die Mittedes 17. Jahrhunderts beschreibt.'"

- Mit dem Buch Lähigis liegt dagegen nun erstmals ein genuin schiitischesWerk vor, in dem zustimmend und in polemischer Absicht auf diese Surenverwiesen wird. Selbst wenn sich Lähigi auf das eben genannte Dabestän-emazäheb verlassen haben sollte (was chronologisch durchaus möglich ist),darf man dennoch den Schluß ziehen, daß zumindest Teile der Schia sichdiese Suren zu eigen gemacht hatten. Pikanterweise zitiert Nüri dieses Buchübrigens nicht, obwohl er es kannte und sogar die Namensverwechslung mitMaglisi aufklären half. 5° Als er die Zweilichtersure (und nur sie) in seinemeigenen Buch wiedergab, übernahm er sie aus dem Dabestän und fügte denHinweis an, er finde keinen (weiteren) Beleg für sie in einem schiitischenBuch, außer einer Passage bei Ibn Sahrägüb, der schreibe, die gesamte süratal-wiläya sei weggefallen; vielleicht, so Nüri etwas kryptisch, sei damit die-se Zweilichtersure gemeint. 51 Auch Lähigi scheint also nicht der erste gewe-sen zu sein, der die sürat al-wilöya vermißte. Der von Nüri genannte IbnSahrägüb, ein hochangesehener Gelehrter des 12. Jahrhunderts, 52 war einSchüler Al3mad b. 'Ali at-Tabrisis, dessen Hauptwerk al-11.1tike eine außer-ordentlich wichtige Quelle für Nüri, Suff al-`,Ämili und andere darstellt. 53

Womit sich der Kreis schließt.Wohlgemerkt: die hier vorgestellten Stimmen zur Koranfälschung bilden,

die Abweichung, nicht die Norm. Die große Mehrheit wenigstens der Zwöl-ferschia war sich in der Tat seit den Tagen ihrer Kirchenväter einig, den Ko-ran in seiner vorliegenden Form als vollständig zu akzeptieren. Daran hatsich auch und gerade im 20. Jahrhundert nichts geändert, allenfalls noch beieinem zur Schia konvertierten früheren Sunniten finden sich - wohl mit demEifer des Bekehrten geschriebene - Zeilen, die das Vorhandensein von talyrifinsinuieren. 54 Von der, wie zu sehen war, bedeutenden Strömung, die sichdiesem Konsens verschloß und sich expressis verbis gegen ihre eigenen

49 E/ 2, Bd. II, S. 74 und Elr, Bd. VI,S. 532-534; ferner De, Bd. VIII, S. 48f.; vgl. J. Eliash: op. cit.(Anm. 6), S. 19f.

50 De, Bd. IV, S. 26.51 at.-Tabrisi: op. cit. (Anm. 11), S. 179f.; vgl. Amir-Moezzi: op. cit. (Anm. 6), S. 225f.52 El' , Bd. III, S. 935; Elr, Bd. VIII, S. 53f.53 In Tabrisis Buch finden sich zahllose, in den wenigsten Fällen identifizierte Überlieferungen, in

denen tabrif nicht nur nahegelegt, sondern in offensiver Weise behauptet wird; die am häufig-sten zitierte Stelle entstammt einer Diskussion <Alls mit einem Ketzer, in deren Verlauf der Imamdarauf hinweist, daß in Vers 4/3 von den Heuchlern (al-munäfiqün) schlichtweg ein Drittel desursprünglichen Korans unterschlagen worden sei; Alunad b. 'Ah i at-Tabrisi: a1-ettike (alä ah!al-lag ä k . Lith. Nagaf 1350/1931, S. 125-39, bes. 134f.; zum Autor, dessen genaue Lebensdatenunklar sind, vgl. El', Bd. X, S. 39f.; pe, Bd. I, S. 281f.

54 Sälil) al-Wardäni: as-Saif wa-s-siyäsa. Isläm as-sunna am islärn a.f-gfa. Kairo 1996, S. 153,165f.

EINIGE SCHIITISCHE STIMMEN ZUR FRAGE DER KORANFÄLSCHUNCi

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Glaubensbrüder stellte, will man heute nichts mehr wissen. Besonders harttrifft der Bannstrahl der Kritik naturgemäß Nüris Fafl al-bitäb, danebenkommt es zu mitunter geradezu staunenswerten Konstellationen, etwa wennder Herausgeber von Ni`matalläh al-öazä'iris oben zitiertem Werk al-Anwäran-rnimäniya zwar die inkriminierten Passagen abdruckt, sich aber in einet-überlangen Fußnote umgehend und heftig von ihnen distanziert. 55 Es ent-behrt nicht einer gewissen Ironie, daß die sunnitische Polemik dieses Themaerst zu einem Zeitpunkt entdeckte, da auf schiitischer Seite bereits derrechte Gegner fehlte. Aber die Verlockung, die die Grundsätzlichkeit desThemas mit sich brachte, war wohl zu groß - und der Wille zur Differenzie-rung war noch nirgends und zu keinem Zeitpunkt ein Kennzeichen religiöserPolemik.

55 a1-öazä'iri: op. cit. (Anm. 41), Bd. 1I, S. 357ff.