03_Einleitung

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  • 1Einleitung

    1. Der lebensgeschichtliche Hintergrund, S. 1 2. Der akademische Lehrer, S. 8 3. Max Weber und der Methodenstreit, S. 21 4. Zur Gliederung der Vorlesung,S. 31 5. Die Nationalkonomie als Wissenschaft vom Menschen in historischerPerspektive, S. 38 6. Zur Anordnung und Edition der Texte, S. 45

    1. Der lebensgeschichtliche Hintergrund

    Whrend seines juristischen Studiums und Referendariats von 1882 bis1890 in Heidelberg, Berlin, Gttingen und dann erneut Berlin hatte Max We-ber Gelegenheit gehabt, Wissenschaftler ersten Ranges zu hren; schonwhrend der Studienzeit erwarb er ein breites Wissen in zahlreichen Fach-gebieten, die der Jurisprudenz nahestanden. Dabei wandte er sich auchwirtschaftlichen Fragen zu und damit auch der Nationalkonomie. In seinemdritten Semester in Heidelberg hatte er die groe 5-stndige Hauptvorle-sung von Karl Knies (18211898), einem der Altmeister der sog. histori-schen Schule der Nationalkonomie, ber Allgemeine Volkswirthschafts-lehre (theoretische Nationalkonomie)1 gehrt: Knies hat mir jetzt, wo ichdoch einige Grundbegriffe nationalkonomischer Betrachtungsweise durchAdam Smith u. A. gewonnen habe, einen wesentlich andren Eindruck ge-macht, als vor einem Jahre, wo ich mitten im Semester einmal hinlief undmich schrecklich dete.2 Schon in diesen Jahren erwarb sich Weber, vor-nehmlich auf dem Wege des Selbststudiums, Grundkenntnisse der damalsherrschenden nationalkonomischen Lehrmeinungen.3

    1 Anzeige der Vorlesungen, welche im Sommer-Halbjahr 1883 auf der Groherzog-lich Badischen Ruprecht-Carolinischen Universitt zu Heidelberg gehalten werdensollen. Heidelberg: Buchhandlung von Karl Groos 1883, S. 14.2 Brief an Max Weber sen. vom 5. Mai 1883, GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 2,Bl. 47 49 (MWG II/1; auch in: Weber, Jugendbriefe, S. 73 75, hier: S. 74). Bei denBriefen Webers wird durchgehend auf die Originale verwiesen und nach diesen zi-tiert, ggf. zustzlich auch auf die gedruckten Jugendbriefe, die bisweilen in derFormulierung leicht variieren. Abweichungen gegenber der dortigen Fassung wer-den nur in wichtig erscheinenden Fllen kenntlich gemacht.3 Vgl. z.B. den Brief an Helene Weber vom 4. Nov. 1882, in dem Weber u.a. die Lek-tre von Adam Smith erwhnt, GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 3, Bl. 32 33(MWG II/1; auch in: Weber, Jugendbriefe, S. 58 61, hier: S. 58 f.).

  • 2In seiner Referendarzeit in Berlin (18861890) verstrkten sich Max Webersnationalkonomische Interessen. Er hrte in dieser Zeit in vermehrtem Um-fang nationalkonomische Vorlesungen, unter anderem besuchte er Lehr-veranstaltungen von Adolph Wagner (18351917) und im Staatswissen-schaftlich-Statistischen Seminar agrarhistorische bungen von AugustMeitzen (18221910), eines damals auf dem Gebiet des Agrarwesens fh-renden Statistikers und Agrarhistorikers. Durch die Vermittlung des mit derFamilie Weber befreundeten Privatdozenten Robert Hoeniger (18551929)gewann Max Weber Anschlu an eine Gesellschaft junger Nationalkono-men, von denen es heit, da sie natrlich meist in erster Linie Man-chester-feindlich seien, was mir, glaube ich, ganz gut thut, denn ich binals Nationalkonom noch sehr schlecht beschlagen.4 Whrend seiner Stu-dienzeit zeigte sich Max Weber von der klassischen NationalkonomieAdam Smiths beeindruckt und las auch regelmig Gustav Schmollers na-tionalkonomische Aufstze in den Preuischen Jahrbchern.5 Wichtig wa-ren die freundschaftlichen Beziehungen zu dem wenig jngeren National-konomen Walther Lotz (18651941), der dann auch einer der drei Dispu-tanten bei Webers Promotion war;6 von ihm heit es, da er in den Nachmit-tagsstunden [], wie immer mit einer Masse volkswirthschaftlicher Littera-tur [] beladen, bei Max Weber erschienen sei.7 Im brigen nahm Weberregelmig an den Veranstaltungen der Staatswissenschaftlichen Gesell-schaft teil, die, wie er berichtet, berwiegend von Juristen und National-konomen besucht wurde. Er selbst sei im Lauf der Zeit ungefhr zu 1/3Nationalkonom geworden.8

    Von besonderer Bedeutung fr Max Webers akademische Karriere warfreilich, da er in engere Verbindung zu Levin Goldschmidt (18291897)trat, dem Begrnder der Lehre vom Handelsrecht als einer eigenstndigen

    4 Brief an Hermann Baumgarten vom 30. Sept. 1887, GStA PK, VI. HA, Nl. Max We-ber, Nr. 7, Bl. 26 28 (MWG II/2; auch in: Weber, Jugendbriefe, S. 270 273, hier:S. 272 f.). Vgl. Deininger, Einleitung, MWG I/2, S. 11.5 Vgl. zu Adam Smith oben, S. 1, Anm. 3, sowie bzgl. Gustav Schmoller den Brief anMax Weber sen. vom 3. Sept. 1883, GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 2, Bl. 51 52(MWG II/1; auch in: Weber, Jugendbriefe, S. 75 f.).6 Zum Ablauf des Promotionsverfahrens sowie der auf den 1. August 1889 angesetz-ten Disputation vgl. Deininger, Editorischer Bericht, MWG I/2, S. 57 f., sowie Lepsius,Susanne, Editorischer Bericht zu Geschichte der Handelsgesellschaften, MWG I/1,S. 109 126. (Die Edition lag W. J. Mommsen noch nicht vor.)7 Brief an Helene Weber vom 17. Juni 1889, GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 3,Bl. 143 145 (MWG II/2). Vgl. Borchardt, Einleitung, MWG I/5, S. 100 f.8 Brief an Hermann Baumgarten vom 3. Jan. 1891, GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber,Nr. 7, Bl. 49 54 (MWG II/2; auch in: Weber, Jugendbriefe, S. 324 330, hier: S. 327). Vermutlich handelt es sich um die sogenannte kleine staatswissenschaftliche Gesell-schaft, einen Kreis fortgeschrittener Studenten und junger Gelehrter in Berlin, vgl.dazu MWG I/4, S. 914 f., Zitat S. 914.

  • 3juristischen Disziplin. Goldschmidt stand seit der Zeit, in der er im Haus derGroeltern Max Webers in Heidelberg gewohnt hatte (18621870), infreundschaftlichem Kontakt zur Familie. Max Weber nahm in Berlin an des-sen Seminar teil und verfate ein Referat ber Handelsgesellschaften nachmittelalterlichen italienischen und spanischen Quellen; dafr eignete er sichmit groer Geschwindigkeit die dafr erforderlichen Kenntnisse dieser bei-den Sprachen an.9 Aus dieser Arbeit ging wenig spter das Thema seinerjuristischen Dissertation hervor.10 Diese befate sich mit der Geschichteder Handelsgesellschaften im Mittelalter,11 einem rechtshistorischen Ge-genstand, der sich an der Grenze zur Wirtschaftsgeschichte und zur Natio-nalkonomie bewegte. Wichtiger vielleicht noch war, da Max Weber in denagrarpolitischen bungen bei August Meitzen und dessen Arbeiten, diesich sowohl mit dem rmischen Agrarrecht wie auch mit den preuisch-deutschen Agrarverhltnissen und ihren einschneidenden Vernderungenseit dem Ende des 18. Jahrhunderts befaten, die Anregung gewann, eineumfassende Untersuchung ber die rmische Agrargeschichte ins Auge zufassen;12 brigens noch bevor er die Arbeit Zur Geschichte der Handels-gesellschaften im Mittelalter abgeschlossen hatte.13 Vermutlich ging dieIdee fr eine derartige Untersuchung auf Meitzen zurck, der darin einewnschenswerte Abrundung seiner eigenen Untersuchungen erblickt ha-ben drfte. Am 31. Dezember 1889 schrieb Max Weber an seinen OnkelHermann Baumgarten, der in allen Fragen des Studiums immer schon seinengster Berater gewesen war: Man wird hier immer leicht aufs Publicierengepret; so sitzt mir einer meiner geschtztesten und persnlich liebens-wrdigsten Lehrer, der bekannte Agrarhistoriker Meitzen hier stark wegeneiner nach meiner berzeugung noch nicht druckreifen Arbeit ber rmi-sche Ackerteilung und Colonat auf den Hacken.14 Zunchst mute freilicherst noch das zweite juristische Staatsexamen abgelegt werden.15

    9 Vgl. Brief an Emmy Baumgarten vom 21. Okt. 1887, Deponat Eduard Baumgarten,BSB Mnchen, Ana 446 (MWG II/2; auch in: Weber, Jugendbriefe, S. 273 283, hier:S. 273 f.).10 Bereits in einem Brief an Hermann Baumgarten vom 30. Sept. 1887, GStA PK, VI.HA, Nl. Max Weber, Nr. 7, Bl. 26 28 (MWG II/2; auch in: Weber; Jugendbriefe,S. 270 273, hier: S. 272), hatte Weber die Hoffnung geuert, da sich diese Arbeitvielleicht gelegentlich verwerthen liee. Vgl. Deininger, Einleitung, MWG I/2, S. 10.11 Vgl. MWG I/1.12 Vgl. Deininger, Einleitung, MWG I/2, S. 11 f.13 Deininger, Editorischer Bericht, MWG I/2, S. 56.14 Brief an Hermann Baumgarten vom 31. Dez. 1889, GStA PK, VI. HA, Nl. Max We-ber, Nr. 7, Bl. 45 48 (MWG II/2; auch in: Weber, Jugendbriefe, S. 322 324, hier:S. 323 mit geringfgigen Abweichungen zum Originalbrief).15 Das Prfungsverfahren wurde am 18. Oktober 1890 erfolgreich abgeschlossen.Vgl. den mit dem Datum October 1891 versehenen Lebenslauf Max Webers, dervermutlich Teil des Habilitationsgesuchs war, in: MWG I/1, S. 357

  • 4Max Weber schlo die Promotion am 1. August 1889 durch Vorlage einesTeils der Untersuchung Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mit-telalter erfolgreich ab. Vor seiner Habilitation hat er zunchst mit dem Ge-danken gespielt, statt einer wissenschaftlichen Laufbahn eine praktischeTtigkeit als Syndikus bei der Handelskammer in Bremen anzunehmen;16

    nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt, endlich die finanzielle Abhngigkeitvon seinem Vater abzuschtteln. Die Aussicht bei der Bremer Handelskam-mer zerschlug sich jedoch wieder. Bereits im Wintersemester 1890/91 er-folgte dann die Habilitation auf dem Gebiet des rmischen Staats- und Pri-vatrechts sowie des Handelsrechts, nach berwindung von internenSchwierigkeiten, die sich daraus ergaben, da die von Weber angestrebteKombination von Rmischem Staats- und Privatrecht und Handelsrecht alsunblich galt.17 Max Weber berichtete Emmy Baumgarten nicht ohne Ironie,da er nun endlich sein voraussichtlich letztes Examen auf dieser Erdeabsolviert habe.18

    Max Webers frhe Arbeiten bewegten sich smtlich auf der Grenzliniezwischen Rechtsgeschichte, Wirtschaftsgeschichte und einer historischenNationalkonomie, wie sie damals an der groen Mehrzahl der deutschenUniversitten vertreten wurde. Deininger hat darber hinaus eindrucksvollgezeigt, da gerade auch fr die Rmische Agrargeschichte zeitgenssi-sche politische Erfahrungen, insbesondere die Auseinandersetzungen berdie Entwicklung der deutschen Agrarverfassung seit der Bauernbefreiungund der Abschaffung der Formen gemeinwirtschaftlicher Nutzung desGrund und Bodens, wesentlich eingewirkt haben.19 Die damals verbreitete,von Meitzen fhrend vertretene Ansicht, da in den Anfngen der deut-schen Agrargeschichte die buerliche Gemeinfreiheit gestanden habe undsich erst im Laufe einer langen Entwicklung hierarchische bzw. feudalisti-sche Strukturen entwickelt htten, wurde von Max Weber gutenteils ber-nommen und der Versuch gemacht, dies auch fr die frhe rmische Agrar-verfassung nachzuweisen.20 Darber hinaus aber stand in Max Webers Un-tersuchungen die Frage im Zentrum, welche Auswirkungen die agrarischenStrukturen im antiken Rom auf die rmische Wirtschaftsverfassung und ihre

    16 Vgl. den Brief an Hermann Baumgarten vom 3. Jan. 1891, GStA PK, VI. HA, Nl.Max Weber, Nr. 7, Bl. 49 54 (MWG II/2; auch in: Weber, Jugendbriefe, S. 324 330,hier S. 326). Vgl. auch: Weber, Marianne, Lebensbild1, S. 174.17 Vgl. dazu die Einleitung zu MWG I/1, S. 14 21.18 Brief an Emmy Baumgarten vom 18. Febr. 1892, Deponat Eduard Baumgarten,BSB Mnchen, Ana 446 (MWG II/2; auch in: Weber, Jugendbriefe, S. 337 342, hier:S. 338).19 Vgl. z.B. Deininger, Einleitung, MWG I/2, S. 1 54, bes. S. 13 22.20 Ebd., S. 28 ff.

  • 5Vernderungen im Laufe der Zeit gehabt haben. Derartige Themen lagendamals speziell in Deutschland im Mittelpunkt der Interessen von National-konomen.21 Der Sache nach verhandelte er vor dem Hintergrund der rmi-schen Agrarverhltnisse den allmhlichen Aufstieg, die Herrschaft unddann den Niedergang des (Agrar-)Kapitalismus,22 der das konomischeRckgrat des rmischen Weltreiches abgab, das andererseits aber wegender Sklavenzufuhr von dessen imperialen Erfolgen abhngig war. Die un-bedingte Freiheit der wirtschaftlichen und rechtlichen Disposition ber dasGrundeigentum und dessen mglichste Mobilisierung23 gab den Ansatz-punkt fr die Entstehung eines agrarischen Kapitalismus grten Stils. Mitdem bergang zum Kolonat und der Ausbildung immer grerer selbstge-ngsamer Grundherrschaften in den spten Jahren der Republik wurdendie Voraussetzungen fr eine dynamische Wirtschaftsentwicklung mehr undmehr zerstrt.

    Man knnte geneigt sein, diese in ihren Thesen teilweise khne Untersu-chung als ein typisches Produkt der damals herrschenden Schule der histo-rischen Nationalkonomie anzusehen, und in gewissem Sinne war sie dasauch. Weber selbst betrachtete sich noch 1895 als einen Jnger der deut-schen historischen Schule.24 Aber er hatte von vornherein anderes im Sinnals die Reprsentanten der historischen Schule; er wollte den Problemenmit prziser Begrifflichkeit und insbesondere mit exakt formulierten natio-nalkonomischen Theorien auf den Grund gehen. Von besonderer Bedeu-tung wurden fr Max Weber die nationalkonomischen Theorien von JohannKarl Rodbertus(-Jagetzow) (18051875), insbesondere dessen Modell dersog. Oiken-Verfassung. Rodbertus hatte fr die frhe rmische Zeit die Vor-herrschaft von geschlossenen, wesentlich selbstgengsamen Wirtschaftenbehauptet. Obschon Weber sich die Thesen von Rodbertus in nur begrenz-tem Umfang zu eigen machte, war er doch von dessen methodischem Zu-griff auf die historischen Sachverhalte zutiefst beeindruckt.25 Noch in Wirt-schaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnun-gen und Mchte spielen die Modellkonstrukte von Rodbertus eine wichtigeRolle.26 Ebenso hat Max Weber Rodbertus wiederholt gegen die meist

    21 Vgl. dazu Tribe, Keith, Strategies of Economic Order. German Economic Dis-course, 1750 1950. Cambridge: Cambridge University Press 1995 (hinfort: Tribe,Strategies).22 Deininger, Einleitung, MWG I/2, S. 46.23 Weber, Rmische Agrargeschichte, MWG I/2, S. 201.24 Vgl. die Antrittsrede am 13. Mai 1895 in Freiburg: Der Nationalstaat und die Volks-wirtschaftspolitik. Akademische Antrittsrede, MWG I/4, S. 563.25 Vgl. Deininger, Einleitung, MWG I/2, S. 21 f.26 Vgl. z.B. Weber, Hausgemeinschaften, MWG I/22 1, S. 155.

  • 6scharfe zeitgenssische Kritik verteidigt.27 Schon hier zeichnet sich einGrundzug des spezifischen Ansatzes Max Webers ab, nmlich die Frage,welche Bedeutung rechtliche Ordnungen fr die Entwicklung bzw. die Ver-nderung wirtschaftlicher Systeme besitzen, mit anderen Worten das Ver-hltnis von Wirtschaft und Gesellschaft.

    Anfang 1892 wurde Max Weber vom Verein fr Socialpolitik gebeten, ander Auswertung der von diesem durchgefhrten umfassenden Enqueteber die Lage der Landarbeiter im Deutschen Reich mitzuwirken.28 Er ber-nahm sogleich die Auswertung des politisch brisantesten Teils der Enquete,nmlich den die Verhltnisse der Landarbeiter in den ostelbischen Gebie-ten betreffenden.29 Seine agrarhistorischen Studien bei August Meitzen,der auch magebliche Arbeiten ber die Entwicklung der Landwirtschaft inPreuen seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts vorgelegt hatte, empfahlenihn fr diese Aufgabe.30 Eine Rolle mag auch gespielt haben, da sein Vaterals Abgeordneter der Nationalliberalen Partei im Reichstag seinerzeit in fh-render Stellung an der Gestaltung der Ansiedlungsgesetzgebung mitge-wirkt hatte.31 Max Weber hat aus dem sprden statistischen MaterialSchlufolgerungen von groer politischer Tragweite abgeleitet, die sogleichgroes Aufsehen erregten. Er kam zu dem Schlu, da im Zuge des Vordrin-gens der kapitalistischen Betriebsfhrung die traditionelle patriarchalischeGutsverfassung in den ostelbischen Gebieten Preuens, welche auf der In-teressenidentitt der Gutsherren und der Instleute beruhte, unaufhaltsamzum Niedergang verurteilt sei, vor allem aber habe sie mageblich dazubeigetragen, da es zur Abwanderung eines groen Teils der deutschenLandarbeiterschaft und deren Ersetzung durch polnische Landarbeiter ge-

    27 Vgl. etwa den Brief an Lujo Brentano vom 25. Febr. 1893, in dem er die groeSchrfe Ihres Urteils ber Rodbertus beklagt. So vllig falsch mir fast alle seineAufstellungen auch hier scheinen, so glaube ich doch, da er die Sache selbst mch-tig gefrdert hat. Er schlgt meist vorbei, aber nicht ins Blaue, sondern trifft fast stetsauf einen Punkt, der in der That central liegt, und ich kann wohl sagen, da mir auchseine crassesten Einseitigkeiten und Construktionen meist ungemein fruchtbar undanregend erschienen sind. BA Koblenz, Nl. Lujo Brentano, Nr. 67, Bl. 177 178(MWG II/2; auch in: Weber, Jugendbriefe, S. 363 365, hier: S. 363 f.; dort flschlichdatiert auf den 20. Februar).28 Vgl. Riesebrodt, Editorischer Bericht, MWG I/3, S. 19, S. 22 f. Am 11. Februar1892 teilte Hugo Thiel, der beauftragte Geheime Oberregierungsrat im preuischenLandwirtschaftsministerium, Gustav Schmoller mit, da sich Weber zur Mitarbeit be-reit erklrt habe (GStA PK, I. HA, Rep. 196, Nr. 67, Bl. 167).29 Vgl. Mommsen, Max Weber2, S. 23, und ferner Riesebrodt, Einleitung, MWG I/3,S. 15 17.30 Womglich gaben auch persnliche Kontakte den Ausschlag fr die Entschei-dung zugunsten Webers. Vgl. Riesebrodt, Editorischer Bericht, MWG I/3, S. 23 f.31 Roth, Guenther, Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte 1800 1950mit Briefen und Dokumenten. Tbingen: Mohr Siebeck 2001, S. 443.

  • 7kommen sei. Die Ergebnisse seiner Enquete erschienen 1892 in den Schrif-ten des Vereins fr Socialpolitik unter dem Titel Die Lage der Landarbeiterim ostelbischen Deutschland.32 Im Frhjahr 1893 wurde Max Weber dieEhre zuteil, die Ergebnisse seiner Untersuchung auf der Generalversamm-lung des Vereins fr Socialpolitik am 20. und 21. Mrz 1893 vorzutragen.33

    Hier wurde er deutlicher. Er erklrte rundheraus, da der unvernderte Fort-bestand des Grogrundbesitzes im ostelbischen Deutschland nicht lngermit den Interessen der Nation vereinbar sei, weil dadurch die Abwanderungder deutschen und die Zuwanderung polnischer Landarbeiter begnstigtwrden. Nur eine konsequente innere Kolonisation,34 die im Osten wirt-schaftlich selbstgengsame Bauernstellen schaffe, knne diese Entwick-lung aufhalten.35

    Diese radikalen Thesen, welche Weber auch an anderer Stelle, unter an-derem auf dem 5. Evangelisch-sozialen Kongre in Frankfurt am Main am16. Mai 1894, vorstellte, machten den jungen Wissenschaftler sogleichweithin bekannt, wenngleich auch zu einer umstrittenen Figur.36 Es konnteallerdings kein Zweifel darber bestehen, da die Auswertung des umfang-reichen Materials, das durch die Enquete zusammengetragen worden war,als solche eine bemerkenswerte Leistung darstellte. Max Weber etabliertesich damit in kurzer Zeit als Sozialwissenschaftler, wenn nicht gar, nach da-maligem Fachverstndnis, als Nationalkonom. Man mge bedenken, daseine Analysen von einem zentralen Gesichtspunkt geleitet waren, nmlichda die traditionelle Agrarverfassung im deutschen Osten (und prinzipiell inder ganzen westlichen Welt) durch den unaufhaltsamen Aufstieg des Kapi-talismus untergraben wrde, eine Thematik, die ihn in anderer Form ja be-reits in seinen Studien ber Die rmische Agrargeschichte in ihrer Bedeu-tung fr das Staats- und Privatrecht intensiv beschftigt hatte.37 Fortan tratdie Frage nach den Ursprngen des kapitalistischen Systems und seinenAuswirkungen auf die gesellschaftlichen Ordnungen und wirtschaftlichenStrukturen beherrschend in das Zentrum der Forschungen Max Webers.38

    32 Die Verhltnisse der Landarbeiter in Deutschland, Band 3: Weber, Max, Die Lageder Landarbeiter im ostelbischen Deutschland (Schriften des Vereins fr Socialpolitik:Band 55). Leipzig: Duncker & Humblot 1892 (MWG I/3).33 Vgl. Weber, Max, Die lndliche Arbeitsverfassung. Referat und Diskussionsbeitr-ge auf der Generalversammlung des Vereins fr Socialpolitik am 20. und 21. Mrz1893, MWG I/4, S. 157 207.34 Zum Begriff der inneren Kolonisation vgl. Riesebrodt, Einleitung, MWG I/3, S. 8 10.35 Vgl. Mommsen, Max Weber2, S. 26 31.36 Vgl. Weber, Max, Die deutschen Landarbeiter. Korreferat und Diskussionsbeitragauf dem fnften Evangelisch-sozialen Kongre am 16. Mai 1894, MWG I/4, S. 308 345.37 Vgl. Deininger, Einleitung, MWG I/2, S. 45 f.38 Vgl. Mommsen, Max Weber2, S. 27.

  • 8Vermutlich auf eine Anregung seines Lehrers Goldschmidt hin entschlosich Weber Anfang 1894, die soeben publizierten Ergebnisse der 1891 ein-gesetzten Brsenenquetekommission fr die von Goldschmidt herausgege-bene Zeitschrift fr das Gesammte Handelsrecht zu besprechen. Dabeidrfte eine Rolle gespielt haben, da eine Publikation zu Fragen des zeitge-nssischen Handelsrechts Max Webers akademische Stellung an der Berli-ner Juristischen Fakultt gestrkt haben wrde. Jedoch interessierten ihndie hier aufgeworfenen Fragen auch als Wissenschaftler und als Politiker.Weber war davon berzeugt, da legislative Eingriffe in die Organisationund in die Geschfte der deutschen Brsen namentlich das von vielenSeiten geforderte Verbot des Terminhandels fr die Stellung der deut-schen Brsen in der Welt hchst schdliche Auswirkungen haben mten.Mit Entschiedenheit wandte er sich insbesondere gegen die agrarischeAgitation, die er als sachfremd ansah, aber auch gegen Kritik an der Funkti-on der Brsen aus vagen antikapitalistischen Stimmungen heraus. Letzte-res gab den Ansto dazu, in Friedrich Naumanns Gttinger Arbeiterbiblio-thek zwei Beitrge39 Die Brse zu verfassen. Bedeutsam ist, da Max We-ber auch hier eine zudem politisch brisante Thematik aufgriff, die auf derGrenzlinie zwischen Rechtswissenschaft und Nationalkonomie lag und dieFrage betraf, welche Folgen rechtliche Normierungen fr die Entwicklungdes wirtschaftlichen Systems haben knnen.40

    2. Der akademische Lehrer

    Als Max Weber mit seinen Arbeiten ber das Brsenwesen begann, war erbereits tief in den akademischen Lehrbetrieb an der Juristischen Fakultt inBerlin eingespannt. Nach Abschlu seiner Habilitation am 1. Februar 1892war er zum Privatdozenten fr Handelsrecht und Rmisches Staats- undPrivatrecht an der Universitt Berlin ernannt worden.41 Bereits im Sommer-semester 1892 hielt er eine Vielzahl von Lehrveranstaltungen ab, dieallesamt auch in den folgenden Semestern in der juristischen Fakulttangesiedelt waren.42 Die Ernennung zum auerordentlichen (etatmigen)

    39 Weber hatte zunchst nur ein Heft zugesagt, das 1894 erschien. Erst im Verlaufder Arbeit stellte sich die Notwendigkeit heraus, ein zweites Heft fertigzustellen, dasdann erst zwei Jahre spter vorlag. Vgl. Borchardt, Editorischer Bericht, MWG I/5,S. 127 134, bes. S. 130 f.40 Dazu Borchardt, Einleitung, MWG I/5, bes. S. 96 ff., sowie Editorischer Bericht,MWG I/5, S. 175 187.41 Vgl. Deininger, Editorischer Bericht, MWG I/2, S. 66 f.42 Eine tabellarische Aufstellung der Lehrveranstaltungen Max Webers in Berlin,Freiburg und Heidelberg ist der Einleitung als Anhang 1 nachgestellt. Vgl. unten,S. 52 63.

  • 9Professor, die ihn endlich finanziell einigermaen unabhngig gestellt htte,blieb zu seiner Enttuschung zunchst aus und erfolgte erst im November1893.43

    Infolge der Erkrankung Goldschmidts hatte Weber im Wintersemester1892/93 auch dessen Lehrveranstaltungen ber Handelsrecht bernom-men.44 In den Sommersemestern 1893 und 1894 las er unter anderem Han-dels- und Seerecht und im Wintersemester 1893/94 Wechselrecht. Die Lehr-belastung, die er auf sich lud, war gewaltig: Im Sommersemester 1894 hielter fnf verschiedene Lehrveranstaltungen ab darunter zwei neue Vorle-sungen. Zu einer 4-stndigen Vorlesung ber Handels- und Seerecht undeiner jeweils 1-stndigen Vorlesung ber Handels- und Handelsrechtsge-schichte und ber Versicherungsrecht und Versicherungswesen kam eine2-stndige Vorlesung ber Agrarrecht und Agrargeschichte;45 auerdemkndigte Weber wie in jedem Berliner Semester als Lehrender ein 2-stndiges Praktikum ber Handelsrecht an, in dem er dann sogleich auchdie hochaktuellen Fragen der Brsengesetzgebung zur Diskussion stellte.46

    Aber nicht als Jurist ist Max Weber ffentlich hervorgetreten und bekanntgeworden, sondern als Verfasser der Arbeit ber die Landarbeiterenqueteund durch sein Wirken als Agrarpolitiker. Daher war es etwas weniger ver-wunderlich, da man an der Universitt Freiburg auf den Gedanken kam,Max Weber, obschon dieser von Hause aus kein Nationalkonom war auch nicht im damaligen relativ weit gefaten Verstndnis dieses Faches ,als Nachfolger von Eugen von Philippovich auf den Lehrstuhl fr National-konomie und Finanzwissenschaft zu berufen.47 Im Juni 1893 erging einediesbezgliche Voranfrage der Philosophischen Fakultt der UniversittFreiburg an Max Weber, ob er gegebenenfalls bereit sei, einen derartigenRuf anzunehmen.48 Er sagte spontan zu, obschon er sich im klaren war, da

    43 Vgl. Brief an Marianne Schnitger vom 9. Mai 1893, Bestand Max Weber-Schfer,Deponat BSB Mnchen, Ana 446 (MWG II/2).44 Weber, Marianne, Lebensbild1, S. 174. Vgl. ferner Mommsen, Einleitung, MWGI/4, S. 39, sowie Borchardt, Einleitung, MWG I/5, S. 92.45 Vgl. Verzeichni der Vorlesungen, welche auf der Friedrich-Wilhelms-Universittzu Berlin im Sommer-Semester vom 16. April 1894 bis 15. August 1894 gehalten wer-den. Berlin: o.V. 1894, S. 4. Die angekndigte 3-stndige Vorlesung PreuischeRechtsgeschichte hat Max Weber kurzfristig abgesagt; vgl. dazu Anhang 1, unten,S. 54, Anm. 11.46 Vgl. den Brief an Gustav Schmoller vom 23. Febr. 1894, GStA PK, VI. HA, Nl. Gu-stav v. Schmoller, Nr. 186 (unpaginiert) (MWG II/2).47 Zu den Hintergrnden der Berufung vgl. Biesenbach, Friedhelm, Die Entwicklungder Nationalkonomie an der Universitt Freiburg i. Br. 1768 1896. Eine dogmenge-schichtliche Analyse. Freiburg i. Br.: Eberhard Albert 1969, S. 200 ff. (hinfort: Bie-senbach, Entwicklung der Nationalkonomie).48 Brief an Marianne Schnitger vom 20. Juni 1893, Bestand Max Weber-Schfer, De-ponat BSB Mnchen, Ana 446 (MWG II/2).

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    die Arbeit in dem ganz neuen Fach ganz gewaltig gro49 sein wrde. Je-doch durfte er zu diesem Zeitpunkt auch begrndete Hoffnungen haben,da er als Nachfolger Goldschmidts auf ein Ordinariat an der Friedrich-Wil-helms-Universitt zu Berlin berufen wrde.50 Geheimrat Friedrich Althoff,die graue Eminenz der preuischen Hochschulpolitik, hat damals Bem-hungen unternommen, Max Weber der Universitt Berlin zu erhalten, aller-dings zunchst einmal, indem er der Freiburger Fakultt suggerierte, daMax Weber eine groartige juristische Karriere in Preuen bevorstehe under daher schwerlich auf lngere Zeit in Freiburg bleiben wrde.51 Jedochzerschlug sich die Freiburger Perspektive, aus welchem Grunde auch im-mer, zunchst wieder, sehr zum Leidwesen Max Webers, der meinte, da esihm leid thte, wenn er an die doch relativ de Juristerei geschmiedetbliebe.52 Allerdings bestand immer noch Aussicht, da es mit Berlin viel-leicht doch noch etwas werden wrde. Am Ende kam nur die Ernennungzum auerordentlichen (etatmigen) Professor im November 1893 zustan-de.53 Die Aussicht auf ein Ordinariat in Berlin hatte sich, wie bereits er-whnt, hingegen (jedenfalls vorerst) zerschlagen. Anfang April 1894 er-reichte Weber dann doch noch der Ruf nach Freiburg. Er trat dieserhalbsogleich in Verhandlungen mit Althoff ein;54 die Hoffnung auf eine Berufungan die Universitt Berlin hatte er noch nicht ganz abgeschrieben. Offenbarhat Althoff damals erwogen, in dieser Sache an die Philosophische Fakulttder Berliner Universitt heranzutreten.55 Als Althoff dann aber die vorgngi-ge Zusicherung verlangte, da Max Weber keinen anderen Ruf annehmenwerde, fhlte dieser sich in unfairer Weise unter Druck gesetzt und nahmden Ruf nach Freiburg nur wenig spter definitiv an.56 Damals meinte er,da die Position in Freiburg eine klarere, seinen Interessen wahrschein-

    49 Ebd.50 Vgl. Brief an Marianne Schnitger vom 9. Mai 1893, Bestand Max Weber-Schfer,Deponat BSB Mnchen, Ana 446 (MWG II/2).51 So lautete jedenfalls die Version Max Webers. Vgl. dessen Brief an Helene Webervom 26. Juli 1893, GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 3, Bl. 159 160 (MWG II/2),und ferner Mommsen, Einleitung, MWG I/4, S. 39 f.52 Brief an Helene Weber vom 26. Juli 1893, GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 3,Bl. 159 160 (MWG II/2).53 Laut Webers eigenen Angaben erfolgte die offizielle Ernennung am 25. November1893. Vgl. Standesliste, UA Freiburg, Personalakten, Phil. Fak., Personalakte MaxWeber.54 Brief an Friedrich Althoff vom 3. April 1894, GStA PK, VI. HA, Nl. Friedrich AlthoffB, Nr. 194, Bd. 2, Bl. 40 41 (MWG II/2).55 Brief von Friedrich Althoff an Max Weber vom 4. April 1894, GStA PK, VI. HA, Nl.Friedrich Althoff B, Nr. 194, Bd. 2, Bl. 42.56 Brief an Althoff vom 28. April 1894, SBPK, Berlin, Slg. Darmstaedter, 2g 1900,Max Weber (MWG II/2).

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    lich entsprechendere57 sein wrde. Er machte sich freilich keine Illusionenber das Ausma der Arbeit, welche ihn in Freiburg erwartete, zumal er imSommersemester 1894 in Berlin sehr umfangreiche Lehrverpflichtungenwahrzunehmen hatte, die ihn daran hinderten, sich schon jetzt auf seineknftige Lehrttigkeit in Freiburg vorzubereiten.58 berdies war er mit Publi-kationsverpflichtungen berlastet,59 insbesondere mit den Abhandlungenber die Brse und der Auswertung einer weiteren Enquete ber die Land-arbeiter im ostelbischen Deutschland, die er mithilfe des Evangelisch-so-zialen Kongresses von den Landpfarrern hatte durchfhren lassen.60

    In Freiburg wurden von dem Ordinarius fr Nationalkonomie und Finanz-wissenschaft in der Regel alternierend 4- bis 5-stndige Vorlesungen berdie drei groen Teilbereiche des Fachs erwartet: Allgemeine (bzw. theoreti-sche) Volkswirtschaftslehre (bzw. Nationalkonomie), Volkswirtschaftspoli-tik (oder auch Praktische Nationalkonomie) und Finanzwissenschaft.61 DieLehrveranstaltungen ber theoretische und praktische Nationalkonomiewaren, gem den Usancen der Zeit, groe, umfangreiche Vorlesungen, dieim Prinzip das gesamte Feld der Nationalkonomie abdeckten. Max Webersah sich also vor eine eigentlich kaum lsbare Aufgabe gestellt, die er dannaber, dank seiner schier unerschpflichen Arbeitskraft, binnen kurzer Zeitzu meistern wute. Ungeachtet eines gewaltigen Arbeitspensums fand ergleichwohl noch die Zeit, auch in Freiburg weiterhin juristische Lehrveran-staltungen abzuhalten.62 Dabei verwundert weniger, da Max Weber fr dasSommersemester 1895 und das Sommersemester 1896 ein 2-stndigesHandelsrechtspraktikum anbot, fr welches er, wie wir annehmen drfen,auf vorhandene Unterlagen zurckgreifen konnte, als da er darber hinauszustzlich zwei groe juristische Vorlesungen bernahm. Im Winterseme-

    57 Brief an Marianne Weber vom 9. April 1894, Bestand Max Weber-Schfer, Depo-nat BSB Mnchen, Ana 446 (MWG II/2).58 Fr die Collegs wirst Du doch nicht die Thorheit begehen, die ich in Freiburgmachte (und machen mute)[,] sie ab ovo selbst zu bauen, warnte rckblickend MaxWeber in einem Brief vom 29. Juli 1904 ausdrcklich Alfred Weber, GStA PK, VI. HA,Nl. Max Weber, Nr. 4, Bl. 56 57 (MWG II/4).59 Vgl. Borchardt, Einleitung, MWG I/5, S. 102.60 Vgl. Mommsen, Einleitung, MWG I/4, S. 20 ff., und den Editorischen Bericht, ebd.,S. 687 ff. Die Enquete betraf das gesamte Deutsche Reich, whrend Paul Ghre denWesten und Sden bernahm, bearbeitete Weber die ostelbischen Gebiete sowie dieProvinzen Sachsen und Anhalt.61 Diese Dreiteilung geht auf Karl Heinrich Rau (1792 1870) und dessen einflurei-ches dreibndiges Standardwerk: Lehrbuch der politischen konomie (1826 1837)zurck. Vgl. u.a. Winkel, Harald, Die deutsche Nationalkonomie im 19. Jahrhundert(Ertrge der Forschung, Band 74). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft1977, S. 20 f.62 Vgl. zu den Freiburger Lehrveranstaltungen Anhang 1, unten, S. 54 57.

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    ster 1895/96 hielt er in der juristischen Fakultt eine 4-stndige Vorlesungzur Geschichte des Deutschen Rechts. Fr das Wintersemester 1896/97kndigte er unter den Juristischen Fchern der neu gegrndeten Rechts-und Staatswissenschaftlichen Fakultt63 zunchst eine 5-stndige Vorle-sung Deutsche Rechtsgeschichte an, die er dann aber nicht gehalten hat.64

    Vor diesem Hintergrund ist die These zu relativieren, Max Weber htte sichmit seiner Berufung nach Freiburg und dem damit verbundenen Fachwech-sel gnzlich von juristischen Inhalten abgekehrt.65

    Von den juristischen Veranstaltungen Max Webers sind von einer Aus-nahme abgesehen66 allerdings keine Originalmanuskripte oder Nach-schriften erhalten.67

    Max Weber schtzte sich selbst, wie er gelegentlich gegenber AdolphWagner gestand, auf 9/10 des Gebietes, das ich vertreten soll, als Anfn-ger ein.68 Vermutlich hatte er whrend seines Studiums selbst nur eine ein-zige nationalkonomische Vorlesung zusammenhngend gehrt, in seinemdritten Semester in Heidelberg, nmlich die Vorlesung ber theoretischeNationalkonomie von Karl Knies,69 sowie, wohl eher sporadisch, die Vorle-sungen von Adolph Wagner.70 Jetzt mute er sich dies alles selbst erarbei-ten, und noch dazu in groer Eile. Er wird dabei, wie nicht anders zu erwar-

    63 Zur Errichtung der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultt in Freiburg imSommer 1896 auf Antrag Max Webers vgl. unten, S. 13 f.64 Stattdessen hat er laut Zahlungsliste eine Vorlesung Nationalkonomie (5-stn-dig) gehalten (vgl. Zahlungsliste fr das Winter-Semester 1896/97, UA Freiburg i.Br.,B 17/27). Dabei handelt es sich um eine Vorlesung zur theoretischen Nationalkono-mie. Vgl. dazu auch den Editorischen Bericht zur Vorlesung Allgemeine (theoreti-sche) Nationalkonomie, unten, S. 158, Anm. 3.65 Vgl. dazu auch den Hinweis in Borchardt, Einleitung, MWG I/5, S. 103.66 Gemeint ist die Berliner Vorlesung Agrarrecht und Agrargeschichte, MWG III/5,S. 65 157, vgl. dazu auch unten, S. 65.67 Vgl. zu den Lehrveranstaltungen Max Webers Anhang 2, unten, S. 64 66 (Stand:2008).68 Brief an Adolph Wagner vom 14. Mrz 1895, GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber,Nr. 30, Bd. 4, Bl. 14r 14v (MWG II/3).69 Die 5-stndige Vorlesung im Sommersemester 1883 war angekndigt als Allge-meine Volkswirtschaftslehre (theoretische Nationalkonomie). Vgl. dazu die von Kii-chiro Yagi verffentlichte Nachschrift von Knies Vorlesung ber Allgemeine (theore-tische) Volkswirtschaftslehre aus dem Jahre 1886 durch Wolfgang Mittermaier, dieeinen Eindruck von dem vermittelt, was Weber in seiner Studienzeit damals selbst ge-hrt hat. Yagi, Kiichiro, Karl Kniess Heidelberg Lecture on Economics. An Introduc-tion, in: The Kyoto University Economic Review, Band 69, Nr. 1/2, 2000, S. 16 76(hinfort: Yagi, Kniess Heidelberg Lecture). Weber berichtet ber den Besuch der Vor-lesung in einem Brief an seinen Vater, vgl. dazu oben, S. 1, Anm. 2.70 Vgl. dazu oben, S. 2.

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    ten, vielfach auf die gngigen Lehrbcher und die einschlgige Literaturzurckgegriffen haben. Auf weiten Strecken referierte er damals gelufigeLehrstoffe und Lehrmeinungen. Dennoch gelang es ihm, vielfach gesttztauf neueste Literatur, sich schrittweise einen eigenen Standort innerhalbdes Faches zu erarbeiten. Die nachstehend erstmals verffentlichten Vorle-sungsmanuskripte erlauben es zusammen mit dem 1898 gedrucktenGrundri zu den Vorlesungen ber Allgemeine (theoretische) Nationalko-nomie und Erstes Buch. Die begrifflichen Grundlagen der Volkswirt-schaftslehre71 , ein fundierteres Bild von Max Weber als Nationalkono-men zu erhalten. Insgesamt hielt Max Weber in Freiburg die folgendenHauptvorlesungen zur Volkswirtschaftslehre:

    WS 1894/95 Allgemeine und theoretische Nationalkonomie (4-stndig)Finanzwissenschaft (4-stndig)

    SS 1895 Praktische Nationalkonomie (Volkswirtschaftspolitik) (4-stndig)WS 1895/96 Theoretische Nationalkonomie (5-stndig)SS 1896 Theoretische Nationalkonomie (5-stndig)WS 1896/97 Nationalkonomie (5-stndig)72

    Finanzwissenschaft (4-stndig)

    Ferner hielt er dort gemeinsam mit dem auerordentlichen Professor derVolkswirtschaftslehre Gerhart von Schulze-Gaevernitz (18641943) regel-mig ein 2-stndiges Kameralistisches Seminar ab. Max Webers Lehran-gebot umfate darber hinaus Spezialvorlesungen, von denen er fnf zwi-schen dem Sommersemester 1895 und dem Wintersemester 1896/97 an-zeigte, darunter Die deutsche Arbeiterfrage in Stadt und Land, Agrarpoli-tik sowie Geschichte der Nationalkonomie.73 Insgesamt war dies einbeachtliches Pensum, das auch thematisch enorm weitgespannt war, zumaler, wie bereits erwhnt, zunchst auch noch juristische Lehrveranstaltungenanbot.

    Max Webers Ttigkeit in Freiburg war in jeder Hinsicht uerst erfolgreich.Auch fr das Fach erreichte er Betrchtliches. Auf seinen Antrag vom 25.Juni 1895 hin wurden die staatswissenschaftlichen (kameralistischen) F-cher aus der Philosophischen Fakultt in eine neue Fakultt fr Rechts- undStaatswissenschaften berfhrt, die aus zwei Abteilungen bestehen soll-

    71 Vgl. unten, S. 81 117 und 118 154.72 Dabei handelt es sich um eine Vorlesung zur theoretischen Nationalkonomie, vgl.dazu den Editorischen Bericht, unten, S. 158 mit Anm. 3.73 SS 1895: Die deutsche Arbeiterfrage in Stadt und Land (2-stndig) und Agrarpoli-tik (2-stndig nicht angekndigt, aber gehalten); WS 1895/96: Geld-, Bank- undBrsenwesen (2-stndig); SS 1896: Geschichte der Nationalkonomie (1-stndig);WS 1896/97: Brsenwesen und Brsenrecht (1-stndig). Vgl. zu den Details Anhang1, unten, S. 57 63.

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    te.74 Diesem Plan zur Neugestaltung hatte das Karlsruher Ministerium derJustiz, des Kultus und Unterrichts mit Wirkung vom 1. Juni 1896 zuge-stimmt. Zum 10. Juni 1896 wurde berdies das volkswirtschaftliche Extraor-dinariat, vertreten durch Gerhart von Schulze-Gaevernitz, zum Ordinariaterhoben. Die Verleihung des zuknftig zu vergebenden staatswissenschaft-lichen Doktorgrades (Dr. rerum politicarum) ebenso wie die Leitung desStaatswissenschaftlichen Seminars war den Professoren der Nationalko-nomie vorbehalten. Somit trug Weber nicht nur zu einer Aufwertung desFachs, sondern auch mageblich zu einer Professionalisierung der Ausbil-dung auf dem Gebiet der Volkswirtschaftslehre in Freiburg bei.

    Max Webers Akademische Antrittsrede vom 13. Mai 1895 mit dem ThemaDer Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik,75 in der er mit groer Ra-dikalitt die wissenschaftlichen und die politischen Schlufolgerungen ausder Enquete ber die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Preuen pr-sentierte, verursachte gewaltiges Aufsehen weit ber Freiburg hinaus.76 Diekonomische Verdrngung der Landarbeiter und Bauern in den ostelbi-schen Gebieten Preuens als Folge des unaufhaltsamen Voranschreitensdes Kapitalismus sei nur mit weitreichenden staatlichen Manahmen durch die Schlieung der stlichen Grenzen fr polnische Wanderarbeiter,vor allem aber die Aufsiedelung eines Teils des Grogrundbesitzes zugun-sten der Schaffung von wirtschaftlich weitgehend selbstgengsamen deut-schen Bauernstellen wirksam zu bekmpfen. Dies sei im Interesse derErhaltung der Machtstellung des deutschen Nationalstaates unbedingt ge-boten, obschon dies, aus rein wirtschaftlicher Perspektive, zum Nachteilgereiche. Diese Forderungen lsten ber die in erster Linie betroffenenKreise des ostelbischen Grogrundbesitzes hinaus lautstarken Wider-spruch aus, andererseits aber fanden sie weithin Zustimmung.77 Max We-ber belie es jedoch nicht dabei, die Agrarier offen herauszufordern, etwas,das er in seinen bisherigen uerungen und Publikationen zum Thema tun-lichst vermieden hatte; er kritisierte darber hinaus die politische kono-

    74 Der Antrag Max Webers vom 25. Juni 1895 ist nicht berliefert. Er wurde am 28.Juni 1895 in einer Sitzung der Philosophischen Fakultt beraten, UA Freiburg i.Br.,Phil. Fak., Prot[okoll]Buch, 1894 1911, Sitzung vom 28. Juni 1895 (MWG I/13). Au-erdem zu diesem Vorgang: Biesenbach, Entwicklung der Nationalkonomie (wieoben, S. 9, Anm. 47), S. 213 215.75 Weber, Max, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik. Akademische An-trittsrede, MWG I/4, S. 535 574.76 Vgl. Mommsen, Einleitung, MWG I/4, S. 47 53, sowie ders., Max Weber2, S. 37 42.77 Vgl. dazu mit detaillierten Belegen Mommsen, Editorischer Bericht, MWG I/4,S. 538 540.

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    mie, weil sie dem Glauben Vorschub geleistet habe, da die nationalkono-mische Wissenschaft aus ihren Gegenstnden heraus Beurteilungsmast-be fr die Wirtschaftspolitik ableiten und so dem Staate und der Gesell-schaft gleichsam als unabhngige Beraterin ber das, was zu tun sei, die-nen knne.78 Man habe, so Weber, das technisch-konomische Problemder Gtererzeugung und das Problem der Gterverteilung, der sozialenGerechtigkeit, als Wertmastbe in den Vordergrund gerckt oder auchnaiv identifiziert.79 Beides gehe nicht. Vielmehr knne der leitende Ma-stab einer deutschen Volkswirtschaftspolitik, ebenso wie der Wertmastabdes deutschen volkswirtschaftlichen Theoretikers [] nur [ein] deut-scher80 sein: Die Volkswirtschaftslehre als erklrende und analysierendeWissenschaft ist international, allein sobald sie Werturteile fllt, ist sie ge-bunden an diejenige Ausprgung des Menschentums, die wir in unseremeigenen Wesen finden.81 Diese Forderung war insofern besonders scharf,weil sie im Namen der deutschen nationalen Interessen, oder mehr noch,der Verteidigung der Machtstellung des deutschen Nationalstaates vorge-tragen wurde. Der wissenschaftstheoretisch entscheidende Gesichtspunkt,da die nationalkonomische Wissenschaft, wie alle Wissenschaften ber-haupt, nicht aus sich heraus Werturteile entwickeln knne, sondern diesevon auen an ihre Untersuchungsgegenstnde herangetragen wrden, tratin der Wahrnehmung der Zeitgenossen in den Hintergrund.

    Die Reaktionen auf die Antrittsrede, die ungeachtet ihres formal akademi-schen Charakters durchaus politische Wirkungen erzielen wollte,82 doku-mentiert, welche Brisanz den Problemen der Volkswirtschaftslehre und derVolkswirtschaftspolitik innewohnten, wenn sie unter dem Vorzeichen natio-nalen Machtanspruchs von einem Denker vom Range Max Webers unterpolitischen Gesichtspunkten von hoher Warte aus vorgetragen wurden.Nicht nur die Kritik am ostelbischen Grogrundbesitz, sondern auch die bit-terscharfen Urteile ber das beklagenswerte Versagen des deutschen Br-gertums und die politische Unreife der Arbeiterschaft als Sptfolgen derHerrschaft Bismarcks schlugen erhebliche Wellen und lsten hitzige Kon-troversen aus, bei denen Weber selbst gelegentlich heftig vom Leder zog.83

    78 Vgl. Aldenhoff, Rita, Nationalkonomie, Nationalstaat und Werturteile. Wissen-schaftskritik in Max Webers Freiburger Antrittsrede im Kontext der Wissenschaftsde-batten in den 1890er Jahren, in: Sprenger, Gerhard (Hg.), Deutsche Rechts- und So-zialphilosophie um 1900 (Archiv fr Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 43). Stuttgart: Franz Steiner 1991, S. 79 90.79 Weber, Nationalstaat, MWG I/4, S. 559.80 Ebd., S. 559 f.81 Ebd., S. 559.82 Ebd., S. 52.83 Vgl. Mommsen, Max Weber2, S. 37 42, 90 96.

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    Ungeachtet der hochgradig polarisierenden Argumentation der Antrittsredewurde Max Webers Stellung als Nationalkonom durch diese nicht unwe-sentlich gefestigt. Gleiches kann von seinen Aktivitten auf dem Gebiet desBrsenwesens gesagt werden. Binnen kurzer Zeit war aus einem Novizenauf diesem Felde seit 1894 einer der ersten Experten auf dem Gebiete desBrsenwesens geworden. Sein politisches Engagement in dieser Richtunggipfelte zwei Jahre spter in der Teilnahme am provisorischen Brsenaus-schu. Da Max Weber dann doch letztlich nicht in den definitiven Brsen-ausschu berufen wurde, ging auf die politischen Widerstnde im konser-vativen Lager gegen ihn zurck, hatte er doch mittlerweile eine Reputationals entschiedener Gegner des preuischen Junkertums erworben.84 SeinerKompetenz auf diesem wichtigen Teilgebiet der Nationalkonomie tat diesfreilich keinen Abbruch.

    Dies alles hat dazu gefhrt, da Max Weber bereits 1896 fr die Berufungauf einen der bedeutendsten nationalkonomischen Lehrsthle in Deutsch-land, den Lehrstuhl von Karl Knies in Heidelberg, in Erwgung gezogenwurde, nach solchen Koryphen des Fachs wie Georg Friedrich Knapp(18421926) und Karl Bcher (18471930), die vor ihm auf der Berufungs-liste plaziert waren.85 Die besondere Reputation des Lehrstuhls lag in seinerTradition begrndet, die auf so hoch geachteten und einflureichen Persn-lichkeiten des Faches wie Karl Heinrich Rau (17921870) und dessenNachfolger Karl Knies (18211898) beruhte.86 Obschon Max Weber mit 32Jahren noch relativ jung fr das Heidelberger Ordinariat war, gemessen andamaligen akademischen Standards,87 galt er im Berufungsverfahren alseiner der knftig fhrenden Gelehrten auf seinem Gebiet.88

    84 Vgl. Borchardt, Einleitung, MWG I/5, S. 84 86, 105 107.85 Vgl. Tribe, Strategies (wie oben, S. 5, Anm. 21), S. 85; ferner Hentschel, Volker,Die Wirtschaftswissenschaften als akademische Disziplin an der Universitt Heidel-berg 1822 1924, in: Waszek, Norbert (Hg.), Die Institutionalisierung der Nationalko-nomie an deutschen Universitten. Zur Erinnerung an Klaus Hinrich Hennings (19371986). St. Katharinen: Scripta Mercaturae Verlag 1988, S. 192 232, hier: S. 204 f.(hinfort: Hentschel, Wirtschaftswissenschaften).86 Vgl. zur Heidelberger Ruhmeshistorie: Maier, Hans, Akademische Politik undStaatswissenschaft in Heidelberg von den Anfngen bis zu Max Weber, in: Die Ge-schichte der Universitt Heidelberg. Vortrge im Wintersemester 1985/86. Heidel-berg: Heidelberger Verlagsanstalt 1986, S. 129 156.87 Das Durchschnittsalter bei Antritt des ersten Ordinariats lag in Heidelberg in denGeisteswissenschaften zwischen 1880 und 1914 bei 37,6 Jahren (im Vergleich in Frei-burg bei 34,6 Jahren). Vgl. Baumgarten, Marita, Professoren und Universitten im19. Jahrhundert. Zur Sozialgeschichte deutscher Geistes- und Naturwissenschaftler(Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Band 121). Gttingen: Vanden-hoeck & Ruprecht 1997, S. 291.88 Hentschel, Wirtschaftswissenschaften (wie oben, Anm. 85), S. 205.

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    Max Weber erfuhr bereits Mitte Oktober 1896 von dieser Mglichkeit, dieer als durchaus real einschtzte, da absehbar war, da weder Knapp nochBcher den Ruf annehmen wrden. Er betrachtete diese Aussicht anfng-lich durchaus mit gemischten Gefhlen.89 Ungeachtet seiner hohen Lehr-verpflichtungen hatte er sich in nicht eben geringem Mae auf auerwissen-schaftlichem Felde engagiert, unter anderem in der Evangelisch-sozialenBewegung. In Heidelberg wrde dies nicht mehr im gleichen Mae mglichsein; dort wrde er durch die Pflichten eines Ordinarius der Nationalkono-mie und Finanzwissenschaft voll in Anspruch genommen werden. Erschrieb am 15. Oktober 1896 an seinen Onkel Adolf Hausrath, der berInsider-Informationen in Heidelberg verfgte und ihm nahegelegt hatte, sichvon den Christlich-Sozialen zu distanzieren, um die Chancen seiner Beru-fung zu verbessern: Ich selbst wei kaum, ob ich mir eine Berufung wn-schen soll. Dies, weil ich die Wahl, vor die ich damit gestellt werde: hier zubleiben und mich weiter politisch zu bethtigen, so weit dazu Gelegenheitund Anla ist oder eine groe Stellung anzunehmen und damit natrlichdie Verpflichtung zu bernehmen, auf alle andre Wirksamkeit zu verzichten gern noch auf eine Anzahl Jahre hinausgeschoben htte. Zu einem sol-chen Verzicht wrde ich mich durch die greren Pflichten selbstverstnd-lich gentigt glauben, und ich wei sehr wohl, da ich, vor jene Wahl ge-stellt, jetzt im Augenblick, wo die Politik, einschlielich der aussichtslosenNaumannschen Projekte, fr mich gar kein Thtigkeitsfeld bietet, unbedingtdie breitere akademische Thtigkeit whlen wrde. Allein ich wei nicht, obich nicht knftig dies bedauern knnte, und dann wre es zu spt. Deshalbsehe ich der Mglichkeit einer Berufung nach Heidelberg durchaus nichtmit vllig ungeteilten Empfindungen entgegen.90

    Jedoch war Max Weber sogleich geneigt, den Ruf nach Heidelberg anzu-nehmen, als dieser ihn in der zweiten Dezemberwoche 1896 erreichte. Erfuhr umgehend nach Heidelberg, um sich ber die dortigen Verhltnisse zuinformieren, und nahm unverzglich Kontakt zu Georg Jellinek (18511911), dem Mitdirektor des Staatswissenschaftlichen Seminars, auf, um dieverworrenen Verhltnisse zwischen den zustndigen Fachrichtungen (Na-tionalkonomie und Jurisprudenz) im akademischen Lehrbetrieb zu kl-ren.91 In einer Eingabe an das Badische Ministerium der Justiz, des Kultusund Unterrichts vom Dezember 1896 verlangte er eine sofortige Remedur

    89 Brief an Adolf Hausrath vom 15. Oktober 1896, GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber,Nr. 30, Bd. 3, Bl. 1 2 (MWG II/3).90 Ebd. Vgl. auch einen Brief gleichen Tenors an Adolf Hausrath vom 9. Nov. 1896,GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 30, Bd. 3, Bl. 7 8 (MWG II/3).91 In einem Brief an Georg Jellinek vom 12. Dezember 1896 stellt Weber die Annah-me des Rufs nach Heidelberg unmittelbar in Aussicht und zieht erste Erkundigungenein. BA Koblenz, Nl. Georg Jellinek, Nr. 31 (MWG II/3).

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    der in Heidelberg vorgefundenen Zustnde des staatswissenschaftlichenUnterrichts, welche jedem ernsthaften Fachvertreter mit moderner Vorbil-dung, es ganz unmglich machen wrden, die dortige Stelle zu ber-nehmen.92 Insbesondere drngte er auf die Errichtung eines eigenstndi-gen Nationalkonomischen Seminars mit einem Seminarraum mit 30 Plt-zen sowie einer gut ausgestatteten Prsenzbibliothek; die bislang imStaatswissenschaftlichen Seminar vorhandenen Literaturbestnde aufvolkswirtschaftlichem Gebiet seien ein klgliches Zufallsgemisch von ko-nomischen Fachwerken,93 das fr einen erfolgreichen akademischen Un-terricht keinesfalls genge.94

    Es ging Max Weber vor allem darum, die Voraussetzungen zum Aufbaueines eigenen engeren Schlerkreises zu schaffen, und deshalb ma er derErrichtung eines besonderen Seminars fr Nationalkonomie und Finanz-wissenschaften so groe Bedeutung zu, da er davon die Annahme desRufs abhngig machte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Etablie-rung von Seminaren allgemein zur Prestigefrage geworden.95 Das Staats-wissenschaftliche Seminar, das seit 1870 in Heidelberg bestanden hat, wareine Einrichtung der philosophischen Fakultt. Es konnte Max Weber mitseinen Forderungen demnach nicht um eine Trennung von der philosophi-schen Fakultt gehen, sondern um eine Strkung und finanzielle Verbesse-rung des Faches der Nationalkonomie. Die philosophische Fakultt wurdevom Ministerium um eine Stellungnahme gebeten, ob nicht unter den beste-henden Umstnden das Staatswissenschaftliche Seminar aufgelst und dieSeminarbibliothek auf das juristische und das schlielich so genannte volkswirtschaftliche Seminar aufgeteilt werden solle. Obwohl beide Fakult-ten sich fr eine Auflsung und Trennung aussprachen, bestimmte das Mi-nisterium am 8. April 1897, da das staatswissenschaftliche Seminar zu-nchst neben dem volkswirtschaftlichen Seminar weiterbestehen sollte. Zu-

    92 Undatiertes Schreiben an das Groherzogliche Badische Ministerium der Justiz,des Cultus und Unterrichts (Karlsruhe), [Dezember 1896], GLA Karlsruhe, 235 3140,Bl. 70 73 (MWG II/3).93 Ebd.94 Die Lehrfcher des Staatswissenschaftlichen Seminars in Heidelberg umfaten:Allgemeine Staatslehre und Politik, Vlker-, Staats- und Verwaltungsrecht, Polizeiwis-senschaft, Nationalkonomie und Staatswirtschaft. Vgl. Hentschel, Wirtschaftswis-senschaften (wie oben, S. 16, Anm. 85), S. 218.95 Vgl. zum Begriff des Seminars, das eine Besonderheit des deutschen Hochschul-wesens darstellt, die knappe Charakterisierung bei Hennings, Klaus Hinrich, Aspekteder Institutionalisierung der konomie an deutschen Universitten, in: Waszek, Nor-bert (Hg.), Die Institutionalisierung der Nationalkonomie an deutschen Universit-ten. Zur Erinnerung an Klaus Hinrich Hennings (1937 1986). St. Katharinen: Scrip-ta Mercaturae Verlag 1988, S. 43 54, hier: S. 51 f. (hinfort: Hennings, Aspekte der In-stitutionalisierung).

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    gleich entsprach man dem Wunsch Max Webers, den nationalkonomi-schen Teil der staatswissenschaftlichen Seminarbibliothek in das volkswirt-schaftliche Seminar zu berfhren und dort auch die bungen abzuhalten,zu denen er als Seminardirektor verpflichtet war.96

    Mit diesen Vorschlgen, die den damaligen Tendenzen zur strkeren In-stitutionalisierung der Nationalkonomie entsprachen, setzte sich Max We-ber durch.97 Man sieht, da er in Heidelberg Volkswirtschaftslehre als ei-genstndiges, vollgltiges Fach zu betreiben die Absicht hatte. Das strikteBeharren Max Webers in den Berufungsverhandlungen darauf, da dieStaatslehre aus seinem Lehrauftrag ausgeschlossen bleibe, lie den akade-mischen Charakter des Ordinariats erstmals auch in Heidelberg im Namender Professur Nationalkonomie und Finanzwissenschaft sinnfllig her-vortreten.98

    Max Weber hielt im Sommersemester 1897 in Heidelberg sogleich eine 6-stndige Vorlesung ber Allgemeine (theoretische) Nationalkonomie,99

    die hchstwahrscheinlich auch die Geschichte der Nationalkonomie um-fat haben drfte.100 Turnusgem las er im Sommersemester 1898 erneutAllgemeine (theoretische) Nationalkonomie, allerdings diesmal mitAusschlu der Litteraturgeschichte (5-stndig). Letzteres drfte inhaltlichder im Sommersemester 1896 in Freiburg gehaltenen 1-stndigen Vorle-sung Geschichte der Nationalkonomie entsprochen haben.101 Fr dasSommersemester 1899 kndigte er erneut eine Vorlesung zur theoretischenNationalkonomie (5-stndig) an, doch mute er bei Semesterbeginn dieseVorlesung absagen; er lie sich von dieser Verpflichtung beurlauben, weilseine Gesundheit ihm, wie er sich gegenber dem badischen Kultusmi-nisterium ausdrckte, fr die nchsten Monate das anhaltende laute Spre-chen, daher das Abhalten von Vorlesungen unmglich [mache].102 Dage-gen hielt er zunchst daran fest, seine Seminare unverndert weiterzufh-

    96 Hentschel, Wirtschaftswissenschaften (wie oben, S. 16, Anm. 85), S. 219 f.97 Vgl. Hennings, Aspekte der Institutionalisierung (wie oben, S. 18, Anm. 95),S. 51 f.98 Bis dahin handelte es sich um ein staatswissenschaftliches Ordinariat. Karl Knieswar am 21. Oktober 1865 zum Ordentlichen Professor der Staatswissenschaften er-nannt worden. Vgl. Hentschel, Wirtschaftswissenschaften (wie oben, S. 16, Anm. 85),S. 201 f.99 Zu Max Webers Heidelberger Lehrveranstaltungen vgl. Anhang 1, unten, S. 57 63.100 Vgl. den Editorischen Bericht zur Vorlesung Geschichte der Nationalkonomie,unten, S. 666 675.101 Vgl. dazu die Edition, unten, S. 676 702.102 Schreiben an das Groherzogliche Badische Ministerium der Justiz, des Cultusund Unterrichts (Karlsruhe) vom 12. April 1899, GLA Karlsruhe, 235 3338 (MWGII/3).

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    ren. Erst im Winter 1899 kamen seine Lehrveranstaltungen in Heidelberggnzlich zum Erliegen.103

    Hatte sich Weber die Hauptvorlesungen in Freiburg turnusmig mit demExtraordinarius und seit 1896 Ordinarius Gerhart von Schulze-Gaevernitzgeteilt, so fiel diese Rolle in Heidelberg dem 1873 habilitierten und nebenKarl Knies seit 1881 als auerordentlicher Professor amtierenden EmanuelLeser zu. Dieser bernahm auch nach den Beurlaubungen Webers 1899und 1900 dessen Vorlesungen. Hinzu trat Carl Kindermann, seit 1894 Privat-dozent und seit 1899 auerordentlicher Professor, der sich die Finanzwis-senschaft mit Leser teilte, so da Weber in Heidelberg diese Vorlesungnicht halten mute. Karl Rathgen, der neu berufene zweite Ordinarius, tratzum Wintersemester 1899/1900 sein Amt an und wurde Mitdirektor desVolkswirtschaftlichen Seminars. Damit war Weber aller amtlichen Verpflich-tungen ledig und konnte Heidelberg fr lngere Zeit verlassen. Sein wieder-holtes Entlassungsgesuch wurde 1903 vom Ministerium genehmigt; Weberwurde Honorarprofessor ohne Sitz und Stimme in der Fakultt. Er nahm sei-ne Lehrttigkeit in Heidelberg nicht wieder auf.

    Insgesamt deckten die Lehrveranstaltungen, die Max Weber in den Jah-ren 1894 bis 1899 gehalten hat, ein breites Feld ab. Als ordentlicher Profes-sor fr Nationalkonomie und Finanzwissenschaft hielt er an der Albert-Lud-wigs-Universitt Freiburg i.Br. neben den groen Vorlesungen ber Natio-nalkonomie und Finanzwissenschaft je 2-stndige Vorlesungen ber Diedeutsche Arbeiterfrage in Stadt und Land, Agrarpolitik und Geld-, Bank-und Brsenwesen. Nach der bernahme der ordentlichen Professur frNationalkonomie und Finanzwissenschaft an der Ruprecht-Karls-Universi-tt Heidelberg zum Sommersemester 1897 konzentrierte er sich dann aufdie volkswirtschaftlichen Hauptvorlesungen und hielt daneben noch Vorle-sungen zur Agrarpolitik (Wintersemester 1897/98 und Wintersemester1899/1900)104 und zur Arbeiterfrage und Arbeiterbewegung (Sommerse-

    103 Vgl. Weber, Marianne, Lebensbild1, S. 254. Seit dem Wintersemester 1899/1900hat Weber aus gesundheitlichen Grnden gar keine Veranstaltung mehr gehalten.Vgl. dazu Anlage 1, unten, S. 57 60, als auch Hentschel, Wirtschaftswissenschaften(wie oben, S. 16, Anm. 85), S. 205 ff.104 Die 2-stndige Vorlesung Agrarpolitik im Wintersemester 1899/1900 brachMax Weber vorzeitig ab (vgl. MWG III/5, S. 54). Die Veranstaltung wurde zwar in derZahlungsliste abgerechnet, doch hielt Weber die Vorlesung mit Unterbrechungen undlngstens bis zu den Weihnachtsferien. Vgl. das Begleitschreiben zum ersten Entlas-sungsgesuch an Wilhelm Nokk vom 7. Jan. 1900, GLA Karlsruhe, 235 3140, Bl. 94 97 (MWG II/3): Wie ich Euer Excellenz bereits im Oktober mndlich vortrug, leidetder Unterricht empfindlich unter der immer wieder eintretenden Ntigung, mich in derAbhaltung der Collegia vertreten zu lassen []. Das Entlassungsgesuch wurde ab-gelehnt und Weber statt dessen ein langer Urlaub bewilligt. Vgl. Weber, Marianne,Lebensbild1, S. 254.

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    mester 1898). Die in Anhang 1 prsentierte Aufstellung der Lehrveranstal-tungen beruht auf den Ankndigungen in den Vorlesungsverzeichnissenund, soweit dies mglich war, auf den Abrechnungen der Hrergelder.105

    Die frhen Vorlesungsmanuskripte ber Praktische Nationalkonomie,einschlielich Geld-, Bank- und Brsenwesen, ber Finanzwissenschaftsowie ber Die Arbeiterfrage in Stadt und Land und Agrarrecht, Agrarge-schichte, Agrarpolitik werden in nachfolgenden MWG-Bnden verffent-licht.

    3. Max Weber und der Methodenstreit

    Fr seine Lehrveranstaltungen hat sich Weber zunchst an den damals ge-lufigen Lehrbchern orientiert. So hat er sich, soweit wir sehen, bei derAllgemeinen (theoretischen) Nationalkonomie insbesondere an Eugenvon Philippovichs (18581917) Allgemeine Volkswirthschaftslehre gehal-ten, von der 1893 eine 1. und 1897 eine 2. Auflage erschienen war.1 DaWeber den Freiburger Lehrstuhl als Nachfolger von Philippovich bernom-men hatte, lag dies nahe. Die Anlehnung an Philippovich zeigt sich sowohlim Aufbau der Vorlesungen als auch in der inhaltlichen Gestaltung einzelnerTeile, in denen sich Parallelen und sachliche bereinstimmungen feststel-len lassen, wie beispielsweise hinsichtlich Wert, Preis, Geld und Kre-dit.2 Ansonsten lassen sich bereinstimmungen mit anderen Lehrbchernnur schwer oder berhaupt nicht mit einiger Sicherheit nachweisen. Als Re-ferenzwerke kommen in Frage insbesondere Adolph Wagners Lehr- undHandbuch der politischen konomie (3. Aufl. 189294), Gustav vonSchnbergs (18391908) Handbuch der politischen konomie (4. Aufl.189698), das Handwrterbuch der Staatswissenschaften (1. Aufl. 189097), die diversen Verffentlichungen Gustav Schmollers sowie in zweiter Li-nie Wilhelm Roschers (18171894) System der Volkswirthschaft (20. Aufl.1892) und Karl Knies (18211898) Die politische konomie vom ge-schichtlichen Standpuncte (2. Aufl. 1883). Alle diese Titel werden unter

    105 Vgl. Anhang 1, unten, S. 52 63.1 Philippovich, Eugen von, Allgemeine Volkswirthschaftslehre (Handbuch des ffent-lichen Rechts, Einleitungsband, Abth. 3). Freiburg i.Br., Leipzig.: J.C.B. Mohr (PaulSiebeck) 1893 (hinfort: Philippovich, Allgemeine Volkswirthschaftslehre); 2., verb.und verm. Aufl. unter dem Titel: Grundri der Politischen konomie, 1. Band: Allge-meine Volkswirthschaftslehre. Freiburg i.Br., Leipzig: J.C.B.Mohr (Paul Siebeck)1897 (hinfort: Philippovich, Grundri I). Im Anhang 4, unten, S. 69 79, werden die In-haltsverzeichnisse von Philippovichs Allgemeiner Volkswirthschaftslehre (2. Aufl.)und Webers Grundri gegenbergestellt.2 Philippovich, Grundri I, S. 193 260.

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    3 Die vollstndigen bibliographischen Angaben finden sich im Verzeichnis der vonMax Weber zitierten Literatur, unten, S. 739 792.4 Vgl. zu dieser Thematik mit neuem Material Nau, Heino Heinrich, Eine Wissen-schaft vom Menschen. Max Weber und die Begrndung der Sozialkonomik in derdeutschsprachigen konomie 1871 bis 1914. Berlin: Duncker & Humblot 1997,S. 166 ff. (hinfort: Nau, Wissenschaft vom Menschen), sowie Tribe, Strategies (wieoben, S. 5, Anm. 21), S. 66 94.5 Menger, Carl, Grundstze der Volkswirthschaftslehre, Erster, Allgemeiner Theil. Wien: Wilhelm Braumller 1871 (hinfort: Menger, Grundstze).6 Vgl. Menger, Carl, Untersuchungen ber die Methode der Socialwissenschaften,und der Politischen konomie insbesondere. Leipzig: Duncker & Humblot 1883,S. 36 f. (hinfort: Menger, Untersuchungen).7 Ebd.

    den Modernen Handbchern und Compendien im Grundri aufgefhrt,3

    doch lt sich die Position Max Webers innerhalb der zeitgenssischen Na-tionalkonomie auf diesem Wege nicht bestimmen.

    Beim Antritt seiner Freiburger Professur sah sich Max Weber veranlat, imMethodenstreit ber die theoretischen Grundlagen der Nationalkonomieeine Position zu beziehen. Die erbittert gefhrte Kontroverse zwischen CarlMenger und Gustav Schmoller beeinflute das theoretische Selbstverstnd-nis der zeitgenssischen Nationalkonomie.4 Carl Menger hatte in seinen1871 verffentlichten Grundstzen der Volkswirthschaftslehre5 ein Systemder Nationalkonomie vorgestellt, das die Vielfalt der konomischen Er-scheinungen auf wenige theoretische Grundstze und Typen zurckzufh-ren suchte. Von dem theoretischen Modell des von bestimmten wirtschaftli-chen Bedrfnissen geleiteten wirtschaftenden Individuums wollte er mithilfelogischer Deduktion dessen idealiter gegebenes wirtschaftliches Handelnbestimmen und eine exakte Beschreibung der wirtschaftlichen Sachverhal-te erst ermglichen.6 Diese abstrakte Nationalkonomie wurde von der hi-storischen Schule der Nationalkonomie, allen voran von Gustav Schmoller,als Rckschritt betrachtet und scharf abgelehnt. Unter anderem wurdeMenger vorgeworfen, er wolle die nationalkonomische Betrachtungsweisewieder ausschlielich auf den Begriff des egoistischen Erwerbstriebs desIndividuums zurckfhren, eine Betrachtungsweise, die man nicht ohneStolz gerade berwunden zu haben glaubte. Mehr noch lehnte man die De-duktionen Mengers als blutleer ab, da diese nicht die Vielfalt der histori-schen Faktoren bercksichtigten, die die konomische Wirklichkeit der Vl-ker und Staaten mageblich mitprgten.

    In seinen 1883 erschienenen Untersuchungen ber die Methode der So-cialwissenschaften7 erffnete Menger eine explizite Auseinandersetzungber Grundfragen des Faches. Die rein historisch vorgehende Schule Gu-stav Schmollers verfehle nach seiner Ansicht die eigentliche Aufgabe der

  • 23

    8 Ebd., S. 46.9 Diese Kritik hat Max Weber unzweifelhaft sehr beeindruckt; seine eigene spterePolemik gegen Knies und Roscher nahm diese Thematik wieder auf (vgl. Weber, Ro-scher und Knies I-III).

    Nationalkonomie, nmlich die Erforschung der theoretischen Grundlagendes Wirtschaftens. Menger bestritt keineswegs den Nutzen und die groenLeistungen der historischen Schule auf dem Feld der Erforschung des wirt-schaftlichen Verhaltens der Menschen in der Geschichte. Aber statt die em-pirischen Gegebenheiten auf Gesetze und Typen zurckzufhren, erschp-fe sich die historische Schule in der empirischen Beschreibung der unendli-chen Mannigfaltigkeit einzelner konomischer Sachverhalte. Das Argu-ment, da die Zeit fr eine theoretische Synthese der Ergebnisse der histori-schen Forschung ber das wirtschaftliche Verhalten der Menschen nochnicht reif sei, verwarf Menger; es sei eine Utopie, jemals so viele Informatio-nen zusammentragen zu knnen, wie sie notwendig wren, um eine volleErfassung der Wirklichkeit kraft historischen Verstehens zu Wege zu brin-gen. Menger selbst hatte sich in seinen Grundstzen der Volkswirth-schaftslehre (1871) darum bemht, die Volkswirtschaftslehre durch dieEntwicklung der sog. Theorie vom Grenznutzen (die allerdings erst durchFriedrich von Wieser (18511926) ihre kanonische Formulierung erhielt) aufein neues Niveau zu heben; insbesondere durch die Formulierung einerausgearbeiteten subjektiven Wertlehre, die die Wertschtzungen des Ein-zelnen auf die von Fall zu Fall unterschiedliche Dringlichkeit seiner jeweili-gen Bedrfnisse zurckzufhren suchte, statt wie dies die klassischeTheorie und dann auch Karl Marx getan hatten den Wert eines wirtschaftli-chen Gutes an der zu seiner Produktion bzw. Reproduktion notwendigengesellschaftlichen Arbeitsleistung zu bemessen. Es gehe darum, da dieMenschen in ihren wirthschaftlichen Bestrebungen, wenn auch nicht aus-schlielich und ausnahmslos, so doch vorwiegend und regelmig von ih-ren individuellen Interessen geleitet werden und diese letzteren [] regel-mig richtig erkennen.8 Menger erhob den Anspruch, da es mglich, janotwendig sei, mithilfe der Entwicklung streng formaler theoretischer Stze,welche die Grundmuster konomischen Verhaltens des Individuums ideal-typisch beschreiben, die Volkswirtschaftslehre auf eine neue theoretischeGrundlage zu stellen und damit auch der empirisch verfahrenden histori-schen Nationalkonomie neue Wege zu weisen. Es gehe darum, ein Systemvon exakten Gesetzen und typischen Aussagen zu entwickeln, welcheszur Erklrung und gegebenenfalls auch zur Prognostik des empirisch gege-benen konomischen Verhaltens der Individuen tauglich sei. Menger beliees nicht dabei; er unterzog auch die groen geistigen Vter der historischenMethode der Nationalkonomie, insbesondere Wilhelm Roscher und KarlKnies, einer scharfen Kritik.9

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    10 Vgl. Schmoller, Gustav, Zur Methodologie der Staats- und Socialwissenschaften,in: Jahrbuch fr Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich,N.F., Band 7, 1883 (hinfort: Schmoller, Methodologie).11 Menger, Carl, Die Irrthmer des Historismus in der deutschen Nationalkonomie. Wien: Alfred Hlder 1884.12 Vgl. Philippovich, Eugen von, ber Aufgabe und Methode der politischen kono-mie. Eine akademische Antrittsrede. Freiburg i. Br.: J.C.B. Mohr 1886, S. 34 ff.13 Eine eindrucksvolle bersicht ber die Kontroverse und ihre Entwicklung findetsich in Friedrich A. Hayeks Einleitung zu: Menger, Carl, Gesammelte Werke, Band 1,2. Aufl. Tbingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1968, S. XIX XXV.14 Menger, Untersuchungen, und Sax, Emil, Das Wesen und die Aufgaben der Natio-nalkonomie. Ein Beitrag zu den Grundproblemen dieser Wissenschaft. Wien: Al-fred Hlder 1884, in der Universittsbibliothek Heidelberg, Alfred Weber Bibliothek,Sign. AWI B VI,3 sowie B VI,7. Diese Hinweise verdanke ich Herrn Manfred Schn.

    Gustav Schmoller fhlte sich durch Mengers Untersuchungen persn-lich herausgefordert und reagierte mit einer vernichtenden Rezension, inwelcher er Menger vorhielt, da dessen Theorie das Handeln der Individuenausschlielich auf den Erwerbstrieb zurckfhre und alle anderen Motivevernachlssige, somit aber die Realitt gnzlich hinter sich lasse und stattdessen mit fiktiven Handlungstrgern argumentiere.10 Diese Kritik veranla-te Menger seinerseits dazu, in seiner Schrift Die Irrthmer des Historismusin der deutschen Nationalkonomie (1884)11 darauf zu reagieren. Schmol-ler verweigerte in rder Form die Annahme des Werkes, das Menger ihmzugeschickt hatte, und lehnte eine Rezension in seinem Jahrbuch ab. Mitdiesem Schlagaustausch auf hchster Ebene war der Methodenstreit imengeren Sinne beendet, aber die Kontroversen ber den Stellenwert theore-tischer Modelle und Gesetze in der Nationalkonomie fanden damit keines-wegs ein Ende. Der Konflikt ber die theoretischen Grundlagen der Natio-nalkonomie wurde von einer jngeren Generation von Wissenschaftlern,auf sterreichischer Seite insbesondere von Friedrich von Wieser, Eugenvon Bhm-Bawerk und Emil Sax, fortgefhrt, whrend Eugen von Philippo-vich in seiner Freiburger Antrittsrede 1886 eine vermittelnde Position ein-nahm.12 Bei Lage der Dinge sahen sich alle fhrenden Nationalkonomen inDeutschland gentigt, sich in dieser Frage zu positionieren. Dies galt auchfr Max Weber.13

    Max Weber beschftigte sich intensiv mit den einschlgigen Schlssel-texten. Das Exemplar von Mengers Untersuchungen ber die Methode derSocialwissenschaften, das sich heute in der Bibliothek des Alfred-Weber-Instituts der Universitt Heidelberg befindet, weist zahlreiche teils zustim-mende, teils kritische Randbemerkungen von seiner Hand auf. hnlichesgilt fr das ebenfalls in Heidelberg erhaltene Exemplar der Studie des Men-gerschlers Emil Sax ber Das Wesen und die Aufgaben der Nationalko-nomie.14 Auch in seinen Vorlesungen hat Max Weber auf Carl Mengers

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    Bedauerlicherweise hat ein bereifriger Bibliothekar jngst die mit Bleistift geschrie-benen Randbemerkungen Max Webers groenteils ausradiert, so da sie sich nichtimmer mit Zuverlssigkeit entziffern lassen. Carl Brinkmann hatte schon 1937 auf dieMarginalien Webers in der Schrift Mengers hingewiesen. Vgl. Brinkmann, Carl, Gu-stav Schmoller und die Volkswirtschaftslehre. Stuttgart: W. Kohlhammer 1937,S. 135 f., Anm. 126.15 Im Grundri sind Mengers Grundstze der Volkswirthschaftslehre hervorgeho-ben als erster Titel zum I. Buch aufgefhrt. Vgl. unten, S. 91.16 Zu nennen sind hier vor allem Bhm-Bawerk, Eugen von, Rechte und Verhltnissevom Standpunkte der volkswirthschaftlichen Gterlehre. Kritische Studie. Inns-bruck: Wagnersche Universitts-Buchhandlung 1881, sowie ders., Kapital und Kapi-talzins, 2 Bnde (Band 1: Erste Abtheilung. Geschichte und Kritik der Kapitalzins-Theorieen (1884); Band 2: Zweite Abtheilung. Positive Theorie des Kapitales (1889)). Innsbruck: Wagnersche Universitts-Buchhandlung 1884/89 (hinfort: Bhm-Ba-werk, Kapital I, II). Seine Rezension Zur Litteraturgeschichte der Staats- und Sozial-wissenschaften, in: Jahrbcher fr Nationalkonomie und Statistik, N.F., Band 20,1890, S. 75 95, die eine eloquente Verteidigung Mengers und seiner Schule enthlt,ist erstaunlicherweise nicht im Grundri aufgefhrt. Eindeutig nachweisbare Bez-ge zu Bhm-Bawerks Abhandlung Zum Abschlu des Marxschen Systems, in:Staatswissenschaftliche Arbeiten. Festgaben fr Karl Knies zur 75. Wiederkehr sei-nes Geburtstages, hg. von Otto Freiherr von Boenigk. Berlin: O. Haering 1896,S. 85 205, S. 91 ff. (hinfort: Bhm-Bawerk, Abschlu), finden sich in 14 Die Theoriedes wissenschaftlichen Sozialismus. Vgl. unten, S. 553 562.17 Tenbruck, Friedrich H., Die Genesis der Methodologie Max Webers, in: KZfSS, Jg.11, 1959, S. 573 630, bes. S. 585 589. Vgl. neuerdings Parsons, Stephen D.,Money, Time and Rationality in Max Weber. Austrian connections. London: Rout-ledge 2003 (hinfort: Parsons, Money, Time and Rationality), sowie Kim, Duk-Yung,Max Weber und die Grenznutzenschule um Carl Menger. Zur Bedeutung der theoreti-schen Nationalkonomie fr die Soziologieentwicklung, in: Sociologia Internationalis,Band 34, 1996, S. 41 66 (hinfort: Kim, Max Weber und die Grenznutzenschule umCarl Menger). Ferner Eisermann, Gottfried, Max Weber und die Nationalkonomie(Beitrge zur Geschichte der deutschsprachigen konomie, Band 4). Marburg: Me-tropolis 1993, S. 43 ff. (hinfort: Eisermann, Max Weber und die Nationalkonomie), so-wie Hennis, Wilhelm, Die volle Nchternheit des Urteils. Max Weber zwischen Carl

    Grundstze der Volkswirthschaftslehre zurckgegriffen,15 auch wenn erihn nicht wrtlich zitiert hat. Die hauptschlichen Gewhrsleute Max Weberswaren Mengers Schler Eugen von Bhm-Bawerk und Friedrich von Wieser,deren Schriften in den Vorlesungsnotizen wiederholt, in einzelnen Fllen na-hezu wrtlich paraphrasiert wiedergegeben werden.16 Die Bedeutung CarlMengers fr Max Webers wissenschaftliche Entwicklung ist erst neuerdingsin vollem Umfang erkannt worden, obwohl weiterhin strittig ist, inwieweitMenger fr die Entwicklung der spteren Soziologie Max Webers bedeut-sam ist. Immerhin hat bereits Friedrich H. Tenbruck in seinem klassischenAufsatz ber Die Genesis der Methodologie Max Webers, noch ohneKenntnis des Textes Erstes Buch. Die begrifflichen Grundlagen der Volks-wirtschaftslehre, geschweige denn der hier erstmals vorgelegten Vorle-sungsmanuskripte, auf den Einflu Carl Mengers hingewiesen.17

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    Menger und Gustav von Schmoller. Zum hochschulpolitischen Hintergrund des Wert-freiheitspostulats, in: Wagner, Gerhard und Zipprian, Heinz (Hg.), Max Webers Wis-senschaftslehre. Interpretation und Kritik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 105 145.18 Vgl. das Heidelberger Exemplar von Menger, Untersuchungen (wie oben, S. 24),S. 43.19 Unten, S. 122 f.20 Unten, S. 123.

    Weber fhlte sich von dem theoretischen Anspruch, der von Menger undseinen Schlern erhoben wurde, intellektuell angezogen. Im Grundsatzdeckte sich dieser mit seiner Auffassung, da auch die historische national-konomische Forschung einer klaren theoretischen Begrifflichkeit bedrfe,um die jeweiligen Sachverhalte nicht nur adquat zu beschreiben, sondernerklren zu knnen. Die uns erhaltenen Randbemerkungen zu MengersUntersuchungen ber die Methode der Socialwissenschaften zeigen, daer gegenber Menger nicht unkritisch eingestellt war. Dessen Zielsetzung,nmlich die Zurckfhrung der Menschheitsphnomene auf ihre ursprng-lichsten und einfachsten constitutiven Factoren, kommentierte Max Webermit den Worten: alles ganz dunkel.18 Doch machte er sich die grundlegen-de Position Mengers zu eigen, die scharf zwischen theoretischen Begriffenund empirischen Aussagen unterschied. Dessen Methode, nmlich auf reinlogischem Wege theoretische Typen oder Gesetzmigkeiten zu entwik-keln, die dann zur rationalen Interpretation der empirischen Wirklichkeit her-angezogen werden konnten, wurde fr die Entwicklung seiner eigenen er-kenntnistheoretischen Auffassungen zunehmend wichtig.

    Jedoch verwies Max Weber von Anfang an mit groem Nachdruck aufden rein theoretischen Status der Begriffe der abstrakten oder exaktenWirtschaftstheorie, die als solche nichts ber die empirische Wirklichkeitaussagen, sondern nur als Mastab fr die przise Bestimmung der empiri-schen Sachverhalte bzw. ihrer jeweiligen Abweichung vom reinen Typusdienen. Weit schrfer als Carl Menger und seine Schler Eugen von Bhm-Bawerk und Friedrich von Wieser betonte er die rein nomologische Qualittder Typen und Aussagen der Grenznutzenlehre. Mit Nachdruck betont We-ber am Anfang des Textes Erstes Buch. Die begrifflichen Grundlagen derVolkswirtschaftslehre, da die abstrakte Theorie ein construiertes Wirt-schaftssubjekt zugrundelege, das in scharfem Gegensatz zum empiri-schen Menschen19 stehe und ideale Annahmen voraussetze, die in derWirklichkeit nicht oder doch nicht in dieser Ausschlielichkeit gegeben sindoder gegeben sein mssen. Die theoretische Volkswirtschaftslehre argu-mentiere an einem unrealistischen Menschen, analog einer mathemati-schen Idealfigur.20 Auch spterhin hat sich Max Weber wiederholt der Ro-binson-Figur als eines Beispiels des idealiter aus allen nicht-konomischen

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    21 Weber, Max, R. Stammlers berwindung der materialistischen Geschichtsauf-fassung, in: AfSSp, 24. Band, 1907, S. 94 151 (MWG I/7), S. 120 f. und S. 124 ff. (hin-fort: Weber, berwindung).22 Menger, Untersuchungen, S. 232.23 Ebd., S. 110.24 Ebd., S. 108 f.

    empirischen Sachbezgen herausgehobenen Wirtschaftssubjekts bedient,um den seiner Ansicht nach rein theoretischen Status der Begrifflichkeit derabstrakten Theorie deutlich zu machen.21

    Die in den ersten beiden Paragraphen der Vorlesung vorgenommeneAnalyse der Kernbegriffe der Nationalkonomie folgt auf weiten Streckenden Argumentationsmustern der Grenznutzenlehre, wenn auch nicht unbe-dingt immer in der Sache. Nicht allein Carl Mengers Schriften, sondernmehr noch die Arbeiten von Eugen von Bhm-Bawerk und Friedrich vonWieser, die eine wichtige Weiterentwicklung der subjektiven Wertlehrebrachten, nehmen eine Schlsselstellung ein. Grundstzlich bernahm MaxWeber von den Grenznutzentheoretikern die Erkenntnis, da allein das Indi-viduum mit seinen subjektiven Bedrfnissen und Bestrebungen der Aus-gangspunkt wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Theoriebildung seinknne, im Gegensatz zu den Theorien einiger Vertreter der historischenNationalkonomie, welche die Nation bzw. den Staat als die grundlegendeKategorie der geschichtlichen Wirklichkeit betrachteten. Dies fand Aus-druck in dem Prinzip des methodologischen Individualismus, der alle Kol-lektivbegriffe und berindividuellen Gebilde zu eliminieren bzw. auf dieEbene individueller Handlungen und Werthaltungen zu beziehen trachtete.Menger hatte argumentiert, da die Volkswirthschaft streng genommennur die Summe der Individualwirthschaften sei.22 Dies war ganz in WebersSinne, der spterhin ebenso wie schon Menger gegen Kollektivbegriffe inder Nationalkonomie (wie in den Sozialwissenschaften) polemisierte.

    In einem wichtigen Punkte unterschied sich Max Webers Position gegen-ber jener Mengers. Auch Menger hatte immer wieder anerkannt, da diehistorische Analyse nationalkonomischer Phnomene ihr Eigenrecht besit-ze. Die realistische Theorie der Volkswirthschaft schliee jeweils die Be-rcksichtigung [] der Entwickelung [] des geschichtlichen Gesichts-punktes23 ein. Aber das Verfahren, in dem Menger dies zu leisten ver-sprach, fand nicht Webers Zustimmung. Menger hatte gemeint, die Lsung[] kann nur darin bestehen, da wir einen bestimmten, mit Rcksicht aufOrt und Zeit besonders bedeutsamen Zustand der Volkswirthschaft alsGrundlage unserer Darstellung annehmen und lediglich auf die Modificatio-nen hinweisen, welche fr die realistische Theorie aus verschieden gearte-ten Entwickelungsstufen der volkswirthschaftlichen Phnomene und ausverschiedenen rtlichen Verhltnissen sich ergeben.24 Max Weber hielt es

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    25 Ebd.; eigenhndige Randbemerkung Webers im Heidelberger Exemplar von Men-ger, Untersuchungen (vgl. dazu oben, S. 24).26 Menger hatte argumentiert: Das Studium der Geschichte lehrt jedem Unbefange-nen, da absolute Regelmigkeiten in der Entwickelung geschichtlicher Thatsachenberhaupt und der volkswirthschaftlichen Phnomene insbesondere keineswegs zubeobachten sind, whrend jede gereiftere Erkenntnitheorie sogar die Unmglichkeiteiner durchgngigen streng typischen Entwickelung von Erscheinungen so compli-cierter Natur, wie die Thatsachen der ,Volkswirthschaft es sind, auer jeden Zweifelstellt. Ebd., S. 125, Anm. 42. Weber kommentierte dies mit Unterstreichungen unddem Kommentar: Sehr richtig.27 Vgl. Schmoller, Gustav, Die Schriften von K. Menger und W. Dilthey zur Methodo-logie der Staats- und Sozial-Wissenschaften (1883), in: ders., Zur Litteraturgeschich-te der Staats- und Sozialwissenschaften. Leipzig: Duncker & Humblot 1888, S. 275 304, Zitat: S. 287.28 Weber, Objektivitt, S. 70.29 Vgl. Brentano, Lujo, Die Entwicklung der Wertlehre (Sitzungsberichte der Knig-lich Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-philologisch und hi-storische Klasse, Jg. 1908, 3. Abh. vom 15. Febr. 1908). Mnchen: Verlag der K-nigliche Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1908 (hinfort: Brentano, Entwick-lung der Wertlehre), sowie ders., Versuch einer Theorie der Bedrfnisse (ebd., 10.Abh., 1908). Neuerdings wieder abgedruckt in ders., Konkrete Grundbedingungender Volkswirtschaft (1924), hg. und eingeleitet von Hans G. Nutzinger (Beitrge zurGeschichte der deutschsprachigen konomie, Band 22). Marburg: Metropolis2003, S. 271 343 und S. 86 157. Vgl. dazu Weber, Max, Die Grenznutzlehre und daspsychophysische Grundgesetz, in: AfSSp, 27. Band, 1908, S. 546 558, bes.S. 555 f., Anm. 4 (MWG I/12) (hinfort: Weber, Grenznutzlehre), sowie die beiden BriefeMax Webers an Lujo Brentano vom 29. Mai und 3. Juni 1908, in: MWG II/5, S. 578 582. Darauf wird noch zurckzukommen sein. Vgl. unten, S. 30 ff.30 Brief Max Webers an Lujo Brentano vom 30. Okt. 1908, in: MWG II/5, S. 688 f.

    fr eine Illusion, da das mglich sei.25 Seine Vorlesungen suchen dennauch eine sehr viel przisere historische Entwicklung und zeitliche Veror-tung der wirtschaftlichen Phnomene zu vermitteln. In der Kritik an der Ab-sicht, aus der vergleichenden Analyse der Entwicklung der verschiedenenVlker und Nationen generelle Gesetzmigkeiten abzuleiten, war sich We-ber hingegen mit Menger einig.26

    Gegenber den zeitgenssischen Kritikern Mengers verteidigte Weberdiesen spter entschieden. Gegen Gustav Schmoller, der sich ber Men-gers Anzahl abstrakter Nebelbilder, denen jede Realitt mangelt,27 lustiggemacht hatte, nahm Weber Menger 1904 in aller Form in Schutz.28 Ebensowidersprach er Lujo Brentano mit groer Entschiedenheit, als dieser in ei-nem Vortrag 1908 die Grenznutzenschule scharf angegriffen und ihr einepsychologisierende Methode unterstellt hatte.29 Weber war darber umsomehr verstimmt, als er ansonsten Brentanos umsichtiges und abgewogenesUrteil hoch schtzte. Als sich Brentano wegen seines ffentlichen Protestesdann etwas irritiert (Weber nannte es einen freundlich-feindlichen Brief)30

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    31 Ebd. Vgl. auch Nau, Wissenschaft vom Menschen (wie oben, S. 22, Anm. 4,S. 231 235.32 Brief Max Webers an die Philosophische Fakultt der Universitt Heidelberg vom26. Mai 1903; UA Heidelberg, H-IV 102/135, Bl. 588 (MWG II/4).33 Tribe, Strategies (wie oben, S. 5, Anm. 21), S. 90 ff.; dagegen wendet sich Norkus,Zenonas, Max Weber und Rational Choice. Marburg: Metropolis-Verlag 2001, S. 46 48 (hinfort: Norkus, Max Weber und Rational Choice).

    bei ihm beschwerte, stellte Weber sich auch privat vor Menger: Ich bin derAnsicht: 1) da Menger das, was er sagen will, etwas unbeholfen zwar, aberohne Aufputz und schlicht und deutlich zum Ausdruck bringt, 2) da esganz und gar unberechtigt ist, ihn einfach als einen Abklatsch Gossensoder wessen immer anzusehen []. Er berschtzt sich selbst gewaltig,das ist richtig, aber er hat seine sehr betrchtlichen Verdienste, auch in demStreit mit Schmoller in der Sache in den wichtigen Punkten recht gehabt.31

    Allerdings hatte der Einspruch Webers gegen die Deutung der Grenznut-zenlehre durch Brentano auch eine grundstzliche Seite: Weber hielt es frganz und gar verfehlt, die Theoreme der Grenznutzenlehre auf die Ebenepsychologischer Erklrungsmodelle herunterzustufen; an ihrer Qualitt alsrein nomologische Begriffe durfte aus seiner Sicht nicht gerttelt werden.

    Dies zeigt mit einiger Deutlichkeit, da Max Weber in methodologischerHinsicht eine eher rigoristische Auffassung des theoretischen Status derBegriffe der Grenznutzenlehre vertrat. Er sah die Strke der sog. exaktenRichtung gerade darin, da diese eine stringente, rein abstrakte, und nichtmit psychologischen oder anderen empirischen Elementen versetzte Be-grifflichkeit entwickelt hatte, die dann mit groem Erkenntnisgewinn als Ori-entierungsinstrument zur Erfassung der empirischen Wirklichkeit in ihrerVielgestaltigkeit eingesetzt werden knne. Greifbar wird sein Engagementfr die sterreichische Schule, als er sich 1903 dafr einsetzte, da im Ge-genzug zu dem Plan der Philosophischen Fakultt der Universitt Heidel-berg, Gustav von Schmollers wissenschaftliche Verdienste durch einen Eh-rendoktor zu wrdigen, auch Eugen von Bhm-Bawerk ein Ehrendoktor ver-liehen werden mge. Dieser sei der unzweifelhaft bedeutendste [] Ver-treter der abstrakt-deduktiv arbeitenden Schule der sterreichischen Na-tionalkonomie und er wrde insofern ein besonders glckliches Pendantzu der von andrer Seite beantragten Promotion des streng historisch-induk-tiv arbeitenden Professor Schmoller bilden.32

    Keith Tribe hat darauf hingewiesen, da Max Weber in seiner Hinwendungzur theoretischen Nationalkonomie auf halbem Wege stehen gebliebensei, weil er ber die Positionen der sterreichischen Grenznutzenschulenicht hinausgegangen sei und das von William Stanley Jevons (18351882)und Lon Walras (18341910) entwickelte nationalkonomische Theoriean-gebot nicht aufgegriffen habe.33 Insbesondere habe er die bei Jevons und

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    34 Schumpeter, Joseph A., Geschichte der konomischen Analyse (Grundri der So-zialwissenschaft, Band 6), 2 Teilbnde. Gttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1965,S. 1000.35 So Norkus, Max Weber und Rational Choice (wie oben, S. 29, Anm. 33), S. 108,bezglich Schumpeters Charakterisierung von Max Webers Anliegen.36 Vgl. auch Eisermann, Gottfried, Max Weber und die Nationalkonomie (wie oben,S. 25, Anm. 17), S. 43. Es bestehe keinerlei Zweifel, da Weber sich als Professorder Nationalkonomie auf der Hhe der Zeit befand und sich der Mehrheit seiner Kol-legen berlegen gezeigt hat. Ebd. S. 45. Vgl. auch Parsons, Money, Time and Ratio-nality (wie oben, S. 25, Anm. 17).37 Vgl. u.a. unten, S. 204 (Text 2).

    Walras gebotene Mglichkeit einer mathematischen Formulierung derGrundstze der Grenznutzenlehre nicht in Erwgung gezogen. JosephSchumpeter (18831950) hat noch ungleich schrfer geurteilt. Max Weber,dem er ansonsten in vieler Hinsicht nahe stand, sei bekanntlich eigentlichberhaupt kein Wirtschaftswissenschaftler34 gewesen, obschon er ande-rerseits anerkannte, da dieser die abstrakte Wirtschaftstheorie vor dennaturalistischen Vorurteilen35 habe schtzen wollen. Aufgrund unsererKenntnis nicht nur des gedruckten Textes Erstes Buch. Die begrifflichenGrundlagen der Volkswirtschaftslehre, sondern mehr noch der hier erst-mals verffentlichten Stichwortmanuskripte bedarf dieses Urteil einer ber-prfung. Die Manuskripte zeigen, da sich Max Weber auf die Probleme dertheoretischen oder wie er selbst dies nannte: der abstrakten National-konomie durchaus intensiv eingelassen hat.36

    Andererseits war Max Weber von Anfang an bestrebt, das Eigenrecht derhistorischen Methode gegenber den Propositionen der Grenznutzenschu-le zu verteidigen. Er wollte das, was er als die abstrakte Theorie37 be-zeichnete, durch die historische Betrachtungsweise ergnzen, hnlich wiedies auch Eugen von Philippovich angestrebt hatte. Auch Carl Menger hatteim Prinzip die Notwendigkeit der empirisch-historischen Methode neben je-ner der exakten Theorie anerkannt. Max Weber ging in dieser Hinsichtjedoch sehr viel weiter. Es ist auffallend, da er immer wieder nachdrcklichbetont hat, da die Bedrfnisse des Individuums, welche als Triebfederallen Wirtschaftens zu gelten haben, in hohem Mae von historischen Fakto-ren (nicht zuletzt von Kultur und Religion) abhngig sind. Die Tatsache, dadie abstrakte Theorie weitgehend unreflektiert von dem modernen Men-schen des okzidentalen Kulturkreises ausgehe, hielt er zwar fr nahelie-gend, aber dies wollte er nicht zu einer allgemein gltigen Maxime erhobensehen. Bereits am Anfang der zweiten Handreichung Erstes Buch. Die be-grifflichen Grundlagen der Volkswirtschaftslehre heit es: Das Wirtschaf-ten ist dem Menschen durch einen jahrtausendelangen Anpassungsprozeanerzogen. Das Ma des planvollen Wirtschaftens im modernen Sinn warund ist historisch, nach Rasse und auch innerhalb der modernen occiden-

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    38 Unten, S. 122.39 Vgl. die bersicht in Anhang 1, unten, S. 55 57 und S. 60 63.40 Vgl. Ankndigungen der Vorlesungen, welche im Sommer-Halbjahre 1886 auf derGroherzoglich Badischen Albert-Ludwigs-Universitt zu Freiburg im Breisgau gehal-ten werden. Freiburg i. B.: Universitts-Buchdruckerei Poppen & Sohn 1886, S. 19;dass., Freiburg i. B.: Chr. Lehmann 1890, S. 24; dass., 1893, S. 24.41 Vgl. Yagi, Kniess Heidelberg Lecture (wie oben, S. 12, Anm. 69), S. 13 und S. 19.

    talen Cultur nach Beruf, Erziehung, Intellekt und Charakter der Individuensehr verschieden, durchweg aber unvollkommen entwickelt; demgem istauch der Spielraum, den rein wirtschaftliche Motive im Kreise der das Han-deln des Einzelnen bestimmenden Triebfedern einnehmen, ein historischund individuell hchst wandelbarer.38 Der historische Zugriff war demnachneben jenem der exakten Theorie unverzichtbar. Dementsprechend be-fassen sich die grten Teile der nationalkonomischen Vorlesungen mit derhistorischen Rekonstruktion der Wirtschaftsformen und der sie bedingen-den Lebensverhltnisse.

    Man wird Max Weber als einen Wissenschaftler bezeichnen knnen, dereiner theoretisch angeleiteten historischen Nationalkonomie universalenZuschnitts die Wege zu bahnen suchte. Im Prinzip wurde die gesamte okzi-dentale Entwicklung in den Blick genommen, unter Einbeziehung nicht zu-letzt auch von Kultur und Religion als wichtigen nicht-konomischen aberdennoch das wirtschaftliche Verhalten der Individuen mageblich mitbe-stimmenden Faktoren.

    4. Zur Gliederung der Vorlesung

    Der Titel der Vorlesung variiert. In Freiburg lautete er Allgemeine und theo-retische Nationalkonomie (Wintersemester 1894/95) und TheoretischeNationalkonomie (Wintersemester 1895/96 und Sommersemester 1896).Fr das Wintersemester 1896/97 ist nur die unspezifizierte Angabe Natio-nalkonomie berliefert. In Heidelberg tritt 1897 und 1898 die Formulie-rung Allgemeine (theoretische) Nationalkonomie auf, die 1899 in Theo-retische Nationalkonomie abgendert wird.39 Hinweise, weshalb die Titelvariieren, sind nicht berliefert. Max Webers Vorgnger in Freiburg Eugenvon Philippovich hatte die Vorlesungen unter den Titeln Nationalkonomie(1886), Allgemeine Nationalkonomie (1890) bzw. Allgemeine Volkswirt-schaftslehre (1893) angeboten,40 d.h. ohne den Zusatz theoretische. InHeidelberg scheint sich Max Weber mehr an seinem Vorgnger Karl Kniesorientiert zu haben. Bei diesem findet sich schon 1886 die BezeichnungAllgemeine (theoretische) Volkswirtschaftslehre, gelegentlich auch All-gemeine Volkswirtschaftlehre (theoretische Nationalkonomie).41 Weberfolgte diesen Usancen allerdings mit einer gewissen Qualifizierung betref-

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    42 Weber, Marianne, Lebensbild1, S. 241. Demgegenber berichtet der sptere Frei-burger Extraordinarius fr Nationalkonomie und Finanzwissenschaft Robert Lief-mann ber die nationalkonomischen Kollegs aus Freiburger Studienzeit, da dieseihm nur sehr wenig gebracht htten und Max Weber damals noch reiner Historikerund, wie immer, ganz unsystematisch gewesen sei. Vgl. Meiner, Felix (Hg.), DieVolkswirtschaftslehre der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Band 1. Leipzig: Mei-ner 1924, S. 157.43 Weber, Marianne, Lebensbild1, S. 241. Streng genommen handelte es sich beiden 2-stndig angelegten Vorlesungen zur Arbeiterfrage und Arbeiterbewegun