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Wolfgang Hagen »Stürmische Plötzlichkeiten« Zur medialen Genealogie des elektrischen Funkens Fragen wir vorab (mit Bruno Latour): ›Haben auch elektrische Funken eine Geschichte?‹ 1 Gab es Funkenblitze immer schon? So viel ist sicher, ohne sie wäre das Wissenschaftsgebiet der Elektrizität nicht eröffnet und am Ende ihre bis heute gültige Theorie nicht etabliert worden. Präziser formuliert (und um eine Drehung erweitert) lautet also die Frage: Gab es elektrische Funken, schon bevor Funken Gegenstand einer sich erst (an ihnen und um sie herum) formierenden Wissenschaft der Elektrizität wurden? Sind Funken und Blitze ›natürlich‹ immer schon dagewesen und brauchten nur ›entdeckt‹ zu werden; oder sind Funken und Blitze eine ›Erfindung‹ der Wissenschaft ihrer Erforschung; oder gilt ein Drittes: nämlich dass Funken weder entdeckt noch erfunden wurden, sondern als ein reeller und zugleich medialer Kontingenz-Effekt des Elektrischen zu verstehen sind, der in keiner ihrer Entdeckungen und Erfindungen restlos aufgeht? In dem sich also das Mediale der Elektrizität (und ihrer Medien) als solches überträgt? Dem Versuch der Beantwortung dieser Fragen sind die folgenden Überlegungen gewidmet. Gilberts »Elektrika« Unbelebte Materie oder von Menschen gemacht? Bruno Latour hat vorgeschlagen, im Denken solcher Relationen besser nicht mit Dichotomien zu operieren. Zu eng ist das Raster von Erfindung ›oder‹ Entdeckung, Subjekt ›oder‹ Objekt, Außenwelt/Geist, Materie/Theorie etc., wenn wir es mit einem Denken in epistemologischen Relationen zu tun haben. Ein solches Denken bildet keine Dichotomien, sondern läuft darauf hinaus, immer neu jenen »blinden Fleck« zu markieren, »in dem Gesellschaft und Materie ihre Eigenschaften austauschen«. 2 Gerade deshalb ist ein solches Denken stets ans Material gebunden, an den Diskurs seines Gegenstands, mit all seinen kontingenten, labyrinthischen und verstörenden Details. Im Fall des Funkens nämlich ist es vermutlich dieser blinde Fleck zwischen Reflexion und Materialität, der ihn immer schon verdeckt hatte. Wenn die bei Plinius in der Historia Naturalis beschriebenen syrischen Frauen ihre Haare hochsteckten und sich dabei eines Stabes bedienten, den sie »Harpax« 3 nannten, hat es nicht dabei auch hin und wieder ein wenig gefunkt? Eine Spange aus Bernstein, stark gerieben – auch aus ihr hätten kleine Fünkchen schlagen können. Niemand hat es aufgeschrieben. Der Name, den Plinius der Spange gab, leitet sich aus dem griechischen harpazo (άρπαζώ) ab, zu deutsch »etwas wegtragen, an sich ziehen«. In der antiken und mittelalterlichen Literatur, die seit vier Jahrhunderten wieder und wieder durchsiebt und durchleuchtet wird nach jeder noch so abgelegenen Beschreibung etwaiger elektrischer Wirkungen, findet man nichts darüber, dass etwa das thaumazomena Elektron, also der vielbewunderte Bernstein aus Platons Timaios 4 1 In Anlehnung an Latours Frage »Les objets ont-ils une histoire?« in: Latour, Bruno: »Haben auch Objekte eine Geschichte? Ein Zusammentreffen von Pasteur und Whitehead in einem Milchsäurebad«, in: Ders.: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin: Akademie 1996, S. 87. 2 Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt/Main 2000, S. 373. 3 Plinius: Historia Naturalis, Ditzingen 2005, 35.50. 4 Platon: »Timaios«, in: Platon: Sämtliche Werke. Reinbek bei Hamburg 1994, 80c.

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Wolfgang Hagen »Stürmische Plötzlichkeiten« Zur medialen Genealogie des elektrischen Funkens

Fragen wir vorab (mit Bruno Latour): ›Haben auch elektrische Funken eine Geschichte?‹1 Gab es Funkenblitze immer schon? So viel ist sicher, ohne sie wäre das Wissenschaftsgebiet der Elektrizität nicht eröffnet und am Ende ihre bis heute gültige Theorie nicht etabliert worden. Präziser formuliert (und um eine Drehung erweitert) lautet also die Frage: Gab es elektrische Funken, schon bevor Funken Gegenstand einer sich erst (an ihnen und um sie herum) formierenden Wissenschaft der Elektrizität wurden? Sind Funken und Blitze ›natürlich‹ immer schon dagewesen und brauchten nur ›entdeckt‹ zu werden; oder sind Funken und Blitze eine ›Erfindung‹ der Wissenschaft ihrer Erforschung; oder gilt ein Drittes: nämlich dass Funken weder entdeckt noch erfunden wurden, sondern als ein reeller und zugleich medialer Kontingenz-Effekt des Elektrischen zu verstehen sind, der in keiner ihrer Entdeckungen und Erfindungen restlos aufgeht? In dem sich also das Mediale der Elektrizität (und ihrer Medien) als solches überträgt? Dem Versuch der Beantwortung dieser Fragen sind die folgenden Überlegungen gewidmet.

Gilberts »Elektrika« Unbelebte Materie oder von Menschen gemacht? Bruno Latour hat vorgeschlagen, im Denken solcher Relationen besser nicht mit Dichotomien zu operieren. Zu eng ist das Raster von Erfindung ›oder‹ Entdeckung, Subjekt ›oder‹ Objekt, Außenwelt/Geist, Materie/Theorie etc., wenn wir es mit einem Denken in epistemologischen Relationen zu tun haben. Ein solches Denken bildet keine Dichotomien, sondern läuft darauf hinaus, immer neu jenen »blinden Fleck« zu markieren, »in dem Gesellschaft und Materie ihre Eigenschaften austauschen«.2 Gerade deshalb ist ein solches Denken stets ans Material gebunden, an den Diskurs seines Gegenstands, mit all seinen kontingenten, labyrinthischen und verstörenden Details. Im Fall des Funkens nämlich ist es vermutlich dieser blinde Fleck zwischen Reflexion und Materialität, der ihn immer schon verdeckt hatte. Wenn die bei Plinius in der Historia Naturalis beschriebenen syrischen Frauen ihre Haare hochsteckten und sich dabei eines Stabes bedienten, den sie »Harpax«3 nannten, hat es nicht dabei auch hin und wieder ein wenig gefunkt? Eine Spange aus Bernstein, stark gerieben – auch aus ihr hätten kleine Fünkchen schlagen können. Niemand hat es aufgeschrieben. Der Name, den Plinius der Spange gab, leitet sich aus dem griechischen harpazo (άρπαζώ) ab, zu deutsch »etwas wegtragen, an sich ziehen«. In der antiken und mittelalterlichen Literatur, die seit vier Jahrhunderten wieder und wieder durchsiebt und durchleuchtet wird nach jeder noch so abgelegenen Beschreibung etwaiger elektrischer Wirkungen, findet man nichts darüber, dass etwa das thaumazomena Elektron, also der vielbewunderte Bernstein aus Platons Timaios4

1 In Anlehnung an Latours Frage »Les objets ont-ils une histoire?« in: Latour, Bruno: »Haben auch Objekte eine

Geschichte? Ein Zusammentreffen von Pasteur und Whitehead in einem Milchsäurebad«, in: Ders.: Der Berliner

Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin: Akademie 1996, S. 87. 2 Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt/Main

2000, S. 373. 3 Plinius: Historia Naturalis, Ditzingen 2005, 35.50. 4 Platon: »Timaios«, in: Platon: Sämtliche Werke. Reinbek bei Hamburg 1994, 80c.

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oder der ligurische Edelstein aus Theophrasts De Lapidibus je irgend etwas anderes getan hätten als kleine Stoffteilchen oder eben Haare anzuziehen. Der Gewitterblitz, in der Antike bekanntlich eine Äußerung der Chefgötter, bei Descartes noch ein feuerspeiender »Wirbel«5 aus zusammenstürzenden Wolken, bleibt bis ins 18. Jahrhundert hinein ein unelektrisches Naturphänomen.6 Im frühen 17. Jahrhundert, als mit Tycho Brahe, Johannes Kepler und Galileo Galilei (um nur die bekanntesten zu nennen) der Diskurs neuzeitlicher Naturwissenschaft, der auf reproduzierbare Experimente und deren mathematische Anschreibung gründet, allererste Konturen annimmt, ist die Klasse von Wirkungen, die später »Elektrizität« genannt werden, noch völlig unbekannt. Elektrische Wirkungen kommen, wie angedeutet, in der (unbehandelten) Natur nur unscheinbar vor und sind auf die Reibung seltener Edelsteinarten beschränkt. Es musste also zunächst einmal jemand diese auf der Welt verstreuten Gegenstände und Artefakte sammeln und klassifizieren, um an ihnen etwas Gemeinsames zu finden. Das tat William Gilbert, Leibarzt und Hofphysiker von Elisabeth II., in seinem 1600 erschienenen Buch De Magnete. Auf Latein geschrieben (damit es die gebildete Welt lesen konnte) listet er alle seit dem Altertum bekannten Gegenstände auf, die gerieben werden, anziehende Wirkung auf ‚Leichtigkeiten’ ausüben. Nur am Rande sei bemerkt, wie gar nicht hoch genug auch hier die Rolle des Buchdrucks für die Entstehung eines neuen, neuzeitlichen Wissenschaftsgebietes einzuschätzen ist. Wie anders als über den bereits anderthalb Jahrhunderte entwickelten Buchdruck sollten am Hof von Elisabeth II. faktisch alle wichtigen Werke der Griechen, Araber, Römer und der Kirchenväter verfügbar sein, in denen diese verstreuten Funde beschrieben waren? Gilbert geht alle »Reprints« der Antike durch, besorgt die beschriebenen Materialien und kann jetzt auflisten: »Neben Bernstein sind es Diamanten, Saphire, Rubine, Opale, Amethyste, Berylle, Kristalle, Glas, bestimmte Rundhölzer, Schwefel, Pestazienharz und Siegellack«.7 Mit weichem Stoff gerieben, entsteht bei allen eine Wirkung namens attractio electrica oder electricorum attractio. Gilbert prägt das griechische Wort für Bernstein (elektron) als Neologismus; von Funken oder Fünkchen schreibt er nichts. Niels Heathcote hat wohl Recht darin, wenn er sogar darauf besteht, dass auch von Elektrizität in diesem Gründungstext der Neuzeit nicht die Rede ist.8 Sechs Jahre vor Galileis erster Veröffentlichung, Jahre vor Bacons und Keplers ersten Werken repräsentiert Gilberts De Magnete, mit den Worten Edgar Zilsels, »das erste von einem akademisch geschulten Gelehrten gedruckte Buch über einen Gegenstand der Naturwissenschaft, das fast vollständig auf Beobachtung und Experiment gegründet ist«.9 Insofern ist De Magnete auch methodisch ein Pionierwerk. Gegründet auf über 200 Experimente zu Wirkungen des Magneten will Gilbert beweisen, dass die Erde selbst ein Magnet ist. Er baut Erdmodelle (terrellae), mit denen er orbis virtutes demonstriert; heute würden wir diese als ›Feldwirkungen‹ des Magnetismus bezeichnen.10 Er experimentiert mit

5 Descartes, Rene: Prinzipien der Philosophie, Berlin 1870, S. 215. 6 Vgl. Meya, Jörg und Heinz Otto Sibum: Das fünfte Element. Wirkungen und Deutungen der Elektrizität,

Reinbek 1987, S. 15ff. 7 Gilbert, William: De Magnete, London 1600, S. 59. 8 Heathcote, Niels H. De V.: »The early meaning of electricity«, Annals of sience 231(1967), S. 261-275. 9 Zilsel, Edgar: »Die Ursprünge der wissenschaftlichen Methode William Gilberts« <1941>, in: Ders.: Die

sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft, Frankfurt 1976, S.98-126 hier: S. 98. 10 Vgl. das »Biographical Memoir« von P. Fleury Mottelay in: Gilbert, William: William Gilbert of Colchester

physician of London. On the loadstone and magnetic bodies, New York 1893.

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der Verstärkung des Magneten durch Eisenbeschlag, was Galilei sofort ausprobiert und bestätigt. »Wenn wir De Magnete lesen«, schreibt Zilsel, »dürfen wir nicht vergessen, dass zwölf Jahre vor seiner Veröffentlichung englische Schiffe und englische Eisenkanonen die spanische Armada vernichteten – bis dahin die mächtigste Flotte der Welt. England, das Land der Eisenminen und fortgeschrittenen Navigation, brachte das erste gelehrte Buch über Experimental-Physik hervor«.11 Es behandelte den Kompass der Seeleute, den Magneten und das Eisen ihrer Kanonen. Am Ende soll Königin Elisabeth II. Gilbert als einzigem ein Vermögen hinterlassen haben; Gilbert selbst aber fand kurz darauf in der Londoner Pest von 1603 den Tod. Die frühe neuzeitliche Experimentationsphysik wird von Gilbert wesentlich mitgeprägt, selbst wenn, wie Galilei beklagt, die Mathematik fehlt. Keine Zahl und keine Gleichung in Gilberts Buch. Es ist das Ergebnis von zwei Jahrzehnten Arbeit, enthält einige sehr sorgfältig gestochene Abbildungen und fügt die prosaische Beschreibung von einigen wenigen elektrischen Experimenten hinzu. Vom Rang und Volumen der Tycho Brahe’schen Daten und ihrer mathematischen Verarbeitung durch Keplers drei Gesetze (was etwa zeitgleich mit Gilbert geschieht), ist De Magnete weit entfernt. Man kann daran sehen, wie mühsam dieser allererste Beginn der Erforschung des Elektrischen ist. Gilbert, klug, klar und nüchtern im kommenden Aufklärungsstil schreibend, meidet jeden mystizistischen Schnickschnack, der gerade im Feld des Magnetischen – von den Vorsokratikern über Peregrinus bis hin zu Paracelsus12 – gang und gäbe war. Er verfolgt zwar einen klaren Kurs und stellt dennoch die Weichen falsch. Ihm verdanken wir ein Schisma, das die Neuzeit gut zwei Jahrhunderte lang prägen wird, nämlich die Trennung von Magnetismus und Elektrizität. Gilbert beschreibt die Wirkungen der electrica überhaupt nur, um sie von den magnetischen abzugrenzen. Bei allem bleibt er Aristoteliker und stellt die ›Was‹-Frage: »Die elektrischen Körper haben materiale und korporale Effluvia«.13 »Wenn man sie nicht reibt, dann emittieren die meisten Elektrika auch nicht ihre besonderen und natürlichen Dünste und Ausflüsse«.14 Wenn sie aber gerieben werden, dann tritt dieser korpuskular gedachte Ausfluss aus, ergreift die leichten Dinge in der unmittelbaren Umgebung und zieht sie wieder an sich. Mit dieser Variation der aristotelischen Elementenlehre wird die Elektrizitätsforschung noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die ›Was‹-Frage nach der Elektrizität beantworten.

Körperfunken Was den Funken betrifft, so hat ihn in der alten Welt niemand gesehen. Eingang in unsere Alltagswelt und den wissenschaftlichen Diskurs wird er finden als Aktant historischer Kontingenzen, um sich, einmal in der Welt, fortan als Effekt fest und unauslöschlich zu etablieren. Seine Geburtsgeschichte geht so: Um die Mechanismen der Erdanziehung spekulativ zu erkunden (weit hinter Gilbert zurückfallend, aber von ihm geprägt), baut Otto von Guericke, Bürgermeister in Magdeburg und physikalischer Experimentator, in den 1660er Jahren wieder einmal ein Modell der Erde. Es ist eine fußballgroße Schwefelkugel, die Guericke an einem Stock aufgespießt um ihre Achse drehen und im Zimmer herumtragen kann. »Wird sie nämlich einige Male mit der Hand gestrichen oder gerieben, so zieht sie nicht

11 Zilsel: »Ursprünge«, S. 126. 12 Für einen knappen Überlick: Mattis , Daniel C: The Theory Of Magnetism Made Simple, New Jersey 2006. 13 »Materialia effluvia & corporea, habent electrica corpora.« In: Gilbert: De Magnete, S. 66. 14 »Nam sine attritione, proprium & genuinum non emittunt spiritum, & effluvium, electrica plurima« Ebd., S.

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nur alle leichten Körper an, sondern stößt sie auch bisweilen nach Belieben ab und zieht sie erneut an. […] Ob aus dem gleichen Grunde der Mond der Erde ständig dieselbe Seite zukehrt und zweifellos auch im Kraftfeld der Erde in solcher Art von ihr abgestoßen und darin festgehalten wird […]«.15 Außerdem knackt es in der Kugel, schreibt Guericke, wenn man sie gerieben hat. Zur Begründung weist er, gelernter Aristoteliker wie alle Naturforscher seiner Zeit, ihr eine weitere virtus (Eigenschaft) zu: die virtus soni, auf deutsch Hallkraft. Eindrucksvoller ist noch, was Guerickes Kugel im Dunklen zeigt: »Bringt man sie in ein dunkles Zimmer und reibt sie, zumal des Nachts, mit trockener Hand, so leuchtet sie genau so wie Zucker beim Zerstoßen.«16 1672, als die Guerickeschen Experimenta erscheinen, registriert ihr Autor zwar schon die Erscheinung des Zucker-Leuchtens (heute ›Triboluminiszens‹ genannt), sieht aber nicht, dass die Anziehung von Federchen an seine Schwefelkugel eigentlich in die Klasse der Elektrika gehören, wie sie Gilbert sieben Jahrzehnte vorher schon beschrieben hatte; ein weiteres Beispiel für die Wirrnisse der frühen Elektrizitätsforschung. »Gilbert vertritt in seinem Werke über den Magneten den Standpunkt, die elektrische Anziehung komme durch Erguss einer Feuchte zustande. Feuchtes strebe zu Feuchtem und daher rühre die Anziehung«.17 Guerickes Schwefelkugel ist eben Guerickes Schwefelkugel und möglicherweise gar keine elektrische Erscheinung; sie funktionierte nur »trocken« gerieben. Die Kugel »knistert«, sie leuchtet, aber Guericke sieht die Funken nicht. Anders Gottfried Willhelm Leibniz, dem 1671 Guericke die Schwefelkugel plus Pflaumfederchen in den Boyneburger Hof nach Mainz schickt. Der 25 Jahre junge Leibniz antwortet ihm sogleich, dass unter seinen Händen die Kugel Funken gesprüht habe. Guericke repliziert ganz verwirrt: »Nuhn weiß nicht, ob etwa ein mißverstand hierbey, weil mihr von Wärme bei der Kugel nichts bewußt, die funcken aber müsten etwa von dem leuchten zu verstehen sein«.18 Da sind sie, die ersten von Menschen gemachten elektrischen Funken in der Luft,19 erörtert in Briefform, dem über Jahrhunderte wichtigsten Austauschmedium der Forschergemeinschaft Europas. Faktisch ist der elektrische Funke im ganzen ersten Jahrhundert der Beschäftigung mit elektrischen Wirkungen inexistent. Um ein »epistemisches Ding«20 zu werden, musste der Funke zunächst im tatsächlichen Sinn durch den menschlichen Körper gehen. Und es reichte noch nicht, dass ein weiterer ›erster‹ Funke unversehens heftig in den Finger von Francis Hauksbee fuhr (»vigorously pushed upon it by the approaching hand«21), und Hauksbee, Assistent des an elektrischen Fragen völlig desinteressierten Isaac Newton, im April 1707

15 Guericke, Otto von: Neue <sogenannte> Versuche über den luftleeren Raum < 1672>, Düsseldorf 1968, S.

168. 16 Guericke: Versuche, S. 169. 17 Ebd. 153. 18 Zit. nach: Prinz, Hans: »200 Jahre Experimentierkunst mit Reibungselektrizität«, in: Prinz, Hans: Feuer, Blitz

und Funke, München 1965, S. 37-64, hier: S. 42. 19 In den »Obs. sur la lumifere du baromètre« von 1675 beschreibt der französische Abt Jean Picard ein

Leuchten eines luftteilentleerten geriebenen Barometerglases. Diese Sorte Entladungen führen im 19.

Jahrhundert zur Entdeckung des Elektron, aber sind hier nicht Thema. 20 Vgl. Rheinberger, Hans-Jörg: »Experimentalsysteme, Epistemische Dinge, Experimentalkulturen«, in:

Deutsche Zeitschrift für Philosophie 1994(42), S. 405-418, hier: S. 408f. 21 Hauksbee, Francis: »An Experiment confirming the Production of Light«, in: Philosophical Transactions of

the Royal Society of London 1703 to 1712, London 1809, S. 355-356, hier: S. 355.

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dies in einem nunmehr immerhin schon ‚öffentlichen’ Brief mitteilte. Hauksbee war immerhin Kurator der Royal Society, hatte sich auf eigene Faust dieses dubiosen neuen Wissenschaftsfeldes angenommen und sogar auf eigene Kosten professionelle Elektrisiermaschinen herstellen lassen, große drehbare Glaskugeln, in deren Inneren bei jeder Drehung Wollfäden in allen Farben leuchteten; ganz und gar einmalige Dinge in der damaligen Welt. Nach Hauksbees Tod 1713 gerät alles das aus dem Blickfeld und keiner der hohen Herrn der Royal Society, auch Newton22 nicht, wird sich einstweilen das Thema »Electricity« wieder vornehmen. Erst zwanzig Jahre später kommt der Funke vom Rande her ins Zentrum zurück. Ein Textilfärber hatte festgestellt, dass sich Ladungen einer Elektrisiermaschine über nassfeuchte Seidenfäden bis zu 650 Fuß weit leiten lassen. Das ist aufregend genug und darf deshalb 1729 unter den Augen des Royal Society-Pfarrers Granville Wheler vom besagtem Färber Stephen Gray bewiesen und beschrieben werden. Die Hauksbeeschen Elektrisiermaschinen rückt die Royal Society allerdings dafür nicht heraus; Handwerkerhände sind für sie nicht standesgemäß. Über das Hantieren mit Stoffen (Seide und Wolle) kommt jetzt nicht bloß ein Finger, sondern der ganze menschliche Körper in den Blick. Gezeigt werden soll: die electrical virtue ist transportierbar, oder besser: »kommunizierbar«. Aber worin besteht diese virtue? »Ausflüsse«, hatte Gilbert gesagt, Fluide, die durchs Reiben austreten und dann wieder ›zurückwollen‹. Kontiguitive Strategien liegen nahe: Wenn Textilien die elektrische Attraktion transportieren, kann der Körper das auch? Ist er ebenfalls Träger von Effluvia? Was auch immer die Assoziation gewesen sein mag, jetzt müssen kleine Jungs herhalten für das in den Augen so vieler Zeitgenossen bis dato skandalöseste Experiment der ganzen Elektrizitätsforschung. September 1734 hängen Gray und Wheler den korpulenten Laufburschen des Pastors von der Zimmerdecke herab in die Horizontale auf: »Silk Lines strong enough to bear the weight of his footboy, a good stout Lad, then having […] the tube being applied to his feet or hands, and the finger of any one that flood by held near his Hands or Face, he found himself pricked or burnt, as it were by a Spark of Fire«.23 Zum ersten – und nicht zum letzten – Mal überborden in der Elektrizitätsgeschichte die Effekte das Geschehen: Kleine Jungs, aus deren Körper Feuer strömt! Der zugehörige Bericht in den Transactions der Royal Society öffnet alle Schleusen; Elektrizität als Thema, als Ereignis, als Effekt, als Schaustellertrick, als Kirmesattraktion, als ›Wissenschaft‹ hat Konjunktur.

Elektropoetik Der erste, der es wissenschaftlich und diskursiv zugleich mit dieser Melange aus Sensation und Überforderung aufnimmt, ist der 28 Jahre junge Professor der Physik zu Wittenberg Georg Matthias Bose. Noch vor Jean Paul, E.T.A. Hoffmann, Goethe und Heine fasst er die Sache in Reimform ab: »Der edle Brite Gray hält mit Versuchen an / Führt diese Eigenschaft an einer langen Bahn / Aus seinem Rohre fort, und ohne zu verweilen, / Sieht er dieselbige achthundert Schritte eilen. / Kein einziger Körper ist, der nicht elektrisch sey. / Holz, Steine, Blätter, Sand, ein Huhn, Stroh, Wasser, Bley, / So er an jenen Strick vielfältig angebunden, / hat, wenn er den

22 In den 13 Jahren seiner Präsidentschaft der Royal Society (1703 bis 1727) macht Newton ein einziges,

mißlungenes Experiment zur Elektrizitätsforschung; vgl. Cohen, I. Bernard: Franklin and Newton, Cambridge

1966, S. 15f. 23 Gray, Stephen: »Experiments and Observations upon the Light«, in: Phil. Trans. 1735-1736(39), S, 16-24,

hier: S. 18f.

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berührt, so fort die Kraft empfunden. / Gray wagte es zuerst, und nahm ein mäßig Kind / Berührt es durch sein Rohr, dass ward hierdurch geschwind / Auch electrificirt, zog tausend Kleinigkeiten / Erst an, drauf stieß es weg, zog nochmals an von weiten. / Verwegener Britte Gray, kennst Du genug die Kraft / von der unglaublichen, und neuen Eigenschaft? / Und darffst Du Dich also, Verwegener, unterwinden, / die Electricität mit Menschen zu verbinden«?24 »Die Elektrizitätslehre«, schreibt Rudolf Stichweh in seiner eingehenden Studie zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen am Beispiel der Elektrizitätsphysik des 18. Jahrhunderts, »ist also die Wissenschaft der Peripherien und der Amateure, und in gewisser Hinsicht fallen diese beiden Gesichtspunkte zusammen, da ihre vorgängige Erfahrung mit Wissenschaft viele der Professoren der Peripherien nur als ›Amateure‹ qualifiziert«.25 Physikprofessor Bose ist hier, Mitte des 18. Jahrhunderts, in mehrfacher Hinsicht, ein Katalysator. Mit ihm rücken an deutschen Fürstenhöfen die Funken und die »Funkenzieher« ins Zentrum und damit vor allem solche Figuren wie der Physikus Bose selbst, welcher zu diesem Zweck einige geniale technische Handhabungen erfindet. Er kopiert und repliziert die starken Elektrisiermaschinen Hauksbees und kombiniert sie noch mit den Leitungs-Konduktoren Grays (und dessen französischen Kollegen Charles François de Cisternay Du Fay), so dass seine Funken eine gefährliche Stärke annehmen. Bose, so beschreibt es Friedrich Saytorph um 1800, »schmelzte Pulver in einem eisernen Löffel und zündete die aufsteigenden Dämpfe und mit diesen zugleich das Pulver selbst durch einen electrischen Funken an. Durch einen Wasserstrahl leitete er die Electricität von einem isolirten Menschen zu einem andern ebenfalls isolirten in einer Entfernung von 6 Schritten«.26Boses bösester Funken-Trick ist die sogenannte Beatifikation: »So höre, wie der Mensch vom Kopf zum Scheitel glüht. / Du brauchst weiter nichts als einen grössern Kasten / Rund um voll Pech […] / In diesen tritt der Mensch, an dem die seltne Krafft / Der Kugel einzger Schwung im Augenblicke schafft / Da steht er unberührt […] / Im Anfang zeiget sich ein mattes, blasses Licht / Wie, wenn am Horizont der Mond durch Wolken bricht / […] Heiß ich die Kugel denn noch eine Weile drehn / Dem Menschen unberührt, wird sich der Schein erhöhn / Bis an das Herz und Kopf. Zuletzt wird er gebildet / Als wär er von Metall, durch Künstlers Hand vergüldet«.27 Er stellt ganze Tische voller Schüsseln und Teller mit Obst und Gebäck auf schwarzen Pechgrund auf, lädt alles mit hohen Ladungen aus seiner Elektrisiermaschine auf und beschreibt mit lyrischem Sadismus die Schmerzensschreie, wenn einer der Gäste die Kostbarkeiten berührt. Das kleine ›beatifizierende‹ Leuchten, dass in der Dunkelheit Menschen, vor allem um den Kopf herum, umgibt, die hochgeladen auf seinem schwarzem Pech stehen, hat John Heilbron zutreffend mit dem Elmsfeuer verglichen, also der Korona-Entladung an Schiffsmasten.28 Elmsfeuer sind auch Gasentladungen wie Funken und strahlen in den Spektralfarben der Gase Sauerstoff und Stickstoff überwiegend blauviolett.

24 Bose, Georg Mathias: Die Electricität nach ihrer Entdeckung und Fortgang mit poetischer Ader, Band 1,

Wittenberg 1744, S. V. 25 Stichweh, Rudolf: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in

Deutschland 1740 - 1890, Frankfurt/Main 1984, S. 255. 26 Saxtorph, Friedrich: Darstellung der gesammten auf Erfahrung und Versuche gegründeten Electricitätslehre,

Kopenhagen 1803, S. 458. 27 Bose: Electricität, XXXIII. 28 Heilbron, John L.: Electricity in the 17th and 18th Centuries. Berkeley 1979, S. 267.

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Wie Bose den »feurigen Heiligenschein«29 um den Kopf seiner Probanden ganz genau zustande brachte, hat der Wittenberger Professor lange durch Abgabe von Falsch-Rezepten für sich behalten, um sich einen Vorteil gegenüber den englischen, niederländischen und französischen Kollegen in der nunmehr expandierenden Forscherorganisation des Elektrischen zu erschleichen.30 Aus dieser ›physikolyrischen‹ Expansion der Funken um 1750 lassen sich gleich zwei Schlussfolgerungen ziehen. Zum einen überfordern die Funken die Gesellschaft, die sie produziert. Mit der Folge, dass sie Eingang finden in die intimsten Bereich der Macht, nämlich in die Kabinette und Gärten der Fürsten, Herzöge und Könige. Weit über Europa verstreut werden Experimente Grays, Du Fays, Boses von zahllosen amateurisierenden Professoren innerhalb und außerhalb der Herrschaftshöfe und Universitäten repliziert und (vermutlich) dabei jeweils auch ungewollt verändert, so dass die Wahrscheinlichkeit auf weitere Zufallsfunde zunimmt. So hat der Wissenschaftshistoriker John L. Heilbron Boses Anteil an den Experimentationen rekonstruiert, die zur Entdeckung / Erfindung / Konstruktion der ›Leidener Flasche‹ durch Petrus van Musschenbroek 1746 geführt haben. Die Leidener Flasche ist ein wassergefülltes Glasgefäß, mit dem erstmals (nach dem Kondensatorprinzip, wie wir heute sagen) elektrische »Ladungen« gespeichert, transportiert und (als »Batterie«31 in Reihe geschaltet und) ›addiert‹ werden konnten. Solche Wasser-Kondensatoren standen aber schon auf den pechisolierten Tischen des Wittenberger Physikers, dessen Setting (ein isoliertes Glas Wasser, statisch aufgeladen durch die Elektrisiermaschine, lässt einen Funken auf ein Schwert überspringen, das man in seine Nähe bringt) Musschenbroeck in seinen Labors repliziert hatte und dabei das Speicherprinzip der Flasche fixieren konnte.32 Mit den Boseschen Effekten, die extrem wirksam sind und die ohne Leidener Flasche niemand versteht, wird Elektrizität zur poetologischen Ausdeutung sui generis freigegeben. Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verbreiteten sich Funken epidemisch in der europäischen Literatur,33 so als könne die Poesie am Ende besser ›verstehen‹, was das Elektrische ›ist‹. »Autoren wie Friedrich von Hardenberg (Novalis), Heinrich von Kleist, Achim von Arnim, Jean Paul oder E.T.A. Hoffmann verfolgten die naturwissenschaftlichen Debatten ihrer Zeit und inszenierten elektrotechnisches Wissen in ihren Dramen, Erzählungen, Märchen und Romanen.«34 In Novalis Romanfragment Heinrich von Ofterdingen (1802) formieren sich die Figuren nach dem Muster elektrischer Phänomene, Apparate und Prozeduren. Freya wird an einem »Schwefelkristall«35 elektrostatisch

29 Schaffer, Simon: »The consuming flame Electrical showmen and Tory Mystics«, in: Brewer John:

Consumption and the world of Goods, London 1994, S. 488-526, hier: S. 495. 30 Vgl. Priestley, Joseph: The History and The present State of Electricity with Orginal Experiments, London

1775, S. 188. 31 »Ladung« und »Batterie« sind Begriffe, die Benjamin Franklin wenig später »erfunden« hat; s.u.. 32 Heilbron, John: »G. M. Bose: The Prime Mover in the Invention of the Leyden Jar?«, in: Isis 1966(57), S.

264-67, hier: S. 265. 33 Vgl. Hafki, Thomas: Franklin – Frankenstein. Zum Verhältnis von Elektrizität und Literatur. Magisterarbeit

Bochum 1993; Hochadel, Oliver: Öffentliche Wissenschaft: Elektrizität in der deutschen Aufklärung, Göttingen

2003, S. 73ff. 34 Gaderer, Rupert: »Wenn die Funken fliegen. Spannung, oder: Wie Elektrizität Literatur transformiert«,

literaturkritik.de. 2010(5), S. 2. 35 Novalis: Novalis Werke, München 2001, S. 233.

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aufgeladen, damit sie ihr elektrisches Feuer an den alten Helden abgeben kann.36 »Die schöne Freya schien heiterer, und das Licht ward brennender, das von ihr ausströmte«.37 Diese und andere »Elektropoetologien« der Goethezeit sind gut und einschlägig anderswo beschrieben38, so dass wir uns hier auf ein, zwei abschließende Hinweise beschränken können: »Sooft er die Gräfin anblickte«, heißt es in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahren (um nur eine seiner zahllosen ›elektrisierten‹’ Assoziationen zu zitieren), »schien es ihm, als wenn ein elektrischer Funke sich vor seinen Augen zeigte«.39 »Du wirst es, vielgeneigter Leser«, schreibt (der neben Novalis und Jean Paul heftigste literarische ›Elektrisierer‹) E.T.A. Hoffmann, »ganz gewiss selbst erfahren haben, dass, ist man verliebt, es oftmals durchaus nötig wird, […] die Hand der Geliebten zu fassen, zu drücken, zu küssen, und dass dann im Liebkosen, wie vermöge eines elektrischen Prinzips, unvermutet Lipp' an Lippe schlägt und dies Prinzip sich entladet im glühenden Feuerstrom des süßesten Kusses«40. Heine wird noch um 1830 das elektrische Liebesbild verschärfen und auf die pointierte Spitze treiben, »als habe ein elektrischer Strahl aus dem Auge der Geliebten plötzlich in unser Herz eingeschlagen. Ach! diese Blitze sind die verderblichsten, und wer gegen diese einen Ableiter erfindet, den will ich höher achten als Franklin. Gäbe es doch kleine Blitzableiter, die man auf dem Herzen tragen könnte und woran eine Wetterstange wäre, die das schreckliche Feuer anderswohin zu leiten vermöchte«!41

Das Feuer des Funkens Mit der Leidener Flasche ist ›das‹ wichtigste Laborgerät der nächsten anderthalb Jahrhunderte in der Welt. Sie wird nun selbst zum Aktanten der Elektrizitätsgeschichte, weil es darum geht, ihre Funktionsweise und ihre Kapazitäten zu erforschen. Mit Bose war die Elektrizitätsphysik im 18. Jahrhundert noch eine Sache der Gaukler und Kabinette. Mit der ›Flasche‹ rückt sie in Richtung konsistenter Konzeptualisierung, analytischer Messbarkeit und mathematischer Formalisierung. Für nahezu drei Jahrhunderte bleibt es aber dabei, dass die seit Gilbert gestellte ›Was‹-Frage der Elektrizität mit der Antwort: Fluida (wechselnder Provenienz) belegt wurde; z. B. für Benjamin Franklin (der 1752 die Identität von Funken und Blitz beweist) eine Art feine, electric matter, die von der normalen Materie normalerweise wie ein »Schwamm«42 aufgesogen wird, der eben zuviel (Plus) oder zu wenig (Minus) von der electric matter enthalten kann. Für ziemlich genau zwei Jahrhunderte bleibt es dabei, dass nur eine einzige Stromerzeugungsart bekannt war, nämlich die elektrostatische; dass man von

36 Vgl. Daiber, Jürgen: Experimentalphysik des Geistes. Novalis und das romantische Experiment. Göttingen

2001. 37 Novalis: Werke, a.a.O. 38 Vgl. Esselborn, Hans: Das Universum der Bilder. Die Naturwissenschaft in den Schriften Jean Pauls.

Tübingen 1989; Gaderer, Rupert: Poetik der Technik. Elektrizität und Optik bei E.T.A. Hoffmann, Freiburg/Br.

2009; Gamper, Michael: Elektropoetologie. Fiktionen der Elektrizität 1740-1870. Göttingen 2009. 39 »Wilhelm Meisters Lehrjahre«, in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Hamburg 1948, S.

199. 40 E.T.A. Hoffmann: » Die Serapionsbrüder«, in: Ders.: Poetische Werke in sechs Bänden, Band 3, Berlin 1963,

S. 74-75. 41 Heinrich Heine: » Was aber die Liebe ist… «, in: Ders.: Werke und Briefe in zehn Bänden. Bd. 3, Berlin und

Weimar: Aufbau 1972, S. 302. 42 Cohen: Franklin, S. 468.

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Strom auch dann immer noch so gut wie nichts wusste, als der Abbe Nollet 1746 vor Ludwig XV. und seinem Hofstaat 180 Soldaten der Königlichen Garde mittels einer Flaschen-Entladung gleichzeitig hüpfen ließ.43 Solche Effekthaschereien, mit denen sich die Elektrizitätsforschung der Neuzeit quälend lang abmühte, sind aus heutiger Sicht ein Sonderfall der Elektrodynamik, die zu verstehen der Neuzeit (wenn man sie mit den Hertzschen Versuchen 1888 enden lässt) ohnehin nicht gelang. Man kann diese Entwicklung durchaus einen selbstreferentiellen, »autopoietischen« Evolutionsvorgang nennen, wie Rudolf Stichweh es tut. Die frühe Elektrizitätsforschung bringt – vor allem im 18. Jahrhundert – tatsächlich »alle Wissensbestandteile und damit alle Elementarphänomene [...] mit Hilfe ihrer Instrumente und darauf bezogener Interpretationen selbst hervor«.44 Man darf aber dabei den spezifischen Typus von Kontingenz dieser autopoietischen Wissenschaftsgründung nicht aus dem Blick verlieren. Verursacher der elektrischen »Elementarphänomene«, und damit auch des Funkens, sind von Anfang Effektmaschinen, die von den Forschergemeinschaften handwerklich beherrscht, aber nicht ›verstanden‹ werden. Gleichwohl kann der Umgang mit den Funken bereits den Tod bedeuten. Die machine electrique des Martinus van Marum in Haarlem produziert um 1785 »elektrische Funken bis zu einer Länge 61cm«, das entspricht einer Gleichspannung von 600.000 Volt.45 Marum verdampft Eisendrähte, »verkalkt« Blei, Gold, Kupfer oder Zinn. Die dabei entstehenden Muster brennen sich in Spezialpapier ein, die dazugehörigen Spektralfarben werden von Kupferstechern auf Farbtafeln festhalten.46 Erst ein halbes Jahrhundert später wird Charles Wheatstone solche Funken-Verbrennungen wiederholen47 und damit den Signifikanten der Spektralanalyse chemischer Elemente in die Forscherorganisation Europas einpflanzen, der über Bunsen, Kirchhoff und Balmer direkt in die Quantenphysik Nils Bohrs münden wird.48 In allen europäischen Ländern haben ab 1770 vor allem chemisch orientierte Elektrizitätsspekulationen Hochkonjunktur, weil Ladungsakkumulationen durch Leidener Flaschen das »Feuer« des Funkens (also seine Brennstoff- oder Phlogiston-Ähnlichkeit) um ein Vielfaches verstärken und damit die ›Materialität‹ des Funkens in den Mittelpunkt stellen. Mit Verweis auf die einschlägigen Darstellungen49 ersparen wir uns weitere Details und überspringen die ebenso hochkomplexe wie von Kontingenz durchsetzte Findung der zweiten Stromerzeugungsart, der galvanisch redoxbasierten »Batterie«, die Graf Alessandro von Volta im Frühjahr 1800 der englischen und französischen Akademie vorstellte. Funken haben bei der Entdeckung dieser »l'électricité excitée parle simple contact mutuel des métaux de

43 Prinz: »Experimentierkunst«, S. 51. 44 Stichweh, Rudolf: »Technologie, Naturwissenschaft und die Struktur wissenschaftlicher Gemeinschaften«, in:

Kölner Zeitschrift fur Soziologie und Sozialpsychologie, 1988(40), S. 684-705, hier: S. 693. 45 Ebd., 61. 46 van Marum, Martinus: Verhandelingen van Teyler’s Tweede Genootschap, Haarlem 1787, Plate IX. 47 Wheatstone, Charles: »On the Prismatic Decomposition of Electrical Light«, in: Ders.: The Scientific Papers,

London 1879, S. 223-224. 48 Vgl. Hagen, Wolfgang: »Die Entropie der Fotografie«, in: Wolf, Herta: Paradigma Fotografie. Frankfurt

2002, S. 195-235, hier: S. 220ff. 49 Vgl. Moiso, Francesco: »Theorien des Magnetismus, Theorien der Elektrizität, Theorien des Galvanismus«,

in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Erg. Bd. zu Werke 5 bis 9, Stuttgart 1994, S. 165-371; Heilbron:

Electricity.

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différente espèce«50 nur am Rande eine Rolle gespielt, viel mehr aber neue Elektrisier-Apparaturen wie das zufällig entdeckte/erfundene Elektrophor, ein aus der Leidener Flasche abgeleiteter Kondensatortyp, der auch allerkleinste Ladungen speichern konnte und deshalb geeignet war zum Ausfindigmachen winziger atmosphärischer und anderer zufällig gefundener elektrochemischer Wechselwirkungen. Im Ergebnis kann Graf Volta (nachdem der Arzt Luigi Galvani 1791 tote Froschschenkel durch Berührung zweier verschiedener Metalle zucken ließ)51 eine stromerzeugende »Säule« vorweisen, die einen kontinuierlichen Gleichstrom erzeugt, den es in der unbehandelten Natur nicht gibt. Eine sehr einfache Vorrichtung, bei dem zwei verschiedene Metalle, zum Beispiel Kupfer und Zink, elektrochemisch miteinander reagieren. Erfindung? Entdeckung? Volta selbst versteht nicht, wie dieser Effekt funktioniert und prägt den Neologismus der »Kontakt-Elektrizität«. Voltas Säulen lassen sich nach seinem Rezept schnell nachbauen und durch Reihenschaltung immens verstärken. Die gesamte Forschergemeinde Europas integriert sie binnen weniger Jahre in ihr Experimentations-Arsenal, und es schließt sich eine lange, von Bernhard Siegert hingebungsvoll rekonstruierte Systemspekulation der romantischen Naturforscher an, die kaum zwei Jahrzehnte später im Juli 1820 zur Entdeckung der elektrodynamischen Wechselwirkung zwischen Elektrizität und Magnetismus durch Christian Oerstedt führt.52 Auch der romantische Philosoph Oerstedt beschrieb keine Funken, sondern einen stromdurchflossenen Draht, auf den eine simple Magnetnadel, die in der Nähe stand, ihren Zeiger richtete. In Europa gut vernetzt, verschickt er seine »Experimenta circa effectum Conflictus electrici in Acum magneticum« an die Forscherkollegen in London und Paris und es vergehen nur wenige Monate, bis sich André-Marie Ampère und Michael Faraday – der eine schnell und mathematisch, der andere mühsam und in der Langsamkeit einer jahrzehntelangen empirischen Arbeit – an die Aufschreibung dieses elektrodynamischen Effekts der Magnetnadelanziehung machen. Mit der Handhabung des »galvanischen Apparats« (= elektrochemische Stromerzeugung) und dem Wissen um die elektromagnetische Wirkung, »dass die Magnetnadel sich mittelst des galvanischen Apparats aus ihrer Lage bringen lasse«53, war die Elektrizität einen weiteren Schritt in das bekannte Newton/Kant-Fahrwasser der »Attraktionen« und »repulsiven Kräfte«54 gerückt. Weitere Messgrößen und ihre Mathematik konnten jetzt erprobt werden. So setzte der Festungsbauingenieur Charles Augustin de Coulomb um 1785 allen wilden chemischen Spekulationen ein klares mathematisches Diktum entgegen, wenn auch mittels eines kaum replizierbaren Drehwaage-Instrumentariums, so dass ihm die Anerkennung

50 Volta, Alexander: »On the Electricity Excited by the Mere Contact of Conducting Substances of Different

Kinds«, in: Phil. Trans. R. Soc., 1800(90), S. 403-431. 51 Meya, Jörg und Heinz Otto Sibum: Das fünfte Element. Wirkungen und Deutungen der Elektrizität, Reinbek

1987, S. 130ff. 52 Oersted, Hans Christian: »Versuche über die Wirkung des elektrischen Konflikts auf die Magnetnadel«, in:

Kleinert, Andreas(Hg): Physik im 19. Jahrhundert, Darmstadt 1980, S. 111-120; vgl. dazu: »Elektrifizierung des

Transzendentalen: Oersted«, in: Siegert, Bernhard: Passage des Digitalen, Berlin 2003, S. 298-303. 53 Oersted: »Versuche«, S. 111. 54 Kant, Immanuel: »Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten

können«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Berlin 1923, S. 555ff.

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zunächst versagt blieb:55 Coulombs elektrostatisches Kraft-Abstand-Gesetz definiert den Betrag der Kraft zwischen zwei Ladungsmengen proportional zum Produkt der beiden Ladungsmengen und umgekehrt proportional zum Quadrat ihres Abstandes, ganz ähnlich dem Abstandsquadratgesetz Newtons.

»The lines are imaginary« Damit gelangt die Elektrizität überall in Europa auf Augenhöhe mit allen anderen physikalischen Forschungsfeldern; allerdings von Land zu Land verschieden, nämlich in Abhängigkeit von den industriellen Verflechtungen und kulturellen Dispositionen. Während beispielsweise André-Marie Ampère und François Arago in Frankreich weiterhin akademisch orientiert blieben und in der Tradition Pierre-Simon Laplaces einer systemphilosophischen Vorstellung der Reduktion aller Phänomene auf »interpartikulare Kräfte«56 folgten, kommt im erstarkenden Industriekapitalismus Englands nur Pragmatismus und Empirie in Frage, also industrienahe Wissenschaftsforschung. Garant dafür sind das King’s College und die Royal Institution in London, ersteres eine Kaderschmiede für die Entwicklung der englischen Telegrafie, letzteres eine Art höhere Fach- und Volkshochschule zur Weiterbildung gelernter Arbeiter, gegründet im Jahre 1799 von Henry Cavendish, der als erster das Coulombsche Abstandsgesetz entdeckte, darüber aber nicht veröffentlicht hatte.57 Die »Royal Institution« wurde finanziert von der »Society for Bettering the Conditions and Improving the Comforts of the Poor« und ihr Programm bestand in der Entwicklung wissenschaftlich fundierter, aber handwerks- und industrienaher Anwendungen. Auch hier schlug Oerstedts Zusammenhangsbeweis zwischen Elektrizität und Magnetismus wie eine Bombe ein. Zudem hatte André-Marie Ampère noch im Herbst 1820 (neben einer mathematischen Hypothese über die Wechselwirkung zweier stromdurchflossener Leiter) eine praktische Blaupause für ein elektrisches Telegrafensystem entwickelt, nämlich eine Buchstaben-Telegrafie: so viele Buchstaben, so viele Leitungen;58 zwar ein unpraktisches Theoriemodell, aber die Ouvertüre für ein neues Dispositiv. Das rief den kaum 30-jährigen Chemieprofessor der »Royal Institution« auf den Plan, Michael Faraday, ehemals Buchbinder und wissenschaftlicher Autodidakt. Akribisch wie zwei Jahrhunderte zuvor Gilbert wird Faraday dreißig Jahre lang alle bis dahin bekannten Fakten und Experimentationen zur Elektrizität noch einmal zusammentragen. Um den elektrischen Telegrafen tatsächlich in Funktion zu bringen (und nicht wie Sömmering ehemals vor Napoleon zum Gespött zu werden),59 bedurfte es aus Sicht von Faraday zunächst der Klärung aller Grundsatzfragen, zum Beispiel dieser: Wenn Elektrizität Magnetismus erzeugt, geht es dann auch umgekehrt?

55 Vgl. Heering, P.: »The replication of the torsion balance experiment. The inverse square law and its refutation

by early 19th-century German Physicists«, in: Blondel, Ch. und M. Doerries, M.: Restaging Coulomb, Florenz

1994, S. 47- 66. 56 Vgl. Crosland, Maurice und Crosbie Smith: »The Transmission of Physics from France to Britain: 1800-

1840«, in: Historical Studies in the Physical Sciences, 1978(9), S. 1-61, hier: S. 55f. 57 Vgl. Dorling, Jon: »Henry Cavendish's Deduction of the Electrostatic Inverse Square Law«, in: Stud. Hist.

Phil. Sci., 1974(4), S. 327ff. 58 Vgl. Hoppe, Edmund: Geschichte der Elektrizität, Leipzig 1884, S. 213ff. 59 1809 hatte der Physiologe S. T. Sömmering Napoleon einen vieladrigen elektrochemischen Telegrafen

präsentiert und sich die Bemerkung »C'est une idée germanique« eingefangen. Vgl. Sömmering, W.: »Auszüge

aus dem Tagebuch von Samuel Thomas Sömmering«, in: Annalen der Physik und Chemie, 1859(17), S. 644-

647, hier: S. 647.

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Um 1830 fand Faraday die Bestätigung, genannt ›magnetische Induktion‹, also das Prinzip sowohl des Elektrogenerators als auch des Elektromotors. Faraday arbeitete jahrzehntelang völlig allein, sporadisch Briefe tauschend mit einigen Forschern seiner Zeit.60 In detailgenauen, in Fortsetzungen publizierten Beschreibungen entwickelte er, ohne eine einzige Zeile Mathematik, seine Theorie der magnetischen und elektrischen Feldlinien. Seltsame Gebilde sollten das sein, Kräfte im Raum, die Nahwirkungen entfalteten, ohne etwas anderes zu repräsentieren als Verschiebungs- und Verdichtungswirkungen. »The lines are imaginary«61, betonte Faraday: gebogene, gekrümmte Linien einer Kraft und Intensität der Elektrizität, über deren Natur Faraday keine abschließenden Aussagen treffen wollte: »[…] whether it consists of a fluid or fluids, or of vibrations of an ether, or any other kind or condition of matter«.62 Ein großer Verehrer dieser einsamen Experimentalberichte war William Thomson, später geadelt zum Lord Kelvin, Telegrafeningenieur und dann Physikprofessor in Glasgow; ab Mitte der 1850er Jahre der führende wissenschaftliche Kopf des weltumspannenden Ausbaus der Telegrafie im viktorianischen England. Mitte der 1850er Jahre setzte er einen jungen Studenten auf die Fährten Faradays, mit einem klassischen Auftrag aus dem epistemologischen Arsenal der Newtonianischen Physik. So wie Tycho Brahe nur Daten, aber Kepler und Newton die nötige Mathematik geliefert hatten, sollte nun James Clerk Maxwell alles, was Faraday, ohne eine einzige Formel, über Jahrzehnte deiktisch notiert hatte, in Mathematik umformen.63 Keine 10 Jahre später lagen die Grundlinien der Maxwellschen Theorie vor64,die – hochabstrakt und in rein mathematischer Formelsprache – keinen Unterschied mehr machte zwischen Elektrostatik und Elektrodynamik und bereits in den sechziger Jahren vorhersagte, dass sich elektrodynamische Kräfte in Form magnetischer und elektrischer Feldkräfte frei und in Lichtgeschwindigkeit im Raume fortbewegen können sollten. Das erschien zumal den deutschen Physiker-Zeitgenossen als fantastische Spekulation auf Basis der von Faraday ›imaginierten‹ Feldlinien. Der tatsächliche Nachteil dieser Vorhersage lag dann auch darin, dass weder Maxwell noch irgendwer in England auch nur den Funken eine Idee hatte, wie man solche elektromagnetischen Wellen hätte produzieren oder von ihnen auch nur eine Modellvorstellung hätte bilden können. Noch zwanzig Jahre später schüttelt William Thomson, längst schon geadelt, laut und vernehmlich den Kopf: »I never satisfy myself until I can make a mechanical model of a thing. If I can make a mechanical model, I can understand it. As long as I cannot make a mechanical model all the way through, I cannot understand; and that is why I cannot get the electromagnetic theory«.65 Der Student – James Clerk Maxwell, nach zwei kurzen Professorenjobs bereits mit 34 Jahren als Privatier in Schottland lebend – hatte den Meister enttäuscht. Umso mehr werden nach Maxwells frühem Tod 1879 seine Schüler, allen voran Oliver Lodge, unausgesetzt an solchen (z. B. »Zahnrad«-)Modellen arbeiten.66 Aber einstweilen galt im viktorianischen England der

60 Vgl. Williams, L. Pearce: Michael Faraday Biography, London 1966, S. 172ff. 61 Faraday, Michael: Experimental researches in electricity, 1837(1), S. 411. 62 Faraday: Researches, S. 302. 63 Vgl. Lemmerich, Jost: Michael Faraday 1791-1867. München 1991, S. 207. 64 Vgl. Maxwell, James Clerk: »A Dynamical Theory of the Electromagnetic Field«, 1864, in: ders.: The

Scientific Papers, Vol 01, Cambridge 1890, S. 526-597. Vollständig ausgearbeitet in Maxwell, James Clerk: A

Treatise On Electricity And Magnetism, 2 Bde, Oxford 1873. 65 Thomson, William: »Sir William Thomson on Molecular dynamics«, in: Nature, 1885(XXXI), S. 603. 66 Vgl. Lodge, Oliver J.: Neueste Anschauungen Über Elektricität, Leipzig 1896, S. 228.

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1860er-1890er Jahre: Das führende Mitglied der Forschergemeinschaft, Lord Kelvin, glaubt nicht an die Solidität der Maxwellschen Theorie. Wellenbewegungen von Elektrizität im freien Raum, das sind selbst für englische Physiker undenkbare, weil unmodellierbare, nicht ins Mechanische überführbare Vorstellungen. Unbrauchbar.

Stroboskopische »Zeitvergrößerung« Bleibt nachzutragen, dass Faradays von allen Zeitgenossen ehrfurchtsvoll bestaunten Experimente nicht die einzigen blieben, die für die Dispositive des Wissens im Kontext der Funkenelektrizität bedeutsam wurden. Vergessen wir nicht, dass der Funke im 17. Jahrhundert vor allem durch den menschlichen Körper zum Aktant und ›epistemischen Ding‹ geworden war. Nicht allein Apparate, sondern vor allem Menschenkörper wurden zum (überforderten) wissenschaftlichen (und deshalb zugleich poetischen) ‚Funkenzieher’. Anfang des 19. Jahrhundert dreht sich das Bild. Um es mit dem französischen Physiker Jean-Baptiste Biot um 1817 zu sagen: Wenn wir »in den organischen Wesen Apparate [finden], welche die Bestimmung haben, uns die Wahrnehmung dieser Erscheinungen möglich zu machen, so muss es ein Gegenstand des höchsten Interesses sein, den Mechanismus dieser Apparate zu studieren«.67 Die Rede vom Menschen als von einem »Apparat« folgt, wie Christoph Hoffmann in seiner großartigen Studie zur Physiologie und Physik des 19. Jahrhunderts gezeigt hat, »aus einem Umbruch im Begriff der menschlichen Physis am Anfang des 19. Jahrhunderts. Es sind die Arbeiten französischer Forscher, […] in denen damit begonnen wird, die Gesamtheit des Körpers systematisch in ‚fonctions’ zu gliedern und […] zum Ausgangspunkt der Analyse und Darstellung zu machen«.68 Was den Funken betrifft, so ging auch Alexander von Humboldt ans Werk, ritzte sich eine Wunde in die Schulter und bearbeitete sie mit Elektroschocks zunächst positiver, dann negativer Elektrizität, um an der Wundentwicklung die Unterschiede zu studieren (»dagegen die brennende Empfindung in der Wunde unaufhörlich und in gleich hohem Grade anhielt«).69 Die Frage nach den »apparativen« Eigenschaften des Körpers bleibt ihrerseits keineswegs auf die Forschergemeinde der Physiker beschränkt. Insofern gehört hierher auch die Beobachtung des Herausgebers einer Wissenschafts- und Literaturzeitung in London, der 1821 erstmalig den sogenannten ‚Palisaden’-Effekt beschreibt. »When a spoked wheel, such as that of a carriage, is viewed in motion, through a series of vertical bars, the spokes assume the peculiar curvatures […] a curvature will be observed, directed upwards on each side«.70 Diese Klasse der optischen Täuschungen, in denen die Speichen eines Wagenrades nach oben hin gebogen erscheinen, wenn man sie durch einen horizontal vorbeiziehenden Lattenzaun betrachtet, hat der Mathematiklehrer Simon Stampfer dreizehn Jahre später »stroboskopisch«71 (»kreisdreherisch«) getauft. Wie man in Paul Liesegangs liebevoller Forschungsgeschichte nachlesen kann – einem Stroboskopeffekt besonderer Art verdankt sich ja auch das Kino –,

67 Biot, Jean-Baptiste: Lehrbuch der Experimental-Physik oder Erfahrungs-Naturlehre, Bd. 2, Leipzig 1824, S.

133. 68 Hoffmann, Christoph: Unter Beobachtung. Naturforschung in der Zeit der Sinnesapparate, Göttingen 2006, S.

10. 69 Humboldt, Alexander von: Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser, Berlin 1797. 70 M., J.: »Account of an Optical Deception«, in: The quarterly Journal of Science Literature And the Arts,

1821(10), S. 282-283, hier: S. 283. 71 Stampfer, Simon: »Über die optischen Täuschungsphänomene welche durch die stroboskopischen Scheiben

hervorgebracht werden«, in: Jahrb. Polytechn. Inst Wien, 1834(XVIII).

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macht diese Entdeckung in Europa schnell die Runde; zunächst mit Ferdinand Plateau, der 1829 ein Anorthoskop entwickelt, das gebogene Figuren durch überlagernde Drehungen optisch wieder ›geradebiegen‹ kann.72 Zwei Jahre darauf – und für unseren Zusammenhang entscheidend – wird auch Faraday aufmerksam. 1831 denkt er sich dutzende von Experimenten aus, die optische Überlagerungsphänomene beschreiben, darunter auch die berühmten zwei gegenläufig angeordneten Zahnräder, die bei gleicher Geschwindigkeit still zu stehen scheinen, aber, für unsere Augen, bei geringfügig differenter Rotation langsam in die Richtung des schneller laufenden Rades driften.73 Weder bei Plateau noch bei Faraday ist die theoretische Durchdringung der Phänomene so ausgereift, wie ein halbes Jahrhundert später bei Ernst Mach, der die »stroboskopische Methode« analytisch als ein »Prinzip der Zeitvergrößerung« versteht, analog zum Mikroskop, das eine Raumvergrößerung erzeugt. »Die Bewegungen einer schwingenden Stimmgabel von 100 Schwingungen per Sekunde«, schreibt Mach, »lassen sich nicht direkt beobachten. Blicken wir aber auf die Gabel durch eine rotierende Scheibe, welche 100 Spalten per Sekunde vor dem Auge vorbeiführt, so sehen wir die Gabel scheinbar ruhig. Gehen aber nur 99 Spalten per Sekunde am Auge vorbei, so führt die Gabel nach dem Vorbeigang von 99 Spalten, also in einer Sekunde genau eine scheinbare Schwingung aus, während sie in Wirklichkeit 100 vollführt hat. Die Zeit ist also für den Beobachter 100 mal vergrößert«.74 Faradays Wagen- und Zahnrad-Experimente inklusive der Replikation des auslösenden Palisaden-Experiments von John Murray, sind ebenfalls ›Zeitvergrößerer‹, aber in ihrer Geometrie weitaus komplexer angelegt als das Machsche Gabel-Beispiel.75 In der Folge wird diese, in England von Faraday eingeführte stroboskopische »Zeitvergrößerungs«-Technik (»superpose«)76 nicht nur Talbot zu seiner ersten Blitzfotografie verhelfen (»an electric battery, kindly placed at my disposal by Mr. Faraday, was discharged in front of the disc, lighting it up with a momentary flash«)77, sondern darüber hinaus auch zu einem wichtigen Dispositiv der Funkenforschung. Charles Wheatstone, kongenialer Konkurrent und Freund Faradays, verwendet sie 1834 im Kontext seiner Grundsatz-Studien zur Telegrafie, die parallel zu den Faradayschen laufen. Anders als der gläubige »Sandemanier«78, der die gleichsam ›biblischen‹ Gesetze der Elektrizität sucht, operiert Wheatstone ganz säkular, aber nicht weniger erfindungsreich. Auf dem Wege zur Entwicklung seines »Fünf-Nadel-Telegrafen« von 183779 muss er zunächst sicher sein, dass die Geschwindigkeit der Elektrizität ausreicht. Zur Messung konstruiert er eine dreifach

72 Liesegang, F. Paul: »Die Erfindungsgeschichte des Lebensrades«, in: Kinotechnik, 1924(6), S. 341-373, hier:

S. 343f. 73 Faraday, Michael: »On a Peculiar Class of Optical Deceptions« <1831>, in: Ders.: Experimental Researches

in Chemistry and Physics, London 1859, S. 291-311. 74 Mach, Ernst: »Bemerkungen über wissenschaftliche Anwendungen der Photographie«, in: Ders.: Populär-

wissenschaftliche Vorlesungen, Leipzig 1903, S. 130-134, hier: S. 132; Zitat leicht gekürzt. 75 Die mathematische Geometrisierung der ›Palisadentäuschung‹ wird erst in diesem Jahrhundert befriedigend

gelöst: Vgl. Hunt J.L. »The Roget Illusion, the Anorthoscope and the persistence of Vision«, in: Am. J. Phys.

2003(71), S. 774–777. 76 Faraday: »Deceptions«, S. 303. 77 Talbot, H. F.: »Note on Instantaneous Photographic Images«, in: Proc. R. Soc. London 1850, S. 682. 78 Eine bibelgläubige Sekte, der Faraday zeitlebens angehörte. Vgl. Pearce: Faraday, S. 193ff. 79 Vgl. Durgin, William A.: Electricity Its History And Development, Chicago 1912, S. 80ff.

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unterbrochene Stromleitung, so dass an drei weit auseinanderliegenden ›offenen‹ Stellen Funken überspringen. »It occurred to me some years since, that if the motion […] in these cases were to be compounded with another motion, the direction and velocity of which were known, it would be easy, from an inspection of the resultant straight or curved line, to determine the velocity and direction of the former«.80 Die sprühenden Funken schaut er sich in einem sehr schnell rotierenden Spiegel an, worin seine drei Funken wie helle Striche erscheinen. Anders gesagt, seine Funken werden optisch gedehnt (und leicht versetzt). Theoretisch könnte nun das räumliche Maß der Dehnung (als Folge der Spiegelrotation) etwas über die Funkengeschwindigkeit sagen. Wheatstone nennt auch einige Werte, die hier nicht weiter interessieren, insofern schon seine Annahme unbegründet bleibt, die Geschwindigkeit der Elektrizität von der Geschwindigkeit von Funkenüberschlägen abzuleiten. Um seine Nadel- und später seine »Zeiger-Telegrafen«-Apparate in Funktion zu bringen, erscheint Wheatstone alles Elektrische jedenfalls schnell genug, und er nimmt diese Versuche nicht wieder auf.

Sich selbst belichtende Oszillationen Forschungssoziologisch gesehen ist in den 1880er Jahren niemand so weit entfernt von der englischen Telegrafenphysik wie Heinrich Hertz, der Physiker, der Maxwells Theorie der Elektrizität empirisch beweisen wird und ihr damit den Weg zur vollen industriellen und medialen Nutzung ebnet. Hertz hat nicht bei Thomson studiert, spricht kein brauchbares Englisch, hat Wheatstone bestenfalls in (zum Teil grausam schlechten) Übersetzungen gelesen und kennt Maxwell nur aus einigen Aufsätzen seines Lehrers Hermann von Helmholtz. Anders als Thomson und Wheatstone in London, die tief in die Unternehmungen der terrestrischen und der Seekabel-Telegrafie involviert waren, war Hertz keiner vergleichbaren Unternehmung verbunden. Wie aber Bruce Hunt zeigen konnte, hat dieser Konnex von imperialer Telegrafieindustrie und hochabstrakter Mathematik die Bildung der Maxwellschen Theorie stark befördert.81 Umgekehrt kommt in England niemand darauf, wie Heinrich Hertz, den elektrischen Funken zur Produktion und zum Nachweis elektromagnetischer Ausbreitungen zu verwenden. Faraday operiert nicht mit Funkenmessungen und Wheatstones Ansatz verfolgte, vergeblich genug, ganz andere Ziele. Wie also kommt dieses Dispositiv zustande, den Funken gleichsam durch sich selbst messen zu lassen? Hertz selbst hat die Zusammenhänge nachträglich angedeutet. Als er sich seines Erfolgs sicher ist, beginnt er mit einer freundlichen Hommage in Richtung England. »Professor Oliver Lodge in Liverpool hat in den gleichen Jahren, in welchen ich die hier beschriebene Arbeit ausführte, […] eine Reihe von Versuchen […] angestellt, welche ihn auf die Beobachtung von Schwingungen und Wellen in Drähten führten. […] So ist kaum zu zweifeln, dass wenn ich ihm nicht zuvorgekommen wäre, er auch zur Beobachtung der Wellen in der Luft und damit zum Nachweis der zeitlichen Ausbreitung der elektrischen Kraft gelangt wäre«.82 So höflich diese Bemerkungen wirken, so klar bleibt auch, dass Hertz sehr genau weiß, wem er wirklich zu danken hat. »Ich glaube übrigens nicht, dass es möglich gewesen wäre, mit Hilfe

80 Wheatstone, Charles: »An Account of some Experiments to measure the velocity of Electricity and the

Duration of Electric Light« <1834>, in: Ders.: The Scientific Papers, London 1879, S. 84-96, hier: S. 84. 81 Vgl. Hunt, Bruce J.: »Michael Faraday, Cable Telegraphy and the Rise of Field Theory«, in: History of

Technology, (13), S. 1-19. 82 Hertz, Heinrich: Untersuchungen über die Ausbreitung der elektrischen Kraft, Leipzig 1892, S, 8f.

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der Theorie allein zu den Erscheinungen vorzudringen. Denn das wirkliche Eintreten derselben in unsern Versuchen hängt außer von ihrer theoretischen Möglichkeit noch ab von einer besonderen und überraschenden Eigenschaft des elektrischen Funkens, welche durch keine Theorie vorauszusehen war«.83 Nicht die Dispositive der zeitvergrößernden Stroboskopie oder das der Telegrafie verbinden Hertz mit dem Funken, sondern ein drittes, das von seinem Lehrer Helmholtz stammt: nämlich das Dispositiv der »Oszillation« des Funkens. Der 26-jährige Helmholtz hatte in seinem Vortrag »Über die Erhaltung der Kraft« im Jahre 1847 die Bemerkung eingestreut, dass »Entladungen« keineswegs »als einfache Bewegung der Electricität in einer Richtung« vorzustellen seien, »sondern als ein Hin- und Herschwanken derselben zwischen den beiden Belegungen in Oscillationen, welcher immer kleiner werden, bis die ganze lebendige Kraft derselben durch die Summe der Widerstände vernichtet ist«.84 Kraft und Widerstand, das war Helmholtz’ Pointe der »Erhaltung der Kraft«, gehen hier ein Nullsummenspiel ein. Einen Nachweis für seine These gab er nicht. William Thomson, immer auf der Suche nach einer Bestätigung seiner Vermutung, dass Elektrizität eine Art Wärme sei und deshalb mathematisch analog behandelt werden müsse85, wurde früh auf Helmholtz’ Jugendschrift aufmerksam. Obwohl funkende Entladungen in der Telegrafie nur eine Randrolle spielten, arbeitete Thomson mittels der damals schon geläufigen Kenngrößen »Induktion« und »Kapazität« eine griffige mathematische Formel aus, die, vor allem in den Jahrzehnten der Radio-Telegrafie, als »Thomsonschen Schwingungsformel«

( LCt π2= ) Furore machen sollte. Sie beschreibt die Länge einer Schwingung t in

Abhängigkeit von der Induktion und Kapazität in einem Leiterkreis. Zwar hatte Thomson mit dieser Formel den Sachverhalt der Funken-Oszillation auf ein mathematisch konsistentes Modell heruntergebrochen, aber es fehlte der empirische Nachweis. »Should it be impossible on account of the too great rapidity of the successive flashes for the unaided eye to distinguish them, Wheatstone's method of a revolving mirror might be employed, and might show the spark as several points or short lines of light separated by dark intervals, instead of a single point of light, or of an unbroken line of light, as it would be if the discharge were instantaneous, or were continuous and of appreciable duration«.86 Ob auf Wheatstones rotierenden Spiegeln sich ein Funke nun in Form »verschiedener Punkte« oder eher als »kurze Licht-Linien getrennt von dunklen Intervallen« darstellen würde, wird interessanterweise kein Schüler Thomsons oder Maxwells, sondern ein deutscher Physiker aus Kiel prüfen. Diese Prüfungen durch Berend Wilhelm Feddersen werden wiederum Hertz auf die »überraschenden Eigenschaft des elektrischen Funkens« aufmerksam machen, »welche durch keine Theorie vorauszusehen war«, also auf die essentielle Voraussetzung für seinen Nachweis der elektromagnetischen Wellen. Feddersens Experimentalaufbau87 war im Prinzip nichts Neues, denn er folgte Thomsons Hinweis auf Wheatstone. »Die einzige Art«, schreibt Feddersen, »wie eine direkte Analyse des Funkens überhaupt möglich wird, scheint mir der zu sein, dass man durch eine

83 Ebd. 84 Helmholtz, Hermann von: Über die Erhaltung der Kraft <1847>, Reprint o. O. 1996, S. 33f. 85 Zu Thomsons Analogie von Wärme und Elektrizität vgl. North, John D.: »Science and Analogy«, in: Grmek,

M.D., R.S. Cohen und G. Cimino: On Scientific Discoveries, Dordrecht 1981, S. 115-140, hier: S. 124ff. 86 Thomson, William: »On Transient Electric Currents«, in: Phil. Mag., June 1853, S. 393-405, hier: S. 400. 87 Vgl. Henke, Martin: Flinke Funken im schnellen Spiegel - Berend Wilhelm Feddersen, Hamburg 2000.

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mechanische Bewegung die Zeitintervalle in Raumabstände verwandelt«.88 Er synchronisiert einen schnell drehenden Spiegel, der genau so platziert ist, dass er eine Funkenentladung auf eine belichtbare fotografische Platte spiegelt. Zum ersten Mal in der Geschichte der Funkenforschung wird damit der Funke ›stillgestellt‹ und in den Ablauf einer Funkenentladung hinein fotografiert. Der Funke macht eine Blitzlichtaufnahme seiner selbst. Die Besonderheit in Feddersens Arbeit liegt darin, dass sie zwar bei Wheatstone und Thomson beginnt, aber am Ende ein neues Medium, nämlich die Fotografie integriert; und so mithilfe eines Mediums die Physik in Richtung jener Medien schiebt, die durch den Elektromagnetismus möglich werden. Weil der Drehspiegel – ein stroboskopisches Dispositiv – in schneller Bewegung eine schnellere überlagert, vergrößert der Spiegel die Zeit der Funkenentladung im Moment seiner Drehung und belichtet die Fotoplatte mit sich selbst in einem lang gezogenen Funkenbild. Auf welche Länge der durch den Funken entstehende Lichtstreif gedehnt ist, kann Feddersen bestimmen, nämlich je nach der Geschwindigkeit, mit der er seinen Spiegel dreht. Es ergeben sich eigentümlich gebogene Formen. Die gebogene Form ist eine Aufspannung des schnellen Vorgangs der Funkenentladung in einem gebeugten Raum (Abb. 1). Das Bogenmaß der Abbildung der Streifen auf der Fotografie ist also ein Geschwindigkeitsmaß. Aber dort, wo man in den Zwischenräumen nichts sieht, da ist auch tatsächlich Nichts. Aber was ist dieses Nichts? Eine Pause? Ein Anhalt? Feddersen findet eine Nomenklatur und eine Erklärung. Die Nomenklatur heißt »Querabteilung« oder »Querstreifen«.89 Sie sind die medialen Zeichen oder besser noch: Abbildungen der Oszillation. »Da in einem elektrischen Strome nichts Anderes existiert, was seine Richtung wechselt, was sich umkehren kann, als die Richtung des Stromes selbst, so sehe ich die Möglichkeit einer Erklärung nur in der Annahme, dass in jeder Querabtheilung das Licht eines elektrischen Stromes fotografiert wird, der in entgegengesetztem Sinne fließt wie in der folgenden oder vorhergehenden«.90 Ein klarer Beweis für die Oszillationstheorie. »Wir haben die Erscheinung, dass die Elektrizität in wellenartigen hin- und hergehenden Strömen den Draht durchläuft. Könnten wir uns einen widerstandslosen Leiter denken, so würden diese Oszillationen niemals aufhören; da aber jeder Leiter einen gewissen Widerstand bietet und derselbe so wirkt, als wenn die Elektrizität eine Art Reibung in denselben erführe, wobei beständig ein Teil der lebendigen Kraft verbraucht (und in Wärme verwandelt) wird, so muss die elektrische Bewegung nach einer größeren oder kleineren Anzahl von Oszillationen bald unmerklich werden«.91 Man sieht, wie mechanisch und materiell die schulmäßige deutsche Vorstellung von der Elektrizität sich darstellt. Nicht nur für Feddersen, sondern ebenso für die Physik in der Physikhauptstadt Leipzig, in der er in den 1860er Jahren als begüterter Privatgelehrter forscht, ist ein Strom ein Äquivalent von »lebendiger Kraft«, der wie ein mechanisches Pendel zu einem Stillstand kommt, wenn ihm ein Widerstand entgegentritt. Der entscheidende Punkt an Feddersens photometrischen Beweisen war für Heinrich Hertz zwei Jahrzehnte später, dass Feddersen in seinem Querstreifenmaß zeigen konnte, wie es sich verschmälerte (also die Oszillation kürzer wurde und zunahm), wenn nicht allein der

88 Feddersen, Berend Wilhelm: »Beiträge zur Kenntnis des elektrischen Funkens«, in: Ann. Phys. 1858(103), S.

69-89, hier: S. 69. 89 Feddersen, Berend Wilhelm: »Ueber die elektrische Flaschenentladung I«, in: Ann. Phys. 1861(113), S. 437-

467, hier: S. 459. 90 Feddersen, W.: »Ueber die elektrische Flaschenentladung II«, in: Ann. Phys., 1862(116), S. 132-171, hier: S.

142. 91 Feddersen. »Flaschenentladungen I«, S. 439.

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Widerstand, sondern die Kapazität seiner Leidener Falschen geringer wurde. Je geringer die Fläche der zu entladenden Flaschen, umso schmaler die Streifchen. Das war theoretisch völlig klar, denn nach Thomson musste die Periodendauer der Quadratwurzel der Kapazität proportional sein. Die Feddersenschen Experimente gaben hier endlich den empirischen Beweis (wenn auch wohl, wie wir heute wissen, ein wenig »gewollt«).92

»Die ›Plötzlichkeit‹ des Funkens« Der 29 Jahre junge Professor Heinrich Hertz befindet sich am 4. Oktober 1886 mitten in der Vorbereitung auf das kommende Wintersemester. An diesem 4. Oktober 1886 sind es ausweislich seines Tagebuchs und seines Experimentierprotokolls zwei kleine Zufallsfunken, die Hertz auf eine anderthalb-jährige Experimentierreise schicken. Angesichts der Wirkung dieses Funkenfunds gibt es gute Gründe, warum Hertz sich noch sechs Jahre später genau erinnert: »In der physikalischen Sammlung der Technischen Hochschule zu Karlsruhe, wo ich diese Versuche ausführte, hatte ich zu Vorlesungszwecken ein Paar sogenannter Riess’scher oder Knochenhauerscher Spiralen vorgefunden und benutzt. Es hatte mich überrascht, dass es nicht nötig war, große Batterien durch die eine Spirale zu entladen, um in der andern Funken zu erhalten, dass vielmehr hierzu auch kleine Leidener Flaschen genügten, ja der Schlag eines kleinen Induktionsapparates, sobald nur die Entladung eine Funkenstrecke zu überspringen hatte«.93 Die Spiralen, die Hertz hier benutzt, waren ein Allerweltsgerät der zeitgenössischen Lehrbuchphysik zur Demonstration des so fundamentalen Effekts der Erregung von Strom durch Magnetismus (genannt »Induktion«): »Zwei Spiralen A und B, von ungefähr 30 cm im Durchmesser, in welche 30 Kreise geschnitten sind, die eine Spirale bilden. In diese wird ein Kupferdraht von 2 mm Dicke gelegt und festgekittet. Beide Spiralen sind ganz gleich. Schließt man die Spirale A durch das Anfassen von zwei Handhaben, und lässt man durch die Spirale von B die Entladung einer Leidner Flasche gehen, so erhält man durch den entstehenden inducirten Strom einen Schlag«.94 (Vgl. Abb. 2) So lesen wir es beispielsweise in Eisenlohrs Lehrbuch der Physik zum Gebrauche bei Vorträgen 1875. Hertz prüft das Gerät und sieht Funken, aber wo genau? Was möglicherweise tausend Physikern in zehntausend Vorlesungen auch schon passiert war, brennt sich für Hertz als etwas ein, das ihn nicht mehr loslässt. Wir rekonstruieren: Wenn er die Leidener Flasche nicht einfach nur mit der Spirale B verbindet, wie es eben tausend andere getan hatten, sondern zur Entladung der Flasche einen kleinen Spalt lässt, so dass »die Entladung eine Funkenstrecke zu überspringen hatte«, dann zeigten sich auch an den anderen Kontakten-Enden der Spirale A Fünkchen. Egal, was Feddersen und die deutsche Schulphysik für das »Wesen« der Elektrizität hielten, Hertz interessierte nicht mehr das ›Was‹, sondern allein das ›Wie‹ des Funkens. Entladungen, das erinnert Hertz nun offenbar ›blitzartig‹, sind oszillatorisch, es sei denn, der Widerstand ist riesig. Aber diese Riess’schen Spirälchen, was sollten die für einen Widerstand haben? Kaum einen. Und weiter: Was heißt es, wenn kleine Leidener Flaschen, also Flaschen geringer Kapazität, kleine Fünkchen an der Entladungs-Spirale und zugleich instantan an der ›Empfangs‹-Spirale entstehen lassen? Nun, in beiden Fällen sind es Befunde sehr schneller

92 Henke bemerkt dazu: »So zeigt sich, daß Feddersens experimentelle Arbeiten in hohem Maße von den

Vorgaben der Theorie beeinflußt waren. Seine Versuche sollten die Theorie belegen. Ein davon abweichendes

Untersuchungsergebnis wurde nicht akzeptiert, sondern mit Unzulänglichkeiten im Versuchsaufbau erklärt.«

Henke: Funken, S. 140. 93 Hertz: Untersuchungen, S. 2. 94 Eisenlohr, W.: Lehrbuch der Physik zum Gebrauche bei Vorträgen und zum Selbstunterrichte, Stuttgart 1876,

S. 556. Zitat leicht gekürzt.

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Oszillationen. »Anfangs hielt ich die elektrische Bewegung für zu stürmisch und zu unregelmäßig, um sie weiter benutzen zu können«95, sagt er. Induzierte Funken? Funken die Funken produzieren? Das mochte ein Effekt sein, den man entweder für einen üblichen Schmutz, für einen typischen Fall von Experimentierrauschen, also für etwas halten konnte, was halt so beim Experimentieren passiert. Oder aber da war mehr, nämlich die Schemen eines neuen epistemischen Dings. Anfang Oktober 1886 notiert Hertz auf ein Experimentierprotokollblatt: »Gedanke, die ›Plötzlichkeit‹ des Funkens zu untersuchen. Benutzung zur Einwirkung auf Dielektrica«.96 Hertz also sieht nicht so sehr den Funken, als vielmehr seine Plötzlichkeit; er sieht Oszillation in hoher Frequenz als einen endlichen und damit messbaren Parameter. Die Fünkchen, so sagt es Hertz selbst, bringen ihm zudem noch eine Preisaufgabe der Berliner Akademie von 1879 wieder in den Sinn, die Helmholtz ihm in gewissem Maße auf den (noch studentischen) Leib geschrieben hatte, jedoch bislang ungelöst geblieben war. Die Aufgabe lautete, »dass (a) entweder für oder gegen die Existenz der elektrodynamischen Wirkungen entstehender oder vergehender dielektrischer Polarisation in der von Hrn. Maxwell vorausgesetzten Stärke, oder (b) für oder gegen die Erregung dielektrischer Polarisation in isolierenden Medien durch magnetisch oder elektrodynamisch induzierte elektromotorische Kräfte entscheidende experimentelle Beweise gegeben werden«.97 Grob übersetzt hieße das: Es möge jemand an einer »elektrodynamischen Wirkung«, zum Beispiel also durch eine Funkenentladung, einen Effekt zeigen, der auf nichtleitende Materialien wirkt, und auf diese Weise prüfen, ob solche »dielektrischen« Materialien einen messbaren Einfluss auf den Effekt hätten oder nicht. Alle Funken, die ab jetzt bei Hertz überspringen, sind Funken im Symbolischen, d.h. in der Theorie oder im Kranz mathematischer Kenngrößen. In der Hertzschen, in der Helmholtzschen und in der Feddersenschen Terminologie ist ein Funke, der beim Anschluss der Leidener Flasche an einer Spirale aufblitzt, wegen der Oszillation auch ein elektrodynamischer Effekt. Die in Deutschland zu Hertz’ Zeiten anerkannte Theorie von Wilhelm Weber sagte vorher: Dielektrika, also Glas, Holz, Papier, Pech, Asphalt oder Stein, können diesen elektrodynamischen Effekt nicht beeinflussen. Bei Weber ist elektrische Wirkung »elektromotorisch« mit schnell nachlassender Intensität im Abstandsquadrat; eine Potentialwirkung, invariant in Bezug auf Dielektrika. Es dürfte nach dieser Theorie keine Wirkung geben. Die Maxwellschen Theorie aber besagt: Elektromagnetische Ausbreitungen haben Wellenform (wie das Licht) und also werden sie, wie das Licht, durch Dielektrika beeinflusst, so wie das Licht im Wasser gebrochen wird oder die Sonnenstrahlen im Regenbogen. Wenn Hertz also Wirkungen erzeugen kann, die sich an Medien brechen (reflektieren, beugen etc.), dann hat Maxwell Recht; wenn nicht, dann Weber. Bis zum 4. Oktober 1886 ist das Alles graue Theorie. Angesichts der beiden Fünkchen, die bei Hertz den vorgenannten Kontext aktualisieren, mag man erahnen, welche riskanten, abstrakt-mathematischen und zugleich phantasmatischen Dimensionen er nunmehr betritt. Trotz der freundlichen Preisfrage bleibt völlig klar, dass in der deutschen Forscher-Welt keine elektromagnetischen Wellen existieren. Und auch als Hertz alles bereits physikalisch sicherte, hat er (wie Thomson) bei weitem keine Vorstellung davon, was Maxwells Theorie überhaupt besagt. »Auf die Frage: ›Was ist die Maxwell'sche Theorie?‹ wüsste ich also keine kürzere und bestimmtere Antwort als diese: Die Maxwell'sche Theorie ist das System der

95 Hertz: Untersuchungen, S. 2. 96 Zit. nach: Fölsing, Albrecht: Heinrich Hertz. Eine Biographie. Hamburg 1997, S. 269. 97 Öffentliche Sitzung vom 3. Juli 1879, in: Monatsberichte der Königlich preussischen Akademie der

Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1880, S. 529; (a) und (b) von mir eingefügt.

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Maxwell'schen Gleichungen«.98 Je näher man den Hertzschen Versuchsreihen vom Herbst 1886 bis Januar 1888 kommt, umso mehr gerät man in diesen unabbildbaren, unanschaulichen, unsagbaren und undarstellbaren Kontext. Hertz’ Experimentalsystem erzielt in seiner knapp anderthalb-jährigen Geschichte Ergebnisse, von denen auch am Ende ein Bild im Sinne eines Thomsonschen mechanischen Modells unmöglich bleibt. Es gibt kein Fotopapier wie bei Feddersen, und auch auf dessen Bildern konnte man die Elektrizität nicht ›sehen‹. Hier sind es allein Funken, die Funken ›spiegeln‹. Was dazwischen ›abläuft‹, muss man sich ›denken‹. Zu Anfang kann er nur hoffen, dass seine Fünkchen genügend schnelle Oszillationen repräsentieren. Das beschäftigt ihn monatelang. Soll es nämlich um Maxwell gehen, dann sind dessen Wellen der Theorie nach lichtgeschwindigkeitsschnell. Um also irgendetwas zu messen, müssten die Schwingungen, um die es geht, so schnell sein, dass die entstehenden Wellen in seinen Laborraum ›passen‹. Er ist längst in den größten Karlsruher Vorlesungsraum umgezogen (Hertz hat vermutlich 54 MHz = 5,5 Meter-Wellen verwendet).99 Das Ganze geschieht hier nicht mehr auf Papier, im Wasser oder in der Luft, sondern in der Raumzeit; ja Raumzeit. Elektromagnetische Wellen sind, wie es Albert Einstein anderthalb Jahrzehnte später zeigen wird,100 relativistisch invariant.101 Seit November 1886 interessiert Hertz die Geometrisierungen seines Raums, das heißt eine möglichst vereinfachte räumliche Anordnung seines Experimentalaufbaus.102 Vier Wochen später hat er den Draht aus der Riess’schen B-Spirale zu einer Geraden aufgebogen, sie schulbuchmäßig »Auslader«103 getauft und als Funkenerreger einen »Rühmkorff-Funkeninduktor« eingebaut, mit dem man im kurzen Stakkato hohe Spannungen und entsprechend schnelle Entladungsfunken produzieren kann. Damit hat er schon den berühmten Hertzschen »Dipol« geschaffen, der jetzt, im Winter 1886, noch nicht so heißt, aber genau zehn Jahre später zur Start-Up-Ausrüstung des Marconi-Radios zählen wird. Die A-Spirale, die Spirale des Empfangs, hat er ebenfalls gerade gebogen, viermal gerade, ein Rechteck und daraus den »Resonatordraht« kreiert. Hertz sagt zu den Naturforschern 1889: »Dies Mittel musste durch die Erfahrung selbst an die Hand gegeben werden, die Überlegung konnte es wohl nicht voraussehen«.104 Die Versuchsreihen vom Herbst und Winter 1887 dienen ausschließlich der experimentellen Austestung und Ausmessung des medialen Raums, den er jetzt sicher, aber noch starr, rechtwinklig und steif zwischen dem Funkengeber (»Rühmkorf«) und Funkenempfänger (»Drahtgestelle« mit ›Fünkchen-Lupe‹; vgl. Abb. 3) aufgespannt hat. Am Anfang ist dieser ganze Raum noch so labil, so ungewohnt und prekär, dass alle Versuche mit »Dielektrika« (Glasflaschen, umwickelte Holzgestelle als Brechungsmedien) scheitern. Erst zwischen Herbst und Winter 1887 wird Hertz allmählich klar, dass sich das, was er tut, nicht mehr im Rahmen der kontinentalen, Weberschen oder

98 Ebd., S. 23. 99 Bryant, John H.: »Heinrich Hertz's Experiments and Experimental Apparatus: His Discovery of Radio Waves

and his Delineation of their Properties«, in: Baird: Hertz, S. 48-58, hier: S. 41. 100 Vgl. Einstein, Albert: »Zur Elektrodynamik bewegter Körper«, in: Ann. Phys. 1905(17), S. 891-921. 101 Feynman, Richard P.: »Electricity and magnetism taken together are consistent with Einstein's relativity«,

in:Ders.: The Feynman lectures on Physics, Vol 2, San Francisco 2006, S. 13. 102 Die Details in Fölsing, Hertz, S. 270ff., dessen Darstellung die früher einschlägige Literatur weitgehend

ersetzt, weil er erstmals auf den bislang unveröffentlichten Nachlaß von Mathilde Hertz zurückgreift. 103 Vgl. Wiedemann, Gustav: Die Lehre von der Elektrizität Band 4.2, Braunschweig 1885, S. 627. 104 Hertz, Heinrich: »Über die Beziehungen zwischen Licht und Elektrizität« <1889>, in: Ders.: Gesammelte

Werke, Band I, Leipzig 1895, S. 339-354, hier: S. 349.

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Helmholtzschen Elektrodynamik beschreiben lässt. Hertz berichtet uns, dass er nach monatelangem Scheitern des Versuchs, Nichtleiter in den Resonanzraum zwischen »Erreger«105 und »empfangenden Leiter«106 zu wuchten, darauf gekommen ist, diesen Raum, diesen Abstand zwischen seinen Geräten anders zu begreifen. Bis dahin begreift er ihn als immer noch »elektromotorischen« ›Potential‹-Raum. In der deutschen Physik galt der Begriff des Potentials107 als fundamentale Kategorie für jede Form mathematisch anschreibbarer Kraftfelder, ein Laplace'sches Bündel an Funktionentheorien auf Papier, auch nicht eben leicht vorstellbar, aber immer noch ein dynamisch-mechanisches Modell. In der Elektrizitätstheorie Webers war das Potential zudem ein metaphysisch angereicherter Begriff, in welchem sich instantane Fernkräfte als reine Kraftbeziehungen in gleichsam geistiger Natur entfalten können sollten. Dieser Potentialbegriff passt nicht, wie sich jetzt erweist, in den Hertzschen Raum. Hertz sagt das auch so. »Erst ganz allmählich gelang es mir, mir klar zu machen, dass jener Satz, welcher die Voraussetzung meines Versuches bildete, hier keine Anwendung fände; dass bei der Schnelligkeit der Bewegung auch Kräfte, welche ein Potential besaßen, in der fast geschlossenen Leitung Funken erregen könnten; dass überhaupt die größte Vorsicht zu beobachten sei bei Anwendung der allgemeinen Begriffe und Lehrsätze, welche der gewöhnlichen Elektrizitätslehre entstammten. [...] Ich sah ein, dass ich gewissermaßen allzu gerade auf mein Ziel zugegangen war. Es gab ja noch eine unendliche Mannigfaltigkeit anderer Lagen des sekundären gegen den primären Leiter, unter diesen konnte wohl solche sein, welche für mein Vorhaben günstiger waren«.108 Jetzt erst, im Dezember 1887, gewinnt er Dimensionen der Messbarkeit, die nicht mehr gerade sind, sondern gekrümmt, sphärisch und dreidimensional. Er probiert und ahnt, was niemand vor ihm ahnen konnte (außer in der Gestalt von Maxwells Gleichungen), nämlich wie sich eine Welle, oder etwas Wellenähnliches von dem Schwingungsapparat des Dipols »abschnürt«, dann gleichsam umklappt und sich gekrümmt im Raum verbreitet. Ungefähre Bilder von solchen Ausbreitungen fanden sich in den Anhangstafeln des Maxwellschen Hauptwerks, aber eben nur ungefähre.109 Jetzt misst er jeden Punkt im Raum und macht sich in seinen Labornotizen – buchstäblich – Schritt für Schritt eine Skizze und dann eine Vorstellung von der Welle.

»It is not like imagining invisible angels« Bald nach Abschluss seiner Experimente müssen Hertz die epistemologischen Konsequenzen seiner Entdeckung klar geworden sein. Den Naturforschern gegenüber, also der versammelten Führungsriege der kaiserlichen Physik, belässt er es bei Andeutungen: »Die Dauer jeder einzelnen Schwingung [in einem Funken; W.H.] ist viel kleiner, als die Gesamtentladung [des Funkens; W.H.]«. Das ist schlichter Feddersen, erinnert aber auch daran, dass in jedem einzelnen Funken mikrosekundenschnelle Oszillationen existierten. Aus Sicht der heutigen Physik sind Funken ionisierte »Durchschläge« von Elektronen: »Ein Durchschlag beginnt an einer Stelle auf oder zwischen den Elektroden […]. Von dort entwickelt sich ein Schlauch aus

105 Hertz, Heinrich: »Über die mechanischen Wirkungen electrischer Drahtwellen«, in: Annalen der Physik und

Chemie 1891(52), hier S. 408. 106 Hertz: »Über die Beziehungen zwischen Licht und Elektrizität« <1889>, in: Ders.: Gesammelte Werke, S.

349. 107 Für eine ausführliche Darlegung des Potentialbegriffs in der Theorie Webers vgl. Meya, Jörg / Sibum, Heinz

Otto: Das fünfte Element. Wirkungen und Deutungen der Elektrizität, Reinbek 1987, S. 200ff. 108 Hertz, Untersuchungen, S. 5. 109 Vgl. Maxwell, Treatise, Band 1, Plates, Fig. VIII.

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ionisierter Luft auf die Elektroden zu. Sobald dieser Schlauch beide Elektroden erreicht hat, fließt ein hoher Strom, der den Entladungskanal stark aufheizt und damit für das Aufleuchten und den Knall sorgt. […] Die Vorgänge, die zu seiner Entstehung führen, laufen in wenigen Bruchteilen einer Mikrosekunde ab.«110 Solche materiellen, plasmaphysikalischen Vorgänge in einem Funken wären für Hertz eher uninteressant gewesen. Was für ihn zählten, waren die Oszillationen: »Man kann auf den Gedanken kommen, die einzelne Schwingung als Zeichen zu benützen.«111 Hertz deutet um: Funken bleiben, was sie immer waren, nämlich unhintergehbare Effekte des Elektrischen; aber jetzt bekommen sie eine neue Funktion, nämlich einen reinen Zeichenwert zur Anzeige einer Schwingung. Anderthalb Jahrhunderte waren Funken der Inbegriff des elektrischen ›Materials‹, des Fluiden, des Feuers und des Körpers. Jetzt geschieht ihr Paradigmenwechsel. Sie selbst sind gleichsam ›nichts‹ mehr. Hertz musste zu dem Schluss kommen, dass der Funken selbst überhaupt gar keine Welle erzeugt; seine Wellen ›entstehen‹ vielmehr im Schwingkreis, den sein ganzer »Auslader«-Apparat darstellt. Einer der Replikatoren seiner Versuchsanordnung beschreibt es lakonisch und klar: »The central spark gap merely serves as a very fast-acting switch to discharge the electrical energy.«112 Wenn Hertz den Naturforschern sagt, dass man jede einzelne Schwingung des Funkens als »Zeichen« »benützen« soll, dann ist das eine kluge Metonymie für den Schwingungsschalter einer undarstellbaren Welle. Was Hertz gerade noch darstellen kann, sind die auf Papier gezogenen Verbindungslinien der »Zeichen«, die seine Funken in den Empfangs-Drahtgestellen anzeigen (Abb. 4). Seine Empfangsfunken sind ebenfalls Zeichen; sie schalten keine Schwingungen, sondern zeigen an, dass in den Gestellen eine Resonanz schwingt. Mit einer Lupe muss Hertz diese Fünkchen suchen, die über die winzigen Öffnungen in seinen Drahtgestellen springen. So gewinnt er allmählich die ersten Konturen elektromagnetischer Wellen in seinem Karlsruher Vorlesungsraum. Jetzt liest er Maxwell gründlich und beginnt zu ahnen, welche tiefgreifenden Wechsel der Physik bevorstehen. »Allgemeine Begriffe und Lehrsätze der Elektrizitätslehre« gelten nicht mehr; Abschied vom Begriff der Kraft als einem jahrzehntelang eingeübten Potentialausdruck von Fernwirkungskräften und als Inbegriff der Verklammerung von Geist, Natur und Physik; Abschied von einem deutschen Jahrhundert der Idee, dass die Natur tut, was der Mensch denkt. Kurz: Aus den alten Dimensionen kann Hertz keine Vorstellung mehr gewinnen von dem, was er da gefunden hat. Dieses Problem der Unvorstellbarkeit (das schon Thomson skandalisiert hatte) besteht, seit es elektromagnetische Wellen ›gibt‹, auch in der heutigen Physik. Im Kapitel »Scientific Imagination« seiner legendären Lectures On Physics lesen wir Richard Feynmans wörtliche Rede an seine Studenten: »So you say, ›Professor, please give me an approximate description of the electromagnetic waves, even though it may be slightly inaccurate, so that I too can see them as well as I can see almost invisible angels. Then I will modify the picture to the necessary abstraction.‹ I'm sorry I can't do that for you. I don't know how. I have no picture of this electromagnetic field that is in any sense accurate. […] Perhaps the only hope, you say, is to take a mathematical view. Now what is a mathematical view? From a mathematical view, there is an electric field vector and a magnetic field vector at every point in space; that is,

110 Kronjäger, Jochen: Das große Hochspannungsund Hochfrequenz-Experimentier-Handbuch, Poing 2005, S.

16f. 111 Hertz, Heinrich: »Über die Beziehungen zwischen Licht und Elektrizität«. Vortrag, gehalten bei der 62.

Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte zu Heidelberg am 20. September 1889, in: Hertz: Gesammelte

Werke I, S. 339-54, hier: S. 348. 112 Bryant: »Experiments«, S. 41.

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there are six numbers associated with every point. Can you imagine six numbers associated with each point in space? That's too hard. Can you imagine even one number associated with every point? I cannot! […] But nevertheless, in some sense the fields are real, because after we are all finished fiddling around with mathematical equations – with or without making pictures and drawings or trying to visualize the thing – we can still make the instruments detect the signals from Mariner II and find out about galaxies a billion miles away, and so on.«113 Als ›Entdecker‹ dieser Wellen stand Hertz als erster vor besagter Vorstellungsunmöglichkeit. Der Schluss, den er daraus zieht, ist die Erweiterung seiner Zeichentheorie der Oszillation zu einem epistemologischen Theorem, das in der analytischen Sprachphilosophie als »Hertz’s Picture Theory« bekannt geworden ist und mit dem Hertz insgesamt »die Philosophie des 20. Jahrhunderts nachhaltig beeinflusst hat«.114 Denn als Physiker des 19. Jahrhunderts kann Hertz gegenüber der Vorstellbarkeit der Wellen nicht wie Feynman Engel zitieren und die Achseln zucken. Hertz ›muss‹ die Was-Frage klären: Was ›sind‹ elektromagnetische Wellen? Die Lehrmeinung der Forscherorganisation formuliert Helmholtz im Vorwort zu Hertz’ 1894 posthum erschienenen Werk zur Mechanik: »Es kann nicht mehr zweifelhaft sein, dass die Lichtschwingungen elektrische Schwingungen in dem den Weltraum füllenden Äther sind, dass dieser selbst die Eigenschaften eines Isolators und eines magnetisierbaren Medium hat«.115 In den Augen der Majorität der Physiker der Hertz-Zeit sind elektromagnetische Wellen Schwingungen im Äther. Wenn das aber gelten soll, dann müssten sie erstens »zusammen mit den transversalen« auch »longitudinale«116 Anteile haben, die aber weder im Licht noch durch Hertz je nachgewiesen worden waren (die Röntgenstrahlen werden dann ab 1896 der heiße Favorit dafür); andererseits müsste der Äther selbst »unzusammendrückbar«117 sein (unendlich härter als Stahl) und zugleich ein vollkommen »durchsichtiges System«118, das alles Materielle durchdringt. Hertz geht hier nicht mit. Er weiß zwar noch nichts von der rätselhaft quantenphysikalischen Doppelnatur des Elektromagnetischen, masselose Wellen- und zugleich korpuskulare Teilchen-Eigenschaften zu haben (wie es die moderne Physik definiert). Er bleibt bei seinem rätselhaften Konzept namens Äther als »welterfüllendes Medium«119; seine Skepsis richtet sich gegen die Methoden, mit denen man dem Äther Eigenschaften zuzuweisen gewohnt war. »So ist z. B. der Versuch verfrüht, die Bewegungsgleichungen des Äthers auf die Gesetze der Mechanik zurückführen zu wollen, solange man sich nicht eindeutig darüber verständigt hat, was man mit diesem Namen bezeichnet haben will.«120 Hertz’ Antwort auf die unübersehbare Hülle und Fülle an Äthertheorien, die ihn umgeben und von denen ich hier nur eine Kostprobe bringen konnte, ist von einer epistemologischen Präzision, die nur jemand formulieren kann, der das Problem gleichsam durchlitten hat: »Es ist die nächste und in gewissem Sinne wichtigste Aufgabe unserer bewussten Naturerkenntnis, dass sie uns befähige, zukünftige

113 Feynman: Lectures, Vol. 2, S. 20-29. 114 Heidelberger, Michael: »From Helmholtzs Phisosophy of Science to Hertzs Picture Theory«, in Davis, Baird:

Heinrich Hertz,Classical physicist, modern philosopher, Dordrecht 1998 S. 9-24, hier: S. 10. 115 Hertz, Heinrich: Gesammelte Werke - Band III Die Prinzipien der Mechanik, Leipzig 1894S. XVII. 116 Rosa, M. La: Der Äther - Geschichte Einer Hypothese, Leipzig 1912, S. 37. 117 Ebd., S. 38. 118 Ebd., S. 21. 119 Hertz, Heinrich: Die Prinzipien der Mechanik, Ges. Werke Band III, Leipzig 1894, S. 44. 120 Ebd., S. XXXIII.

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Erfahrungen vorauszusehen […]. Das Verfahren aber, dessen wir uns […] bedienen, ist dieses: Wir machen uns innere Scheinbilder oder Symbole der äußeren Gegenstände, und zwar machen wir sie von solcher Art, dass die denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien von den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände. Damit diese Forderung überhaupt erfüllbar sei, müssen gewisse Übereinstimmungen vorhanden sein zwischen der Natur und unserem Geiste. Die Erfahrung lehrt uns, dass die Forderung erfüllbar ist und dass also solche Übereinstimmungen in der Tat bestehen«.121 Dieses berühmte Scheinbildtheorem ist über die Vorlesungen von Ludwig Boltzmann zum jungen Ludwig Wittgenstein122 und aus dessen »Tractatus«123 in die ganze wissenschaftliche Welt gelangt. Was die Wissenschaft bestenfalls erkennen kann, sind Vorhersagen von Bildern, welche den Bildern entsprechen, die auf einem komplementären, aber heteronomen Feld entstehen. Wichtig ist, zu sehen, dass dieses Theorem ein gleichsam unscharfes Apriori voraussetzt, nämlich dass »gewisse Übereinstimmungen vorhanden sein [müssen] zwischen der Natur und unserem Geiste«, die durch »Erfahrung« bestätigt werden können. Dieser pragmatische Kantianismus erinnert gleichermaßen an den von Wundt und Fechner entwickelten »psychophysischen Parallelismus«124 (der bis in die Begründung der Quantenmechanik hineinwirkt) wie an die heutigen Konzepte einer »schwachen Ontologie«125 oder des Reellen/Unbewußten bei Lacan. Denn zwar müssen wir, seit und mit Hertz, von »gewissen Übereinstimmungen« zwischen »Natur und Geist« ausgehen, nur werden wir nie etwas anderes von diesen »Übereinstimmungen« sehen als »Scheinbilder«. Deren Vielfältigkeit selbst wiederum kann man, mit Wittgenstein, nicht noch einmal als solche abbilden. »Aus ihr kann man beim Abbilden nicht heraus«.126 Es ist deutlich, dass Hertz im Scheinbildtheorem den Weg seiner eigenen Experimentationserfahrung in Sachen ›Medienwellen‹ nachzeichnet und verallgemeinert. Er hatte als erster Physiker überhaupt dasjenige zu stellen und zu messen gehabt, was man nicht abbilden, nicht aufmalen und sich nicht vorstellen kann, nämlich das Reelle der Elektrizität. Gleichwohl, ab jetzt ist Elektromagnetismus als Welle in der Welt und damit an seinem Platz, an dem es »keine Abwesenheiten gibt« (Lacan). Schon auf dem Hertzschen Weg zu seinem Fund gab es eine Übertragung im Medialen. Ein kontingenter Funke, den man ebenso gut unvordenklich nennen könnte. Das Fünkchen war nur ein Zeichen, aber als solches ein unhintergehbarer Effekt. Hertz hatte gar keine Wahl, das Reelle als Mediales nicht zu stellen, weil er das, was ein unvordenklicher Effekt einer Übertragung ist, als Medium seines Effekts unmittelbar vor sich hatte. Soweit es eine ihm zunächst alles andere als geheuere Theorie betraf, hat er am Ende nach Maßgabe dieser Theorie Messungen gemacht. Erst damit hat er die Weiterentwicklung der Theorie in Gang gebracht, inklusive aller Normalisierungen der

121 Ebd., S. 1. 122 Vgl. Wilson, Andrew D.: »Hertz, Boltzmann and Wittgenstein Reconsidered«, in: Studies in history and

philosophy of science1989(20), S. 245-263. 123 »4.04 Am Satz muß gerade soviel zu unterscheiden sein, als an der Sachlage, die er darstellt.« Wittgenstein,

Ludwig: Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt 1984, S. 30. 124 Vgl. Heidelberger, Michael: »Fechner und Mach zum Leib-Seele-Problem«, in: Arndt, Andreas und Walter

Jaeschke: Materialismus und Spiritualismus : Philosophie und Wissenschaften nach 1848, Hamburg 2000, S. 53-

67, hier: S. 53ff. 125 Vgl. Vattimo, Gianni: Glauben – Philosophieren, Stuttgart 1997, S. 29ff; Mittelstaedt, Peter: »Universell und

inkonsistent? Quantenmechanik am Ende des 20. Jahrhunderts«. In: Physikalische Blätter, 2000(56), , S. 65-68. 126 Wittgenstein: Tractatus, S. 30

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Schreibweisen und der Klärung ihrer mathematischen Struktur, so dass sie heute Erstsemesterstoff geworden ist. Erst als sich Hertz von der Kontur des Unabbildbaren »innere Scheinbilder« macht, kann er Übereinstimmungen (»Bilder«) finden und die Scheinbilder korrigieren. Dieser Prozess aus Bildern, die Bilder überlagern und korrigieren, ist ein Medienprozess kat exochen. Es ist aber zugleich ein intellegibler Prozess des Aushandelns. Wie keinem anderen ›Stoff‹ ist dem Elektromagnetismus eine Medialität als ein gleichsam unhintergehbarer Effekt epistemologisch inhärent. Im Sinne eines Apriori wird er in all den Medien wiederkehren, deren ›materielle Träger‹ elektromagnetische Wellen sind: Radio, Radar, Fernsehen und Computern. Alle diese Medien sind von einer Art des ›Materiellen‹, das nicht mehr materiell im herkömmlichen Sinne ist. Wer von diesen Medien etwas verstehen will, kann also keine Wahrheiten dekretieren, sondern muss ihre Effekte, das heißt ihre Scheinbilder und deren Sinn immer wieder neu aushandeln. Ihr Ur-Effekt ist – der Funke.