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Modulforum Fürst/Werbick Texte zu den Sitzungen vom 15. und 22. April 2010 3. Der Eine und Einzige. – Der Andere? 3.1 Einheit: das, worüber Größeres nicht gedacht werden kann Das Eine ist die ursprüngliche, die „eigentliche“ Wirklichkeit, aus der, „in der“ und auf die hin alles ist. Diese Ur-Intuition griechischen Gottdenkens war für die frühe christliche Theologie ein willkommenes, geradezu selbstverständlich angetretenes Erbe. Man durfte es vorbehaltlos in Anspruch nehmen und sich als legitime, ja als die einzig legitime Inha- berin dieses Erbes verstehen. Der biblische Schöpfungsglaube brachte mit letzter Eindeu- tigkeit zur Geltung, dass das Woher alles Seienden ein einziges sein musste, dass es im Anfang und aufs Ganze gesehen nur eine „Ursache“ geben konnte. Aus dem Schöpfer ist alles. Er hat es frei hervorgebracht. Er ist tatsächlich Ursprung ohne jeden Ursprung, wahrhaft der Einzige, der nichts mehr voraussetzt. So findet auch die philosophische Rückfrage ihr Ziel, jenen ersten Gedanken, jenes erste Prinzip, das nur eines sein kann, da jede Vielheit einen Grund voraussetzen würde, der die Unterschiedenheit des Unterschie- denen begründen müsste. 1 Einheit, außer der nichts ist, nichts jedenfalls, was in irgendeinem Sinne eine positive Seinsbedeutung hätte, das ist der Inbegriff des Vollkommenen: alle Vollkommenheit in sich enthaltend. So war für die metaphysische Tradition Einheit auch nicht eine Eigen- schaft unter anderen. Sie war vielmehr die Signatur aller Eigenschaften, die dem wahrhaft Vollkommenen zugesprochen werden dürfen. Sie können (und müssen) sprachlich – durch die „darüber“ Sprechenden – unterschieden werden. Im wahrhaft Vollkommenen aber sind sie schlechthin eins. Die Einheit zählt mit der Wahrheit und der Gutheit nicht nur zu den „Transzendentalien“, die allem Seienden als vom vollkommenen Schöpfer 1 So argumentiert im Anschluss an die platonische Überlieferung Justin, Dialogus cum Tryphone I, 5, 6. Vgl. zum Überblick: Wolfhart Pannenberg, Die Aufnahme des philosophischen Gottesbegriffs als dogma- tisches Problem der frühchristlichen Theologie, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie (Bd. 1), Göttingen 1967, 296–346, hierzu vor allem 302ff.

3. Der Eine und Einzige. – Der Andere? - uni-muenster.de · quenz hat die negative Theologie aller Zeiten gezogen –, dass es in ihm keine voneinander unterscheidbaren Seinsvollkommenheiten

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Modulforum Fürst/Werbick

Texte zu den Sitzungen vom 15. und 22. April 2010

3. Der Eine und Einzige. – Der Andere?

3.1 Einheit: das, worüber Größeres nicht gedacht werden kann

Das Eine ist die ursprüngliche, die „eigentliche“ Wirklichkeit, aus der, „in der“ und auf

die hin alles ist. Diese Ur-Intuition griechischen Gottdenkens war für die frühe christliche

Theologie ein willkommenes, geradezu selbstverständlich angetretenes Erbe. Man durfte

es vorbehaltlos in Anspruch nehmen und sich als legitime, ja als die einzig legitime Inha-

berin dieses Erbes verstehen. Der biblische Schöpfungsglaube brachte mit letzter Eindeu-

tigkeit zur Geltung, dass das Woher alles Seienden ein einziges sein musste, dass es im

Anfang und aufs Ganze gesehen nur eine „Ursache“ geben konnte. Aus dem Schöpfer ist

alles. Er hat es frei hervorgebracht. Er ist tatsächlich Ursprung ohne jeden Ursprung,

wahrhaft der Einzige, der nichts mehr voraussetzt. So findet auch die philosophische

Rückfrage ihr Ziel, jenen ersten Gedanken, jenes erste Prinzip, das nur eines sein kann, da

jede Vielheit einen Grund voraussetzen würde, der die Unterschiedenheit des Unterschie-

denen begründen müsste.1

Einheit, außer der nichts ist, nichts jedenfalls, was in irgendeinem Sinne eine positive

Seinsbedeutung hätte, das ist der Inbegriff des Vollkommenen: alle Vollkommenheit in

sich enthaltend. So war für die metaphysische Tradition Einheit auch nicht eine Eigen-

schaft unter anderen. Sie war vielmehr die Signatur aller Eigenschaften, die dem wahrhaft

Vollkommenen zugesprochen werden dürfen. Sie können (und müssen) sprachlich –

durch die „darüber“ Sprechenden – unterschieden werden. Im wahrhaft Vollkommenen

aber sind sie schlechthin eins. Die Einheit zählt mit der Wahrheit und der Gutheit nicht

nur zu den „Transzendentalien“, die allem Seienden als vom vollkommenen Schöpfer

1 So argumentiert im Anschluss an die platonische Überlieferung Justin, Dialogus cum Tryphone I, 5, 6. Vgl. zum Überblick: Wolfhart Pannenberg, Die Aufnahme des philosophischen Gottesbegriffs als dogma-tisches Problem der frühchristlichen Theologie, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie (Bd. 1), Göttingen 1967, 296–346, hierzu vor allem 302ff.

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bewirkte Seinsvollkommenheiten zugesprochen werden dürfen.2 Einheit ist vielmehr das

ursprüngliche Transzendentale, da Wahrheit – adaequatio – ja in einer ursprünglichen Ein-

heit von Erkennendem und Erkanntem gründet und da das Gutsein des Seienden in je-

nem Streben realisiert wird, das die Vereinigung mit dem Erstrebten intendiert. Im

(menschlichen) Erkennen und Wollen wird jene göttlich-vollkommene Einheit nachvoll-

zogen, in der die Erkennenden und Wollenden sich gegründet und gehalten wissen. Hier

wird jene Einheit erahnt, aus der sie selbst sind, was sie sind und sein können. Nikolaus

von Kues hat diesen Gedanken in der Spur neuplatonischen Teilhabe-Denkens zur Geltung

gebracht:

„Auf Grund der Anteilhabe an der unveränderlichen und nicht vermehrbaren Einheit können (werden)

und werden tatsächlich alle Dinge, die werden können. Und weil, wie Dionysius sagt, nur eine Einheit sein

kann, ist sie höher als es der Sinn zu begreifen vermag; sie bleibt für den menschlichen Geist unfasslich,

da sie ihm vorangeht. Daher ist sie das Eine, das alles eint, so dass jedes Beliebige nur insoweit ist, als es

eines ist.“3

Die ursprüngliche Seinsvollkommenheit der Einheit kennzeichnet hier das vollkommens-

te Seiende ursprünglich und umfassend – in unbegreiflicher Vollkommenheit und Unend-

lichkeit. Gott ist der Eine, neben dem nichts sein kann, was ihn begrenzte; nichts, was die

einem endlichen Seienden eignende Vollkommenheit nicht ganz aus ihm hätte. Gott ist

unendlich, weil er vollkommen ist. Und er ist vollkommen, weil er der Eine ist, aus dem

und durch dessen einende Macht alles ist; der Eine, Vollkommene, der nichts an Voll-

kommenheit und Sein außer sich hat. Unendliche Einheit bedeutet hier Grenzenlosigkeit,

damit aber auch – für menschliches Denken und Sprechen – in letzter Konsequenz Un-

nennbarkeit, Unbestimmbarkeit. Menschliches Denken und Sprechen ist immer auf Endli-

ches, auf das Nebeneinander bezogen: auf Individuiertes und das Prinzip der Individuation:

das „materielle“ Dasein in Raum und Zeit. Es muss unterscheidbare Merkmale benennen,

die es zuspricht oder abspricht, um so das Gedachte und Ausgesprochene als ein Be-

stimmtes zu identifizieren. Für Nikolaus von Kues ergibt sich daraus das ursprüngliche

Recht, ja die Unausweichlichkeit der negativen Theologie: Nach ihr „findet man in Gott

2 Vgl. Ludger Oeing-Hanhoff, Ens et unum convertuntur. Stellung und Gehalt des Grundsatzes in der Philosophie des heiligen Thomas von Aquin, Münster 1953. 3 Nikolaus von Kues, De venatione sapientiae, in: Philosophisch-theologische Schriften, Bd. 1 1–189, hier 97–99.

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nichts anderes als Unendlichkeit“ – und das heißt hier Unbestimmbarkeit. Darum ist Gott

für die negative Theologie „weder in dieser Zeit noch in der Zukunft erkennbar, weil je-

des Geschöpf in Hinblick auf ihn Dunkelheit ist, die das unendliche Licht nicht begreifen

kann; nur sich allein ist er bekannt.“4 Gottes Unendlichkeit und allumfassende Einheit ist

nicht diskursiv zu begreifen. Gott ist alles zugleich, nicht neben- und nacheinander. Er ist

reiner Geist.

Diese unendlich-vollkommene, alles umfassende Einheit bedeutet gleichsam „nach au-

ßen“, dass es jedenfalls kein Gott Äußeres geben kann, da dieses ihn zum Endlichen und

irgendeiner Vollkommenheit Entbehrenden machen müsste. Es bedeutet, dass in be-

stimmter Hinsicht alles Seiende in Gott ist. Ist damit schon der Weg zum Pantheismus be-

schritten, der – nach dem Leitsatz ↔< 6∀ℜ Β� < (hen kai pan; ein und alles) – alles Sei-

ende einfachhin mit Gott identifiziert und Gottes Einheit in der Gesamtheit alles Seien-

den realisiert bzw. sich realisieren sieht? Nicht erst in der Neuzeit war diese Frage heftig

umstritten. Spätestens seit Spinoza aber stand dieser Streit auf der (religions-

)philosophischen Agenda. Und er ist seither nicht mehr von ihr verschwunden.5

Gottes Einfachheit und Unendlichkeit bedeuten aber „nach innen“ – und diese Konse-

quenz hat die negative Theologie aller Zeiten gezogen –, dass es in ihm keine voneinander

unterscheidbaren Seinsvollkommenheiten oder Realisierungsweisen geben kann, die es

ermöglichen könnten, Gott diskursiv-differenzierend zu bestimmen. Er ist schlechthin

und unendlich einfach.6 Er ist alles zugleich in vollendeter Weise, was er sein kann und was

überhaupt ein Seiendes sein kann.7 Nur die semantische Bestimmtheit menschlichen Re-

dens erfordert es, dieses vollkommen einfache Ineinander und Miteinander des Voll-

kommenen, das Gott ist, als Nebeneinander – in verschiedene „Vollkommenheiten“ ge-

gliedert und die Vollkommenheiten aufeinander beziehend – auszusagen und systematisch

zu ordnen. Der Zwang zu semantisch bestimmtem Reden aber macht deshalb auch die

Unvollkommenheit und Unangemessenheit menschlichen Redens über Gott aus. Ist da-

mit schon die Unhintergehbarkeit der negativen Theologie behauptet? Auch diese Frage

bewegt Theologie und Philosophie nicht erst seit Nikolaus von Kues. Aber Nikolaus hat

4 De docta ignorantia, I, 26, a.a.O., 294f. 5 Vgl. dazu das bereits zitierte Buch von Klaus Müller: Streit um Gott. 6 Das war schon für Platon selbstverständlich; vgl. Politeia 382 e. 7 Gott ist ganz, was er ist; in ihm gibt es keine Teile. Das macht Irenäus von Lyon gegen die Gnosis geltend: „Er (der Vater) ist einfach und nicht zusammengesetzt aus gleichen Teilen (similimembrius), ganz mit sich selbst ähnlich und gleich, da er ganz Geist, ganz Empfinden ist, ganz Gedanke, ganz Vernunft, ganz Ge-hör, ganz Auge, ganz Licht und ganz Quelle alles Guten“ (Adversus haereses II, 13, 3).

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sie von neuem dringlich gemacht. Und sie ist seit seiner Wortmeldung ebenfalls nicht

mehr von der Tagesordnung verschwunden.

Aus dem Inbegriff einer unendlichen Vollkommenheit und Einheit, über der Größeres

und Vollkommeneres nicht gedacht werden kann, folgten nach der metaphysisch gepräg-

ten Gotteslehre Positionsbestimmungen in einer ganzen Reihe von weiteren Problemfel-

dern, in denen sich das Profil des biblisch-christlichen Gottesverständnisses entscheidend

darzustellen hatte. Ausgeschlossen wurde mit dem Prinzipienpluralismus auch der Prinzi-

piendualismus, der zwei miteinander konkurrierende Seinsprinzipien annahm (neben dem

Prinzip des Guten etwa ein gegengöttliches Prinzip des Bösen oder der Endlichkeit).

Ausgeschlossen wurde ebenfalls der Polytheismus, der mehrere Realisierungen göttlichen

Seins nebeneinander bzw. in Über- und Unterordnung zueinander annimmt. Noch nicht

in jeder Hinsicht ausgeschlossen wurde – wie schon eingeräumt – der Pantheismus; auch

nicht ein Panentheismus mit seiner vielfach differenzierten These, alles sei in Gott einbe-

schlossen und existiere allein in ihm.

Auf all diesen Problemfeldern verschärften sich seit dem 17. Jahrhundert die Herausfor-

derungen, denen gegenüber die biblisch-christliche Rede von Gott ihre Selbstverständ-

lichkeit – ihre selbstverständliche Überlegenheit über die anderen Optionen – zu bewäh-

ren hatte. Zuletzt und einigermaßen überraschend erfuhr sich der biblisch-christliche Mo-

notheismus von neuem durch polytheistische Optionen in Frage gestellt. Einheit wurde

mehr und mehr von einer selbstverständlichen Vollkommenheit, ja der höchsten Voll-

kommenheit zu einer Problemvokabel für zwanghaftes Identitätsdenken oder zur Prob-

lemanzeige für einen mehr oder weniger verdrängten Dualismus des Christentums selbst,

dessen Gottesverständnis die Vielfalt und die Güte dessen, was ist, gegenüber der Einheit

und dem Vollkommenheitsanspruch des biblischen Herrscher- und Beherrschergottes

abwerten „musste“. Die erneuerte polytheistische Option zog gegen Ende des 20. Jahr-

hunderts die pantheistische nach sich. Und die pantheistische verband sich vielfach mit

einer „mystischen“ Option, die sich scharf gegen einen „Dualismus“ zwischen dem Gött-

lichen und „seinem Anderen“ – den Geschöpfen – verwahrte und die Einheit als göttli-

che, alles in sich fassende und durchdringende Ganzheit verstanden oder besser noch:

meditiert sehen wollte.

So haben sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts einerseits die Herausforderungen und An-

fragen, denen sich ein biblisch-christliches Reden von Gott ausgesetzt sieht, im Vergleich

5

zu den Problematisierungen des „Theismus“ der herkömmlichen „personalen“ Gottes-

vorstellung seit dem 18. Jahrhundert zugespitzt. Sie haben sich zum anderen aber auch

überraschend verlagert. Und sie überkreuzen sich auf nicht leicht zu durchschauende Wei-

se mit den früheren Fragestellungen. Beginnen wir die Inspektion der Problemfelder bei

einem Autor, der sich als Literat einen Namen gemacht hat und seine religiösen Optionen

in der Spur Nietzsches recht ungeschützt und entsprechend zugespitzt zum Ausdruck

bringt.

3.2 Keine anderen Götter!?

Martin Walser versteht den biblischen Monotheismus als Ausgeburt der Eifersucht und

des Konkurrenzdenkens; er denunziert ihn als die Verabsolutierung eines göttlichen Al-

lein-Anspruchs, der die Gläubigen immer schon auf ein grenzenloses Schuldig-Sein fest-

nagelt. Das werde in der Bibel auch offen so ausgesprochen. Die Magna Charta dieses

biblischen Alleingottglaubens ist ja das erste Gebot des Dekalogs:

„Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen.

Denn ich, der Herr, bin ein eifersüchtiger Gott: Bei denen, die mir Feind sind, verfolge ich die Schuld der

Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation; bei denen, die mich lieben und auf meine

Gebote achten, erweise ich Tausenden meine Huld“ (Ex 20,5–6; Dtn 5,9–10).

Spricht dieser Text nicht vor allem von Unterwerfung und von Rache? Davon, dass der

Gott Israels alles für sich will? „Der Gott, der alles gibt, wenn wir ihm zuerst alles gegeben

haben, war“ – so Walser – „von Anfang an ein Herrscher mit dem man nur durch Unter-

werfung in Kontakt kommen konnte.“8 Ihm sich zu unterwerfen und neben ihm nichts

zu haben, was sonst noch Verehrung und Liebe verdiente, das verlangt nach Walsers

Klartext: „Nicht der Erde sollen wir gehören, sondern diesem einen Gott … Nicht Lie-

besfähigkeit, sondern das Konkurrenzprinzip ist dadurch zum identitätsentscheidenden

Prinzip geworden.“9 Gottes Eifersucht überzieht alle mit Strafen, die neben ihm noch

anderes haben und ehren wollen: die bunte Vielfalt dieser Welt, ihre Schönheit, den Ge-

8 Vgl. von Martin Walser den Titelaufsatz zu: Ich vertraue. Querfeldein, Frankfurt a. M. 2000, 9–21, hier 12. 9 Ebd.

6

nuss, der in ihr möglich wäre. Wenn angesichts dieses Gottes von der Liebe die Rede ist,

dann ist es die gesollte, die geschuldete, nicht die in uns selbst liegende, so gern erweckte

Neigung:

„Durch solche Texte soll unsere Natur diszipliniert werden. Dazu muß sie zuerst einmal schlecht gemacht

werden. Wir werden darauf eingestimmt, daß wir böse sind, wenn wir nicht das tun, was von uns verlangt

wird. Von da an läuft alles verkehrt. Es wird nicht entwickelt, was möglicherweise auch in uns ist und uns

liebesfähig machen könnte, sondern wir werden gemaßregelt und mit Strafen bedroht, und zwar für alle

Ewigkeit. Was soll da noch gedeihen?“10

So fordert Walser vehement die Abkehr von diesem „rachsüchtigen Monotheismus“, der

uns von uns selbst – unserem In-der-Welt-leben-Wollen – wegbringt; der die Herrschaft

eines Universalgottes und seiner Universalnormen aufrichten soll. Der Universalgott rep-

räsentiert und urgiert die Unterwerfung unter das Universale. Deshalb bedroht er mit

Strafen, wer beim Individuell-Vielfältigen, bei der konkreten Erfahrung des uns gegebe-

nen und verheißungsvoll Anziehenden bleiben will: den abtrünnigen Sünder. Er macht die

Menschen erst zu Schuldnern und Sündern. Er macht sie erst böse, liebesunfähig, da sie

sich mit ihm – gegen alles andere – identifizieren müssen; mit dem, dem gegenüber alle in

Schuld sind. Als seine Vasallen spielen sie sich dann freilich selbst als Universalisten und

Absolutisten auf und lassen nichts „anderes“ mehr gelten. Walser setzt dagegen: „Wir

sind nicht böse von Natur aus, sondern werden es, wenn wir uns unterwerfen müssen,

einer Regel, einer Konvention, einem Gebot, einer Macht. Nicht Macht ist böse, böse

werden die, über die sie ausgeübt wird“11 – und die dann selbst zur Kompensation ihrer

eigenen Machtlosigkeit an ihr teilhaben wollen.

Das ist nach Walser die Ur-Verdorbenheit des biblischen Monotheismus und das Verder-

ben, das er über die Menschen bringt: dass die Gläubigen nicht bei sich bleiben und so

auch „das Genießen nicht genießen“ dürfen, dass sie – als „christliche Krüppel“ – böse

werden12. Stattdessen sollten wir uns entschlossen von allen „universalistischen Rezep-

ten“ – seien es traditionell religiöse oder säkularisierte Welterlösungsansprüche – abwen-

den, um „endlich von uns auszugehen, dann aber auch bei uns zu bleiben. Nicht an ande-

10 Ebd., 11f. 11 Ebd., 16. 12 Ebd.

7

re sollen wir denken, sondern an uns. Nur dann haben vielleicht auch andere etwas von

uns. Es ist das Gegenteil des Missionarismus: Gehet hin und lehret alle Völker.“13

Der Universalismus zerstört; nicht erst, aber erst recht unter dem Banner der Globalisie-

rung. Das Bleiben bei sich selbst, beim Nächsten, bei der nicht normierbaren Vielfalt ret-

tet, auch religiös; es hätte religiös retten können: „Unvorstellbar, daß unterm Schirm einer

über Wiesen und Wälder hingestreuten Göttervielfalt dem Planeten je hätte Gefahr dro-

hen können.“ Diese im Diesseitigen wahrgenommene Göttervielfalt hätte das Vertrauen

auf die „lokalen Bemessenheiten“ stimulieren können; das Vertrauen darauf, „dass die

überall anders ausfallende Natur überall eine anrufbare, immer noch erlebbare Größe

ist.“14 Natur ist das Kennwort für das Nächste, seine „Anrufbarkeit“, seine Erfahrbarkeit

und Göttlichkeit – „Inbegriff des Hiesigen; also des überall Hiesigen.“ 15 So gilt es für

Walser mit Hölderlin, unmittelbar im Natürlichen „die Physiognomie eines Gottes (zu)

erfahren. Eines Gottes, bitte, nicht des Gottes“. Es geht um die „ursprüngliche Fähig-

keit“ – bzw. um ihre Wiedererweckung –, „Begegnendes religiös zu erfahren.“ Und dafür

braucht es – so Walser wieder mit Hölderlin – „die Himmlischen alle“.16

Outet sich Walser hier als Polytheist? Als religiöser Polytheist? Und was hieße für ihn reli-

giös? Zunächst geht es ihm um die „religiöse“ Wahrnehmung und Hochschätzung des

Nächsten, Nächstliegenden – eine Hochschätzung, die nicht gemusst wird, sondern gern

geschieht; die nicht einer universalen Norm geschuldet ist, sondern im Genießen sich von

selbst einstellt: „Statt Glaubensleistungen nach oben, Genussfähigkeit unter uns.“17 Es

geht wohlgemerkt nicht um das Höchste, sondern um das Nächste, und genau darin weiß

Martin Walser sich als Jünger Nietzsches. Nietzsche polemisiert ja gegen ein religiöses

Sicherheits- und Beherrschungsstreben, das sich der „alleräussersten Horizonte“ verge-

wissern will und zu einem Gott aufsteigt, der auch das Äußerste und Letzte umfasste.

Dem setzt er entgegen: „Alles Andere muss uns näher stehen, als Das, was man uns bisher

als das Wichtigste vorgepredigt hat … Wir müssen wieder gute Nachbarn der nächsten Dinge

13 Ebd., 14. 14 Ebd., 18. 15 Ebd., 19. 16 Martin Walser, Lieber schön als wahr, in: DIE ZEIT Nr. 4 vom 16. Januar 2003, 31. 17 Ich vertraue. Querfeldein, 19. Klaus Müller hat diesen Akzent der Monotheismuskritik schon bei Heinrich Heine nachweisen können. In seiner „Denkschrift“ mit dem Titel „Ludwig Börne“ (H. Heine, Werke in fünf Bänden, Bd. 5, Berlin – Weimar 1981, 167–309, hier 178f.) attestiert Heine den „Nazarenern“, ihnen fehle „die Majestät der Genussseligkeit, die nur bei bewussten Göttern gefunden wird.“ Vorausgesetzt ist offenkundig ein radikaler Antagonismus von „judäische(m) Spiritualismus gegen hellenische Lebensherr-lichkeit“ (ebd., 177f.). Vgl. die Darstellung bei K. Müller, Streit um Gott, 196ff.

8

werden und nicht so verächtlich wie bisher über sie hinweg nach Wolken und Nachtun-

holden blicken“. Wir müssen das „Gift der Verachtung gegen das Nächste“ in unserem

Blut ausscheiden.18

Das Nächste und die Nächsten aber sollen nicht geliebt werden – nach dem Gebot des

Allerhöchsten. Die ihnen entgegengebrachte religiöse Aufmerksamkeit und erweckt mehr

oder weniger von selbst unsere Genussfähigkeit und Genussbereitschaft: um unsretwillen,

nicht zuerst um ihretwillen oder gar eines transzendenten Gottes willen. Die Vielfalt des

Nächsten statt der Ferne des transzendenten Allein-Gottes ist für Martin Walser die urre-

ligiöse Erfahrung, die in der Dichtung beschworen wird. Denn das ist die „Arbeit“ des

Dichters: „etwas so schön zu sagen, wie es nicht ist.“19 Es als das Göttliche zu sagen, das

es ist oder nicht ist? Weist Martin Walser hier – wie vor ihm Nietzsche – der Kunst die

Aufgabe zu, das grausam-sinnlose Weltgeschehen so zurechtzulügen, dass man in ihm

leben kann20, dass Kunst in diesem Sinne mit der „Verwaltung des Nichts“21 beschäftigt

ist? Walser gibt hier keine präzise Auskunft, außer der, dass es darauf ankomme, das

Nächste religiös zu erfahren. Was aber heißt hier „religiös“? Für Walser zweifellos dies:

dass das Nächste sein Gut-und-schön-Sein nicht von dem einen transzendenten Schöpfer-

gott her hat, der uns befiehlt, dieses Gut-und-schön-Sein zu achten und ihm gerecht zu

werden; dass es sich vielmehr der unmittelbaren Wahrnehmung und dem Genuss er-

schließt – wenn sich die universalistisch-genussfeindliche Sollensperspektive nicht darü-

berlegt und alles mit ihrer Herrschafts- und Konkurrenzlogik vergiftet.

Dass sich die universalistische Hoch- und Transzendenzgott-Religion des Monotheismus

nicht in diese religiöse Unmittelbarkeit hineindrängt, das ist Walsers religiöser Impetus.

Man wird ihn – zumindest auf den ersten Blick – polytheistisch nennen: Man „braucht die

Himmlischen alle“, aber nicht im fernen Himmel, sondern als die Göttlich-Nächsten, als

18 Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches II, Der Wanderer und sein Schatten, Aph. 16, KSA 2, 550f. Walser bezieht sich ausdrücklich auf diesen Text in: Ich vertraue. Querfeldein, 19. Eine ge-radewegs religiöse Assoziation ruft Nietzsche im Zusammenhang der zitierten Schrift auf, wenn er als den gefährlichen Wahlspruch des „veredelten Menschen“ formuliert: „Friede um mich und ein Wohlgefallen an allen nächsten Dingen“ (ebd., Aph. 350, KSA 2, 702). 19 Martin Walser, Lieber schön als wahr, a.a.O. 20 Vgl. Friedrich Nietzsches Nachlassbemerkung (Nachgelassene Fragmente Frühjahr–Sommer 1888, KSA 13, 500): „Die Wahrheit ist hässlich: wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grun-de gehen.“ Heranzuziehen wäre gleichfalls eine eher erkenntnistheoretisch-prinzipielle Überlegung, die Nietzsche ein halbes Jahr zuvor in seine Notizhefte einträgt (Nachgelassene Fragmente November 1887–März 1888, KSA 13, 193): „Wir haben Lüge nöthig, um über diese Realität, diese ‚Wahrheit’ zum Sieg zu kommen das heißt, um zu leben … Daß die Lüge nöthig ist, um zu leben, das gehört selbst noch mit zu diesem furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins …“. 21 Vgl. Martin Walser, Lieber schön als wahr, a.a.O.

9

das Göttlich-Nächste, das uns als das Nächste angehen und unsere „ursprüngliche Fähig-

keit“ wecken will, „Begegnendes religiös zu erfahren“. Dann wäre der Polytheismus aber

nur die Oberflächengestalt eines Pantheismus, der für die Unmittelbarkeit einer religiösen

Begegnung mit dem Göttlichen in allem Begegnenden optiert; eines Pantheismus, der sich

in einer (dichterischen?) Sprache ausdrücken will, die den Reichtum und die Schönheit

des Widerfahrenden als Widerfahrnis des Göttlichen sagt, sie deshalb „schön“ sagt22 –

gegen all das, was sich dazwischendrängen will und das Dasein in dieser Welt entwertet.

3.3 Monotheismus als Metapher

Martin Walser lässt seine Leser im Unklaren darüber, was seine religiösen Bezugnahmen

auf Polytheismus oder Pantheismus bedeuten. Nur so viel deutet er an: Religiöse Sprache

bringt die „heilige“ Unmittelbarkeit des Widerfahrenden zum Ausdruck und will diese

Unmittelbarkeit gegen die monotheistische Vermittlung durch das dem Alleingott Ge-

schuldete schützen. Sie will aber auch gegen den Universalismus optieren, der mit seinem

Identitäts- und Konkurrenzdenken eben auch Herrschaft und Unterwerfung in die Welt

der heidnischen Religionen bringt: das Sollen und Müssen und die Schuld, die die Herr-

schaft dessen, dem alles geschuldet ist, so unerträglich verschärft.23 Ist der Polytheismus-

Pantheismus hier von neuem als religiöse Einstellung beschworen? Oder wird er als Me-

tapher für anti-universalistische Unmittelbarkeit eingeführt? Oder ist diese Alternative

schon falsch, weil sie dem gar nicht gerecht wird, was postmodern mit Polytheismus-

Pantheismus gemeint sein kann? Ist Religion womöglich gar „nichts anderes als“ die Un-

mittelbarkeit zu einem Unbedingten, zur Unbedingtheit des hier und jetzt Widerfahren-

den? Die religionsgeschichtlichen Zitate würden dann diese Einstellung eher metapho-

risch beschreiben. „Mehr“ können sie dann gar nicht meinen, weil eben darin das Religiö-

se liegt – wenn man es nicht als den monotheistisch-weltverneinenden Jenseitsbezug ver-

stehen will.

Monotheismuskritik als Metapher für eine umfassende „Weltanschauungs-Alternative“

oder als explizit religiöse Positionierung? Diese Frage bleibt in den gegenwärtigen Diskus-

22 So versteht Walser seine religiöse Option in dem zitierten ZEIT-Aufsatz selbst. 23 Auch und gerade darin ist Walser Nietzscheaner. Man vergleiche bei Nietzsche etwa nur den Aphoris-mus 21 in: Zur Genealogie der Moral II, KSA 5, 330f.

10

sionen oft in der Schwebe, weil das Religionsverständnis in der Schwebe bleibt. Hier allzu

viel definieren zu wollen, wäre ja schon wieder der altbekannte definitorische Universa-

lismus oder Absolutismus. Nur die anti-monotheistische Stoßrichtung wird klar ausge-

sprochen; die Befreiung vom „monotheistischen Idol“24 ist angesagt. Der Monotheismus

gilt den „Neuen Heiden“ als „Träger der Zwangsvorstellung vom Einmaligen und Gleich-

förmigen“25: Der Universalismus des Gleichförmigen, des homogenen Wahrheitsraumes,

macht das in ihm auftretende Einmalige – Einmaligkeit Beanspruchende – zum Idol einer

exklusiven, für den gesamten Wahrheitsraum gültigen Allein-Wahrheit. Sein universaler

Wahrheitsanspruch anerkennt nicht mehr das Eigenrecht des Nahen und Besonderen. Er

ist imperialistisch und gibt sich nur mit Weltherrschaft zufrieden. Er unterdrückt – so die

Anklage – „die Polyphonie des wirklichen Lebens“, um die „Monotonie einer imaginären

Offenbarung“ durchzusetzen.26 Das neue Heidentum will im Gegensatz dazu für die

Letztgültigkeit des vielfältig Nahen einstehen, für Weltfrömmigkeit – statt für Erlösung

im Jenseits fürs „hochgespannte“ Gelöstsein im Hier und Jetzt:

„Das Heidentum ist nicht, wie man glaubt oder sagt, die Verneinung des Heiligen. Im Gegenteil. Das

Heidentum setzt voraus, dass das menschliche Dasein das Heilige begreift. Es ist daher nicht mit dem

Atheismus oder dem Agnostizismus zu verwechseln; es lehnt lediglich den einzigartigen Gott ab, ihn, der

außerhalb der Welt lebt und doch voller Eifersucht ist, der den Geschöpfen jede geistige Erfahrung ver-

bietet, die den Menschen selbst in seinen Beziehungen zur Welt zum Gegenstand hat. Der einmalige Gott

fordert von den Menschen ein Bewusstsein ihres Ausgeschlossenseins. Das Heidentum sucht die Religion

in einem hochgespannten Gefühl der Fülle hier und jetzt. Er hält die Welt für heilig.“27

In eher unterkühlter und ironisierend-skeptischer Philosophen-Sprache stimmt Odo Mar-

quard das „Lob des Polytheismus“ an. Ihm geht es nicht um religiöse Einstellungen als

solche. Monotheismus steht hier als Metapher für Identitätskonstruktionen, die sich durch

Einordnung des geschichtlich Geschehenden in einen „Monomythos“ bilden28: Wir fin-

24 Vgl. das Buch von Manuel de Dieguez, L’idole monothéiste, Paris 1981. 25 Vgl. Alain de Benoist, Comment peut-on être païen?, Paris 1981, 203. 26 So fasst André Dumas die Anklage des Monotheismus durch das Neuheidentum zusammen; vgl. Der dreieinzige Gott, in: P. Eicher (Hg.), Neue Summe Theologie Bd. 1: Der lebendige Gott, Freiburg – Ba-sel – Wien 1988, 409–446, hier 415. 27 Louis Pauwels, Le droit de parler, Paris 1981, 294f., zitiert nach André Dumas, Der dreieinzige Gott, a.a.O., 416. Das weitere Umfeld der gegenwärtigen Monotheismuskritik beschreibt: Jürgen Manemann, Götterdämmerung. Politischer Anti-Monotheismus in Wendezeiten, in: ders. (Hg.), Monotheismus (Jahr-buch Politische Theologie, Bd. 4), Münster 2002, 28–49. 28 Klaus Müller misst diesem „Lob des Polytheismus“ indes religionstheoretische Relevanz zu; vgl. Streit um Gott, 25 (dort in Absetzung von meiner These).

11

den unsere identitätsstiftende Rolle hier, indem wir sie uns von der Dramaturgie einer

Heilsgeschichte anweisen lassen, in der es entscheidend auf uns ankommt – und auf die

unbegrenzte Loyalität gegenüber dem Absoluten, das auf dem Spiel steht und unseren

Einsatz fordert. Der „Monomythos“ erzählt die absolute Geschichte, um uns „mit Haut

und Haaren“ in diese Geschichte hineinzuziehen. Wir sollen daneben nicht noch andere

Geschichten haben oder machen, denn hier steht alles auf dem Spiel. So ist der äußerste

Einsatz gefordert und sind die äußersten Opfer in Betracht zu ziehen. Marquard hat den

Monomythos der monotheistischen Religionen ebenso im Blick wie die Monomythie der

Emanzipationsideologien bis hin zu Nietzsches heroischem Zarathustra-Übermenschen-

Evangelium. Überall ist es so, dass der Monomythos Identität gibt und Freiheit nimmt,

Gewissheiten und Gewalt erlaubt; dass er herrschaftskritisch allenfalls deshalb ist, weil er

selbst auf Alleinherrschaft aus ist. Aufs Ganze gesehen: Man sollte niemals aufs Ganze

gehen, niemals nur einem Mythos frönen, sonst darf man sich über den Frondienst nicht

wundern, den er auferlegt. Wer also – zusammen mit anderen Menschen – nur einen My-

thos, nur eine einzige Geschichte hat und haben darf, ist schlimm dran. So formuliert

Marquard die zugespitzte These: „Bekömmlich ist Polymythie, schädlich ist Monomythie“

29, denn sie macht monoman, während Polymythie Handlungs- und Freiheitsspielräume

lässt. Hier ist keine Geschichte „das Letzte“, also Prinzipien- und Heilsgeschichte. Hier

verlangt sie nicht das Letzte, sondern allenfalls Vorletztes oder sogar nur Drittletztes. Po-

lymythische Geschichtenvielfalt begrenzt den Einordnungs-Zwang, der von identitätsver-

bürgenden Geschichten ausgeht und mutet bleibende Nichtidentität zu. Sie gewährt den

„Freiheitsspielraum der Nichtidentitäten“, das Einerseits – Andererseits, das Mehr oder

Weniger, die partiell bleibende Verortung in unterschiedlichen Perspektiven und Rele-

vanzstrukturen:

„Sie ist Gewaltenteilung: sie teilt die Gewalt der Geschichte in viele Geschichten; und just dadurch – divi-

de et impera oder divide et fuge, jedenfalls: befreie dich, indem du teilst, d.h. dafür sorgst, dass die Gewal-

ten, die die Geschichten sind, sich beim Zugriff auf dich wechselseitig in Schach halten ... – just dadurch

erhält der Mensch die Freiheitschance, eine je eigene Vielfalt zu haben, d.h. ein Einzelner zu sein.“30

29 Odo Marquard, Lob des Polytheismus, in: ders., Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1981, 91–116, hier 98. 30 Ebd.

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Die Alleingeschichte aber dient der „Ermächtigung einer Alleinmacht“. Exemplarisch ist

sie im Christentum durchgesetzt. In Absetzung gegen es ist sie dann auch als säkularisierte

Absolutheitsgeschichte möglich geworden. Gegen Absolutheits- und Einzigkeitsgeschich-

ten wäre nach Marquard geltend zu machen: „die Pluralität der Geschichten, die Gewal-

tenteilung im Absoluten, (ist; J. W.) das große humane Prinzip des Polytheismus.“31

Marquard plädiert nicht für eine pantheistisch-religiöse Aufladung der Immanenz, für die

Heiligung des Nächsten und Vielen gegenüber dem transzendenten Einen. Er bezieht sich

auf die geschichtlich-religiöse oder quasi-religiöse Identitäts-Stiftung durch Geschichte

und Geschichten. Und er hat vor allem die „freiheitsrettenden“ Konsequenzen der Ge-

waltenteilung im Blick: Alleinmacht vs. Machtvielfalt mit der Möglichkeit, sich je neu zu

orientieren, zu optieren und zu arrangieren. Das ist Polytheismus ohne Pantheismus, aber

eben Polytheismus als gesellschaftlich-kulturell-religiöse Metapher; nach dem Ende der

Weltverzauberung: der Zauber des Wählen- und Sich-distanzieren-Könnens. Marquard

favorisiert den Synkretismus. Er singt das Lob der Anschlussfähigkeit und des Kombinie-

renkönnens: Wer integrieren kann, muss nicht ausschließen, muss sich nicht mit letztem

Kraftaufwand entscheiden und Entschiedenheit durchsetzen. Das „postmoderne“ Ideal

des Kombinierenkönnens prägt gewiss auch gegenwärtige religiöse Einstellungen. Aber ist

es nicht schon das Geheimnis der „Toleranz“ im Heidentum, wie in der altägyptischen

Religion? So sehen es etwa die Ägyptologen Erik Hornung und Jan Assmann.

3.4 Götter-Reichtum vs. „Mosaische Unterscheidung“

Die Faszination durch das Eine und Einheitliche hat unseren Kulturkreis lange geprägt.

Sie ist eine „Mitgift“ des Neuplatonismus – oder von ihm auch nur wirkungsgeschichtlich

folgenreich zum Ausdruck gebracht worden. Darauf werde ich noch zurückkommen. Mit

der Kritik am Identitätsdenken der im „heißen Kern“ neuplatonischen, idealistischen Sys-

teme des 18. und 19. Jahrhunderts vollzieht sich großräumig die Abkehr vom Platonis-

mus. Mit ihr bricht sich freilich noch eine andere Grundoption Bahn: die Überzeugung,

dass in der bunten Vielfalt der Natur und der Geschichte mehr „Wahrheit“, jedenfalls

mehr Leben ist als im abstrakten Einen, in der so herrschaftsdienlichen und deshalb oft

31 Ebd., 103.

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im Interesse der Divinisierung von Macht durchgesetzten, durch Abspaltungen und „Ex-

kommunikationen“ aufrecht erhaltenen Einheit-lichkeit. Es beginnt mit einem Appell an

den guten religiösen Geschmack. Ist das nicht ein ärmlicher Offenbarungsglaube – so

David Friedrich Strauß –, der darauf besteht, dass das Göttliche sich nur an einem Ort in

der Geschichte zeigt und sich in dieser Offenbarung gleichsam erschöpft? Es liegt doch

offenkundig nicht im Wesen Gottes, seinen gesamten Reichtum in ein Individuum, „aus-

zuschütten und gegen alle anderen zu geizen“32. Der Alleingottglaube verstellt sich mit

seiner Fixierung auf die Alleinoffenbarung den Blick auf die bunte Vielfalt des Göttlich-

Menschlichen in der Geschichte. Er macht Welt und Geschichte arm, weil der Gottes-

Reichtum nur an einem Ort, in einer Geschichte, vorkommen darf. Religiöse Begabung

und Geschmack hätten sich – so sieht es dann Nietzsche – eigentlich behaupten müssen

gegen den „erbarmungswürdige(n) Gott des christlichen Monotono-Theismus! dies hyb-

ride Verfallsgebilde aus Null, Begriff und Widerspruch, in dem alle Décadence-Instinkte,

alle Feigheiten und Müdigkeiten der Seele ihre Sanktion haben!“33

Aber der Alleingott entsprach ja dem Herrschaftsinteresse der „Dekadenten“, die nur zur

Macht kommen können, wenn sie sich dem Allermächtigsten, ja Allein-Mächtigen unter-

werfen. Ihrem Herrschaftsinteresse entspricht es, die Vielfalt göttlicher Mächte und An-

sprüche von vornherein zu delegitimieren. So müssen sie es gar nicht erst darauf ankom-

men lassen, dass sich der „mächtigere“ Gott durchsetzt, dass sich „ihr“ Gott bzw. ihr

Selbstbewusstsein in der Identifikation mit ihrem Göttlichen wenigstens in der Götter-

Konkurrenz behauptet. Der Monotheismus lebt vom Ressentiment. Er verneint die Viel-

falt, um Grund zu haben für sein Ja. Aber sein Ja ist ein armes Ja: nur hier, nur dieser, nur

der Jenseitige. Sein Diesseitigwerden muss die Verneinung – die Kreuzigung – des Lebens

in dieser Welt mit sich bringen. Heiden aber, Polytheisten, „sind alle, die zum Leben ja

sagen, denen ‚Gott’ das Wort für das große Ja zu allen Dingen ist.“34

Monotheismus bedeutet hier die Unterdrückung des Lebens, Unterdrückung der vielfälti-

gen, antagonistischen, miteinander ringenden Lebens-Mächte zugunsten einer Macht, die

zuerst verneint und nur diejenigen bejaht, die verneinen. Denen, die sich mit dem Allein-

gott identifizieren, eröffnet sich eine unbegrenzte Legitimation für ihre eigenen Machtan-

sprüche, eine unbegrenzbare Legitimation für ihre Aggression gegen das Gottfeindliche –

32 David Friedrich Strauß, Das Leben Jesu kritisch bearbeitet, Bd. 2, Tübingen 1836, 734. 33 Der Antichrist, Aph. 19, KSA 6, 185. 34 Der Antichrist, Aph. 55, KSA 6, 239.

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im Namen des Alleingottes. Diese aggressiv-verneinende Energie zeigt sich – so wird es

seit David Hume vielfach gerade dem Christentum vorgehalten – in einer Intoleranz ge-

genüber anderen Religionen, aber auch in der Unduldsamkeit gegenüber den natürlichen

menschlichen Regungen. Der transzendente Alleingott ist so erhaben über alles Menschli-

che, dass die vielen Einzelnen sich vor ihm nur in den Staub werfen können – und sich

zutiefst demütigen müssen. So kann der Monotheismus – Hume spricht es bereits klar

aus – „den menschlichen Geist zur tiefsten Unterwürfigkeit und Erniedrigung herabdrü-

cken und Mönchstugenden wie Kasteiung, Buße, Demut und geduldiges Leiden als die

einzigen Gott wohlgefälligen Eigenschaften“ hinstellen. Demgegenüber sind die vielen

Götter den Menschen viel näher. Die Heiden können „ungezwungener zu ihnen beten

und bisweilen sogar danach trachten, sie nachzuahmen und mit ihnen wettzueifern“, ohne

dass sie sich sofort als sündig erfahren müssten. Daraus entspringen aber – so Hume –

„Tätigkeit, feste Gesinnung, Mut, Großherzigkeit, Freiheitsliebe und all die Tugenden, die

ein Volk groß machen.“35

Das „ein-göttliche“, absolute Machtmonopol provoziert Gewalt „nach außen“ und Un-

terdrückung „nach innen“. Das ist der Preis für die Allein-Wahrheit, die der Monotheis-

mus beansprucht. Muss er aus intellektuellen Gründen – um der unaufgebbaren Einheit

der Wahrheit willen – bezahlt werden? Hume schließt das nicht aus. Auf dem Weg zur

Postmoderne erscheint dieser Preis entschieden zu hoch. Man ist nicht länger bereit, Viel-

falt und Multiperspektivität als das religiöse Erbe des Heidentums für das Linsengericht

eines absoluten „Gottesstandpunkts“ dranzugeben, der durch Alleinoffenbarung zugäng-

lich sein und die absolut-eine Wahrheit über aller Vielfalt in den Blick bringen soll. Nun

erscheint es auch dem Religionswissenschaftler Erik Hornung als verheißungsvolle und

schon tief in der altägyptischen Religion verwurzelte Hoffnungsperspektive, „dass die

menschliche Gesellschaft der näheren Zukunft eine pluralistische, undogmatische sein“

wird, dass sie von absoluten Wahrheiten, ja von konfliktträchtigen Wahrheitsfragen über-

haupt sich verabschieden wird. „Gerade der überzeugte religiöse Glaube“ werde sich – so

Hornung – „sagen müssen, dass Gott niemals sein letztes Wort gesprochen hat, auch in

35 David Hume, Die Naturgeschichte der Religion. Über Aberglaube und Schwärmerei. Über die Unsterb-lichkeit der Seele. Über Selbstmord, übersetzt und hg. von L. Kreimendahl, Hamburg 1984, 40. Einen weiteren Überblick über Humes vergleichsweise differenzierte Argumentation gebe ich in dem Aufsatz: Absolutistischer Eingottglaube? – Befreiende Vielfalt des Polytheismus?, in: Th. Söding (Hg.), Ist der Glaube Feind der Freiheit? Die neue Debatte um den Monotheismus, Freiburg – Basel – Wien 2003, 142–175, hierzu 145ff.

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der Offenbarung als Einziger nicht.“36 So sollten polytheistische und monotheistische

religiöse Systeme gleichermaßen davon Abschied nehmen, ihre geschichtliche Relativität

durch Verankerung in einem überzeitlich-transzendenten Göttlichen zu verabsolutieren

und von dort her eine Alleinwahrheit zu beanspruchen – wozu polytheistische Konzepte

von sich aus sowieso nicht neigen. Die religiösen Konzepte entsprechen nach Hornung

mehr oder weniger der jeweiligen „Bewusstseinsstufe“ und Wirklichkeitserfahrung der

Menschen und entwickeln sich mit ihnen. Sie entziehen sich der abstrakt-überzeitlichen

Wahr-falsch-Normierung und können allenfalls im jeweiligen Bezugssystem als „stimmig“

beurteilt werden.37

Der Ägyptologe Jan Assmann gewinnt aus der Analyse des altägyptischen religiösen Sys-

tems ein Konzept religiöser Transformationen, das die Bestimmung des Verhältnisses von

Monotheismus und Polytheismus neu zur Diskussion stellt. Die Insistenz auf der Wahr-

heitsfrage sei danach für den biblischen, in Israel auf Mose zurückgeführten Monotheis-

mus typisch; und sie habe in der „mosaischen Unterscheidung“ ihren Ursprung. Dem

antiken Polytheismus sei „der Begriff einer unwahren Religion“ oder falscher Götter –

bloßer Götzen – vollkommen fremd gewesen. Hier seien die verschiedenen Götter in den

unterschiedlichen „Pantheons“ durch eine spezifische Zuständigkeit für die Sicherung

und das Glücken des Lebens definiert gewesen, nicht durch eine spezifische, geschichtlich

manifestierte Identität, die mit einem exklusiven Loyalitätsanspruch hätte verbunden sein

müssen. Aufgrund spezifischer Zuständigkeiten ließen sich die Götter verschiedener

Kult-Observanzen zueinander in Beziehung setzen. Und so konnte man zu der für die

Antike relativ selbstverständlichen Überzeugung kommen, die in den verschiedenen Rei-

chen unter verschiedenen Namen angerufenen Gottheiten seien bei vergleichbaren Zu-

ständigkeiten auch die gleichen Göttinnen und Götter – hier so, anderswo eben anders

genannt und verehrt.38

Die mosaische Unterscheidung sperrt sich gegen diese „Übersetzbarkeit“ der eigenen

Gotteserfahrungen und Deutungen in die Erfahrungen und Deutungssysteme der „Völ-

ker“, gegen die Interkulturalität und Interreligiosität eines allen gemeinsamen Götterkos-

mos. Der Gott des Mose ist – jedenfalls einer Tendenz nach, die sich im Babylonischen

Exil endgültig durchsetzte – der Allein-Gott, vor dem alle anderen Götter „Nichtse“ sind

36 Erik Hornung, Der Eine und die Vielen. Ägyptische Gottesvorstellungen, Darmstadt 51993, 250. 37 Vgl. ebd., 251. 38 Vgl. Jan Assmann, Moses, der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München – Wien 1998, 19f.

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(vgl. Ps 31,7; Jes 41,29), Machwerke, von den Menschen selbst hervorgebracht und ent-

sprechend macht- und bedeutungslos (vgl. Ps 115,4.8; Jes 2,8). Diese Abwertung, schließ-

lich Leugnung der Göttlichkeit aller anderen Gottheiten geht auf eine geschichtliche Be-

freiungserfahrung zurück, in der sich die Loyalität gegenüber JHWH als Exodus-

verbürgend erwiesen hat. Gegenüber allen anderen Götterkulten propagiert sie den mo-

notheistischen Alleingehorsam; und sie bildet sich zum expliziten Monotheismus aus, wo

die Hoffnung auf diesen befreienden Gott gegen die Überlegenheit anderer Reiche und –

scheinbar – auch ihrer Götter durchgehalten werden muss. In der härtesten Anfechtung

wird die Ablehnung der anderen Götter radikal und prinzipiell. So hält sich das erwählte

Volk gegen den fast überwältigenden falschen Schein an den allein wahren, an den allein

Gott seienden JHWH. Es bildet sich aufgrund einer geschichtlichen Gegenerfahrung eine

Gegenreligion heraus. Die offenkundig Unterlegenen gewinnen durch ihren Alleingott

Macht und Stärke. Diese Erfahrung muss schließlich als kontrafaktische durchgehalten

und deshalb prinzipialisiert werden. So entdeckt der alttestamentliche Monotheismus die

Erwählungsgeschichte Israels als Instanz, von der her die immerwährende politisch-

religiöse Ordnung (altägyptisch maat) kritisierbar wird. Er sprengt die Einheit von Herr-

schaft und Heil auf und sucht das Heil der von Menschenherrschaft Unterdrückten.39

Dieser Geschichts-Evidenz der biblischen Exoduserfahrung bzw. – später – der Gegen-

Evidenz des JHWH-Monotheismus gegen das geschichtlich zur Macht Kommende steht

und stand immer schon in den polytheistischen Religionen der Antike eine „natürliche

Evidenz“ gegenüber.40 Die natürliche „kosmotheistische“ Evidenz des antiken Poly-

theismus ist die mehr oder weniger selbstverständliche Verbürgtheit des Heils durch

Herrschaft: die Einheit von Herrschaft und Heil, die Selbstverständlichkeit eines umfas-

senden natürlich-gesellschaftlichen Wechselwirkungszusammenhangs. Dieser Wirkungs-

zusammenhang wird als den jeweils zuständigen Göttern verdankt angesehen und soll

durch ihre kultische Verehrung im Staatskult des Pharao in Gang gehalten werden; so in

Gang gehalten werden, dass er dem in ihn eingebundenen, die Götter „pflegenden“ Volk

zugute kommt. Die Götter begegnen gleichsam mit „natürlicher Evidenz“ in der Wahr-

nehmung „eines funktional differenzierten und göttlich beseelten Kosmos“. In diesen

Götter-Welt-Kosmos vermag sich die jeweilige Kultgemeinschaft einzuordnen, da sie „die

39 Vgl. Thomas Assheuers Bericht über einen Vortrag von Jan Assmann: Töten für Gott, in: DIE ZEIT Nr. 30 vom 15. Juli 2004, 34. 40 Vgl. Jan Assmann, Moses, der Ägypter, 81.

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darin wirkenden Mächte erkennt und ihnen Namen, Ikonographien, Tempel und Riten

weiht“ und so den legitimen Bedürfnissen der Gottheiten nach hinreichend sorgfältiger,

„religiöser“ Beachtung nachkommt.41

Der polytheistische Kosmotheismus ist nach Jan Assmann eine Religion der Beheimatung

in der Welt. Er will mit seinen Ritualisierungen einem schöpferisch-natürlichen Austausch

dienen und ihn in Gang halten. So achtet er darauf, dass in diesem Austausch alle Beteilig-

ten – die Götter, aber auch die Menschen und die natürlichen Gegebenheiten – „befrie-

digt“ werden. Er pflegt, was als in sich wohl geordnet und befriedigend erlebt wird. Und

in diesem Sinne kann Assmann sagen: Der Kosmotheismus gründet sich auf das „Be-

wusstsein einer Versöhntheit mit Gott und Welt zugleich, das dem christlichen Bewusst-

sein fremd und zuweilen geradezu anstößig ist“42; das ihm wie auch der alttestamentlichen

Frömmigkeit deshalb anstößig ist, weil hier die Sünde offenbar keine Rolle spielt. Kosmo-

theismus bedeutet elementare, kaum zu erschütternde Weltbeheimatung; die unausweich-

lichen menschlichen Entfremdungserfahrungen können die grundlegende Versöhntheit

mit Welt und Göttern nicht entscheidend in Frage stellen. So jedenfalls gilt es nach Ass-

mann für die altägyptische Religion:

„Von Ägypten aus betrachtet sieht es so aus, als sei mit der Mosaischen Unterscheidung die Sünde in die

Welt gekommen. Vielleicht liegt darin das wichtigste Motiv, die Mosaische Unterscheidung in Frage zu

stellen. Unsere Untersuchung hat versucht, den Charakter dieser Sünde aufzudecken. Ihre Namen sind

Ägypten, Idolatrie, Kosmotheismus. Wer Gott in Ägypten entdeckt, hebt diese Unterscheidung auf.“43

Wie ist das zu verstehen? Worin liegt die Sünde, die – nach Assmann – mit der mosai-

schen Unterscheidung in die Welt kam? In der Missachtung dieser Unterscheidung; in der

Vergöttlichung des Welthaften, des Eingeborgen- und Eingebundenseins in die kosmi-

schen Kreisläufe, die von den hier verehrten Idolen repräsentiert werden; in einer religiö-

sen Praxis – der Idolatrie –, die sich darin zu erschöpfen scheint, dass sie diese Kreisläufe

41 Vgl. ebd., 82. Diesem Sinn religiöser Praxis entspricht auch die Etymologie des lateinischen Wortes religio, das nicht – wie oft vermutet wird – von religare (rückbinden) abgeleitet ist, sondern von der Wurzel leg (wie etwa im negativ akzentuierten neg-legere) und deshalb ein sorgfältiges Beachten und Sich-Kümmern gegenüber den Göttern meint. 42 Jan Assmann, Moses, der Ägypter, 281. 43 Ebd., 282.

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in Gang hält, sie kultisch „pflegt“.44 Der Exodusglaube, dann auch die Schöpfungstheolo-

gie des Alten Testaments markieren in entschiedener Abgrenzung gegen den Kosmo-

theismus der Nachbarvölker die Welttranszendenz eines Gottes, der nicht mit den Natur-

zusammenhängen verwechselbar ist – so sehr er auch in der Natur erlebt wird. Dieser

Gott will an seinem Geschichtshandeln zugunsten seines Volkes oder auch im geschicht-

lichen Gericht über es identifiziert werden. Sein Handeln eröffnet eine Zukunft, in der

seine Verheißungen sich erfüllen, in der Freiheit und Versöhnung Realität werden, wenn

sich das zum Zeugnis für diesen Gott erwählte Volk JHWHs Handeln öffnet; wenn es

sich von den Götzen abwendet und den Völkern zum Vor-Bild dieser Gotteszukunft

wird. Gegen Welt-Beheimatung steht hier – so Assmanns Deutung – das Herausgerufen-

sein, das dem erwählten Volk eine geschichtlich-politische Exterritorialität auferlegt, da-

für aber eine Vollendung verheißt, die alle Weltentfremdung und die Sünde versöhnend

überbieten wird:

„Exodus und Sinaioffenbarung als die zentralen Ursprungsbilder Israels beruhen auf dem Prinzip der

Exterritorialität. Der Bund wird geschlossen zwischen einem überweltlichen, fremden Gott, der auf Erden

keinen Tempel und keinen Kultort hat, und einem Volk, das sich auf der Wanderung zwischen dem einen

Land, Ägypten, und dem anderen Land, Kanaan, im Niemandsland der sinaitischen Wüste befindet, Der

Bundesschluss geht der Landnahme voraus. Das ist der entscheidende Punkt. Er ist exterritorial und daher

von keinem Territorium abhängig.“45

Auch die Einnahme des verheißenen Landes setzt dieses Prinzip der Exterritorialität nicht

außer Kraft. Das Land bleibt ein „Lehen“, ein Geschenk, auf dem nur Segen liegt, wenn

es im Sinne des Schenkenden – im Gehorsam gegen seine Tora – „bewohnt“ und geteilt

wird. Weil es in der Dynamik von Selbstherrlichkeit und Selbstbehauptung geradezu per-

vertiert und zum Ort der Ungerechtigkeit und eines strategisch sich anpassenden Macht-

kalküls – des Götzendienstes – wird, verlässt JHWH sein Haus, in dem er der Wohngenosse

seines Volkes sein wollte (vgl. Jer 7), und das Volk verliert die ihm so selbstverständlich

erschienene Beheimatung in dem ihm geschenkten Land. Das Land wird zum Hoff-

nungsgut, zum Ziel der Heimatlosen, zu dem nur ein „heiliger Rest“ hinfinden wird, der

44 Wiederum ist auf die Etymologie im Lateinischen hinzuweisen, die nicht nur das Kultverständnis Roms markiert. Kult ist von colere abgeleitet und geht in seinem semantischen Gehalt deshalb auf die Kernbedeu-tung „pflegen“ zurück. 45 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hoch-kulturen, München 21997, 201.

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den JHWH-Gehorsam durchhält. Israel bleibt und wird immer wieder neu das „fremde

Volk“, dem – schließlich mit schrecklichster Konsequenz – die Möglichkeiten zur Behei-

matung in dieser Welt aus der Hand geschlagen werden46; das die Welt-Fremdheit seines

Gottes im Exil zu erleiden hat und dennoch darauf hofft, dass der Weg der Tora dem

Messias entgegenführt, der die Wohngemeinschaft mit JHWH erneuern wird.

3.5 Monotheistische Weltfremdheit vs. polytheistische Weltbeheimatung?

Assmanns Alternative verdichtet die Monotheismus-Kritik von Friedrich Nietzsche bis

Martin Walser. Sie versucht Nietzsches Vorwurf religionsgeschichtlich zu untermauern,

dem biblischen Monotheismus ermangele die Kraft, sich in dieser Welt zu beheimaten und

zu behaupten. So sei er die Religion von Zu-kurz-Gekommenen. Assmanns Konzept ist –

jedenfalls der Sache nach – mitbestimmt von Nietzsches und Walsers Diagnose, das Sich-

Festmachen am transzendenten Allein-Gott entwerte das nächstliegende Da-Seiende in

seiner natürlich-lebendigen Vielfalt und mache es zum bloßen Mittel oder Bewährungs-

feld für den Gehorsam gegenüber universalen Sollensansprüchen. Die Sorgfalt für das

konkret Gegebene und – im weitesten Sinn ökologisch-achtsam – zu Hegende weicht mono-

theistisch der Fixierung auf das Universal-Transzendente, das immer weiter „vor uns“

liegt. Kein Wunder, dass die Missachtung des Nächstliegenden, der natürlichen Regelkrei-

se, auch ökologisch folgenreich wird!

Es geht also nach Assmann nicht eigentlich „um die Zahl Eins, es geht um die Unter-

scheidung, die sich als wahr und falsch, gut und böse, Licht und Finsternis, Freiheit und

Knechtschaft, Glauben und Unglauben, Krieg und Unterwerfung, Idealismus und Materi-

alismus oder wie auch immer in der geschichtlichen Wirklichkeit und theologischen Ar-

gumentation ausprägen kann, und die in letzter Konsequenz auf die Unterscheidung von

Gott und Welt hinausläuft.“47 Es geht um die Brisanz eines religiösen Absolutismus, der

universal-exklusive Differenzen setzt und eindeutige Entscheidungen fordert: für und gegen.

Ihm stellt Assmann den Kosmotheismus gegenüber, der das Andere und die Anderen

nicht abwerten muss; der eben nicht die Entscheidung zwischen Gott und Welt, zwischen 46 Vgl. Manfred Görg, Fremdsein in und für Israel, in: O. Fuchs (Hg.), Die Fremden (Theologie zur Zeit 4), Düsseldorf 1988, 194–214. 47 Jan Assmann, Alle Götter sind eins! Das Unbehagen in der Religion, in: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG Nr. 214 vom 15. September 2004, S. 14.

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dem Einen und der bunten Vielfalt erzwingt, die Entscheidung zwischen dem Alltäglich-

Nahen und dem Ganz-Anderen, der absoluten Zukunft, dem also, was nicht von dieser

Welt ist. Assmann macht indes deutlich:

„Eine Rückkehr in das kompakte Weltbild des archaischen Kosmotheismus erscheint mir nun allerdings

ganz und gar unmöglich. Die Unterscheidung von Gott und Welt hat uns befreit von der Tyrannei des

Gegebenen und jenseits der Zwänge und Mächte dieser Welt Horizonte einer anderen Wirklichkeit er-

schlossen, ohne die wir auch in einer durch Globalisierung veränderten Welt nicht leben können.“ 48

Und so will auch Assmann den „monotheistischen Impuls“ nicht unterdrückt sehen. Er

war und ist der Impuls, der die Aufklärung in die Welt bringt; „der Impuls, nach der

Wahrheit zu suchen und dabei über das Gegebene hinauszugehen, nicht beim Erreichten

stehen und nicht in Geschichten verstrickt zu bleiben“; der Impuls, der die Menschen

antreibt, nach der Wahrheit Gottes“, nach dem „wahren Gott“ zu suchen. Zwar sei mit

dem Monotheismus die Gefahr der Verabsolutierung und der theokratischen Machtan-

maßung verbunden. Der Monotheismus schaffe aber auch „einen inneren Vorbehalt ge-

genüber dem Zauber und den Mächtigen dieser Welt“; er verhindere es, „ganz im Gege-

benen aufzugehen und sich darin allzu sehr zu Hause zu fühlen.“ Seinem Wesen nach sei

er ikonoklastisch (bilderstürmerisch) und deshalb gegen die Sakralisierung welthafter

Wirklichkeiten gerichtet. Deshalb seine Ausrichtung auf „Aufklärung, Weltentzauberung,

Emanzipation“; deshalb auch seine Absage an politisch-religiöse Mythen, die einen exklu-

siven „Ethnotheismus“ begründen sollen: eine Vergötterung des eigenen Volkes und sei-

ner Herrschaftsansprüche.49 Insofern steht die Mosaische Unterscheidung „für einen

‚Fortschritt der Geistigkeit’, der – wie teuer auch immer erkauft – nicht wieder aufgege-

ben werden darf. An der Unterscheidung zwischen wahr und falsch, an klaren Begriffen

dessen, was wir mit unseren Überzeugungen als unvereinbar empfinden, werden wir fest-

halten müssen, wenn anders diese Überzeugungen irgendeine Kraft und Tiefe besitzen

sollen.“ Allerdings wird man – so Assmanns Konsequenz – „diese Unterscheidung nicht

mehr auf ein- für allemal festgeschriebene Offenbarungen gründen können.“50 Und man

wird in Rechnung stellen müssen, dass die „kritische und umgestaltende Gewalt“ mono-

48 Ebd. 49 Diese Äußerungen Assmanns sind einem Aufsatz im TAGESSPIEGEL entnommen, der hier nach einem Bericht in CHRIST IN DER GEGENWART Nr. 19/2004, S. 148 zitiert wird. 50 Jan Assmann, Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München – Wien 2003, 165.

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theistischer Konzepte sich aus ihrer „negativen Energie“ speist, „d.h. ihrer Kraft der Ver-

neinung und Ausgrenzung“51.

So ist die Gegenrechnung für Assmann unerlässlich: der Blick auf die „Sprengkraft“ einer

monotheistischen Semantik, die dem Einen durch die Negierung der Anderen Geltung

verschafft.52 Assmann setzt hier auf die kritische Rekonstrukion der semantischen Impli-

kationen, die den exklusiven Monotheismus immer wieder gewalttätig werden lässt. Er

setzt darauf, „die Mosaische Unterscheidung selbst zum Gegenstand einer unablässigen

Reflexion und Redefinition, einer ‚diskursiven Verflüssigung’ (Jürgen Habermas)“ zu ma-

chen. Nur so könne „sie uns Grundlage eines Fortschritts in der Menschlichkeit blei-

ben“53. Und Assmann lässt auch keinen Zweifel daran, in welche Richtung dieser Prozess

der diskursiven Verflüssigung und Redefinition gehen müsste. Seine Option wäre ein

inklusiver Monotheismus „mit der Devise ‚Alle Götter sind eins!’“54

Diese Selbst-Kommentierung spricht Aspekte an, die in der Kritik an Assmanns Thesen

in den letzten Jahren diskutiert worden sind55 und die ich selbst geltend gemacht habe.56

Ich will die Begründung meiner Kritik hier aufnehmen und weiterführen. Die für Ass-

mann wie für andere Monotheismuskritiker fundamentale Alternative „polytheistische

Weltbeheimatung – monotheistische Weltentfremdung“ erscheint mir im Blick auf das

Gesamt der biblischen Überlieferungen überzogen. Die Schöpfungstheologien wie auch

die weisheitlichen Theologien des Alten Testaments bezeugen ein Vertrauen in den

Schöpfer, der die Welt „gut und schön“ geschaffen und sie den Menschen zum Wohnort

geschenkt hat. Sie verschweigen freilich nicht, dass dieses Geschenk missbraucht und

durch die Sünde der Menschen entstellt wurde, so dass die Welt nun nicht mehr Ort einer

mehr oder weniger natürlichen Gottes-Evidenz sein kann. Sie verschweigen auch nicht,

dass die Welt auf Gottes guten Schöpferwillen zurückgeht und nur von ihm her versteh-

51 Ebd., 10. 52 Für die reflexiv monotheistischen (Gegen-)Religionen gilt dem entsprechend nach Assmann: Sie „müssen intolerant sein, d.h. sie müssen einen klaren Begriff von dem haben, was sie als mit ihren Wahrheiten un-vereinbar empfinden, wenn anders diese Wahrheiten jene lebensgestaltende Autorität, Normativität und Verbindlichkeit haben sollen, die sie beanspruchen“ (Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, 26). 53 Ebd., 165. 54 Alle Götter sind eins!, a.a.O. 55 Vgl. etwa den oben genannten, von Jürgen Manemann herausgegebenen Bd. 4 des Jahrbuchs Politische Theologie. 56 Vgl. meinen Beitrag: Absolutistischer Eingottglaube? – Befreiende Vielfalt des Polytheismus?, in: Th. Söding (Hg.), Ist der Glaube Feind der Freiheit? Vgl. auch Klaus Müllers Beitrag zu diesem Band: Der Monotheismus im philosophischen Diskurs der Gegenwart, 176–213.

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bar wird, dass sie deshalb diesem Willen entsprechend zu „gebrauchen“ und dass das Le-

ben in ihr deshalb nach seinem guten Willen zu gestalten ist. Die Welt versteht sich nicht

„selbstverständlich“ aus sich selbst als bloß natürlicher Wechselwirkungszusammenhang.

Sie versteht sich von dem her, der sie nach seinem Willen so hervorgerufen und in die

Verantwortung der Menschen gegeben hat. Sein guter Wille soll in ihr erkannt und – auch

durch toragemäße Mitwirkung der Menschen – in ihr Wirklichkeit werden. Diesen guten

Willen – Gottes Schöpfungsintention gewissermaßen – sollen die Glieder des Volkes Is-

rael als das „Selbstverständlichere“57 gegenüber den bloß natürlichen Selbstverständlich-

keiten kennen lernen und den Menschen bezeugen, damit auch sie ihn „mit-wollen“ kön-

nen und so mit zum Zuge bringen können, worauf die Schöpfung von ihrem Schöpfer

immer schon hingeordnet ist – was sie mit göttlicher Selbstverständlichkeit werden soll.

Die Tora setzt Israel auf die Spur dieser Gottes-Evidenz und fordert das Volk heraus, ihr

gegen die Verführungen natürlicher Evidenzen, die es als Macht- und Herrschafts-

Evidenzen erlebt hat, treu zu bleiben. In der Unterscheidung zwischen dem in sich bzw.

für sich Selbstverständlichen – dem natürlich Evidenten – und dem von Gott her Selbst-

verständlichen und Sein-Sollenden stellt sich die Wahrheitsfrage: die Frage nach dem wah-

ren Gott und nach der Wahrheit eines menschlichen Verhaltens, menschlicher Glaubens-

erkenntnis, in denen Gottes Wahrheit nachvollzogen werden sollen. Die Wahrheitsfrage

und Wahrheitssuche ist also von vornherein kritisch. Sie bricht auf, wo das faktisch Be-

stehende und seine mythischen Ätiologien – die Herkunftserzählungen, die das Selbstver-

ständliche erzählen und überliefern – nicht mehr als selbstverständlich hingenommen

werden; wo sich zeigt, dass das, was ist und an der Macht ist, Gottes gutem Willen nicht

entsprechen kann, weil es sich als nicht gut und schön, als ungerecht herausgestellt hat. Solange

das Selbstverständliche – der Kosmos und der den Kosmosgöttern dienende Kult –

selbstverständlich war, musste es nicht auch noch wahr sein. Das Selbstverständliche be-

weist sich als das in sich Stimmige“ gleichsam selbst. Und es ist – als das offenbar un-

problematisch Funktionierende – dann auch die Basis für das Verstehen dieser gleichen

Selbstverständlichkeit in anderen religiösen Systemen, die sich auf die gleiche natürliche

Evidenz zu beziehen scheinen, auch wenn sie den Einzelpositionen andere Namen beile-

57 Ich greife hier eine Formulierung Eberhard Jüngels auf; vgl. „Meine Theologie“ – kurz gefasst, in: ders., Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens (Theologische Erörterungen III), München 1990, 1–15, hierzu 11f. bzw. Wertlose Wahrheit. Christliche Wahrheitserfahrung im Streit gegen die „Tyrannei der Werte“, ebd., 90–109, hierzu 108, sowie das Vorwort zu: Entsprechungen: Gott – Wahrheit – Mensch (Theologische Erörterungen), München 1980, 7–9.

23

gen. Anders wird es, sobald das Funktionierende und religiös zu Pflegende als das uns

Fremde wahrgenommen wird, als eine Wirklichkeit, in der „wir“ gar nicht wirklich vor-

kommen und keinen Ort haben, der uns in dieser Selbstverständlichkeit wohnen ließe.

Hier stellt sich die Frage nach dem Kriterium, das „uns“ die Opposition zu diesem

Selbstverständlichen ermöglicht und auferlegt: die Frage nach dem Wahren und Guten

gegenüber dem, was trotz seiner gesellschaftlich-imperialen Selbstverständlichkeit nicht

gut und schön sein kann. Die Selbstverständlichkeit der natürlichen Evidenz gerät in

Spannung zur Evidenz einer geschichtlichen Gotteserfahrung und ihrer Botschaft. Das

kosmische Zusammenspiel der Naturkräfte, in das die Götter eingebunden sind, bleibt

nicht der letzte und äußerste Horizont der Erfahrung von Göttlichem und Welthaftem.

Die kosmotheistischen Ursprungsmythen erzählten die Genese des Zusammenspiels;

und die religiösen Riten inszenierten sie, damit es sich fortwährend und verlässlich erneu-

ere. Die Gottes-Geschichten der Bibel aber erzählen nicht nur das Immerwährende, son-

dern das Einmalige, die Geschichte, in der Gott sich zu erkennen gibt, indem er die Men-

schen in die Spannung zwischen dem Faktischen und seinem guten Willen – dem Seinsol-

lenden – hineinstellt, indem er sie aus dem Eingebundensein ins selbstverständlich Funk-

tionierende herausruft und dazu beruft, frei zu werden, jener Wahrheit auf die Spur zu

kommen, die erst noch wirklich werden muss.

Es liegt auf der Hand, dass Menschen von dieser Spannung umgetrieben sein und die

Wahrheitsfrage stellen werden, die das Ungenügen des bloß Funktionierenden und die

Unfreiheit des Eingebundenseins in das selbstverständlich Geltende am eigenen Leib er-

fahren, Unterdrückte, die die natürliche Evidenz als „Macht-Evidenz“ erleiden. Insofern

trifft Nietzsches Unterstellung, der biblische Gottesglaube sei eine Religion der Zu-kurz-

Gekommenen und an der Wirklichkeit Leidenden, durchaus Entscheidendes. Aber be-

rechtigt sie zur religionskritischen Delegitimierung des biblischen Monotheismus als welt-

abwertende, „nihilistische“ Gegenreligion? Jan Assmann wird dieser religionskritischen

Zuspitzung bei Nietzsche nicht folgen. Er räumt ja ausdrücklich ein, dass der biblische

Monotheismus selbst Aufklärung und Emanzipation bedeutet und zur Verpflichtung

macht: Kritik der Ideologisierungen, in denen die Pharaonen aller Zeiten sich als Sachwal-

ter naturhafter, ökonomischer oder evolutionärer Selbstverständlichkeiten präsentieren,

als die höchsten Kult-Diener und Beschützer jener Leben spendenden Wechselwirkung-

zusammenhänge, die „allen“ Wohlergehen und eine verlässliche Zukunft gewährleisten,

24

wenn man sie – und die Götter, die sie tragen – nur recht verehrt und die obersten Kult-

Diener ungestört weitermachen lässt.58 Aber folgen daraus nicht prinzipielle, in den Au-

gen Assmanns vielleicht eher prekäre Konsequenzen? Müsste man nicht einräumen, dass

religiöse Aufklärung, die Wahrheitsfrage und damit auch der Streit um den wahren Gott –

das wahre Absolute – zusammengehören? Und sind die polytheistischen Religionen mit

ihrer Sakralisierung kosmischer Wechselwirkungszusammenhänge nicht unabwendbar

instabil, da die Reichskulte gegen die Gewalten der Natur und des „Schicksals“ wie auch

gegen gesellschaftliche Verwerfungen nur eine unvollkommene Verlässlichkeit gewährleis-

ten können? Sie kodieren die Frage nach der „alles bestimmenden Wirklichkeit“ machtpo-

litisch und werden anfällig, wenn sich der Einbruch der Chaos- oder Unrechts-

Wirklichkeit nicht mehr politisch beherrschen lässt. Sie haben kaum eine andere Option,

als im Streit um die Wirklichkeit und darum, was sie bestimmt bzw. bestimmen darf, Par-

tei zu nehmen für die herrschenden Verhältnisse und dem „politischen System“ zuzutrau-

en, woran der einzelne Herrscher scheiterte.

Es lässt sich jedenfalls kaum übersehen, dass der Übergang vom Polytheismus zum expli-

ziten und reflektierten Monotheismus in Israel entscheidend mit der Erfahrung zu tun

hat, dass die kosmisch-politischen Wechselwirkungszusammenhänge ihre natürliche Evi-

denz und religiöse Selbstverständlichkeit eingebüßt, dass deshalb auch die für ihr „Funk-

tionieren“ zuständigen Götter ihre Inkompetenz oder Machtlosigkeit unter Beweis gestellt

haben und faktisch zu „Nichtsen“ geworden sind. Diese Erfahrung wird etwa in Psalm 82

58 Müsste man dann nicht den Ideologiecharakter der „natürlichen Evidenz“ selbst – des selbstverständ-lich Allgemeingültigen und überall Wiederzufindenden – deutlicher und prinzipieller markieren: die latente oder manifeste Repressivität eines (institutionellen) Verständigungsrahmens – auch einer „Weltsprache“ und Weltlogik –, in der sich das Homogenitätsinteresse der Herrschenden gegen das Eigenrecht abwei-chender, singulärer Erfahrungen durchsetzt? Aus der Perspektive eines an Derrida orientierten „Differenz-denkens“, das gerade diese Machtbestimmtheit von Homogenisierungen herausarbeitet, beruht die struk-turelle Gewalt der Kommunikation „in dem, was von Assmann favorisiert wird: im Alleinheitsdenken, das auf eine universale Verständigung abzielt und dazu einen homogenen Raum etablieren möchte“ (Thilo Rissing – Michaela Willeke, Legende vom Nil. Zu Aleida und Jan Assmanns Rehabilitierung Ägyptens, in: Theologie und Philosophie 80 (2005), 334–366, hier 338). Nach diesem Lektüreschlüssel wäre etwa die mit dem „Turmbau von Babel“ verknüpfte Sprachenverwirrungsgeschichte (Gen 11,1–9) gerade als Versu-chungs- oder Sündenfallgeschichte zu lesen und JHWHs Initiative als Initiative zur Rettung des Partikula-ren gegen den Homogenisierungsdruck von „Weltkulturen“ zu verstehen (vgl. ebd., 345): JHWH ergreift gleichsam Partei gegen das imperiale „Unternehmen“, das um seines Erfolges willen die elementaren Koordinations- und Kommunikationsprobleme lösen muss (vgl. Aleida und Jan Assmann (Hg.), Hiero-glyphen. Stationen einer anderen abendländischen Grammatologie (Archäologie der literarischen Kom-munikation VIII), München 2003, 22) – auf dem Rücken derer, die für das Projekt „gleichgeschaltet“ wer-den sollen. Diese Deutung der Turmbauerzählung wurde erstmals vorgelegt von Christoph Uehlinger, Weltreich und „eine Rede“. Eine neue Deutung der sogenannten Turmbauerzählung (Gen 11,1–9), Frei-burg/Schweiz – Göttingen 1990.

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dramatisiert. JHWH hält nach dem Szenario dieses Textes eine Götterversammlung ab

und hält „inmitten der Götter … Gericht“ (V. 1). Die Anklage JHWHs, der ein Ohr für

die Unterdrückten und unter ungerecht Leidenden hat und sich ihr Anliegen zu eigen

macht, lautet auf mangelndes Engagement für die gerechte Ordnung in den jeweiligen

„Zuständigkeitsbereichen“ der Götter. Das Gericht JHWHs wird zugleich als letzte Mah-

nung an die säumigen Götter verstanden. Aber die Mahnung bleibt fruchtlos. „Sie er-

kannten nicht und sie sehen nicht ein, in Finsternis wandeln sie umher, so geraten alle

Grundfesten der Erde ins Wanken“ (V. 5). Deshalb verurteilt JHWH sie zum Schicksal

der Sterblichen: „Wie ein Mensch werdet ihr sterben, und wie einer der Fürsten werdet ihr

fallen!“ (V. 7). Die Dramaturgie des Psalms aber spitzt sich auf die flehentliche Gebetsbit-

te der unter der Inkompetenz der Götter Leidenden zu, JHWH möge die „Leerstelle“

machtvoll ausfüllen, die die Untätigkeit der Götter aufgerissen hatte: „Steh auf, Gott, rich-

te / regiere doch du die Erde, ja du, du sollst dein Erbe übernehmen bei allen Völkern“

(V. 8).59

Die Unterscheidung zwischen wahr und falsch, zwischen dem wahren Gott und den Göt-

ter-Nichtsen ist insofern keineswegs als aggressive und intolerante Abwertung anderer

„Religionen“ entstanden, sondern gewissermaßen als „erhöhte“, gerechtigkeits-ethisch

verschärfte Normierung dessen, was göttlich genannt zu werden verdient. In diesem Ho-

rizont verliert die „natürliche Evidenz“ ihre Unschuld. Man mag mit Assmann behaupten,

die Mosaische Unterscheidung habe die durch Offenbarung erzwungene und ermöglichte

Unterscheidung von wahr und falsch in die Religionsgeschichte eingeführt und gerade so

die natürliche Evidenz delegitimiert.60 Man müsste dann aber gleichzeitig einräumen –

und Assmann tut es ja auch ansatzweise –, dass diese Unterscheidung im Kern die Unter-

scheidung zwischen guter Schöpfungsordnung und Schöpfungs-Missbrauch, zwischen

unterdrückender und befreiender Macht ist und ihrerseits die Kernfrage jeder Aufklärung

hervortreibt, wie der Gott, der in die Freiheit führt, von den Gottheiten unterschieden

werden muss, die die herrschenden ungerechten Verhältnisse repräsentieren und sanktio-

nieren. Wenn es um diese Frage geht, gehen muss, so ist nicht zu erwarten, dass der reli-

59 Vgl. die Auslegung des Psalms durch Erich Zenger (dessen Übersetzung ich übernehme) in: Der Mosai-sche Monotheismus im Spannungsfeld von Gewalttätigkeit und Gewaltverzicht. Eine Replik auf Jan Ass-mann, in: P. Neuner (Hg.), Das Gewaltpotential des Monotheismus und der dreieine Gott, Freiburg – Basel – Wien 2005, 39–73, hier 70–73. 60 Vgl. Jan Assmann, Moses, der Ägypter, 17–19 bzw. 78, wo es ausdrücklich heißt: „Offenbarung ist das Gegenteil von Natur.“

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giöse Streit – das Gegeneinander von Religion und „Gegen-Religion“ – vermieden wer-

den kann. Wenn er ausgetragen wird, scheinen Toleranz und das wechselseitige Sich-

Akzeptieren der religiösen Welten nur begrenzt möglich. Ist der Monotheismus dann

nicht doch als eine auf gewaltträchtige Intoleranz und Absolutismus festgelegte, friedens-

unfähige religiöse Einstellung erwiesen und dem friedlich-toleranten, transkulturell über-

setzungsfähigen kosmotheistischen Polytheismus gegenüber ins Unrecht gesetzt? Und ist

nicht noch einmal die gewalt-imprägnierte monotheistische Missachtung des Nahe- und

Nächstliegenden offenkundig geworden; die monotheistisch-universalistische Option für

das allgemeingültig Wahre und Gute, das eben nur das Ferne, weit vor uns oder im Jen-

seits Liegende sein kann?

3.6 Monotheistischer Wahrheits-Fanatismus?

Die in der Wahrheitsfrage entbundene Legitimations- und Begründungsdynamik ist nicht

begrenzbar. Wahrheit realisiert sich in begründbaren Entscheidungen – und Unterschei-

dungen, die letztlich immer Unterscheidungen zwischen wahr und falsch, gut oder böse

sind, auch wenn sie faktisch nicht immer als solche vollzogen werden können. Die Wahr-

heitsfrage setzt angesichts mehrerer Begründungsmöglichkeiten unter Entscheidungs-

und Unterscheidungsdruck; und dies gilt auch da noch, wo der Entscheidungsdruck in

einer hier und jetzt angenommenen Komplementarität von Erklärungen zunächst einmal

sistiert scheint. Digital strukturierte Entscheidungssituationen mit ihrem Entweder – Oder

mögen oft zu schnell angenommen, Entscheidungen zwischen mehreren Möglichkeiten

mögen vorschnell erzwungen sein. Aber die „Unruhe des Geistes“ drängt darauf, keine

Gleich-Gültigkeiten und keine Begründungsdefizite auf Dauer hinzunehmen. Insofern

erscheint Wahrheit eben doch „unheilbar“ monotheistisch: auf die Entscheidbarkeit von

Alternativen bezogen, in der nicht beide oder alle zur Diskussion stehenden Positionen

zugleich wahr sein können.

Diesen Entscheidungsdruck kennen polytheistische Optionen nach Assmanns Einschät-

zung kaum. Der Legitimationsbedarf ist hier befriedigt, wenn die innere „Stimmigkeit“

des Erzählten und rituell Praktizierten vollzogen wird oder immer wieder hergestellt wer-

den kann und wenn die gleiche interne Stimmigkeit bei den anderen Völkern nicht in

Zweifel gezogen werden muss. Polytheistische Universen bzw. „Polyversen“ rekurrieren

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auf Selbstverständlichkeiten, deren interne Stimmigkeit bis auf weiteres vorausgesetzt

wird, weil sie im religiösen „Alltagsbetrieb“ konkret erlebbar wird – naheliegend ist. Hier

liegt wohl der Grund für die „Anschlussfähigkeit“ des Polytheismus an postmoderne

Konzepte der Selbst- und Wirklichkeitserfahrung, der Grund für die postmoderne Per-

formanz der Polytheismus-Metapher. Der monotheistische Entscheidungs- und Bekeh-

rungsdruck resultiert – so scheint es – aus einem gewaltsam reduzierenden Blick auf die

Vielfalt der Alternativen und Optionen. In ihm setzt sich die gesellschaftlich-religiöse

Gewalt durch, die eine bunte Vielfalt von Möglichkeiten zur Stellungnahme auf Ja-Nein-

Entscheidungen hin digitalisiert und so die kreativ-„synkretistischen“ Anknüpfungen und

Übergänge zwischen dem spannungsreich Verschiedenen blockiert. Dagegen steht das

„polytheistische“ Bekenntnis: „Hier stehe ich und kann auch immer noch anders.“61 Ich

habe nie nur diese eine Möglichkeit; ich lasse mich nicht festlegen auf eine Loyalität; ich

kann jonglieren, schaffe mir einen Bewegungsspielraum, wo man mich mit mehr oder

weniger sanfter Gewalt zur Entscheidung drängen will. Ich behaupte mich als wählendes

Subjekt und halte die alternativen Deutungsangebote auf Abstand.

Warum nicht auch Religion als plurales Deutungsangebot nehmen, als „Kulturgut“? Man

kann sie als bereichernd empfinden, wenn sie uns nicht mit ihren Ansprüchen belästigt

und zu folgenreichen Entscheidungen zwingen will. Kultur ist hier – wie Slavoj Žižek pro-

vokativ formuliert – „der Name für all jene Dinge, die wir tun, ohne wirklich an sie zu

glauben, ohne sie ‚ernstzunehmen’.“62 Kultur ist unaufhebbar polytheistisch; Abhängig-

keiten und Mono-Loyalitäten sind ihr fremd. Kultur „hat“, wer sich mit Kulturgütern in-

dividuell-expressiv identifizieren kann – in vorübergehender Stellungnahme: Hier stehe

ich, und das gefällt mir; aber gleich werde ich weitergehen. Und die „Seite des Ernstneh-

mens“ (Thomas Mann)? Ernst nehmen, das kann nur noch heißen: sich von Authenti-

schem berühren, nicht aber sich von Wahrheit in die Pflicht nehmen zu lassen.

Diese Skizze des postmodernen Tableaus mag die Verhältnisse einseitig nachzeichnen

und entsprechend überzeichnen. Aber Žižeks „Durchblicke“ sind nicht ganz von der

Hand zu weisen: Die Polyversen und Polymythien der Kultur sind „Spielwiesen“, auf de-

nen man kompensatorisch den Polytheismus der bürgerlichen Entscheidungsfreiheit und

einen folkloristischen Regionalismus auslebt. Der Monotheismus aber ist zur Religion

61 Odo Marquard, Lob des Polytheismus, a.a.O., 111. 62 Slavoj Žižek, Die Puppe und der Zwerg. Das Christentum zwischen Perversion und Subversion, Frank-furt a. M. 2003, 9.

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einer globalisierten Ökonomie geworden, der man sich auf Gedeih und Verderb auslie-

fern muss. Hier ist man einer Universalität und Transzendenz ausgeliefert, mit der man

nicht einmal mehr verhandeln kann. Erlaubt und möglich ist nur noch pure Schicksals-

frömmigkeit, der nichts anderes bleibt, als der unerbittlichen Notwendigkeit zu opfern.

Nimmt man die Polytheismus-Metapher in diesem Sinn als Artikulationsversuch für den

Trend zu einem kulturell-kompensatorischen Pluralismus, so verliert sie freilich ihre reli-

gionsgeschichtliche Prägnanz. Die Antike kannte die gelockerte Wahl-Verbindlichkeit

eines kulturalistisch-religiösen Pluralismus kaum und allenfalls am Rande. Man kannte

eher interne Wahlmöglichkeiten, die es dann ja auch unter dem Dach des Monotheismus

im Christentum gab: die Wahl persönlicher oder für die eigene Stadt zuständiger Schutz-

götter (oder Schutzheiliger). Was man noch nicht kannte, das war der Kult des religiösen

Subjekts, das religiöse Verbindlichkeiten auf Abstand hält, indem es sich wählend-

abwählend zu ihnen verhält.

Aber ist dieser kulturell-polytheistische Kult der frei auswählenden Subjekte tatsächlich

die signifikante Entwicklung postmoderner Religiosität? Die Verwendung der Polytheis-

mus-Metapher hat – etwa bei Odo Marquard – vor allem diese Entwicklung im Blick.

Meist wird sie heftig begrüßt, weil sie zur Ent-Absolutierung der Verbindlichkeiten und

Erweiterung der Entscheidungsspielräume tendiert. Gegenläufig dazu wird man aber ein-

räumen müssen, dass die Pluralisierung von Loyalitätsforderungen und religiösen Identi-

tätsmustern die Intensität und Verbindlichkeit der religiösen Identifizierung nicht not-

wendigerweise mindert. Der Kulturalismus des Religiösen, für den religiöse Perspektiven

zur Geschmacksfrage und der „gekonnte“ Umgang mit dem religiösen „Erbe“ der

Menschheit zur Niveaufrage wird, das ist das Eine. Das andere ist eine expressive Intensi-

vierung religiösen Erlebens, eine im höheren Maß als selbst verantwortet und selbst „er-

arbeitet“ erlebte religiöse Verbindlichkeit. 63 Diese expressive Intensivierung ist ebenso

unbestreitbar eine Signatur der religiösen Postmoderne. Gerade weil die Menschen nicht

mehr durch Herkunft und soziales Umfeld auf bestimmte religiöse Muster festgelegt sind,

haben sie die Möglichkeit, die Gestaltung ihrer religiösen Existenz zu einer lebenslangen

63 So hat der Soziologe Hans Joas wiederholt darauf hingewiesen, dass die gängige Gleichung „Pluralisie-rung – Gleichgültigwerden von (religiösen) Bindungen“ die religiöse Situation der Gegenwart keineswegs triftig beschreibt. Pluralisierung bietet vielmehr bei allen Ambivalenzen gerade auch die Chance für ei-nen – wie Joas ihn im Anschluss an Charles Taylor nennt – „expressiven Individualismus auf dem Gebiet der Religion“ (vgl. H. Joas, Braucht der Mensch Religion?, 106), der die religiöse Option in hohem Maße als identitätskonstituierend wertet. Joas bezieht sich auf: Charles Taylor, Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, dt. Frankfurt a. M. 2002.

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Aufgabe zu machen. Expressive Intensivierung, das meint in diesem Zusammenhang, die

Anforderung wie die Chance verantwortlich wahrzunehmen, sich „unbedingt angehen“

zu lassen von dem, was religiös erlebt und überliefert wird; dabei zu entdecken, was es für

ein erfülltes Leben bedeuten kann, sich von dieser Überlieferung inspirieren zu lassen, sie

verantwortlich in mein Leben hinein zu übersetzen und sich mit ihr ernsthaft zu identifizie-

ren. Es zeigt sich und lässt sich empirisch belegen, dass christlicher Fundamentalismus

nur eine und zudem eine reduktive Form ist, mit dieser Herausforderung des Pluralismus

zu einer selbst „erarbeiteten“ religiösen Identität umzugehen. Gerade im christlichen Be-

reich wird diese Herausforderung – wenn auch natürlich nicht „flächendeckend“ – in viel-

fältigen Versuchen aufgenommen, zu einer Auslegung der biblischen Überlieferungen zu

kommen, mit der „ich“ mich selbstverantwortlich identifizieren kann, zu einem Glauben

in der „ersten Person Singular“, der die „erste Person Plural“ gleichwohl solidarisch im

Blick behält.

Dass darin eine wichtige, von Jan Assmann zu wenig gewürdigte Motivationslinie bei der

Herausbildung eines expliziten biblischen Monotheismus neu zum Tragen kommt, hat

Erich Zenger detailliert herausgearbeitet. Assmann räumt durchaus ein, dass die „Erfindung

des inneren Menschen“ als die entscheidende psychohistorische Konsequenz des Mono-

theismus gelten darf.64 Aber er unterschätzt die „psychohistorisch“ zu würdigende Tatsa-

che, dass biblisch Verinnerlichung und Wahrheits-Universalisierung einander bedingen, so

dass Wahrheitsfragen zu Herzens- und Überzeugungsfragen werden, die nicht äußerlich-

gewaltsam, sondern eben nur durch Überzeugung zur Entscheidung zu bringen sind 65:

„Wo der mosaische Monotheismus selbstreflexiv seine eigene Wahrheit präsentiert und insbesondere wo

die Wahrheit seines Gottes als Befreiung und Versöhnung definiert wird, tritt in der hebräischen Bibel die

64 Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, 145 bzw. 156. 65 Das zeigt schon, wie selektiv eine Wahrnehmung wäre, die das religionstrukturelle Gewaltpotential des antiken Polytheismus ignoriert – und nicht zuletzt deshalb auch aus dem Blick verliert, dass der reflektierte (ethisch zentrierte) Monotheismus Israels mit der Perspektive des Gewaltverzichts und der Überwindung kriegerischer Selbstbehauptung verbunden ist. Gottes Universalität ist nicht gebunden – kann es nach Lage der politischen Dinge ja auch nicht sein – an imperial-menschliche Weltherrschafts-Ansprüche, son-dern an das Hoffnungsbild, alle Menschen würden die Güte Seiner Herrschaft vernünftig einsehen und das von Jerusalem ausgehende Reich des Friedens und der Gerechtigkeit mit tragen (vgl. etwa Jes 11,1–10; Sach 9,9–10 und Ps 2,10–12, wo ausdrücklich an die „Einsicht“ der Könige appelliert wird; vgl. die Ausle-gungen durch E. Zenger, Der Mosaische Monotheismus im Spannungsfeld von Gewalttätigkeit und Ge-waltverzicht, a.a.O., 53–60 bzw. die Überlegungen Zengers in dem Beitrag, dem das folgende Zitat ent-nommen ist).

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Kategorie ‚Erkenntnis’ in den Vordergrund. Sie impliziert die Freiheit und schließt per definitionem Zwang

und Gewalt zu ihrer Verbreitung aus.“66

Die biblisch-monotheistische „Mobilisierung“ der Wahrheitsfrage entwickelt die Gegen-

instanz zu bloß äußeren, macht-stabilisierten Geltungen. Die universelle Geltung seines so

nachhaltig verinnerlichten Wahrheitsanspruchs kann deshalb gerade nicht durch äußeren

Druck, sondern nur durch die freie Überzeugung erreicht werden, in der die Menschen

aus allen Völkern ihr Herz dem wahren, befreienden Gott zuwenden, sich zu ihm aus

besserer Einsicht bekehren.

Dies ist in der Wirkungsgeschichte biblischen Glaubens – gerade auch in der Christen-

tumsgeschichte – gewiss nicht immer „beherzigt“ worden. Und wer würde bestreiten, wie

oft dieses Wissen darum, „dass eine rein äußere Bekehrung nicht als Gott angemessen

(gelten kann; J. W.) und darum religiös gar nicht zählt“67, verraten worden ist. Gleichwohl

wäre es höchst einseitig, religiöse Einheits- und Universalitätskonzepte mit ihren hohen

Anforderungen an die innerlich-freie Zustimmung gegenüber Pluralismuskonzepten zu

diskreditieren, die es Menschen ermöglichten, souverän-distanziert oder auch nur in äu-

ßerlicher Loyalität mit (religiösen) Geltungsansprüchen umzugehen. Dessen ungeachtet

konzentriert sich die „Entlarvungsenergie“ unserer Zeit – so Eckhardt Nordhofen – „auf

den Singular“68, da einem der Plural lebensnäher und demokratischer erscheint. Das Eine

Absolute scheint nicht von dieser Welt zu sein und – wenn es in unserer Lebenswelt gel-

tend gemacht wird – das Leben in der endlichen Vielfalt des uns Gegebenen und Mögli-

chen zu bedrohen. Wer auf es setzt, der kennt – so wird vielfach geltend gemacht – keine

Rücksicht auf (endliche) Verluste. Er setzt alles auf eine Karte, der gegenüber alles andere

zur quantité negligeable wird. Für die Pathologie des „Alles oder nichts“ scheinen gerade

religiöse (gegenwärtig vor allem „islamistische“) Totalitarismen zu stehen, die sich durch

Wahrheits-Monopole legitimiert sehen. Ihnen gegenüber setzt man auf eine durchgreifen-

de Demokratisierung gerade auch der Wahrheitsansprüche als die einzig sichere Abhilfe.

Der anti-totalitäre Pluralismus moderner, „deliberativer“ – auf Abwägung, Diskurs und

66 Erich Zenger, Gewalt als Preis der Wahrheit. Alttestamentliche Beobachtungen zur sogenannten Mosai-schen Unterscheidung, in: F. Schweitzer (Hg.), Religion, Politik und Gewalt, Gütersloh 2006, 35–57, hier 56. Diese These verifiziert Zenger im eben genannten Beitrag u.a. an Jes 42,1–4. 45, 22–24; 1 Kön 8, Ps 46,11; Zef 2, 11 und Jer 16. 67 Arnold Angenendt, Gewalttätiger Monotheismus – Humaner Polytheismus?, in: Stimmen der Zeit 223 (2005), 319–328, hier 324. 68 Vgl. von ihm: Die Zukunft des Monotheismus, in: Nach Gott fragen. Über das Religiöse, Sonderheft des MERKUR 1999, 828–846, hier 828.

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schließlich auf Mehrheitsentscheidungen abzielender – Demokratien scheint mit Selbst-

verständlichkeit vorauszusetzen, Wahrheit sei eben nie nur an einem Ort zu finden. Diese

„demokratische“ Voraussetzung erfordert offenkundig, dass man der Wahrheit eher im

Wettbewerb um bessere Lösungen und Diskussionsbeiträge nahe zu kommen versucht –

in der ausgewogenen Meinungsbalance, die nur durch einen möglichst breiten Diskurs

möglichst gleichberechtigter Teilnehmer gewährleistet werden könne. Das Ringen um

Wahrheit bildet hier die wirtschaftlich und politisch anzustrebende „balance of power“

ab, die Machtmonopole verhindern kann, weil es niemandem erlaubt wird, die Machtba-

lance zu seinen Gunsten aus dem Gleichgewicht zu bringen. Demokratie ist gleichsam

ihrem Wesen nach antimonopolistisch. Sie hat nur eine Chance, wo es auf den Ausgang

des Wettbewerbs unter Vielen, wenigstens einer Mehrzahl von Machtaspiranten und

Wahrheitsansprüchen ankommt. Darin scheint die institutionelle Weisheit der Demokra-

tie zu liegen – und dies im Gegenüber zum institutionellen Fanatismus aller Totalitaris-

men.

Darf man Wahrheits- und Machtfragen tatsächlich so weitreichend parallelisieren, wie es

hier geschieht? Man tut es, wenn man Wahrheits- als Machtfragen versteht und sie damit

veräußerlicht bzw. funktionalisiert, wenn man sie nicht mehr als verinnerlichte Überzeu-

gungsfragen Ernst nimmt. Wahrheitsansprüche sind dann Macht-Legitimierungs-

Strategien.69 Aber – monotheistisch-religiös – sind sie Macht-Delegitimierungs-Versuche

69 Das ist die vorrangige Intention der an Nietzsche orientierten „genealogischen“ Kritik bei Michel Fou-cault. Hier geht es um die „Machteffekte“ und „Ausschließungsfunktionen“ von Wahrheitspolitiken, die das als unwahr (wahnsinnig, undenkbar u. ä.) Behauptete als mögliche Infragestellung des Geltensollenden sozial unmöglich machen wollen (vgl. Michel Foucault, Was ist Kritik?, dt. Berlin 1992, 14f. bzw. ders., Die Ordnung des Diskurses, dt. Frankfurt a. M. 1991, 39f.). Foucault räumt indes ein, dass das Verhältnis von Macht und Wahrheit nicht als exklusiv machtlastig beschrieben werden kann. Es handelt sich hier vielmehr „um ein komplexes und wechselhaftes Spiel, in dem der (Wahrheits-; J. W.)Diskurs gleichzeitig Machtinstrument und –effekt sein kann, aber auch Hindernis, Gegenlager, Widerstandspunkt und Aus-gangspunkt für eine entgegengesetzte Strategie. Der Diskurs befördert und produziert Macht; er verstärkt sie, aber er unterminiert sie auch, er setzt sie aufs Spiel, macht sie zerbrechlich und aufhaltsam“ (M. Fou-cault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, dt. Frankfurt a. M. 1983, 122). Wenn im Kontext meiner Überlegungen vor allem diese Unterminierungsfunktion des Wahrheitsdiskurses in den Blick gerückt wird, so soll damit die Legitimationsfunktion keineswegs bestritten werden. Die kritische Bedeutung des Wahrheitsdiskurses hat aber entscheidend damit zu tun, dass auch die machtförmigen Exklusionsmechanismen, die nicht würdigen lassen, was nach Würdigung verlangt, im Wahrheitsdiskurs selbst – und nirgends sonst – als solche identifiziert werden. Foucaults genealogische Diskursanalyse the-matisiert die Machthaltigkeit der Diskurse, der in ihnen durchgesetzten Wahrheitspolitiken („Man muss den Diskurs als eine Gewalt begreifen, die wir den Dingen antun; jedenfalls als eine Praxis, die wir ihnen aufzwingen“; Die Ordnung des Diskurses, 34f.). Aber – so wäre weiter zu fragen – im Licht welcher Ein-sicht erweist sich die den „Dingen“ angetane Gewalt? Ist es nicht das Licht, in dem zugleich die Heraus-forderung zur Überwindung dieser Gewalt erscheint, das Licht einer „eschatologischen“, diese Gewalt zähmenden Gerechtigkeit, einer schlechthin „wahrhaften“, nichts mehr verdrängenden Würdigung? Zu

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durch Kriterien-Verinnerlichung; Versuche, der Selbstverständlichkeit der Macht zu wi-

derstehen. Sie klagen ein, was Machthaber und Machtbalancen ignorieren und worüber

nicht verhandelt werden kann, weil es gelten muss: dass Menschen Mensch sein, Hoff-

nung haben, lieben und auf Gerechtigkeit zählen dürfen, weil sie Seine Geschöpfe sind, in

sich gut und schön geschaffen – nicht als Verfügungsmasse von Pharaonen und globalen

Interessenkoalitionen. Wahrheit im Glaubens- und Loyalitätsverhältnis zum einen Gott

begründet – wenn man es mit Jan Assmann so nennen will – eine Gegen-Religion, weil

sie Widerstands-Wahrheit ist und den Widerstand gegen das Selbstverständliche durch

Verinnerlichung von Wahrheit mobilisiert. Zur ideologischen Legitimationsinstanz,

schließlich zur Waffe wird sie, wo man sich im Besitz der Wahrheit weiß und über sie ver-

fügt, statt sich – wie es biblisch bezeugt wird – immer wieder neu von ihr „richten“ zu

lassen: das Herz zu ihr zu bekehren und sich ihrer Kritik auszusetzen. Vernunft entdeckt

sich als kritische Gegenmacht zur Religion gerade da, wo religiöse Wahrheitsansprüche ihren

selbst-kritischen Stachel verloren haben. Sie muss zur Sachwalterin autonomer Überzeu-

gungsprozesse werden, wo religiöse Systeme die richtende Überzeugungs-Wahrheit ihrer-

seits veräußerlicht und zum Machtfaktor pervertiert haben. So versteht sich die Vernunft

schließlich als unabhängige Berufungsinstanz, als Gerichtshof, vor dem die Unterschei-

dung zwischen Macht- und Geltungsansprüchen gerade in religiösen Fragen zu treffen ist.

Dieser „verinnerlichte“ Gerichtshof wird zum Hort der Kritik, der vernünftigen Gegen-

macht, zur Berufungsinstanz, die auch angerufen werden kann, wenn man nichts als die

Wahrheit auf seiner Seite hat.

Immer aber, wenn Vernunft nicht nur kritisch illegitime Wahrheitsansprüche aufdeckt,

wenn Wahrheit mehr sein soll als Widerstandswahrheit, wenn es vielmehr zur Diskussion

steht, wovon sich die Kritik tatsächlich leiten lassen muss, stellt sich die Frage, ob man

sich zur Wahrheit selbst noch souverän-kritisch verhalten und diskursiv über sie befinden

kann. Hat man sich der Wahrheit nicht als einem alternativlosen Anspruch zu unterwer-

fen, der zuletzt keine Wahl mehr lässt und keine Kompromisse zulässt, weil es Kompro-

misse mit dem Falschen wären? Erweist sich die Wahrheit darin eben doch – wie schon

Nietzsche unterstellte – als rettungslos göttlich, ja als unduldsam monotheistisch, dass sie

das Innerste des Menschen einem schlechthin verbindlichen Anspruch aussetzt und den

Menschen als schlechthin autonomes Subjekt zutiefst in Frage stellt? Foucault vgl. Peter Hardt, Genealogie der Gnade. Eine theologische Untersuchung zur Methode Michel Foucaults, Münster 2005.

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Wahrheit verpflichtet. Sie lässt nicht die Wahl, sich dieser Verpflichtung zu entziehen.

Wer es dennoch tut, denkt Unwahres und handelt unverantwortlich. Insofern ist Wahr-

heit tatsächlich monotheistisch-„eifersüchtig“. Gegenüber dem Wahren wäre Wählen-

wollen Sich-Entziehen, Wahrheits-Flucht oder Verdrängung. Das frei wählende bürgerli-

che Individuum tut sich schwer, wenn es vor der Zumutung steht, sich von einer Heraus-

forderung in Anspruch nehmen und von ihr unbedingt angehen zu lassen, die es sich

nicht selbst ausgewählt hat. Es besteht darauf, „Herr“ des Verfahrens zu bleiben, der we-

nigstens autonom über die Kriterien entscheidet, nach denen er darüber urteilt, wovon er

sich angehen und in Anspruch nehmen lässt. Es ist irritierend, aber nicht wegzudiskutie-

ren: Die göttliche Zugriffsmacht der Wahrheit kann nicht limitiert sein von irgendwelchen

Kriterien, nach denen das Individuum souverän entscheiden könnte, welche Wahrheitsan-

sprüche es „vorlässt“ und welchen es von vornherein die Tür weist. Entweder hat das

Wahre selbst die Macht, Urteilen und Handeln zu normieren. Oder die Urteilenden

schreiben sich die Macht zu, frei darüber zu entscheiden, welche Geltungen sie für sich

gelten lassen wollen. Gibt es ein Drittes? Ein Drittes zwischen Wahrheitsabsolutismus und

Verabsolutierung des auch in letzter Instanz noch wählenden Individuums? Vielleicht ist

es gerade der biblische Monotheismus, der dieser offenkundig verhängnisvollen Alternati-

ve entkommen, sie zumindest in eine gute Spannung verwandeln hilft. Das ist in der

christlichen Wirkungsgeschichte der Bibel oft nicht so gesehen worden und zur Wirkung

gekommen. Umso wichtiger wäre es deshalb, diese Vermittlungsleistung des biblischen

Monotheismus herauszuarbeiten.

3.7 Die unverfügbare, aber verbindliche Gotteswahrheit

Gottes Wahrheit lässt sich nicht vereinnahmen. Sie entzieht sich jedem Versuch, ihrer

„habhaft“ zu werden, sie herrschaftlich zu repräsentieren oder gar sie zu vollstrecken.

Ihrer „Herkunft“ nach ist sie uneinholbar die Wahrheit vor uns, die Gott den Menschen

erschließt, um sie auf die Spur seines guten Willens und damit auf die Spur ihrer eigenen

Bestimmung zu setzen. Gottes Wille ist wahr, weil er Gottes Wille ist. Und sein Wille ist

ein guter Wille, der den Menschen – allen Menschen – zugute kommen will. So nimmt er

alle Menschen in Anspruch, das Gute, das Gott für alle Menschen will, mit zu wollen.

34

Genau dies ist der Zusammenhang, in dem der Universalismus wie die Unbedingtheit der

Gotteswahrheit verstanden werden müssen. In die Gotteswahrheit will Gott – will sein

Geist – die Menschen einführen. Nach christlichem Glaubensbekenntnis heißt das: Gott

führt in der Spur des Weges JHWHs mit seinem erwählten Volk Israels und in der Spur

Jesu Christi, seines erwählten Sohnes, in die Wahrheit und Gutheit seines Willens ein.

Aber damit wird die Wahrheit nicht zu einer Exklusiv-Wahrheit, die andere ausschließt

und nur den Christen zugänglich ist, nur ihnen zugute kommt. Vielmehr gilt gerade um-

gekehrt: Christen glauben daran, dass sie in Gottes Wahrheit eingeführt werden, indem sie

mit den Erfahrungen der anderen in Berührung kommen – mit ihren Hoffnungen, ihrer

Not, ihren Aufbrüchen, ihrem Widerstand gegen Missachtung und Unterdrückung, ihrem

Glauben, ihrer Güte. Sie glauben daran, dass Gottes Geist sie in diese Berührungen hin-

einführt, dass sie auch darin erkennen, was Gott den Menschen zugute will, was seine

Wahrheit und Gutheit konkret bedeutet. Gottes Wahrheit ist in diesem Sinne inklusiv: In

den Spuren Israels und des Messias Jesu wird sie entdeckt. Aber diese Spuren führen zu

den anderen, in die Geist- und Wahrheitsgemeinschaft mit ihnen. Und die eine Wahrheit,

die in der Berührung mit ihnen wahr wird, verdrängt nichts von dem, was in der Berüh-

rung mit ihnen zugänglich wird. Sie bezieht ein, was andere gefunden haben und wonach

sie verlangen.

Weil Gottes Wahrheit in der Spur des uns Vorangehenden – in der Spur Israels und Jesu

Christi – zugänglich wird und bedacht werden kann, bleibt uns diese Wahrheit uneinhol-

bar voraus. Weil diese Spur immer wieder neu zu denen führt, die wir noch nicht ken-

nen – deren Erfahrungen, Sehnsucht, Glauben und Aufbrechen wir noch nicht hinrei-

chend kennen –, deshalb verbindet sie uns mit ihnen und bindet sie uns an sie. Die Wahr-

heit der Einbeziehung ist weit „ökumenischer“ als das, was wir selbst einbeziehen und mit

„unserer“ Wahrheit vermitteln können. So sind wir darauf angewiesen, dass noch heraus-

kommt, wohin Gottes Wahrheit mit uns geht und wofür sie uns öffnet.

Kritisch ist Gottes Wahrheit gegen jede Ausschließung. Sie verträgt sich nicht mit Syste-

men und Projekten, die systematisch missachten, was nach Gottes gutem Willen einbezo-

gen und gewürdigt werden muss: die es mitmenschlich, kognitiv, gesellschaftlich oder ö-

konomisch draußen lassen, sich nicht von ihm berühren und mitbestimmen lassen. Das

Wahre ist, weil es die Wahrheit des guten Willens Gottes ist, die Einbeziehung alles

Menschlichen in das Ringen um Wahrheit, um jene Gerechtigkeit, die erst wahr ist, wenn

35

sie allen Menschen geschieht, allen Menschen zugute kommt. Wahrheit bewährt sich, wo

„in ihrem Licht“ Exklusionen als solche erkennbar werden, wo Ungerechtigkeit identifi-

zierbar wird. Sie nimmt die Menschen dafür ins Anspruch, „hereinzuholen“, was bisher

ausgeschlossen war, und zu würdigen, was man bisher missachtete. Und sie nimmt „eifer-

süchtig“ dafür in Anspruch. Eine andere Wahrheit neben ihr darf es nicht geben. Dieser

Wahrheit widersprechende „Wahrheiten“ können nur unwahr sein; Götter, die auf sie

verpflichten, können nur Götzen sein. Der biblische Monotheismus ist schlechthin unver-

träglich mit ethnozentrischen oder Klassen-Wahrheiten. Er ist von vornherein der Wahr-

heit der Opfer verpflichtet, denen das Dazugehören und die Gerechtigkeit vorenthalten

werden – wenn man es so sagen will: Wahrheit der Zu-kurz-Gekommenen. Und dies

nicht etwa deshalb, weil sie die Wahrheits-Privilegierten wären, denen die Wahrheit „ge-

hören“ würde, sondern einfach deshalb, weil keine Wahrheit wahr und keine Gerechtig-

keit gerecht sein können, wenn sie nicht gerade denen zugute kämen, die zum unwahren

Leben verurteilt und aus dem Feld einigermaßen gerechter Lebensverhältnisse ausge-

schlossen sind. In der Berührung mit ihnen wird Wahrheit „intolerant“ fordernd, wird der

Gott, in dessen gutem Willen sie gründet, zum eifersüchtig gegen die Götzen sich be-

hauptenden Allein-Gott.

Aber sind der biblische Monotheismus und der Wahrheits-Monotheismus hier nicht so

allgemein geworden, dass niemand ihm widersprechen würde? Sind sie noch mehr als der

religiöse Hintergrund einer Ökumene der „Allgemeinplätze“, die niemand weh tut und zu

fast nichts mehr verpflichtet? Ist der eifersüchtig fordernde JHWH, der Vater Jesu Christi,

hier noch wiederzuerkennen? Oder ist er zum Exponenten einer Gutwilligkeit geworden,

gegen die niemand mehr etwas haben kann? So harmlos ist der Monotheismus der einbe-

ziehenden Wahrheit vielleicht doch nicht, wenn man es zulässt, dass er die elementaren

Ausschließungen aufdeckt, die den globalisierten Kapitalismus oder die gesellschaftlichen

Fixierungen auf Jugend und Gegenwart fundieren. Gottes monotheistische Wahrheit wird

konkret kritisch und sie fordert Entscheidungen, wenn sie uns in der Spur, die Er seinem

auserwählten Volk bahnte und in der sein Sohn uns voranging, zu denen führt, denen wir

Gerechtigkeit und Wahrheit schuldig bleiben. Der Weg zu ihnen, den Er uns führt, führt

uns ein in Seine Wahrheit und Gutheit, macht seine Wahrheit und Gutheit konkret, lässt

sie erahnen, erhoffen – und vermissen. Er zieht uns in die Mitverantwortung dafür, dass

geschieht, was sie verlangen und verheißen.

36

Die inklusive, universale Wahrheit wird zugänglich und konkret auf einem besonderen Weg,

dem Weg Israels, Jesu Christi und der Kirche, den Er gebahnt hat, auf dem Er befreiend

gehandelt und seinen guten Willen – sich selbst – offenbart hat: Ist das nicht doch wieder

der Exklusiv-Monotheismus des einen wahren Gottes, der alle anderen Erfahrungen des

Göttlichen, alle anderen religiösen Wege ins Unrecht setzt? Der sich menschlich-

allzumenschlich das Göttliche wie eine menschliche Person vorstellt, die dieses will, jenes

nicht, hier handelt, dort aber nicht? Als eine Person, der exklusiv Glaube und Verehrung

zukommen, weil alle anderen Gottheiten doch nur in die Irre führen? Biblischer Mono-

theismus ist der Monotheismus eines Weges, einer Herausforderung: konkreter Mono-

theismus, nicht der Monotheismus des kleinsten gemeinsamen Nenners, der nur noch das

sagt, was alle sagen. Konkreter Monotheismus geht diesen Weg und keinen anderen. Er ist

der Weg zu den anderen – nicht der Weg freilich, der allein mit schiedlich-friedlichen

Einverständnissen gepflastert sein müsste. Auf diesem Weg muss sich je neu herausstel-

len, was es konkret bedeutet, Gottes Wahrheit und Gutheit auf der Spur zu sein: Einver-

ständnis oder Widerspruch, in Frage stellen oder sich in Frage stellen lassen, das Befremd-

liche zumuten oder sich vom Fremden herausfordern lassen. Die Entschiedenheit, sich

auf diesem Weg in Gottes Wahrheit hineinführen zu lassen, steht in Spannung zu der Be-

reitschaft, Gott und seine Wahrheit konkret zu finden in der Begegnung mit den anderen,

potentiell: mit allen anderen. Genau diese Spannung macht den universalistischen, aber

nicht totalitären Monotheismus aus. Sie darf nicht aufgelöst werden; Gott, der eine Gott,

wird sie – eschatologisch – einlösen. Ist das nicht doch noch zu viel Konkretheit und Be-

sonderheit, zu viel Personalismus und Anthropomorphismus in der Gottesvorstellung, zu

viel Anfälligkeit für eine Kirchen-Macht, die den allzu menschenförmigen Gott repräsen-

tieren und Seine Wahrheit in eigener Regie geltend machen will?

Diese Fragen sind keineswegs neu. Aber sie stellen sich mit neuer Dringlichkeit, weil der

Einbruch unbedingter Geltungsansprüche in eine Welt bloß bedingter Optionen und Prä-

ferenzen als gewalttätige und zerstörerische Gefährdung des Zusammenlebens auf unse-

rem Globus erfahren und weil dieser Einbruch in dem höchst zwiespältigen Anspruch

konkret wird, des einen, wahren Gottes Willen hier und jetzt zu vollstrecken. Ist es da

nicht zwingend geboten, die personalistisch-konkreten, originär monotheistischen, Meta-

phern Gottes Wille, Gottes Handeln, Gottes Erwählung und Auftrag, wie sie ja zuerst für den

37

biblischen Monotheismus konstitutiv scheinen, aus dem Sprach- und Vorstellungshori-

zont authentischen Glaubens zu eliminieren?

Die Befremdlichkeit des Monotheismus mag für religiös „interessierte“ Zeitgenossen vor

allem darin liegen, dass Gott hier als der ganz Andere gilt, als der Welt-Transzendente, der

nicht in die Welt und ihre Funktionssysteme eingebunden, nicht mit dem „Naheliegen-

den“, dem uns Umgebenden, identisch ist, aber gleichwohl in der Welt begegnet, sich in

ihr zu unserem Nächsten macht. Befremdlich ist und bleibt seine Souveränität, in der er

hier und nicht da „wirkt“, Menschen konkret erwählt und herausfordert – und sich ihnen

entzieht, wenn sie ihn für eigene Wege und Legitimationsbedürfnisse in Anspruch neh-

men, wenn sie ihn ihrer „Logik“ unterwerfen wollen:

„Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege – Spruch des Herrn.

So hoch der Himmel über der Erde ist, so hoch erhaben sind meine Wege über eure Wege und meine

Gedanken über eure Gedanken“ (Jes 55,8f.).

Er entzieht sich der Vereinnahmung in einer theokratischen Königsideologie; er entzieht

sich seiner „Verkirchlichung“ gerade dadurch, dass er „Seiner“ Kirche auf dem Weg zu

den anderen vorangeht. Seine Transzendenz wird durch „Alteritätsmarkierungen“ (Eck-

hard Nordhofen70) kenntlich gemacht, durch die räumliche Metaphorik des „Außerhalb“,

die die Metaphorik des unverfügbaren „Hineinwirkens“, ja des (geschichtlichen) „Ein-

Greifens“ an sich zieht. Sind diese Metaphernfelder nicht letztlich unangemessen, die letz-

ten Reste einer Souveränitäts- und Herrschafts-Theologie, die dem ideologie- und religi-

onskritischen Blick heute leicht als Projektion antiker Herrschaftsideologien kenntlich

wird? Ist das Göttliche denn nicht radikal immanent, der Ab-Grund des Innersten der

den Menschen erfahrbaren Wirklichkeit.

3.8 Der ganz Andere

Der ganz Andere, der schlechthin welttranszendente Gott: ihm vor allem widersprechen

die monotheismuskritischen polytheistischen oder pantheistisch-monistischen Optionen.

Sie huldigen dem radikal weltimmanent-präsenten Gott, dem menschen- und naturnahen,

70 Vgl. Die Zukunft des Monotheismus, a.a.O., 845.

38

im Menschlichen und in der Natur zugänglichen Göttlichen. So verbinden sie sich gar

nicht so selten mit den mystischen Optionen des All-Einheits-Glaubens, die dazu anlei-

ten, sich in Einheit mit dem Göttlichen zu erfahren. Aber sind nicht die mystischen Tra-

ditionen des Ostens wie des Westens eminent negativ-theologisch geprägt, von abgründiger

Nicht-Präsenz und Unverfügbarkeit bis (fast?) zuletzt, von Gottes radikaler Transzendenz

zutiefst in Anspruch genommen?

Zur Diskussion steht wiederum – und für den gegenwärtigen Religions-Diskurs ganz

zentral – die Transzendenz-Behauptung und ihr Verhältnis zum Immanenzglauben. Ist

dies wirklich eine Antithese: Gott, der radikal Transzendente, der ganz Andere, oder „das

Göttliche“ als radikal welt-immanent, welt-präsent? Die Diskussion ist höchst spannungs-

und voraussetzungsreich. Wer für Gottes radikale Transzendenz plädiert, kann – im Sinne

der negativen Theologie – Gott gleichwohl als das unsagbare Mysterium der Tiefe, ja des

dunklen Ab-Grundes allen Seins ansprechen: als Ab-Grund, der sich dem ergründen-

wollenden Denken entzieht und sich denen „lichtet“, die sich selbst loslassen und in Ge-

lassenheit all das hinter sich lassen, was von ihm trennt, damit sie so zu seiner Wirklichkeit

in der Welt werden. Die reductio in mysterium der negativen Theologie kann aber auch in die

geradezu „entgegengesetzte“ Richtung zielen: nicht auf den Gott der radikalen Abgrund-

Immanenz, sondern auf den Gott vor uns, der dieser Unheilszeit ein Ende setzen wird. Er

ist hier der ganz Andere zum Unheil dieser Welt, an den sich die Klage der Leidenden

und Unterdrückten wendet, auf den sich die Sehnsucht nach Gerechtigkeit auch für die

Gestorbenen richtet. Der ganz Andere ist hier der „abhanden gekommene“, der „vermiss-

te“ Gott (Johann Baptist Metz71), der sich nur zeit-befristend und die Weltzeit beendend –

apokalyptisch – als Gott erweisen und vor den Klagen der Leidenden und Umgebrachten

rechtfertigen kann.

Die Inanspruchnahme der negativen Theologie durch die neue Politische Theologie ist

zutiefst misstrauisch gegen jede neuplatonisch inspirierte Mystik der Gottesimmanenz im

Abgrund. Sie misstraut einer Mystik der „geschlossenen Augen“, die den Menschen den

Zugang zur eigenen, abgründigen Tiefe bahnen, die ihn jetzt schon bei sich selbst und bei

Gott sein lassen will. Authentisch christliche Mystik ist – so Johann Baptist Metz – „eine

Mystik der Compassion. Ihr kategorischer Imperativ lautet: Aufwachen, die Augen öff-

nen. Das Christentum ist kein blinder Seelenzauber. Es lehrt ... eine Mystik der offenen

71 Vgl. Tiemo Rainer Peters, Johann Baptist Metz. Theologie des vermissten Gottes, Mainz 1998.

39

Augen. Im Entdecken, im Sehen von Menschen, die im alltäglichen Gesichtskreis un-

sichtbar bleiben, beginnt die Sichtbarkeit Gottes, öffnet sich seine Spur“72. Hier öffnet

sich freilich auch der Raum des Leidens an dem schmerzlich anderen Gott, der bis jetzt

so unsichtbar und unerfahrbar bleibt, dass es zum Himmel schreit. In der Mystik der

Compassion geschieht „mystische Selbstrelativierung“ um der leidenden Anderen willen.

Sie verlangt die Bereitschaft zu einem „Blickwechsel“ in der Jesusnachfolge, „dazu näm-

lich, uns selbst immer auch mit den Augen der anderen, vorweg der leidenden und be-

drohten anderen anzuschauen und diesem Blick wenigstens um ein Geringes länger

standzuhalten, als es unsere spontanen Reflexe der Selbstbehauptung erlauben mögen.“

Solche Selbstrelativierung hat nichts zu tun mit dem „Verschwinden des Ich in der

gestaltlosen Leere eines subjektlosen Universums“. Sie bedeutet vielmehr „das immer

tiefere Hineinwachsen in jenen mystischen Bund zwischen Gott und den Menschen, in

dem – anders als in fernöstlichen Religionen – das Ich nicht mystisch aufgelöst, sondern

moralisch beansprucht wird, einen Bund, der sich in einer Mystik der offenen Augen er-

fährt und bewährt.“73

Apokalyptisch gestimmte Mystik der „offenen Augen“ versteht jede pantheisierende Nei-

gung als unerlaubte Vermischung von Transzendenz und Immanenz, als apolitische Mys-

tik des hier und jetzt alles erfüllenden und durchdringenden, erfahrbaren Gottes – und

widerspricht ihr vehement. Ebenso vehement ist der „gegenläufige“ Widerspruch einer

ästhetischen Diesseits- und Vielfaltsmystik – etwa bei Martin Walser – gegen jede Gottes-

transzendenz und dementsprechend gegen alle Programme einer universalistisch-

monotheistischen „Weltverbesserung“. Dieser Widerspruch ergriff zunächst im Namen

eines weltfrommen Polytheismus das Wort, optierte dann aber für die ursprüngliche

menschliche Fähigkeit, das in dieser Welt konkret Begegnende – das Nächste und Nahelie-

gende – „religiös zu erfahren“. Und so sieht sich Walser doch weniger als ästhetischen

Polytheisten; der traditionsreiche Titel Pantheismus scheint ihm eher das auszudrücken, was

ihn bewegt.74

72 Johann Baptist Metz, Mit der Autorität der Leidenden. Compassion – Vorschlag zu einem Weltpro-gramm des Christentums, in: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG Nr. 296 vom 24./25./26. Dezember 1997, Feuille-tonbeilage, S. 1. 73 Johann Baptist Metz, Kein Leid, das uns nicht angeht. Die Kirche muss eine Kirche der Compassion werden, wenn sie ihrer Selbstprivatisierung entgehen will, in: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG Nr. 225 vom 28. September 2004, S. 17. 74 Vgl. Martin Walser, Lieber schön als wahr, a.a.O.

40

Im theologisch-philosophisch-„weltanschaulichen“ Spannungsfeld zwischen Gottestrans-

zendenz und Weltimmanenz spielt sich gegenwärtig die Diskussion ab, die sich zu den

Stichworten Mystik und All-Einheit neu entsponnen hat. Alle Diskussionsteilnehmer wol-

len weg von einer als massiv „gegenständlich“ empfundenen Gottesvorstellung, die man –

vor allem im angelsächsischen Bereich – theistisch nennt. Der theistischen Position werden

meist mystische Optionen gegenübergestellt, die sich wiederum danach differenzieren,

inwieweit sie sich den pantheistischen All-Einheitsgedanken verbunden wissen oder sich

von ihm distanzieren – wie etwa die politisch-theologisch geprägte Mystik „mit offenen

Augen“. Vor allem bei Bezugnahmen auf die mystischen Traditionen des Ostens fehlt

selten der Hinweis, die „westliche“ Vorstellung einer göttlichen Person, die als welt-

transzendente gewissermaßen von außen in den Weltzusammenhang hinein greift, sei mit

der modernen naturwissenschaftlichen Weltanschauung nicht vereinbar und bedürfe

schon deshalb der Korrektur.

Besonders eindrücklich hat im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts Thomas Merton vom

mystischen Tiefenstrom des Christentums gesprochen und für die Überwindung eines

theistischen Gebets- und Gottesglaubens votiert. Er weist darauf hin, dass der Bittgebets-

Theismus einem Weltbild entstammt,

„das vom Mechanismus eines Ursache-Wirkungs-Zusammenhanges ausgeht: Ein transzendenter Gott

befindet sich ‚außerhalb’ und ‚oberhalb’ der Welt. Er wirkt in ihr von oben herab als absolute Erstursache

und Höchster Erster Beweger. Er ist die selber durch nichts verursachte oberste Ursache, die jede Wir-

kung bis hinab zur kleinsten Kleinigkeit plant und nach ihrem Willen lenkt: Gott gleichsam als höchster

Ingenieur. Die Menschen können Verbindung mit ihm aufnehmen und an seinen Plänen Anteil erhalten,

indem sie sich durch Glaube und Gebet in sein Wirken einbeziehen lassen. Er überträgt ihnen auf ge-

heimnisvolle Weise einen begrenzten Anteil an seinem Wirken, in dem Maße, als sie mit ihm verbunden

sind.“75

Diese mechanistisch-räumliche Vorstellung entspricht nicht mehr den holistisch-

evolutionären Perspektiven der modernen Natur- und Lebenswissenschaften, für die ein

Eingreifen von außen oder oben nicht mehr vorstellbar ist, die ein „Außerhalb“ über-

haupt nicht mehr denken können. In der Rückbesinnung auf die mystischen Traditionen

ist aber auch – so Merton – im Christentum die Einsicht „gewachsen, dass Gott unbe-

schadet seiner Transzendenz auch immanent ist“. So müsste der christliche Glaube nicht

75 Thomas Merton, Im Einklang mit sich und der Welt, dt. Zürich 1986, 31f.

41

darauf fixiert sein, Gott irgendwie als einen „außerhalb“ für sich existierenden und von

außen her nach seinem unerforschlichen Willen in die organischen Zusammenhänge der

Welt einwirkenden Akteur vorzustellen. Man hat – so Mertons Einschätzung – „eingese-

hen, dass diese räumliche Vorstellung eher verwirrend wirkt“76, dass Transzendenz und

Immanenz Gottes – gegen die dissoziative newtonsche Logik getrennter Räume – gleich-

sam ineinander gedacht werden müssen und so erst Gottes All-Gegenwärtigsein hinrei-

chend zum Ausdruck bringen.

Die mystisch-kontemplativen Traditionen öffnen die Augen des menschlichen Geistes

dafür, dass Gott „im innersten Grund unseres Seins unmittelbar anwesend ist (während er

zugleich unendlich transzendent bleibt)“; sie öffnen die Augen für „unsere unmittelbare

Einheit mit Gott“77. Damit ist jedoch für Merton „keine pantheistische Verschmelzung

und Vermischung unseres Wesens mit seinem göttlichen Wesen“ gemeint. Die Erfahrung

der Einheit mit Gott wird vielmehr „von einer unverkennbaren Spannung geprägt: Ob-

wohl Gott in gewisser Weise tiefer und wahrer unser Selbst ist, als wir es je sein könnten,

sind wir doch nicht identisch mit ihm. Obwohl er uns mehr liebt, als wir uns selbst je zu

lieben vermögen, leben wir doch im Widerspruch zu ihm.“78

Gottes Welt-Immanenz ist zugleich und zutiefst Selbst-Immanenz. In gewisser Weise ist

er unser wahres Selbst, uns selbst – nach einem Wort Augustins79 – innerlicher, als wir

uns selbst innerlich sein könnten, uns näher, als wir uns selbst nahe sind. Ist Gott uns

„nur“ deshalb zugleich unendlich transzendent, weil wir uns ihm widersetzen und uns

damit unserem tiefsten Selbst widersetzen, uns von ihm entfernen? Wäre Gott dem

menschlichen Selbst und der Mensch in seinem Selbst Gott transzendenzlos-immanent,

wenn der Mensch Gott und seinem wahren Selbst nicht in der Sünde wiederspräche? Die-

se Frage ist für den gegenwärtigen Mystik-Diskurs offenkundig von zentraler Bedeutung.

Und es lässt sich oft nicht deutlich erkennen, wie die Diskussionsteilnehmer sich hier ent-

scheiden. Zwei Optionen wären denkbar: Die Sünde des Menschen verschärft die „Ent-

fernung“ des Menschen zum radikal transzendenten Gott unheilvoll, weil der Sünder sich

der „umschmelzenden“ Nähe Gottes nicht aussetzen und so auch nicht in sein wahres

Selbst gelangen will. – Oder: In der Sünde vereinzelt und personalisiert sich der Mensch

gegenüber seinem wahren Grund und Selbst, weshalb mit der Überwindung dieser sünd- 76 Ebd., 32. 77 Vgl. ebd., 33. 78 Ebd. 79 Vgl. Confessiones III, 6, 11.

42

haft-egozentrischen Vereinzelung auch jede Absonderung gegenüber Gott aufgehoben

wäre und der Mensch über das bloß personale „Gegenübersein“ zu Gott hinausgelangte:

sich ganz der radikalen, nun transzendenzlosen Gottes-Immanenz freigäbe und in ihr auf-

ginge.

Man kann darauf hinweisen, dass die mystischen Traditionen des Christentums hier nicht

klar Stellung beziehen. Spricht das schon dafür, dass die von mir formulierte Alternative

falsch ist? Man darf das nicht einfach voraussetzen, denn es spricht ja auch einiges dafür –

und die negative Theologie macht es nachdrücklich geltend –, dass die Transzendenz des

unsagbar-unumgreifbaren Geheimnisses nicht einfach gleichbedeutend mit der Sünde des

Menschen sein kann, in der dieser sich dem göttlichen Geheimnis entzieht oder es

selbstmächtig und egozentrisch unter seine Verfügung zu bringen versucht, statt sich ihm

rückhaltlos zu öffnen. Im Kern steht hier zur Diskussion, ob die Überwindung sündhafter

Ich-Bezogenheit und Selbst-Entfremdung die Immanenz-Transzendenz-Spannung auf-

hebt und damit auch jede „Äußerlichkeit“ Gottes zum Selbst – jedes personale „Gegen-

über“ zwischen Gott und den Menschen – in die reine Immanenz hinein überholt. Es ist

Mertons These, dass der christlich-mystische Weg über das „erlösende“ In-Christus-Sein

zu jenem „neuen Bewusstsein unserer selbst“ führt, in dem wir „erkennen, dass wir in

ihm erschaffen und durch ihn erlöst sind, um in und mit ihm verwandelt und verherrlicht

zu werden“80. Damit fordert Merton aber die Nachfrage heraus, ob diese Verwandlung

und Verherrlichung doch eine „Verschmelzung“ zwischen Göttlichem und Menschlichem

bedeuten soll und dann jegliche „Äußerlichkeit“ und Besonderheit der einzelnen Ge-

schöpfe zu ihrem Schöpfer aufheben wird.

Was kennzeichnet die mystische Erfahrung der Gottesgegenwart also wesentlicher und

endgültig: Die Einheit mit Gott im „wahren Selbst“ oder die radikale Gottentzogenheit,

die nicht nur das Sprechen vom Göttlichen in Mitleidenschaft zieht, sondern ebenso die

Erfahrung Gottes kennzeichnet und sie zum Leiden an Gott machen kann? Die gegen-

wärtige Welt- und Gotteserfahrung ist nach Merton zweifellos ebenso vom Streben nach

der Vereinigung mit dem Göttlichen – nach dem „Innewerden Gottes“ – wie von der

„Erfahrung der Abwesenheit Gottes“ geprägt: „Mag Gott auch im Innersten der Welt

unmittelbar gegenwärtig sein, er bleibt doch transzendent, was bedeutet, dass er niemals

von unserem Be-greifen und Verstehen erfasst werden kann. Beide Erfahrungen (die der

80 Vgl. Thomas Merton, Im Einklang mit sich und der Welt, 34.

43

‚Abwesenheit’ und die der ‚Anwesenheit’) verschmelzen im Wissen der Liebe, das (wie es

die Mystik nennt) ein wissendes Nichtwissen ist.“81

Ist Gottes Transzendenz gleichbedeutend damit, dass er sich dem menschlich-

allzumenschlichen Verstehen entzieht, aber dem Ab-Grund der Vernunft immanent ist?

Oder entzieht er sich menschlichem Verstehen, weil er ihm unendlich voraus ist, der

schlechthin Andere bleibt. Ist Gottes Immanenz die eigentliche, die Ur-Wirklichkeit, seine

Transzendenz aber nur die Entfremdungs-Wirklichkeit, die in der Erlösung aufgehoben

wird: wenn Er alles in allem ist? Oder bleibt Er auch dann noch – beseligend und beglü-

ckend – der ganz Andere? Man mag zu bedenken geben, ob die mystische Option nicht

über all diese Fragen hinweg geht, weil sie zusammenschaut, was eben nur das dissoziativ-

dualistische Denken der Theologie auseinanderreißt? Wenn es so wäre, wären mit diesen

Fragen wohl auch viele weitere, notorisch unlösbar scheinende theologische Verlegenhei-

ten in der mystischen Einheitsschau überholt und im „wissenden Nichtwissen der Liebe“

als bedeutungslos aufgehoben. Dann wäre aber auch die semantische Bestimmtheit des

Redens von Gott weitgehend aufgelöst. Thomas Mertons Äußerungen weisen nicht

durchweg in diese Richtung, wohl aber Überlegungen von Willigis Jäger, mit denen dieser

seine Meditationspraxis theologisch zu erläutern versucht.

3.9 „Symphonie des Einen und Ganzen“82

Willigis Jäger interpretiert seine Erfahrungen als Zen-Meister auf dem Hintergrund der

mystischen Traditionen des Ostens wie des Westens. Beide scheinen ihm eine konsequent

monistische Sicht des Wirklichen zu eröffnen. Demgegenüber sieht er die westliche Philo-

sophie und Theologie in einem Denken gefangen, das nicht über die Dualismen von Gott

und Mensch, Leib und Seele, Diesseits und Jenseits, Subjekt und Objekt, Bewusstsein und

sich einfühlender Einsicht, schließlich: von Transzendenz und Immanenz hinauskomme.

Die moderne Physik ist für Jäger Musterbeispiel und Vorbild für die Überwindung des

„dualistischen Denkens“, da sie mit der Quantentheorie endgültig den zuvor „grundle-

genden Unterschied zwischen Materie und Bewusstsein“ beseitige.83 So komme es auch

81 Ebd., 36. 82 So ist ein Beitrag von Willigis Jäger in CHRIST IN DER GEGENWART Nr. 19/2000, 149f. überschrieben. 83 Vgl. ebd., 149.

44

für die Theologie entscheidend darauf an, die christliche Glaubensüberlieferung im Kon-

text dieses neuen „Weltbildes“ der Naturwissenschaften non-dualistisch auszulegen. Dem

scheint allerdings der Grund-Dualismus des biblischen Theismus im Wege zu stehen, der

schon das Alte Testament bestimmt habe und von hier aus in die Christentumsgeschichte

eingedrungen sei. Diesen biblischen Dualismus skizziert Jäger in seinen Grundlinien wie

folgt:

„JHWH, der Gott Israels, hat die Welt aus dem Nichts geschaffen, er dirigiert die Welt von außen. Er griff

ein, wenn die Menschen versagten. Die Welt, wie sie ist, wird verschuldet durch die Sünden der Men-

schen, zum Jammertal, zum Tal der Tränen, aus dem es zu entfliehen gilt. Es kam dadurch notgedrungen

zu einer Verachtung der Erde, des Körpers, der Natur, der Frau, der Sexualität und der Sinne. Religion

pocht auf moralisches Verhalten. Erst im Jenseits kommt der große Ausgleich.“84

Die Welt wird biblisch-christlich – so Willigis Jäger – in der Perspektive eines geschichtli-

chen Dramas von (Erb-)Sünde und Erlösung gesehen, in dem es „privilegierte“ Rollen,

Zeiten und Räume gibt: Akteure und spezifische Orte von Offenbarung in einer Heilsge-

schichte, die Gott inszeniert, um die Sünde der Menschen zu besiegen.85 Hier legt sich

dann auch eine Metaphorik der nebeneinander bzw. übereinander liegenden Räume nahe:

Gott greift – mit eschatologischer Endgültigkeit durch Jesus Christus – in die sündige,

gegen Gottes Welt sich absperrende Menschenwelt ein, um sie an privilegierten Orten

und zu besonderen Zeiten bzw. von ihnen her für Gottes zukünftige Herrschaft zu öff-

nen. Gott und seine Wahrheit sind deshalb nur hier „greifbar“ und eben nicht auch dort –

nicht in der Tiefe aller Wirklichkeit, wovon die Mystik überzeugt ist. Zu dieser Tiefensicht

ist das biblische Denken nicht vorgedrungen. Das herkömmliche dissoziierende Denken

in der Theologie ist dazu erst recht nicht in der Lage, da man hier auf die Oberfläche des

Vielen und geschichtlich sich Verändernden fixiert ist.

Der biblische Heilsgeschichts-Dualismus erzeugt – so Willigis Jäger weiter – „ein anthro-

pomorphes, menschlich gedachtes Gottesbild mit Gott als Richter und Kontroll-Instanz

und machte einen göttlichen Erlöser und Versöhner erforderlich.“86 Was dieser Theismus

dualistisch auseinanderdividiert hat, muss nun durch die Erlösungsinitiative Gottes im

Versöhner Jesus Christus wieder zusammengebracht werden. Aber auch diese Versöh- 84 Ebd., 149. 85 Ich ziehe mit heran: Francis X. D’Sa, Gott, der Dreieine und der All-Ganze. Vorwort zur Begegnung zwischen Christentum und Hinduismus, Düsseldorf 1987, 51. 86 Willigis Jäger, Symphonie des Eines und Ganzes, a.a.O.,149.

45

nungsidee bleibt noch dualistisch und äußerlich. Versöhnung geschieht den Menschen

von außen und rettet sie nicht aus den Dualismen, die die Heilsgeschichte nach wie vor

bestimmen. Sie geschieht ihnen nur als verlierbare, moralisch konditionierte Gnade.

Willigis Jäger kennt aus der Praxis des Zen eine Erfahrung, die ihn Erlösung völlig anders

sehen lässt. Sie ereignet sich hier im „Erwachen“ zu unserem wahren Wesen, zu unserer

„wahren Identität.“ Sie ist ein Prozess der „Enthüllung und Befreiung“, der die Menschen

über jede Fixierung auf sich selbst, über jede Vereinzelung und alle Dualismen hinaus-

führt – auch über den Dualismus zwischen Gott und Mensch. Zuletzt und im Entschei-

denden erfahren sich die Menschen hier in Gott selbst – in den Prozess, in dem er sich

fortwährend selbst erschafft – einbezogen.87 Wer sich in diesen Prozess einlässt, wird

dann auch über Identitätserfahrungen hinausgeführt, die durch Entgegensetzungen und

Erfahrungen des Gegenüberseins, also durch Individualität und Personalität geprägt sind.

Personalität und Individualität sind für diese Einheitssicht sekundär und überholbar: „Die

vorpersonale Wirklichkeit entfaltet sich auf einem zeitlosen Hintergrund. Das Personale

und Individuelle entsteht, wenn diese erste Wirklichkeit heraustritt und sich in die unzäh-

ligen Formen ergießt.“88 Und es wird überwunden, wo immer die Einigung mit dem gött-

lichen Prozess der Selbsterschaffung wieder gewonnen wird; nicht etwa nur in einem

heilsgeschichtlichen Eschaton, sondern in der Versenkung, in der alle Egozentrik vom

Menschen abfällt:

„Eine transhistorische Erfahrung des Universums erwartet … keine Erfüllung am Ende der Zeiten, son-

dern eine Erfüllung im Hier und Jetzt. Der Sinn des Lebens liegt nicht in dem, was vor uns liegt, und auch

nicht in dem, was hinter uns liegt. Es liegt im zeitlosen Augenblick. Hier und jetzt ist alles eine Epiphanie,

eine Erscheinung des göttlichen Urprinzips. Das Eine und Unteilbare ist das einzig Wirkliche. Alles Per-

sonale ist nur eine Ausdrucksform des Einen. Was wir Gott nennen, offenbart sich als Kommen und Ge-

hen, als Geborenwerden und Sterben.“89

Der Kern dieses Widerspruchs gegen die biblisch-christliche Tradition und ihre philoso-

phisch-theologische Ausarbeitung liegt zweifellos bei der Kritik des Dualismus im Namen

der Erfahrung einer ursprünglichen und religiös wesentlichen Non-Dualität: „Mystik zielt

87 Vgl. ebd., 150: „Was wir Gott nennen, erschafft sich Augenblick für Augenblick neu.“ 88 Ebd. 89 Ebd.

46

immer auf das Nonduale“; ihr Ziel ist „die Erfahrung des Nondualen.“90 Auch der Perso-

nalismus ist für Jäger ein Dualismus. Er hängt an der Ich-Zentrierung und damit am Ge-

genüber der vielen Individuen zueinander. Das Ich ist aber „nichts anderes als ein Kong-

lomerat von psychischen Aktivitäten, das keine Permanenz hat.“ Die Mystik weist ihm

den rechten Platz als ein für den menschlichen Lebensvollzug vorübergehend notwendi-

ges Organisationszentrum zu, das zum Vergehen bestimmt ist. Permanenz liegt allein „in

dem, was die Mystik das wahre Wesen nennt. Vielleicht können wir auch sagen: göttliches

Leben nennt“91. Dieses göttliche Leben ist das Eine, das sich auch im Ich – in den vielen

Möglichkeiten, Person zu sein – manifestiert und „sich in diesen 1000 Möglichkeiten aus-

drückt.“92

Die Korrekturen, die Willigis Jäger im Namen der Mystik und des Zen-Weges am bibli-

schen Theismus vornimmt, sind ebenso radikal wie – in seinem Sinne – konsequent. Jäger

bestreitet, dass die Dimensionen des Personalen und des Geschichtlichen für die mysti-

sche Erfahrung unüberholbar gültig bleiben. Das göttlich Eine manifestiert sich in den

vielfältigen personalen und geschichtlichen Wirklichkeiten. Aber es wäre ein bloßer

Anthropomorphismus, würde man sagen, das Göttliche sei selbst personal und handle

wie eine Person bzw. als Person im Raum der Geschichte, um sich den als Personen wie

als religiös-gesellschaftliche Gruppe angesprochenen Menschen in einer konkreten Ge-

schehenssequenz zu offenbaren. Im Tiefsten ist Gott nicht das Andere zum Menschen.

Der Mensch macht sich nur mit seiner Ich-Zentrierung vielmehr erst zum Anderen Got-

tes. Nimmt er diese zurück, so geht er selbst ein in die „Permanenz“ des All-Einen, das

sich in jedem Menschen manifestiert und so eben nicht mehr als das Andere des Men-

schen betrachtet werden kann.

Die Rückfragen an dieses Konzept problematisieren, ob die Relecture der Bibel im Geist

des Zen und der fernöstlichen Mystik, die Jäger für authentischer hält als die christliche93,

die Substanz des biblischen Gottesglauben wirklich unberührt lässt und zur Geltung

bringt. Sie wenden ein, dass die mystische Abwertung und „Überholung“ des Personal-

Geschichtlichen entscheidende Dimensionen biblischer Gotteserfahrung ausblendet. Er-

90 Willigis Jäger, Das Eine und das Viele, in: Kontemplation und Mystik, Sonderheft 2: Schwerpunkt: Mys-tik und Theologie (2001), 4–7, hier 6. 91 Vgl. ebd. 92 Vgl. ebd., 7. 93 Die christliche Mystik sei – so Jäger – durch die kirchliche Institution gezwungen gewesen, ihre Erfah-rung des Göttlichen zu „redogmatisieren“, und so nicht in der Lage gewesen, ihre Erfahrungen authen-tisch und frei zu versprachlichen; vgl. Das Eine und das Viele, a.a.O., 7.

47

hebliche Probleme wirft Jägers Polemik gegen jeden „Dualismus“ auf, die ja nur die

Kehrseite für das holistische Konzept eines selbstschöpferischen Prozesses ist, in dem

„Gott“ sich je neu hervorbringt. Dieser Prozess begreift – so Jäger – alles in sich ein, ma-

nifestiert sich in allem und ist deshalb jene allumgreifende und alles durchdringende Wirk-

lichkeit, dem sich die Menschen hinzugeben haben. Es liegt nahe, diesen göttlichen

Selbsterschaffungsprozess dann gleichsam für die „Innenseite“ der Evolution zu halten;

mitunter beruft man sich dafür auf die Evolutionsmystik Teilhards de Chardin.94 Diese

„Anschlussfähigkeit“ monistisch-holistischer Konzepte an die Weltsicht der modernen

Natur- und Biowissenschaften hat freilich ihren Preis: Gottes Sich-selbst-Hervorbringen

und der Prozess der Evolution werden der Tendenz nach ein und dasselbe. Und das heißt

eben nicht nur: die Evolution wird vom Göttlichen her verstanden als die alles einbegrei-

fende Dynamik einer unendlich differenzierenden „geistigen“ Synthese – so bei Teilhard

de Chardin. Es heißt bei Willigis Jäger vielmehr weit darüber hinaus: Das Göttliche wird

als die Dynamik der Evolution verstanden, mit ihr geradezu identifiziert, sodass alle Dif-

ferenzierung und Individualisierung als vorübergehendes Oberflächenphänomen er-

scheint, dem keine „Permanenz“ zugesprochen werden darf. Die Dualität von Gott und

Schöpfung, Geist und Natur, die Teilhard de Chardin festgehalten hat, wird zum deus sive

natura Spinozas hin aufgelöst. Dann aber sollte man konsequenterweise – Thomas Ruster

hat das zu Recht eingefordert95 – nicht die romantisierende Weltanschauung mancher

Biowissenschaftler als Interpretament heranziehen, sondern die konkret erforschte Evolu-

tionsdynamik, in der jede Entwicklung aus dem Trieb zur Selbsterhaltung und Selbststei-

gerung hervorgeht und mit dem Opfer der in der Selbsterhaltungskonkurrenz Unterlege-

nen „gedüngt“ wird.

Müsste man nicht zumindest verhindern, dass Gott mit dieser Dynamik des „Fressens

und Gefressenwerdens“ verwechselbar wird. Oder ist das alles auch noch die in mysti-

scher Versenkung zu durchbrechende Außenseite einer Urwirklichkeit der Liebe(?), die

alles an sich ziehen will, in die deshalb alles – alle Individualität und Besonderung – hin-

einsterben soll? Geschieht in diesem Durchbrechen zum Eigentlichen das Heil, über das

hinaus nichts mehr zu erwarten wäre? „Mehr“ müsste und könnte hier ja nicht geschehen,

weil alles andere, was sonst noch geschieht, für diejenigen schlechterdings bedeutungslos 94 Vgl. etwa: Thomas Merton, Im Einklang mit sich und der Welt, 32. Ich will freilich noch einmal beto-nen, dass Thomas Merton nicht die radikal monistischen Konsequenzen zieht, die Willigis Jäger für ange-zeigt hält. 95 Vgl. Thomas Ruster, Was nur Gott erlösen kann, in: CHRIST IN DER GEGENWART Nr. 20/2000, 157f.

48

wird, die in der mystischen Erfahrung zum Eigentlichen durchgebrochen sind – oder vom

Göttlichen aufgebrochen wurden.

Man kann zwar darauf verweisen, dass sich das Göttliche ja in allem Weltlich-

Geschichtlichen, im Geborenwerden und Sterben, im Aufblühen und Vergehen, in der

Vielfalt personaler Wirklichkeiten manifestiere, sodass man diese Wirklichkeiten gar nicht

mehr und höher schätzen könnte als in der mystischen Schau, die sie als Gottesoffenba-

rungen wahrnimmt.96 Hier gerät die mystische Option fast schon in die Nachbarschaft

der „Weltfrömmigkeit“ eines Martin Walser, womöglich gar in die Nähe von Nietzsches

„großer Vernunft“ des Leibes. Aber wenn alles zur Offenbarung des Göttlichen wird,

dann ist das Göttliche auch alles, was der Fall ist. Dann ist es identisch mit dem Zynismus

der Selbstbehauptung, für die alle Opfer gebracht werden müssen. Wenn die Selbstrefe-

renz eines evolutionären Prozesses, die kein Außerhalb mehr zulässt, das Göttliche selbst

kennzeichnet, werden der Nihilismus eines selbstzwecklichen, in sich selbst sich auflösen-

den, entropischen Naturprozesses und die Selbstzwecklichkeit der Liebe, die Gott selbst

ist, ununterscheidbar. Wenn hier also keine Dualität festgehalten werden muss, dann gibt

es auch keinen Unterschied mehr zwischen Vernichtung und Erfüllung. Und so kann die-

se Differenz auch nicht mehr bedeutsam sein für das, was in der Geschichte geschieht.

Alles manifestiert hier Gott; und so muss es, so darf es geschehen. Wer dessen inne ge-

worden ist, weiß sich mit Friedrich Nietzsche zum amor fati befreit, kann liebend anneh-

men, was sowieso geschieht; kann sich ihm aufopfern, sich von den Manifestationen Got-

tes zum Göttlichen selbst und in es hinein führen lassen und darin „liebend“ untergehen.

Es ist bemerkenswert, wie nahe sich das Loblied auf das All-Eine und die pluralistische

Hochschätzung der bunten Vielfalt hier kommen können. Das Eine ist im Vielen, lebt

und entfaltet sich in ihm. Und so ist auch der Dualismus zwischen dem Einen und den

Vielen aufgehoben: „mystisch“ weltfromm. Bleibt noch im Blick, wie wohltuend, ja le-

bensnotwendig Unterscheidungen und Dualitäten sein können? So die vor der Gleichgül-

tigkeit rettende Unterscheidung des Ja vom Nein; die wohltuende Unterscheidung dessen,

was Gottes ist, von dem, was des Menschen ist, die lebensentscheidende Unterscheidung

96 Vgl. Willigis Jäger, Das Eine und das Viele, a.a.O., 7: „Das Ich, der Einzelne und die Form ist daher kein Durchlauferhitzer – sondern das Ich ist eine Manifestation dieser ersten Wirklichkeit. Mehr, höher kann ich es überhaupt nicht einschätzen.“ Aber es ist das Nicht-Permanente, Vorübergehende, im je neu-en Sich-Hervorbringen des Göttlichen Aufgehende und Untergehende. Das saloppe Wort „Durchlaufer-hitzer“ bringt das vielleicht nicht glücklich auf den Begriff. Aber wogegen grenzt sich Jäger hier ab: gegen das unglückliche Wort oder gegen die darin gemeinte Sache: dass das Ich nichts anderes ist als ein Mo-ment der Selbstentfaltung des Göttlichen?

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zwischen Annehmendürfen und Widerstehenmüssen, zwischen Gelten lassen und Verän-

dernmüssen, ohne die es mit dem gesellschaftlichen Handeln der Menschen nicht Ernst

werden kann? Letztlich: die rettende Unterscheidung von Leben und Tod, die Unter-

scheidung zwischen dem, was dem Leben dient und dem, was zum Tod führt? Bedeutet

das Festhalten an solchen Unterscheidungen immer schon Dualismus?

Man mag hier darauf verweisen – Thomas Merton hat es immer wieder getan –, dass ge-

rade der kontemplative, des Göttlichen in allem inne gewordene Mensch aus seiner Ver-

bundenheit mit dem Göttlichen ohne Ressentiment – also wirklich in Liebe – die Welt zu

gestalten vermag.97 Aber das Konzept von Mystik und Kontemplation müsste selbst so

angelegt sein, dass es noch einen Unterschied machen kann, ob ein Mensch in der Welt so

oder anders handelt; dass es darauf ankommt, den Dingen nicht einfach ihren Lauf zu

lassen, sondern sie zu gestalten, sie zum „Besseren“ hin zu gestalten; dass es den Unter-

schied zwischen Menschen-Sünde und einem Handeln in Gottes Geist noch sinnvoll ge-

ben kann. Thomas Mertons Konzept hält diese Möglichkeit offen und macht sie zur Her-

ausforderung für den kontemplativen Menschen. Wer aber so konsequent mit der Pole-

mik gegen Dualismus auch jede Dualität zum bloß Vorübergehenden erklärt wie Willigis

Jäger, der kann konsequenterweise nicht mehr begründen, wo die Unterschiede noch her-

kommen können, die im geschichtlichen Handeln in Geltung gesetzt werden sollten; der

wird die „Moralisierung“ der Religion für deren eigene Erbsünde halten.

Jäger hat schon richtig gesehen: Die biblischen Überlieferungen kennen ein Außerhalb.

Sie kündigen die Einheit von Herrschaft und Heil auf: die Einheit des faktisch Geltenden

und sich Vollziehenden mit dem guten Willen Gottes. Das begründet ihren Monotheis-

mus als „Gegen-Religion“ (Jan Assmann); das macht sie unduldsam gegen Unwahrheit

und Ungerechtigkeit. Das göttliche Außerhalb ist hier das Woher einer radikalen Befrei-

ung. Sie ist nicht identisch mit dem Freigewordensein zur Hingabe an das naturhaft-

gesellschaftlich (modern gesprochen: evolutionär) Geschehende; sie will vielmehr wirklich

werden in der Hingabe an Gott und seinen guten Willen für die Menschen wie in der Ab-

sage an Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Man wird deshalb „zwischen falschen und

97 Wer aber „versucht, sich für andere oder für die Welt einzusetzen und in ihrem Sinne zu handeln, ohne sein eigenes Selbstverständnis, seine Freiheit, Ganzheit und Liebesfähigkeit zu vertiefen, wird nichts ha-ben, was er anderen geben könnte. Er wird sie nur mit seinen fixen Ideen anstecken. Er wird seine Ag-gressivität, seine ichbezogenen ehrgeizigen Wünsche, seine Selbsttäuschungen über Mittel und Ziele, seine Vorurteile aufgrund von Prinzipienreiterei und eigenmächtigen Vorstellungen auf sie übertragen“; Thomas Merton, Im Einklang mit sich und der Welt, 38.

50

richtigen Dualitäten unterscheiden müssen, eine Identifikation Gottes mit dem Bestehen-

den ist dem biblischen Menschen jedoch verwehrt, solange sie an der Hoffnung auf Erlö-

sung festhalten.“98

Zu den Dualismen, die Willigis Jäger in der Mystik (des Ostens) überwunden sieht, ge-

hört – wie gesagt – auch das personale Denken: „Gott“ ist nur für den der ganz Andere,

der sich selbst als der Andere zu Gott versteht. Er ist nur für den eine personale Wirk-

lichkeit, der sich selbst in seinem „Wesen“ als ichzentriertes personales Individuum ver-

steht. Gottes Personalität ist deshalb nichts anderes als ein irreführender, auf menschlich-

allzumenschliche Vorstellungen fixierender Anthropomorphismus. Gotthard Fuchs hat zu

Recht gefragt, ob solche „nichts als“-Formulierungen nicht selbst ausschließend sind und

deshalb dualistisch bleiben: sich gegen etwas definieren, das sie selbst nicht mehr positiv

aufnehmen können.99 Und er gibt zu bedenken, dass in der Wirkungsgeschichte der Bibel

im Judentum wie im Christentum offenkundig beide Denk- und Vorstellungsformen ge-

braucht wurden: die interpersonale, welche die Beziehung als Urwirklichkeit – auch zwischen

Gott und den Menschen – zur Geltung bringt, wie die impersonale, für die Gott sich in sei-

ner Weise „Person“ zu sein unendlich von der Weise unterscheidet, in der Menschen sich

als Person erfahren. Gottes personale Beziehungswirklichkeit ist jedenfalls nicht letztlich

und ausschließlich durch ein Gegenübersein definiert, das man mit der Raummetapher

des Einander-außerhalb-Bleibens treffend beschreiben würde. Aber von ihr gilt doch bei-

des zugleich – in der biblischen „Lust am Unterschied“: In-Eins und Gegen-Über. 100

Gott ist den Menschen innerlicher, als sie sich selbst innerlich sein könnten. Und er ist ihr

Woher und ihre Zukunft wie auch derjenige, der ihnen geschichtlich begegnen kann. Er

ist – nach den biblischen Überlieferungen – Beziehungswirklichkeit, deren Beziehungs-

macht sich in den Dimension des Inseins wie in der Begegnung zur Geltung bringt. Die

christliche Trinitätslehre ist – zumindest auch – der Versuch, diesem Geheimnis der Be-

ziehungsmächtigkeit Gottes auf der Spur zu bleiben: Gott als der Menschen Herkunft

und Zukunft, als der ihnen geschichtlich Widerfahrende und sie zuinnerst Ergreifende; als

der Vater, als das ewige und die Menschen je neu ansprechende, herausfordernde Got-

teswort, das in Jesus von Nazaret eine menschliche Beziehungswirklichkeit wurde; als der

98 Thomas Ruster, Was nur Gott erlösen kann, a.a.O., 158. 99 Gotthard Fuchs, Im Ursprung ist Beziehung. Zur Unterscheidung des Christlichen im interreligiösen Gespräch, in: Kontemplation und Mystik, Sonderheft 2: Schwerpunkt: Mystik und Theologie (2001), 8–14, hier 9. 100 Vgl. ebd., 12.

51

Heilige Geist, aus dem die Menschen leben und durch den sie selbst an Gottes Bezie-

hungsmächtigkeit Anteil gewinnen dürfen.

Die altkirchliche Trinitätslehre kann also – zumindest in ihren theologischen Entfaltun-

gen – auch als der Versuch gelesen werden, personale und überpersonale Dimensionen

der biblischen Gotteserfahrungen „ineinander“ zu lesen101, Immanenz wie Transzendenz

Gottes gleichermaßen auszusagen und so zur Geltung zu bringen, dass Transzendenz und

Immanenz sich nicht nur nicht widersprechen, sondern geradezu theo-logisch bedingen.

Karl Rahner hat diese Problemkonstellation – freilich nicht explizit trinitätstheologisch,

sondern eher freiheits- und gnadentheologisch – präzis beschrieben. Die Selbstmitteilung

Gottes, in der dieser „gerade als der absolut Transzendente sich mitteilt, ist das Immanen-

teste an der Kreatur. Das Übereignetsein ihres Wesens an sie selbst, die ‚Wesensimma-

nenz’ in diesem Sinne, ist die Voraussetzung und Folge zugleich der noch radikaleren

Immanenz der Transzendenz Gottes im geistigen Geschöpf“. Das bedeutet aber, dass

„Vorstellungsmodelle, die auf den Unterschied ‚innen – außen’ gebaut sind“, hier versa-

gen müssen: „Die Verwiesenheit auf die Selbstmitteilung des radikal verschiedenen Got-

tes ist das Innerste, und eben dieses ist die Möglichkeit der Immanenz des Äußersten.“102

Auf eine Implikation dieser Überlegungen sei eigens hingewiesen, weil sie im gegenwärti-

gen Mystik-Diskurs eine wichtige Rolle spielt: Die radikale Immanenz des schlechthin

transzendenten Gottes ist – nach Rahner – eine Freiheit ermöglichende und hervorrufen-

de Immanenz im menschlichen Freiheitssubjekt. Gottes Immanenz ist also dem einzel-

nen, sich in Freiheit selbst zu einem besonderen Dasein bestimmenden Menschen imma-

nent, weshalb dieses je besondere menschliche Dasein eben keine vorübergehende Wirklich-

keit ist, die um ihrer Gottesimmanenz willen ihre Besonderheit aufzugeben hätte. Gottes

Immanenz im besonderen menschlichen Dasein macht dieses zum bleibenden „Gegen-

101 Das hat freilich nichts zu tun mit dem Versuch der „Pluralistischen Theologie der Religionen“, die personae und die impersonae des Göttlichen als zwei unterschiedliche „Gedankenmodelle“ auszulegen, in denen die Religionen die Beziehung zu einem in sich selbst unzugänglichen und deshalb auch nicht als Person oder als Überperson zu begreifenden Göttlich-Wirklichen ausdrücken (vgl. J. Hick, Religion. Die menschlichen Antworten auf die Frage nach Leben und Tod, dt. München 1996, 269ff.). In der Trinitäts-lehre geht es gerade darum, personale und überpersonale Redeweisen gedanklich miteinander zu vermit-teln und sie nicht als zwei gleich gültige „Modelle“ nebeneinander stehen lassen zu müssen. Dass Hick mit der kirchlichen Trinitätslehre nichts anfangen kann (vgl. sein Buch: Gott und seine vielen Namen, dt. Frankfurt a. M. 2001, 149–166), zeigt noch einmal, dass er von der theo-logischen Aufgabe, die in der Trinitätslehre bearbeitet wird, keinen Begriff hat. 102 Karl Rahner, Immanente und transzendente Vollendung der Welt, in: ders., Schriften zur Theologie, Bd. 8, Einsiedeln – Zürich – Köln 1967, 593–609, hier 601. Den Hinweis auf diesen Text und viele weite-re Hinweise auf die Monismusdiskussion verdanke ich Klaus Müller.

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über“ des göttlichen Beziehungswillens, das seine endzeitliche Erlösung darin finden darf,

von diesem Beziehungswillen ganz und gar ergriffen und in die Lebensgemeinschaft des

Reiches Gottes aufgenommen zu sein. Die radikale Immanenz des transzendenten Gottes

im anderen Menschen aber lässt diesen – zumal den leidenden und um seine Menschen-

würde gebrachten (vgl. Mt 25,31ff.) – für mich zu Gottes Herausforderung werden, seiner

radikalen Transzendenz in der Zuwendung zum leidenden Nächsten auf der Spur zu blei-

ben. Emmanuel Lévinas’ Philosophie103 hat das ebenso zur Geltung gebracht wie die neue

Politische Theologie. Die „Mystik mit offenen Augen“ (Johann Baptist Metz) kommt

nicht über den Skandal der mit Füßen getretenen Personwürde hinweg – und über die

geschichtlichen Katastrophen, in denen Menschen zu Millionen dazu verurteilt waren, für

den Sieg des „überlegenen Menschentums“ oder den Fortschritt der „Menschheit“ geop-

fert zu werden. So wehrt sie sich auch gegen alle Versuche, das individuelle Ich der Men-

schen, ihre Einmaligkeit und Besonderheit, nicht ganz so wichtig zu nehmen. Und sie

hofft weiterhin auf den Gott, der die Individuen unendlich wichtig nimmt, ihnen so radi-

kal immanent sein will, dass es an ihrer Not und an ihrem Untergang vorbei auf ewige Zei-

ten keine in sich vollkommene und „befriedigte“ göttliche Wirklichkeit geben kann. So

hofft sie auf den Gott, der von außerhalb des geschichtlichen Fortgangs von Unheil und

Menschenverachtung erlösend an den Opfern der Geschichte und des Todes handelt und

sie würdigt, zur Gutheit und Schönheit der Gottesgeschöpfe aufzuerstehen. Menschliche

Selbsttranszendenz ist in der Konsequenz dieser soteriologisch-eschatologischen Intuition

eben nicht nur die Selbsttranszendenz über die Ichzentrierung hinaus ins „Innen“ des

eigentlichen, ichlosen Selbst. Sie ist auch Selbsttranszendenz zum Anderen und zum

Ganz-Anderen hin, in dem und durch den alles geschichtliche Unheil überwunden wird,

ohne dass es als bloßes Oberflächenphänomen bedeutungslos würde.

Das Gespräch mit Willigis Jäger und anderen Positionen, die den christlichen Dualismus

und Personalismus überwinden wollen, wird sich vermutlich auf die Frage nach dem Ver-

hältnis von Immanenz und Transzendenz, von Abwesenheit und Anwesenheit Gottes

zuspitzen und dieses Verhältnis weiter zu klären haben.104 Dabei wird speziell – wie auch

103 Vgl. von ihm etwa: Die Spur des Anderen, dt. Freiburg – München 31992. 104 Thomas Merton zeigt sich als Mensch der Kontemplation an solcher Klärung eher desinteressiert: „Die ‚Abwesenheit’ Gottes ist paradoxerweise auch seine Anwesenheit, sofern er nicht nur transzendent, son-dern auch immanent ist. Wir betreten hier offensichtlich einen Bereich scheinbarer Widersprüche, die sich der klaren Erläuterung entziehen, so dass es der Kontemplative vorzieht, darüber überhaupt nicht zu sprechen“ (Im Einklang mit sich selbst, 48). Es gibt keinen Grund, diese kontemplative Option zu kritisie-

53

bei Karl Rahner schon angesprochen – die Tauglichkeit der Raum-Metaphorik zur Ausle-

gung dieses Verhältnisses zu überprüfen sein. Gegen diese Metaphorik wendet man sich

ja vielfach, wenn man ein „Außerhalb“ Gottes und die Vorstellung seines Eingreifens als

theistischen Anthropomorphismus kritisiert. Aber ist die Raum-Metaphorik des „Innen“

und „Ineinander“ wirklich tauglicher? Und auch wenn man die Metapher des Eingrei-

fens – selbst mechanistisch denkend – für mechanistisch hält und in der Vorstellung des

Deus ex machina verankert sieht, kann man nicht wenigstens dies erahnen: dass „Wahrheit

von Draußen kommt“, dass deshalb auch „der Sinn des Lebens immer bloß von etwas

außer ihm kommen kann“ und dass ein „Leben, das seinen Sinn aus sich selbst nimmt, …

sinnlos“ wird?105 Ist von diesem Außerhalb religiös und theologisch nicht wenigstens so

zu sprechen, dass es jede Immanenz relativiert, auch noch die letzte von der Erfahrung

und dem Denken erreichbare? – Weshalb man mit Erhart Kästner sagen dürfte und sagen

müsste: „Eine Wahrheit kann man nur auffangen wie eine Sendung von fernher.“106

Wie tief reichend die räumliche Metaphorik das Denken der Transzendenz wie der Im-

manenz Gottes bestimmt – und möglicherweise aporetisch macht –, wie wenig sie aber

auch begrifflich übersprungen werden kann, das zeichnet sich beim gegenwärtigen Stand

der Überlegungen gerade erst ab. Ich will deshalb zu einer Vertiefung der Monismus-

Dualismus-Problematik kommen, indem ich nun einige Diskussionsfäden aufgreife, die

seit dem Pantheismusstreit im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die philosophischen

Debatten zu Monismus und Pantheismus markant durchziehen.

3.10 Gott: ein und alles – das schwierige Erbe Spinozas

Der eben skizzierte Mystik-Diskurs liest sich weithin wie ein Nachklang der Debatte, die

gegen Ende des 18. Jahrhunderts um den „Pantheismus“ Spinozas und Lessings und damit

generell über mehr oder weniger verschwiegene Voraussetzungen der Aufklärung geführt

worden ist. Ein kurzer Blick auf diese Debatte empfiehlt sich schon deshalb, weil auch

ren. Aber es gibt gute Gründe dafür, theologisch an einer möglichst klaren Erläuterung der scheinbaren Widersprüche und Paradoxien zu arbeiten, weil sie – wenn der Schein des Widersprüchlichen bestehen bleibt – die falschen Alternativen generieren, von denen die gegenwärtige Mystik-Debatte vielfach be-stimmt ist. 105 Erhart Kästner, Aufstand der Dinge, 8 bzw. 143f. 106 Ebd., 9.

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heute noch leitende Kategorien und Alternativen sowie das philosophisch-begriffliche

Umfeld hier explizit reflektiert wurden, so dass die damals erreichten Strukturierungen des

Problemfeldes bis in gegenwärtige Positionierungen hinein fortwirken.107 An Spinoza

konnte sich der Streit deshalb entzünden, weil sein „Pantheismus“ mit einem philoso-

phisch grundsätzlichen Anspruch auftrat: Es gibt für ihn kein Außerhalb der Vernunft.

Die Vernunft – das Denken – begreift alles ein und sieht alles in einem nach Vernunftge-

setzen geordneten Zusammenhang. So kann auch Gott nicht außerhalb der Vernunft und

des von ihr Geordneten stehen. Er ist vielmehr die Vernunft selbst und das von ihr Ge-

ordnete; nichts „daneben“, nichts darüber hinaus; nichts, was dem „Ein und Alles“ der

Vernunft über- oder nebengeordnet wäre. Jedes „Ding“ ist also nur „in Gott“ vollkom-

men erkannt. Und so „schließt sicherlich jedes Ding in der Natur den Begriff Gottes in

sich und drückt ihn je nach seinem Wesen und seiner Vollkommenheit aus.“ Aber es gilt

auch umgekehrt: „Je mehr wir … die natürlichen Dinge erkennen, desto größer und voll-

kommener wird auch unsere Erkenntnis Gottes“. Die ganze Erkenntnis hängt nicht nur

von der Erkenntnis Gottes ab, „sondern besteht vielmehr ganz und gar in ihr.“108 Damit

ist eine Identifikation vollzogen, die dann auch alles Sprechen von einem geschichtlichen

Handeln Gottes obsolet macht. Es erscheint als ein nicht-vernünftiges, über das Wirken

Gottes in den ewig-gesetzlich geordneten Prozessen der Natur hinaus gehendes, diese

Prozesse unterbrechendes Eingreifen von außen. Und es müsste deshalb unbegreiflich blei-

ben. Es müsste Gott selbst unbegreiflich machen, der allein in den ewigen Vernunftgeset-

zen sich als begreiflich erweist. Gegen die Vorstellung eines solchen Eingreifens und eines

in diesem Sinne geschichtlich handelnden Gottes richtet sich die hauptsächliche Kritik-

Intention des Theologisch-politischen Traktats: Gott und seine ewigen Ratschlüsse werden in

den von Naturgesetzen ewig geordneten „natürlichen Dingen“ erkannt – nicht in den als

unerklärlich behaupteten Ereignissen, von denen man ohne ausweisbaren Begriff behaup-

tet, sie zeigten Gott in seiner Macht und Güte, da sie ihn als den Über-Natürlichen zeig-

ten:

107 Das wird etwa an den Überlegungen deutlich werden, die Peter Strasser in seinem Buch: Der Gott aller Menschen. Eine philosophische Grenzüberschreitung, Graz – Wien – Köln 2002 angestellt hat. 108 Baruch de Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, in: Opera – Werke. Lateinisch und deutsch, Bd. 1, hg. von G. Gawlick und F. Niewöhner, Darmstadt 1979, 138f. Vgl. Ethik, 1. Teil, 15. Lehrsatz, in: Opera – Werke, Bd. 2, hg. von K. Blumenstock, Darmstadt 1967, 107: „Alles, was ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gott seyn oder begriffen werden.“

55

„Darum können im Hinblick auf unseren Verstand mit viel mehr Recht diejenigen Werke, die wir klar und

deutlich erkennen, Gottes Werke heißen und auf den Willen Gottes zurückgeführt werden als diejenigen,

von denen wir gar nichts wissen, wenn sie auch das Vorstellungsvermögen sehr in Anspruch nehmen und

die Menschen zur Bewunderung hinreißen.“109

Diese Stoßrichtung des spinozistischen „Vernunft-Pantheismus“ und der hier behaupte-

ten Vernunftimmanenz des Göttlichen, muss man sich deutlich machen. Man kann dann

nachvollziehen, wie Spinozas Konzept ein Jahrhundert nach Erscheinen seines Traktats

als die einzig vernünftige Alternative des Gottesglaubens zum überlieferten Volksglauben

angesehen werden konnte. Dieser Volksglaube fixierte sich auf den außer-vernünftigen

Gott, auf Mirakel und sonstige „Geschichten“ und wollte Gott damit im „Asyl der Un-

wissenden“110 ansiedeln. Die Zeit dieses supranaturalistisch fixierten Volksglaubens ist für

die Aufklärung abgelaufen. Georg Christoph Lichtenberg hat in seine Sudelbücher notiert:

„Wenn die Welt noch eine unzählbare Zahl von Jahren steht, so wird die Universalreligi-

on geläuterter Spinozismus sein. Sich selbst überlassene Vernunft führt auf nichts anderes

hinaus, und es ist unmöglich, daß sie auf etwas anderes hinausführe.“111 Zur gleichen

Zeit – um die Mitte der 1780er Jahre – publizierte Friedrich Heinrich Jacobi seine Gespräche

mit Lessing, in denen er diesen als Spinozisten überführen wollte. Er zitiert eine in ihrer

Authentizität freilich zu Recht angezweifelte Gesprächssequenz, in der Lessing gesagt

haben soll:

„Die orthodoxen Begriffe von der Gottheit sind nicht mehr für mich; ich kann sie nicht genießen. Εν και

παν! Ich weiß es nicht anders. Ich (Jacobi; J. W.). Dann wären sie ja mit Spinoza ziemlich einverstanden.

Lessing. Wenn ich mich nach jemand nennen soll, so weiß ich keinen andern. Ich. Spinoza ist mir gut

genug: aber doch ein schlechtes Heil das wir in seinem Namen finden! Lessing. Ja! Wenn Sie wollen! ...

109 Ebd., 200f. 110 Vgl. Baruch de Spinoza, Ethik, 1. Teil, Anhang, in: Opera – Werke, Bd. 2, hg. von K. Blumenstock, Darmstadt 1967, 152f. Spinoza spricht vom „ignorantiae asylum“ im Blick auf Begründungsstrategien, die wissenschaftlich – nach allgemeingültigen Gesetzen – zu klärende Vorkommnisse auf eine spezifische Willensäußerung Gottes zurückführen wollen. In dem zu Unrecht Spinoza zugeschriebenen „Traktat über die drei Betrüger“ (zweisprachige Ausgabe französisch – deutsch hg. von W. Schröder, Hamburg 1992, begegnet der Ausdruck in der Fassung „L’asile des ignorans“ (28f., Kapitel 2, § 6): „Gottes Wille – das Asyl der Unwissenden“. 111 Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, in: Schriften und Briefe, Bd. 2, München – Wien 1971, 197.

56

Und doch ... Wissen Sie etwas besseres?...“ Und wenig später zitiert Jacobi Lessings Äußerung: „Es gibt

keine andre Philosophie, als die Philosophie des Spinoza.“112

Entscheidend für die Hochschätzung Spinozas scheint jenes Einheitsdenken gewesen zu

sein, das nichts, eben auch Gott nicht, außerhalb lassen muss und deshalb den höchstmög-

lichen Anspruch des Denkens formuliert – in eigentümlichem Kontrast zu einer eher ne-

gativ-theologisch sich verstehenden mystischen Option, die das „Ein und Alles“ Gottes

als das Unbegreifliche wahrnimmt. Die weiteren Überlegungen müssen noch zeigen, ob

und inwieweit dieser Kontrast tatsächlich besteht. Spinozismus als Inbegriff der Aufklä-

rung heißt aber vor allem Immanenzdenken, um den missverständlichen Begriff des Pan-

theismus zu vermeiden. Das ist es auch, was Lessing an Spinoza fasziniert: Gott ist als

Ursache allem Seienden bleibend immanent113, keine „persönliche extramundane Gott-

heit“, die das Seiende ex nihilo geschaffen hat.114 Die starke These von der absoluten Ver-

nunftimmanenz bedeutet tatsächlich die Abkehr von jedem Dualismus. Sie bedeutet, dass

nicht nur Materie und Geist, sondern konsequenterweise auch Gott und Natur in einer –

bei Spinoza allerdings durchaus differenzierten115 – Einheit gesehen werden müssen. So

kommt es zu den missverständlichen und missverstandenen Spitzenformulierungen des

deus sive natura sive substantia.116 Damit ist aber entschieden – und Jacobi konzentriert sich

mit seiner Kritik auf diesen Punkt –, dass kein Sich-in-Beziehung-Setzen Gottes zu einem

112 Friedrich Heinrich Jacobi, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, bearbeitet von M. Lauschke, Darmstadt 2000, 22f. Die Formel „Ein und Alles“, die hier für Spinozismus steht, ist bei Spinoza so nicht nachweisbar. Dennoch bestimmt sie die Diskussionen des Pantheismus-streits nachhaltig. Jan Assmann hat sie mit der neuen Rezeption des auf Hermes Trismegistos zurückge-führten Corpus Hermeticum und speziell mit Ralph Cudworth (1617–1688) in Verbindung gebracht. „Vieles spricht“ – so Assmann – „dafür, dass man im 18. Jahrhundert Cudworth folgte, der die All-Einheits-Lehre des Hen kai pan als die Quintessenz der ägyptische Geheimtheologie – und zugleich der allen Religionen gemeinsam zugrunde liegenden natürlichen Theologie – dargestellt hat hatte“ (Moses der Ägypter, 207; vgl. 119ff.). Diese altägyptische, „hermetische“ Geheimtheologie verstand sich – so mit Cudworth etwa auch William Warburton (1698–1799) – als eine elitäre Priester- und Philosophenreligion, die das verborge-ne Innere dessen schaut und denkt, was der kosmotheistische Polytheismus des Volkes „von außen“ wahrnimmt (vgl. Jan Assmann, Moses der Ägypter, 145). Das polytheistische Pantheon ist die für das Volk erträgliche, exoterische Sichtweise, das Hen kai pan ist die „gefährliche“ Sicht der Wenigen; gefährlich deshalb, weil sie in den Materialismus und Naturalismus umschlagen kann. Jacobi bezieht sich mit seiner Kritik des Hen kai pan ja unmittelbar auf diese Gefahr. 113 Vgl. Baruch de Spinoza, Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Glück, dt. Ausgabe hg. von W. Bartuschat, Hamburg 1991, 39: „Er (Gott; J. W.) ist eine immanente und keine übergehende Ursache, da er alles in sich selbst und nichts außerhalb seiner bewirkt, weil außerhalb seiner überhaupt nichts existiert.“ 114 Vgl. ebd., 25–29. 115 In der Differenzierung zwischen natura naturans und natura naturata. 116 Bei Spinoza kann man sich vor allem auf die folgende Fundstelle berufen: Ethik, 4. Teil, Vorrede, in: Opera – Werke, Bd. 2, 382f. („... jenes ewige und unendliche Seyende, welches wir Gott oder Natur nen-nen, handelt nach der selben Nothwendigkeit, nach welcher es da ist“).

57

Außergöttlichen mehr gedacht werden kann, welches nach der Analogie menschlichen

Handelns und seiner Orientierung an Zielursachen zu begreifen wäre. Gottes Handeln ist

ganz von der „Nothwendigkeit der göttlichen Natur“ bestimmt. Es manifestiert die göttli-

che Natur mit Notwendigkeit – und ist gerade darin ein „Handeln“, in dem „Gott allein

freie Ursache ist“: „Gott handelt blos nach den Gesetzen seiner Natur und von Niemand

gezwungen.“117

Eine Freiheit, die so konsequent als Notwendigkeit der göttlichen Selbstsetzung und

Selbstmanifestation gedacht wird, scheint keinerlei personale Konnotationen mehr zuzu-

lassen und damit auch kein Beziehungshandeln, das sich auf die unableitbare Freiheitsent-

scheidung eines Anderen einlassen können müsste – und somit auch keine Geschichte

und keine geschichtliche Offenbarung. Der Monismus der Vernunft, der kein Äußeres

der Vernunft mehr kennt, gebiert hier einen Gott-Natur-Monismus, der ganz von Ver-

nunft bestimmt ist – von den ewigen Notwendigkeiten der Vernunft, die identisch sind

mit den ewigen Gesetzen der göttlichen Natur. Jacobi folgert im Blick auf Spinoza und

die Spinozisten seiner Zeit:

„Alles mußte erfunden werden als nur Eines, und aus diesem Einen nun alles begriffen, alles verstanden

werden können.

Es ist demnach das Interesse der Wissenschaft, daß kein Gott sey, kein übernatürliches, außerweltliches,

supramundanes Wesen. Nur unter dieser Bedingung, nämlich, daß allein Natur, diese also selbständig und

alles in allem sey – kann die Wissenschaft, ihr Ziel der Vollkommenheit zu erreichen, kann sie ihrem Ge-

genstande gleich und selbst alles in allem zu werden sich schmeicheln.“118

Jacobi macht gegen dieses Interesse einer „Wissenschaft“, wie Spinoza sie konzipierte, das

Interesse des Glaubens am persönlichen Gott geltend – und zugleich das Interesse an der

Freiheit des Menschen wie der Freiheit Gottes, die nicht auf das Allgemeingültige und in

sich Notwendige festgelegt sind. Der Glaube hält daran fest, „daß ein Gott im Himmel,

das heißt selbständig außer der Natur und über ihr vorhanden ist, ihr freyer Urheber, ihr

allweiser und allgütiger Beherrscher; ein Vater aller Wesen, mit Vater-Sinn und Vater-

Herz“119, ein lebendiger Gott, nicht eingesperrt in die Zwangsläufigkeit des Naturprozes-

117 Vgl. Ethik, 1. Teil, 16. und 17. Lehrsatz, Opera – Werke, Bd. 2, 114f. 118 Friedrich Heinrich Jacobi, Von den Göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung, abgedruckt in: W. Jaeschke (Hg.), Der Streit um die göttlichen Dinge (1799–1812), Hamburg 1999, Textband, 157–241, hier 216. 119 Ebd., 161.

58

ses, in das Fatum. Wer Gott indes mit solcher Notwendigkeit identifiziert, macht ihn un-

unterscheidbar von dem, was faktisch ist und mit Notwendigkeit geschieht. Das „Fatum“

aber „vertilgt nothwendig den Gott; der Gott nur das Fatum. Also beharre ich auf dem

Urteil, daß Spinozismus Atheismus sey.“120

Gott oder Fatum, das ist für Jacobi die Alternative zwischen dem Theismus eines perso-

nalen Gottes und dem „Atheismus“ einer radikalen Gottesimmanenz in dem, was als

„Natur“ ist und notwendig – nach den vernünftigen Gesetzen der Natur – so ist, wie es

ist. Man kann wohl nicht sagen, dass Jacobi damit Spinozas Intention tatsächlich getrof-

fen hat. Aber man wird hier mit Verblüffung eine Konsequenz aus dem radikalen Imma-

nenzdenken skizziert sehen, die dann bei Friedrich Nietzsche entschieden gezogen wurde:

die Konsequenz einer radikalen Naturalisierung des Göttlichen wie des Menschlichen, die

den amor fati als höchste Konsequenz eines vorbehaltlosen Immanenzdenkens predigt.

Jacobi markiert gegen den Spinozismus seiner Zeit das Außerhalb eines personalen, in der

Geschichte handelnden Gottes. Aber er stellt diesen theistischen Personalismus relativ

unvermittelt – als Position des Glaubens – gegen die Immanenzthese der als Spinozisten

unter Verdacht Gestellten, gegen ihre an allgemeinen Gesetzten orientierte, „atheistische“

wissenschaftliche Vernunft. Damit bleibt seine Positionsbestimmung unterkomplex.121 Sie

unterschätzt die Leistungsfähigkeit und das Differenzierungsvermögen – auch die Frei-

heits-Kompatibilität – monistisch inspirierter Konzepte, die in der ersten Hälfte des 19.

Jahrhunderts in verschiedenen Entwürfen eindrucksvoll unter Beweis gestellt wurde. Aber

einige Problemaspekte sind von Jacobi immerhin so deutlich markiert worden, dass man

daran anknüpfen kann, um die theologische Problematik monistischer Positionen aufzu-

zeigen.

3.11 Gottes Immanenz-Transzendenz

120 Friedrich Heinrich Jacobi, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, 121. 121 Vgl. die Beiträge von Ingo Kauttlis (von „Aporien der Überzeugung“ und Aporien des modernen Theismus) und von Wilhelm G. Jacobi (Von der Offenbarung göttlicher Dinge oder von dem Interesse der Vernunft an der Faktizität), in: W. Jaeschke (Hg.), Der Streit um die göttlichen Dinge, 1–34 bzw. 142–154.

59

Jacobi stellt dem Monismus, der das Göttliche nur als „Ein und Alles“ verstehen kann,

eine theistische Glaubensposition gegenüber, die bis an die Grenze des Dualismus geht.

Für Willigis Jäger etwa wäre sie sicherlich Musterbeispiel jenes traditionell-christlichen

Dualismus, den er überwinden will. Gott und der Prozess der Natur – zu Beginn des 19.

Jahrhunderts denkt man den Naturprozess weitgehend mechanistisch-deterministisch,

heute eher evolutionär – können nach Jacobi nicht identisch sein, denn, so seine zusam-

menfassenden Formulierungen:

„Die Natur verbirgt Gott, weil sie überall nur Schicksal, eine ununterbrechbare Kette von lauter wirken-

den Ursachen ohne Anfang und Ende offenbaret ... Ein unabhängiges Wirken, ein freyes ursprüngliches

Beginnen, ist das in ihr und aus ihr durchaus Unmögliche. Willenlos wirket sie und rathschlaget nicht,

weder mit dem Guten noch mit dem Schönen; auch schaffet sie nicht, sondern verwandelt absichtslos und

bewußtlos aus ihrem finstern Abgrunde ewig nur sich selbst, fördernd mit derselben rastlosen Emsigkeit

das Untergehen wie das Aufgehen, den Tod wie das Leben – nie erzeugend was allein aus Gott ist und

Freyheit voraussetzt: die Tugend, das Unsterbliche.“122

Für Jacobi ist die Natur im Blick des Wissenschaftlers deshalb keine Offenbarungswirk-

lichkeit, weil sie hier nicht als Ausdruck einer Intention, eines (guten) Willens, wahrge-

nommen werden kann. Sie verbirgt sich dem wissenschaftlichen Geist selbst als Geschenk

und damit als Wirklichkeit der Freiheit, die sie von Gott her ist.123 Sie erscheint als selbst-

referenter Entwicklungsprozess, der nichts bezeugt außer der Gesetzmäßigkeit seines Vo-

ranschreitens und – schließlich – seiner Selbstaufhebung. Nur der Mensch kann nach Ja-

cobi Gott offenbaren, da er nach Intentionen handelt und sich so durch sein gestaltendes,

persönliches Wollen über das bloße Geschehen „erhebt“:

122 Friedrich Heinrich Jacobi, Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung, a.a.O., 230. 123 Schelling hat gegen Jacobi geltend gemacht, dass nicht erst der Glaube, sondern bereits die philosophi-sche Reflexion die Natur als Freiheitswirklichkeit begreifen könne, ja begreifen müsse. Auch für den Phi-losophen liege – so Schelling – der Grund der Schöpfung als Schöpfung nicht in einer mit blinder Not-wendigkeit wirkenden Ursache, sondern in der Freiheit und Liebe Gottes: „Die Schöpfung ist keine Bege-benheit, sondern eine That. Es gibt keine Erfolge aus allgemeinen Gesetzen, sondern Gott, d.h. die Per-son Gottes, ist das allgemeine Gesetz, und alles, was geschieht, geschieht vermöge der Persönlichkeit Got-tes; nicht nach einer abstrakten Nothwendigkeit, die wir im Handeln nicht ertragen würden, geschweige Gott“ (Philosophische Unterscheidungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zu-sammenhängenden Gegenstände, in: Ausgewählte Werke. Schriften von 1806–1813, Darmstadt 1976, 275–360, hier 340). Vgl. zum Kontext: Wilhelm G. Jacobs, Von der Offenbarung göttlicher Dinge oder dem Interesse der Vernunft an der Faktizität, in: W. Jaeschke (Hg.), Der Streit um die göttlichen Dinge, 142–154.

60

„Der Mensch offenbaret Gott, indem er mit dem Geiste sich über die Natur erhebt, und, kraft dieses

Geistes, sich ihr als eine von ihr unabhängige, ihr unüberwindliche Macht, entgegenstellt, sie bekämpft,

überwältigt, beherrscht.

Wie der Mensch an diese ihm inwohnende, der Natur überlegene Macht lebendig glaubt; so glaubt er an

Gott; er fühlet, er erfährt ihn. Wie er an diese Macht in ihm nicht glaubet; so glaubet er auch nicht an

Gott; er siehet und erfähret überall blos Natur, Notwendigkeit, Schicksal.

Wenn die Natur allein ist; dann ist sie das Allmächtige, und ein heiliger Wille ist überall nicht.“124

Dieses Zitat macht deutlich, wie nahe Jacobi einem dualistischen Denken kommt, einem

Dualismus von Natur und Geist, Naturnotwendigkeit und Freiheit. Er unterschätzt das

Problem, das schon Kant umtrieb und – um der Wirklichkeit der Freiheit willen – zu vor-

sichtig monistischen Konsequenzen führte125: die Frage, wie die Realisierung von Intenti-

onen in einer Welt-Wirklichkeit gedacht werden kann, die als bloßer (vollständig determi-

nierter) Naturzusammenhang begriffen wird. Jacobi erspart sich die denkerische Vermitt-

lung von Natur und Freiheit, die zum Kernproblem des 19. Jahrhunderts werden sollte,

indem er sich mit einem Dualismus von Wissenschaft (der Notwendigkeiten) und nur im

Glauben zu erfassender Willens-Freiheit zufrieden gibt. Dieser Dualismus äußert sich in

einer für heutige Leser schwer erträglichen Kampf- und Herrschaftsmetaphorik: der

Mensch bekämpft und überwältigt, er beherrscht die Natur, wenn er sich als Freiheitssub-

jekt in ihr behauptet. Solche Metaphern rufen wie selbstverständlich den Widerspruch

hervor, der Natur-Freiheit-Dualismus sei latent oder offenkundig gewaltförmig und des-

halb durch eher „friedensfähige“ monistische (bzw. polytheistische) Konzepte zu erset-

zen. Aber die Skepsis gegen dualistische Zuspitzungen erfordert nicht die Ablehnung aller

Dualitäten; sie ist durchaus vereinbar mit einer Skepsis auch gegenüber forciert monisti-

schen Optionen.

Mit Jacobi wäre dann auf die Dualität von Prozess und Intention hinzuweisen; speziell auf

die Dualität zwischen dem seine Intentionen realisierendem (göttlichem oder menschli-

chem) Willen und dem, worin sich dieser Wille ausdrücken oder realisieren will. Die bibli-

schen Gotteszeugnisse setzen voraus – und sprechen aus –, dass Schöpfung und Schöpfer

nicht identisch sind, dass der Schöpfer in seiner Schöpfung seinen guten Willen verwirk-

licht und sich ihr „personal“ zuwendet, um Menschen für die Realisierung seiner Intenti-

124 Friedrich Heinrich Jacobi, Von den Göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung, a.a.O., 230. 125 Darauf hat Klaus Müller mit vielen Belegen hingewiesen in seinem Beitrag: Über den monistischen Tie-fenstrom der christlichen Gottrede, in: ders. – M. Striet (Hg.), Dogma und Denkform. Strittiges in der Grundlegung von Offenbarungsbegriff und Gottesgedanke, Regenburg 2005, 47–84, hierzu 67–78.

61

on mit der Schöpfung zu gewinnen. Man hält dem vielfach entgegen, hier handle es sich

um einen theistischen Anthropomorphismus, der seine tiefere Wahrheit in der mystisch-

monistischen Konzeption der radikalen Weltimmanenz des Göttlichen habe. Diese These

verkennt von Grund auf, dass nicht nur die theistische Vorstellung eines „Gegenüber-

Seins“ Gottes, sondern auch die monistische eines vollkommenen In-Seins menschliche

Vorstellungen sind; Vorstellungsmuster, die an einer Metaphorik des Raumes Anteil ha-

ben. Favorisiert man die Metaphorik des In-Seins, so ist man geneigt, die Metaphorik des

Gegenüber-Seins zur Vorstellung eines bloß äußerlichen Neben- oder gar Gegeneinan-

ders zu verzeichnen. Favorisiert man die dual-personale Metaphorik des Gegenüber-

Seins, so ist man geneigt, die Metaphorik des In-Seins zur Vorstellung einer bloßen Iden-

tifikation des in-seienden Göttlichen mit dem, dem es immanent ist, zu verzeichnen –

eine Verzeichnung, der nicht wenige Vertreter der mystisch-monistischen Option selbst

Vorschub leisten; von Willigis Jägers Anti-Dualismus war ja ausführlich die Rede. Warum

sollte es nicht möglich sein, diese wechselseitig einseitigen Zuspitzungen zurückzunehmen

und genauer zuzusehen, wie sich im Spannungsfeld von Monismus und Dualismus die

eher personalistisch-dualistischen und die eher monistischen Metaphern gegenseitig korri-

gieren müssten – und können –, damit der Reichtum des biblischen Gotteszeugnisses

angemessen reflektiert und übersetzt werden kann?

Dualistisch-personalistische Metaphern akzentuieren das „Außerhalb“ Gottes – nach Ja-

cobi: seine „Extra- bzw. Supramundanität“, wie sie in eher monistischen Konzepten als

undenkbar abgewiesen wird.126 Dieses „Außerhalb“ – die Transzendenz – Gottes verlangt

nach Würdigung, weil das faktisch-welthaft Geschehende „nicht alles“ ist; weil es bib-

lisch-christlich ein Außerhalb zu den selbstreferenten Prozessen geben muss, die gegen-

wärtig als Evolution beschrieben und in radikal immanenten evolutionären Weltanschau-

ungen ausformuliert werden.127 Die Prozess-Immanenz ist christlich nicht alles, weil der

Prozess selbst nicht das „Heil“ sein kann.

Genau dieser Behauptung wurde und wird vielstimmig widersprochen. Hinreichend be-

gründet wäre dieser Widerspruch freilich nur, wenn man begründen könnte, warum der

Prozess selbst „mehr“ ist als ein bloßer Naturprozess, in dem das eigentlich Menschliche

126 So fragt Lessing Jacobi: „… nach was für Vorstellungen nehmen Sie denn Ihre persönliche extramun-dane Gottheit an?“ Lessing verbindet mit dieser Frage die Unterstellung, dass Gott überhaupt nur als immanente, nie aber als transeunte Ursache gedacht werden kann (vgl. Friedrich Heinrich Jacobi, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, 29 bzw. 47). 127 Vgl. etwa die Sicht von Claude Lévy-Strauss, die oben in Kapitel 2.6 dargestellt wurde.

62

bedeutungslos bliebe: das Verfolgen-Können von Intentionen, die am Guten und Schö-

nen orientiert sind. Nietzsche versucht seinen Widerspruch – wie in Kapitel 2 darge-

stellt – dadurch zu legitimieren, dass es gerade die Intention des Menschen sein kann und

sein muss, sich dem Prozess des Natürlichen vorbehaltlos einzugliedern und ein bloßes

Naturwesen sein zu wollen. Andere prozess-orientierte Entwürfe des 19. Jahrhunderts ver-

stehen den selbstreferenten Prozess als Entwicklung der Menschengattung (Ludwig Feu-

erbach) oder als Geschichte der Klassenkämpfe auf dem Weg zu einem Reich der Frei-

heit, in dem alle Klassengegensätze überwunden wären und sich ein Leben ohne Ent-

fremdung entfalten könnte (Karl Marx, Friedrich Engels). Wo immer dieser Prozess als

rein selbstbezüglich verstanden wird, geschieht dies implizit oder explizit mit dem An-

spruch, die Transzendenz des Absoluten in die Prozess-Immanenz hinein aufzuheben.

Wer der Prozess-Immanenz-These widersprechen will, der wird sich nicht mehr – wie

Jacobi – darauf beschränken dürfen, Gott als die einzig denkbare, genauer: glaubbare,

Freiheit verbürgende Gegeninstanz zur „Fatalität“ blinder, intentionslos-selbstreferenter

Prozesse zu behaupten. Bei Feuerbach wie bei Marx und Engels hat der Prozess selbst ja

eine vernünftig nachvollziehbare Intention, mit der Menschen sich frei bzw. frei werdend

identifizieren können – nicht wie bei Nietzsche die „große Vernunft“ des Leibes128, son-

dern die Vernunft der Befreiung, die darauf abzielt, die bloße Naturgeschichte zu Ende zu

bringen und in das Reich selbstbewusster Freiheit einzutreten. Die ewigen, allgemein gül-

tigen „Gesetze“ werden nun, wo der „naturwüchsige“ Prozess im Menschen und speziell

in der Arbeiterklasse seiner selbst bewusst geworden ist, zum Medium und zur Ermögli-

chung von Freiheit, von freier Vergesellschaftung. In Friedrich Engels geradezu propheti-

scher Vision:

„Die Gesetze ihres eigenen gesellschaftlichen Tuns, die ihnen bisher als fremde, sie beherrschende Natur-

gesetze gegenüberstanden, werden dann von den Menschen mit voller Sachkenntnis angewandt und damit

beherrscht. Die eigene Vergesellschaftung der Menschen, die ihnen bisher als von Natur und Geschichte

oktroyiert gegenüberstand, wird jetzt ihre eigne freie Tat. Die objektiven, fremden Mächte, die bisher die

Geschichte beherrschten, treten unter die Kontrolle der Menschen selbst. Erst von da an werden die

Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewußtsein selbst machen, erst von da an werden die von ihnen in

Bewegung gesetzten gesellschaftlichen Ursachen vorwiegend und in stets steigendem Maße auch die von

128 Vgl. Also sprach Zarathustra I, Von den Verächtern des Leibes, KSA 4,39 und die oben im Kapitel 2.9 an diesen Text angeschlossenen Überlegungen.

63

ihnen gewollten Wirkungen haben. Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reiche der Notwendigkeit

in das Reich der Freiheit.“129

Dieser hochgemute Tonfall hat heute vielfach einem Evolutionsfatalismus im Sinne von

Claude Lévy-Strauss Platz gemacht. Aber er stellte die Theologie, wenn sie nachvollziehbar

von Gottes Prozess-Transzendenz sprechen will, vor weit größere denkerische Heraus-

forderungen. Sie musste herausarbeiten, warum auch dieser auf Freiheit abzielende Pro-

zess nicht das Ein-und-Alles sein kann, das die Frage nach einer Prozess-Transzendenz

Gottes von vornherein obsolet machen würde. Generell ging und geht es um die Frage,

wie das Ein-und-Alles alles in den Prozess seiner Selbstsetzung oder Selbstmitteilung ein-

bezieht und ob aufgrund dieses Einbeziehens gesagt werden dürfte, dass das Menschsein

nach nichts weiter verlangt, als in diesen Prozess einbezogen zu sein. Man kann natürlich

generell sagen, dass Menschen, die „nach mehr“ verlangen, als in diesen Prozess einzuge-

hen, in einem falschen Bewusstsein befangen sind; dass sie sich nicht dazu durchringen –

nicht dazu „durchbrechen“ –, anzunehmen, was sie annehmen müssten: diesen Prozess

als ihr Ein-und-Alles wahrzunehmen, ihn geschehen zu lassen und mitzutragen. Aber es

ist ja nicht von vornherein ausgemacht, dass dieses Streben „nach Mehr“ illegitim und

unvernünftig ist – zunächst einmal abgesehen davon, ob es erfüllt werden kann. Es gerät

schnell, vielleicht zu schnell, in den Verdacht der Egozentrik130 und dies sowohl in be-

stimmten mystischen wie in biologistisch, evolutionstheoretisch oder gesellschaftskritisch

orientierten Prozesskonzepten. Wer das Einbezogensein in das Ein-und-Alles des Natur-

prozesses enttäuschend findet oder die selbstlose Hingabe an den solidarisch-

menschheitsgeschichtlichen Befreiungsprozess nicht als den letzten, umfassenden Hori-

zont seines Selbstseins hinzunehmen bereit ist, der muss sich häufig sagen lassen, er hän-

ge zu sehr an der vermeintlich unaufgebbaren Bedeutung seines kleinen, zum Vergehen

129 Friedrich Engels, Anti-Dühring, Berlin 1953, 351. 130 Auch in diesem Kritikzusammenhang hat Nietzsche den schärfsten Ton angeschlagen. Er attackiert die „grosse Lüge der Personal-Unsterblichkeit“, die „jede Vernunft, jede Natur im Instinkte“ zerstöre, als Selbstsuggestion der Mittelmäßigen und Zu-kurz-Gekommenen, die sich selbst zum Mittelpunkt der Welt machen wollen: „Dass Jeder als ‚unsterbliche Seele’ mit Jedem gleichen Rang hat, dass in der Gesammtheit aller Wesen das ‚Heil’ jedes Einzelnen eine ewige Wichtigkeit in Anspruch nehmen darf, dass kleine Mucker und Dreiviertels-Verrückte sich einbilden dürfen, dass um ihretwillen die Gesetze der Natur beständig durchbrochen werden – eine solche Steigerung jeder Art von Selbstsucht ins Unendliche, ins Unverschämte kann man nicht mit genug Verachtung brandmarken.“ Und doch ist das Christentum genau mit dieser Verheißung – mit dieser Verheißung an den Egoismus der Schwachen und Zurückgebliebenen – erfolg-reich gewesen: „Das ‚Heil der Seele’ – auf deutsch: ‚die Welt dreht sich um mich’ …“ (Der Antichrist, Aph. 43, KSA 6, 217); mehr und Nichtigeres kann man den Schwachen und Lebensuntüchtigen nicht verspre-chen.

64

oder Sich-Opfern bestimmten Ich. Man sagt ihm auf den Kopf zu, er habe die menschli-

che Reife und Weisheit, von sich selbst absehen zu können, noch nicht erreicht. Deshalb

schreibe er einem personal vorgestellten, prozesstranszendenten Gott die Potenz zu, sei-

ner menschlich-vergänglichen Personalität und Individualität eine unbedingte Bedeutung

zu gewähren, die das Ein-und-Alles der alles umgreifenden Prozesse ihm nicht verbürgen

könnte. Hier wäre er immer nur vorübergehendes Element, vielleicht Entfaltungsmoment

oder Manifestation einer göttlichen Wirklichkeit, aber nicht bleibend bedeutsam. Der per-

sonale, „extramundane“ und extra-prozessuale Gott müsse also leisten, was der Prozess

nicht leisten und versprechen kann – und er sei nichts anderes als dieses unerfüllbar-

imaginäre Versprechen.

Schauen wir uns die Diskussionslage genauer an. Sie ist – so meine These – von zwei

kaum thematisierten Voraussetzungen geprägt: zum einen von einer Prozess-Logik, die

das „Einbegriffensein“ vom Ein-und-Alles räumlich vorstellt und die Unendlichkeit des

Ein-und-Alles deshalb gegen die Selbstständigkeit und das Selbstständigbleiben des End-

lichen zur Geltung bringen muss. Eine räumlich-bestimmte Logik kann die Eigenständig-

keit des Endlichen nur als Nebeneinander und das Verhältnis des Umgreifenden zu den

davon umgriffenen Einzelnen nur als das Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen vorstel-

len, was offenkundig inadäquat ist. Steht dieses Muster aber nicht zur Verfügung, so

bleibt hier nur ein Gegeneinander von Endlichem und Unendlichem: Das Unendliche setzt

sich, es realisiert sich, indem es sich durch die Endlichen realisiert – sie sind die Mittel zum

Selbstzweck des Unendlichen bzw. vorübergehende Manifestationen seines Selbstset-

zungsprozesses. Die Begriffe Endliches und Unendliches markieren zwei unterschiedliche

Begriffs-„Ebenen“: den unendlichen Raum selbst und das in diesem Raum Einbegriffene.

Sollen sie miteinander vermittelt werden, so bleibt nur die Mittel-Zweck-Relativierung des

Endlichen oder seine Relativierung zum „Moment“.

Mit dieser Voraussetzung ist die zweite verbunden: Wer sich als endliches Wesen gegen

sein Mittelsein – seine Nicht-Permanenz – verschließt, der ist von vornherein – gleichsam

moralisch – als egozentrisch diskreditiert. Es kann dann kaum noch danach gefragt werden,

worin die „Vernünftigkeit“ eines Gottesgedankens liegen könnte, der nicht nur den E-

goismus befriedigen soll, sondern die vielen Einzelnen in ihrem Eigensein und Selbst-

stand würdigt. Beide Voraussetzungen müssen genauer untersucht werden und dies auf

dem Hintergrund einer Explikation der biblischen Gottes-Intuition, die sich ihnen fak-

65

tisch unterwirft – und damit alle Argumentationsmöglichkeiten von vornherein aus der

Hand gibt.

Für das biblisch-christliche Gottesbekenntnis ist Gott jedenfalls nicht in dem Sinne ein

und alles, dass die vielen Einzelnen bloße Funktionen seines Selbstvollzugs sind und im

Vollzug seiner Selbstsetzung – seines prozessual-dynamischen Daseins – aus ihm ebenso

hervorgehen, wie sie dann wieder in ihm untergehen. Es ist deshalb auch nicht im Sinne

dieses Bekenntnisses, zu sagen, dass „alles eine Epiphanie und Erscheinung des göttlichen

Urprinzips“ ist und Gott sich offenbart „als Kommen und Gehen, als Geborenwerden

und Sterben.“131 Gott ist nicht der Prozess. Er ist ihm nur so immanent, dass er ihm

zugleich radikal transzendent ist und deshalb auch die Freiheit gewähren kann, dem (Evo-

lutions-)Prozess nicht nur immanent, sondern ebenso transzendent zu sein.132 So offen-

bart Gott sich nicht als die Vielfalt des Seienden, auch nicht als der, der sich mit göttlicher

Notwendigkeit selbst durch die Vielen realisiert. Er offenbart sich vielmehr als der

schlechthin Transzendente in der Immanenz. Er offenbart sich den Vielen, die er ins Da-

sein gerufen hat, weil er sich ihnen mitteilen wollte, weil er wollte, dass sie die Beziehung,

die er ihnen anbietet, von sich aus erwidern. Gott schafft die Welt, weil er in ihr – wie

Johannes Duns Scotus sagt – „Mitliebende (condiligentes) will“.133 Ihnen eröffnet er einen

Beziehungsraum, „worin“ er die, denen sein guter (Beziehungs-)Wille gilt, dazu hervor-

ruft, seinen guten Willen zu bejahen, insofern er ihnen selbst gilt; worin er sie herausfor-

dert, ihn mitzuvollziehen, insofern er den anderen gilt. Gott schenkt sich selbst denen, die er

als Mitlieben-Sollende ins Dasein rief. Er schenkt sich ihnen, damit sie Mitliebende sein

können; damit sie an der Liebe Anteil haben können, die Er ist. Weil Er die Liebe ist, will

er Mitliebende haben, will er das Ein-und-Alles nicht für sich allein sein. Sein Sich-

Schenken, seine Selbst-Hingabe sind sein Wesensvollzug, in dem er sich mitteilt, um Be-

ziehung zu stiften. Sie sind Selbstvollzug der Liebe, in der Er sich als die Liebe selbst be-

jaht und so mitteilt, dass sie erwidert und mitvollzogen werden kann. 131 Vgl. Willigis Jäger, Symphonie des Einen und Ganzen, a.a.O., 150. 132 Gottes Transzendenz begründet die Prozess-Transzendenz menschlichen Daseins: das Person-Sein. Personsein heißt: nicht in der Immanenz des Prozesses aufzugehen, nicht nur Funktion dieses Prozesses zu sein. In der präzis-metaphorischen Sprache Peter Strassers: „Damit wir als Personen in der Welt sein können, benötigen wir doch eine radikale ontologische Nicht-Involviertheit: Was immer unser Leben mit all seinen empirischen Eigenschaften und Möglichkeiten sein mag, stets sind wir auch noch etwas darüber hinaus. Etwas an uns hat keinen Ort in der Welt“ (Journal der letzten Dinge, Frankfurt a. M. 1998, 44). Etwas an uns entzieht sich dem bloßen Funktion-Sein. Der freie Wille der Person ist – so Strasser – „bloß ein Name für das Sichentziehende in uns“ (ebd.), für unser ontologisches Nicht-Involviertsein, unsere Transzendenz (vgl. ebd., 45f.). 133 Opus Oxoniense III d.32 q.1 n.6.

66

Dass Gott Mitliebende will, bedeutet christlich, dass er die sein Wesen ausmachende voll-

kommene Liebe nicht nur „manifestiert“, sondern die Menschen dazu befähigt und her-

vorruft, sie zu erwidern – ihr zu entsprechen – und so an ihr Anteil zu haben. Die Meta-

phern Erwiderung oder Entsprechung implizieren eine Beziehung; die Metapher Anteil haben

das Einbezogensein und In-Sein. Das In-Sein in der Wirklichkeit Liebe ergreift die Mitlie-

benden innerlich und „durchströmt“ sie; es macht sie zu Mitsubjekten der Liebe, die die ihr

erwiesene Liebe von sich aus erwidern. Das Zugleich von Erwidern und Einbezogensein

(und deshalb Mitvollziehenkönnen) begründet das Zugleich von „In-Eins und Gegen-

Über“134. Und es gründet in der Macht der Liebe, die Gott als sein Wesen ist, sich so mit-

teilen zu können, dass sie vom ursprünglich Liebenden her denen widerfährt, die Er als

Mitliebende gewollt hat. Der Liebende „steckt“ sie zugleich in ihrem Innersten mit seiner

Liebe „an“, sodass sie ihnen im liebend Hervorrufenden und Begegnenden ebenso zur Wirk-

lichkeit wird wie in der ursprünglich innerlichen Gabe, die sie in die Liebe einbezieht und

mit ihr „begabt“. Dieser zweifache Vollzug der Liebe, die Gott ist und ihn als trinitari-

schen qualifiziert, macht „die Vielen“ zu Personen – und ist deshalb selbst theologisch als

personale Wirklichkeit beschreibbar: Das Sich-Mitteilen der Liebe, die Gott ist, setzt nicht

einfach Medien, in denen sich Gottes Liebe manifestiert, sondern Mit-Subjekte des Lie-

bens, denen Gottes Zuwendung und Selbstmitteilung unwiderruflich gilt, denen sie unwi-

derruflich einen Beziehungs-Raum offen hält. Damit ist gesagt, dass Menschen bleibend

in einem Raum vorkommen dürfen, der nicht einfach das Gottsein Gottes selbst ist, son-

dern der von Gott gewollte und eröffnete Raum des Daseins nicht-göttlicher, endlicher

Liebender, ohne die Gott nicht mehr die Liebe sein will, die er ist.

Für Gottes Geliebte und Mitliebende heißt das, dass sie nicht in das göttliche Ein-und-

Alles hinein auf- und untergehen und dabei ihr Personsein verlieren werden. Der bibli-

sche Gott will die Mitliebenden nicht als vorübergehend, sondern als in alle Zukunft

Selbst-Ständige – in einem Beziehungsraum, in dem Beziehung möglich ist und über je-

den Beziehungsabbruch von Seiten der Menschen hinaus immer wieder neu möglich

wird. Er will sie – und so leben sie: nicht in die Leere hinein, die jeden Raum immer noch

umfängt, auch den Zeit-Raum der selbstreferenten Prozesse, die schon deshalb nicht das

Ein-und-Alles sein können. Nicht auf ein Außerhalb hin müssen sie leben, das die Nega-

tion – die Entropie – ihres Innersten wäre, sondern in diesen Beziehungsraum hinein dür-

134 Vgl. Gotthard Fuchs, Im Ursprung ist Beziehung, a.a.O., 12.

67

fen sie leben, der von keiner Leere mehr umfasst und relativiert wird. In ihm können sie

den Anfang einer Vollendung ergreifen, der sie selbst einbegreift. In ihm können sie bei

allem Verlust und selbst noch in ihrem Tod dem entgegen gehen, der ihnen bleibend Du

ist.

3.12 Gottes Unendlichkeit und das Endliche

Fasst man das christliche Gottesbekenntnis so zusammen, wie eben versucht, erscheint es

auf einen Theismus festgelegt, der von personalen wie von räumlichen Metaphern und

von Handlungsmetaphern bestimmt ist. Lässt sich dann noch – nach den Diskussionen

im Umfeld des „Pantheismusstreits“ – vernünftig über den Gott der Bibel sprechen? Eine

Antwort auf diese Frage hängt von der Diskussion der oben genannten beiden Vorausset-

zungen ab. In dieser Diskussion muss es um die von ihnen erzeugten Selbstverständlich-

keiten gehen: um die „rationale“ Selbstverständlichkeit, ja Unumgänglichkeit einer aper-

sonalen Prozessimmanenz Gottes wie einer personalen Prozessimmanenz des Menschen,

die ebenso selbstverständlich nur einen vorübergehenden Charakter haben kann. Verge-

genwärtigen wir uns noch einmal, was die theistische Position so problematisch und die

Immanenzpositionen so weitgehend selbstverständlich machte – und was schon Spinoza

veranlasst hat, den Theismus bzw. Gottes- Personalismus hinter sich zu lassen! Es ist ja

schwer einzusehen, wie Gottes Unendlichkeit gedacht werden kann, wenn ihm gegenüber

endliche Seiende mit Selbststand bestehen und bestehen sollen. Fände Gottes Unendlich-

keit nicht an diesen endlich Selbst-Ständigen ihre Grenze? Spräche man über Gott hier nicht

letztlich doch wie über eine Wirklichkeit unter vielen, über ein Einzelnes? Und würde

man dabei nicht Kategorien und Metaphern gebrauchen, in denen man von endlichem

Einzelnen spricht (Gegenübersein, ein Handeln, worin Handelnde sich auf selbstständige

andere beziehen, Anderssein im Verhältnis zu anderen); Kategorien, die deshalb nicht

angemessen von dem sprechen können, der niemals ein Einzelner unter vielen Einzelnen

ist?

Hier wurde und wird die negative Theologie zur Herausforderung für das Denken. Gott

ist nicht gültig in Kategorien auszusagen, die das Endliche kennzeichnen. Endliches ist

aber grundlegend dadurch gekennzeichnet, dass es das Andere zu vielen anderen und

68

deshalb endlich ist, da es vom Anderen her definiert wird: Omnis determinatio est nega-

tio. Nikolaus von Kues zieht daraus die Konsequenz, den unendlichen Gott das Nicht-

Andere (non-aliud) zu nennen: „Siehst du jetzt nicht auch ganz deutlich“ – so treibt er den

Gedanken im Gespräch weiter –, „ dass das Nicht-Andere, da es von nichts Anderem

definiert werden kann, sich selbst definiert?“135 Der Gedanke wird aber zunächst nicht so

weiter verfolgt, dass man der Frage nachginge, was das bedeuten kann: Gott de-finiert

sich selbst. Hat er denn die Möglichkeit sich selbst zu begrenzen oder zu bestimmen, oh-

ne damit seiner Unendlichkeit Abbruch zu tun? Es geht Nikolaus von Kues zunächst –

negativ-theologisch – eher darum, „dass das Nicht-Andere einfacher und früher ist (als

alles Andere; J. W.) und durch ein Anderes nicht ausgesagt werden kann“ – weshalb es

„vor aller Zeit jenseits allen Begreifens ist.“136 Weil das so ist, kann der Unendliche aber

auch nicht eigentlich der Eine genannt werden, da auch diese Bezeichnung noch vom Ge-

gensatz zum Anderssein der zum Einen Anderen definiert wäre: „Da aber das Eine vom

Nicht-Einen her ein Anderes ist, führt es doch nicht zum ersten Ursprung von allem, der

weder ein Anderes vom Anderen noch vom Nichts sein kann, weil er … zu nichts im

Gegensatz steht.“137 Der „Ursprung von allem“ kann nicht das Eine im Gegenüber zu

anderem sein und vom Anderssein anderer definiert sein. Er ist das Nicht-Andere, weil er

„in keiner Weise ein anderes sein“ kann. Als das bloß Andere zum anderen würde ihm ja

„gleichsam so wie einem Anderen etwas fehlen“. Und dann folgt die wirkungsgeschicht-

lich so folgenreiche Feststellung: „Das Nicht-Andere aber entbehrt, eben weil es keinem

gegenüber ein Anderes ist (quia a nullo aliud est; wörtlich: da es von nichts und nieman-

dem her ein Anderes ist), nichts noch kann außer ihm etwas sein (nec extra ipsum quidam

esse potest).“138

Wo die definitionslogische Problematik der negativen Theologie, über das Unendliche als

das Nicht-Andere zu sprechen, ins Ontologische übergeht, stellt sich sofort die räumliche

Metaphorik ein (vom Anderen her, ihm gegenüber, nicht nebeneinander, nicht außerhalb,

sondern innerhalb). Und dann spitzt sich auch die Problematik des endlich Selbstständi-

gen zu: Wie könnte in Gott, dem Unendlichen, und dem Unendlichen gegenüber Selbst-

ständiges sein, ohne dass der Unendliche dann nicht von ihm her wäre? Die Problematik

135 Nikolaus von Kues, De Non-Aliud. Das Nichtandere, in: Philosophisch-Theologische Schriften, hg. von L. Gabriel, Bd. 2, Wien 1966, 443–555, hier 446f. 136 Ebd., 456f. 137 Ebd., 458f. 138 Ebd., 464f.

69

verschärft sich zusätzlich, wenn Selbstständigkeit in diesem Sinne ebenfalls deutlicher als

Bestehen im Raum neben dem Unendlichen konnotiert und damit die Metaphorik des Ne-

beneinanders des einander Äußerlichen unausweichlich wird. Bei dem Versuch, das

Nicht-Andere zu denken, muss das äußerliche Nebeneinander wie das Im-Raum-Sein

überhaupt negiert werden. Gott kann weder neben anderem Seienden vorkommen noch

selbst im Raum sein. Und das bedeutet: als der Unendliche kann er nur der unendliche

Raum selbst sein, in dem alles andere nebeneinander vorkommt. Er ist der einzige Selbst-

stand, in dem alle anderen nicht nur erkannt werden, sondern konsequenterweise auch sie

selbst sind. Dies ist die Konsequenz, die dann bei Spinoza ohne Rücksicht auf anders lau-

tende christliche Traditionsbestände gezogen wird und die sich Denkern bis in die Ge-

genwart hinein aufdrängt. So nennt Peter Strasser dies „den unannehmbarsten aller Dua-

lismen“, dass „Gott etwas außer sich hat.“139 Aber er fügt hinzu: „Wir können nicht wol-

len, dass Gott etwas außer sich hat; und wir können nicht wollen, dass er nichts weiter ist

als das Ganze.“140

Aber können wir ihn denken als den, der „mehr“ ist als das Ganze? Die Kinderbuchweis-

heit „Es muss doch mehr als alles geben!“ ist jedenfalls – übertragen in die Logik von

Endlichkeit und Unendlichkeit – die höchste Herausforderung für das Denken, die man

sich denken kann. Versucht man, sie in einer Raum-Metaphorik auszudrücken, so steht

man vor der Frage, ob es ein Außerhalb zur Unendlichkeit des Raumes geben kann oder

ob Gott die Unendlichkeit des Raumes ist, in dem alles ist – und ob man dann nicht sagen

muss, es sei alles, was ist, in ihm, weil endliches Seiendes kein Sein haben kann, das „au-

ßerhalb“ des Seins wäre, das Er ist.

Bei Nikolaus von Kues und noch ausdrücklicher bei Spinoza wird die Unendlichkeit des

Raumes zu einem elementaren Vorstellungsmodell der Unendlichkeit. So drängt sich ih-

nen der Gedanke auf, dass der unendliche Gott in dem Sinne unendlich ist, dass alles Sei-

ende in ihm erkannt ist und ist, dass es zu ihm folglich kein Außerhalb gibt. Gott ist un-

endlich als die Unendlichkeit allen Worins. Und das gilt nach Spinoza dann auch für den

zweiten Modus der Unendlichkeit, den er Gott zuschreibt, für die Unendlichkeit des

Denkens (des Geistes). Auch sie ist dadurch gekennzeichnet, dass Gott nicht in ihr vor-

kommen kann, sondern sie ist. Alles andere ist nur, da es in ihr vorkommt, denkbar ist

und vom Ihm gedacht ist. Die auf den ersten Blick so befremdlichen ontologischen 139 Peter Strasser, Der Gott aller Menschen, 94. 140 Ebd., 107.

70

Grundannahmen Spinozas artikulieren diese Einsicht: Gott ist die einzige Substanz (der

einzige Selbststand, weil das einzige aus sich selbst Seiende und Erkennbare). Nur in Ihm

ist, was als das Viele im Raum und im Denken ist. Raum und Denken sind nicht Bestim-

mungen, die Gott vorausliegen und dann auf ihn angewendet werden könnten. Gott ist

vielmehr selbst Raum (Ausdehnung) und Denken (Geist) als das unendliche Worin alles

Seienden. Ausdehnung und Denken sind seine beiden Attribute.141

Die Schwierigkeit des Gedankens liegt zweifellos darin, dass das Denken ja nicht selbst

ausgedehnt ist, sodass die räumliche Metaphorik des Worin hier unangemessen scheint.

Kann man die Unendlichkeit des Denkens – des Geistes – tatsächlich so aussagen, dass

alles, was ist, als innerhalb des Denkens seiend (bzw. sein könnend) ausgesagt wird? Darf

man endliches Denken in seinem Vollzug so vorstellen, dass es in sich hereinholt, worauf

es sich bezieht, und damit das unendliche Denken nachvollzieht, in dem immer schon

alles ist? Möglicherweise führt die Raum-Metaphorik hier in die Irre. Die Unendlichkeit

des Geistes dürfte dann nicht als das räumlich Allumfassende vorgestellt werden, das nur

ein Innen hat. Möglicherweise ist der Geist gerade darin unendlich, dass er seines Ande-

ren unendlich fähig ist, dass er unendlich beziehungsfähig dem „gegenüber“ ist, was er sein

lässt – dem gegenüber, was er durch seine Beziehung zu ihm selbstständig sein lässt. Diese

gleichsam überräumliche Unendlichkeit des Geistes ist dann im Deutschen Idealismus zur

eigentlichen Aufgabe im Denken des Unendlichen und Absoluten geworden. In der

sprachanalytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart kehrt das Prob-

lem wieder, wenn man sich die Implikationen des Ichsagens und in diesem Sinne der Sub-

jektivität vergegenwärtigt.

Das Subjekt kommt nicht in der Welt vor, die es „hat“. Es „gehört nicht zur Welt, son-

dern es ist eine Grenze der Welt“ (Ludwig Wittgenstein142). Von ihm ist deshalb nicht in

welthafter Weise zu sprechen mithilfe der Kategorien, die das viele Einzelne in der Welt

bezeichnen. Aber in welchem Sinne ist es die „Grenze“ der Welt? Indem es sich – durch

141 Man kann hier darauf hinweisen, dass die Dualität Denken – Ausdehnung mit der Dualität Innen – Außen zusammenhängt und dann auch auf die Unterscheidung esoterisch – exoterisch verweist, die die Diskussion um das Hen kai pan seit dem 17. Jahrhundert bestimmte. Die Esoteriker haben Anteil an der „geheimen“ Innenperspektive, die die Perspektive des Göttlichen selbst ist. Und so nehmen sie wahr, dass das Göttli-che das Innere der ausgedehnten Welt ist, während die Exoteriker an der ausgedehnt-räumlichen Außensei-te der Welt hängen und der bloßen Außenperspektive verhaftet bleiben (vgl. Jan Assmann, Moses der Ägypter, 126f.). Die esoterische Innenperspektive kann sich mit der negativen Theologie verbinden: als das Wissen des Verborgenen, das nicht als raum-zeitlich Begrenztes ausgesagt werden kann. 142 Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-philosophicus, Ziffer 5.6.3.2, in: Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt a. M. 91993, 7–85.

71

Sprache – für die Welt öffnet, in der die besprochenen Dinge und Ereignisse nebeneinan-

der und miteinander vorkommen; indem es all das auf sich bezieht. Vor allem Ernst Tugend-

hat wies darauf hin, dass das Subjekt, indem es sich mit dem „Ich“-Sagen auf sich selbst

bezieht, auch potentiell alles andere, in der Welt Vorkommende auf sich bezieht. „Ich“-

Sagen bedeutet „Ego-Zentrizität“143, dies freilich nicht sofort im moralischen, sondern im

grundlegend anthropologischen Sinne. „Ich“ sieht sich, indem es sich auf die Welt bezieht

und die Welt – alles – auf sich bezieht, als den Bezugspunkt von Welt. Irreführend wäre es

hier wiederum vom Mittelpunkt zu sprechen, weil dann eben doch wieder von eine räum-

lichen Mitte gesprochen wäre – die Rede von Ego-Zentrizität ist aus dem gleichen Grund

auch nur ein Notbehelf.

Wer sich als Bezugspunkt der Welt, die er „hat“, weiß oder vollzieht, der weiß zumindest

implizit, dass sich auch andere „Iche“ in gleicher Weise als Bezugspunkte „ihrer“ Welt

vollziehen und dass potentiell alle „Iche“ letztlich eine gemeinsame Welt bewohnen. Des-

halb ist das Subjekt nicht nur „ego-zentrisch“, sondern auch zur Selbstrelativierung fähig

und um des gemeinsamen Lebens willen genötigt. In den Worten Tugendhats:

„Jeder ‚ich’-Sager scheint sich absolut wichtig zu nehmen, aber er hat, mehr oder weniger ausdrücklich, ein

Bewusstsein davon, dass auch die anderen sich wichtig nehmen und dass er sich in einer Welt befindet, in

der er selbst auch anderes wichtig nehmen und schließlich sich selbst angesichts der Welt als mehr oder

weniger unwichtig ansehen kann.“144

Ichbezug und Weltbezug bedingen einander: Ich beziehe „meine“ Welt auf mich, bin als

Ich – als Subjekt – deshalb nicht ein „Teil“ von ihr, sondern welt-konstituierend; welt-

eröffnend. Aber ich beziehe mich zugleich auf die Welt, weiß mich – als Person – in ihr,

von anderem und anderen relativiert, in ihre Welt hereingeholt.145 Ich weiß mich in Pro-

zessen involviert, die es mir abverlangen, mehr oder weniger gründlich von mir abzuse-

hen. Das Ich vollzieht sich in diesem Sinne zugleich als extra- und als intra-mundan. Seine

Extra-Mundanität vollzieht es als Egozentrizität, seine Intra-Mundanität als Selbstzurück-

143 Ernst Tugendhat, Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie, München 2003, 29. 144 Ebd., 30. 145 Für diese, auch von Klaus Müller geltend gemachte Unterscheidung von Subjekt und Person vgl. Dieter Henrich, Selbstbewusstsein und spekulatives Denken, in: ders., Fluchtlinien. Philosophische Essays, Frankfurt a. M. 1982, 125–181, hierzu 137f. bzw. K. Müller, Streit um Gott, 230–241. Ich bin freilich – gegen Henrich (?) – der Auffassung, dass das Personsein gerade das interpersonale Bedingtsein und Sich-bedingen-Lassen von der anderen Person meint und nicht das bloße Nebeneinander von Individuen; vgl. dazu unten Kapitel 7.15.

72

nahme. Weil es sich als egozentrisch setzt, muss es sich – als Person – um der Gemein-

samkeit der Welt willen zurücknehmen; muss es sich zurücknehmen angesichts eines

Weltprozesses, der eben nicht auf es hin zentriert ist. Das menschliche Ich ist auf

menschlich-endliche Weise unendlich – „auf gewisse Weise alles“146 –, da es „alles“ auf sich

bezieht und zentriert. Es ist endlich, da es sich als eine Person unter anderen, als Einzelnes

unter vielen Einzelnen, in einer Welt vorfindet. Gottes Unendlichkeit wäre dann vorzu-

stellen als die Unendlichkeit eines alles auf sich beziehenden und zentrierenden Ichs, das

indes nicht zur Selbtrelativierung genötigt, ja nicht einmal zu ihr fähig ist – theistisch ge-

sprochen: als Herr der Welt. Unendlichkeit schließt hier die Endlichkeit von sich aus –

Gott kann nicht als endlich Seiendes in der Welt vorkommen, da er ihr „Herr“ ist. End-

lichkeit und Unendlichkeit bedingen einander nur im Menschsein.

Aber müsste nicht gedacht werden können, dass Gott die Welt auf sich beziehen kann,

indem er sich auf die Welt bezieht; dass er sich selbst als der Unendliche dazu bestimmt,

in der Welt vorkommen und zu Endlichem eine Beziehung aufnehmen zu wollen? Müsste

nicht gedacht werden können, dass der Unendliche sich für das Endliche öffnet, damit die

Endlichen auf den Unendlichen hin geöffnet, auf ihn bezogen sein und bezogen bleiben

können? Der Gedanke ist innerhalb der eben in Anspruch genommenen Logik schwierig,

weil diese Logik immer noch latent räumlich bestimmt ist und es fast unmöglich scheint,

die Raum-Metaphorik hinreichend zu kontrollieren bzw. zu modifizieren. Von Spinoza

her formuliert: Wenn das Innen und das Außen – die beiden Attribute des Göttlichen –

identisch sind, legt sich die „esoterische“ Konsequenz nahe, dass das Innen die Wahrheit

des Außen ist und damit gleichsam die wissende Teilhabe an der göttlichen Innenperspek-

tive die Wahrheit der Außenperspektive. Aber es zeigt sich, dass das „Innere“ dann doch

wieder nach der Logik des Ausgedehnten erfasst wird, das verborgen Unsichtbare nach

der Logik des im Raum Sichtbaren.

Das Hen in der Leitformel Hen kai pan soll die innere Wahrheit des Pan sein. Aber wie

könnte es das sein, ohne das Pan aufzuheben? Hegel hat das Problem ja in seiner bekann-

ten Erläuterung des Begriffs Aufhebung gleichsam auf den Begriff gebracht: Wie kann das

unendliche Hen das endliche, vielfältige Pan so in sich einbegreifen, dass es dieses nicht

einfach in seinem Selbststand negiert, sondern aufbewahrt und gewissermaßen auf einer

„höheren Ebene“ zu seinem Heilsein im Beziehungsgeschehen des Pan – des absoluten 146 Vgl. Thomas von Aquin, Quaestiones de anima, q.13: „Est enim anima quodammodo amnia secundum quod est sentiens et intelligens.”

73

Geistes – vollendet (hinaufhebt)? Bleibt die räumliche Konnotation bestimmend, so

kommt es zu einer Konkurrenz von Unendlichem und Endlichem: Das Unendliche fände

seine Grenze am vielen Endlichen; das viele Endliche wäre begrenzt durch das Unendli-

che. Das Unendliche müsste sich zurücknehmen, um dem Endlichen „Raum“ zu geben147.

Die vielen Endlichen müssten sich zurücknehmen, um dem Unendlichen Raum zu geben.

Die Problematik begegnet noch einmal, wenn bei Tugendhat das Ich (bzw. das Subjekt)

zwar – mit Wittgenstein – als Grenze der Welt bestimmt wird, aber eben doch als ein

welthaftes, Welt innehabendes. Es muss sich nach Tugendhat zurücknehmen, um in einer

gemeinsamen Welt mit anderen Subjekten vorkommen zu können. Und es müsste sich

auch angesichts all dessen in seinem Sich-Wichtignehmen zurücknehmen, was ihm in der

Welt seine Endlichkeit und Sterblichkeit zur Erfahrung bringt. Mystik ist für Tugendhat

in diesem Sinne die Disziplin des Sich-Zurücknehmens, der radikale Vollzug der eigenen

Endlichkeit, die es verbietet, sich unendlich wichtig zu nehmen und die Egozentrik des Ich-

sagens und Ichvollziehens gegen andere und das Andere durchsetzen zu wollen.

Räumliche Metaphorik bestimmt den Gedanken hier insofern, als die Innenperspektive

des Ich zwar unendlich ist, sich aber zugleich angesichts anderer unendlicher Innenper-

spektiven zu relativieren hat und – folgt man Tugendhats Mystik-Verständnis – angesichts

einer alles umfassenden, vermutlich nicht-subjektiven Wirklichkeit noch einmal radikal

relativieren muss. Diese Wirklichkeit – das „Universum“ – scheint das Ich nur noch von

außen zu betreffen und ihm keine Innenperspektive mehr zu erlauben. Im Tod würde sich

das „Universum“ endgültig gegen die egozentrischen Innenperspektiven durchsetzen. Das

Ich ist in seinem welteröffnenden, welthabenden Dasein aber unvermeidlich egozentrisch,

weltergreifend. So hat es sich nach diesem Verständnis der Subjektivität und der Mystik

bewusst zurückzunehmen, da es zum einen als Endliches mit seinem egozentrischen Zugrei-

fen am Anderen seine Grenze findet und diese Grenze respektieren muss; da es zum ande-

ren einem ihm äußerlichen Unendlichen ausgesetzt ist und sich in es „einordnen“, „zu-

rückstellen“ muss. Mit beidem muss sich das Ich aussöhnen.148 Wenn man – wie in den

dargestellten monistischen Konzepten – das Begrenztwerden des endlichen Ich durch das

schlechthin unverfügbar Andere (durch das „Universum“) indes als Begrenztwerden

durch ein Göttliches versteht, dessen Innenperspektive durch die mystische Schau zu-

147 Diese Vorstellung spielte in der mittelalterlichen jüdischen Mystik eine gewisse Rolle; so etwa bei dem Zimzum-Gedanken, wie er bei Isaak von Luria begegnet. 148 Vgl. Ernst Tugendhat, Egozentrizität und Mystik, 147f.

74

gänglich wird, so ist der Grundvollzug einer monistisch-esoterischen Mystik nicht primär

das Sich-Zurücknehmen. Er ist dem Mystiker und der Mystikerin vielmehr in der Teilhabe

an dieser göttlichen Innenperspektive gegeben, die dann die radikale Zurücknahme der

eigenen Ich-Perspektive erst nach sich zieht und existentiell möglich macht.

Der Gedanke hat in dieser wie in jener Version eine tiefe Überzeugungskraft. Aber er ist

nicht einfach selbstverständlich. Die Überzeugungskraft liegt – gerade heute – darin be-

gründet, dass das gemeinsame Lebenkönnen in einer endlichen Welt und von begrenzten

Ressourcen als vielfach von der Fähigkeit des Sich-Zurücknehmens und Nicht-so-

wichtig-Nehmens bedingt erfahren wird. Sich-(zu)-wichtig-Nehmen bedeutet hier, die

Anderen – etwa die Nachkommen auf der gemeinsam zu bewohnenden Erde – nicht so

wichtig zu nehmen oder gar zu ignorieren. Sie in ihrer (zukünftig eingenommenen) In-

nenperspektive hier und jetzt zu würdigen, erfordert, sich mit dem eigenen Weltzugriff in

der gemeinsamen Welt nicht ungebührlich „breit“ zu machen, damit den Anderen genug

Raum bleibt. Sich gegenüber dem „Universum“ nicht so wichtig nehmen heißt, sich selbst

mit den eigenen Wünschen und Erfahrungen nicht projektiv in den Mittelpunkt des Alls

zu stellen; sich – wie etwa die Mystiker des Tao – „in die Welt zurück(stellen)“, sich „von

der Welt her“ zu sehen, „statt alles aus der egozentrischen Perspektive zu sehen“149. Diese

Art von Mystik, die die innere Motivation des gerade heute geforderten Sich-

Zurücknehmens mobilisieren könnte, ist aber keine Mystik der Weltverneinung. Das ei-

gene In-der-Welt-sein- und Welt-haben-Wollen „wird nicht verneint, sondern relativiert

und eingeschränkt“. Die Frustrationen, die einem die Außenwelt – das von meinem Wil-

len unabhängige Universum – zufügt, „werden nicht überwunden, sondern integriert.“150

Ziel ist das „Nicht-Handeln“, nicht etwa „Untätigkeit“, sondern „ein Tun, das möglichst

absichtslos ist wie das der Natur“151. In solchem Tun manifestiert sich eine universelle,

„allseitige“ Liebe, die „einzige überzeugende Ausgestaltung der mystischen Haltung“, das

„Kernstück einer diesseitigen Mystik“ der Selbstrelativierung. Das „Spezifische der mysti-

schen Selbstrelativierung“ aber ist es, „dass sie gegenüber dem Universum erfolgt, also

gegenüber allem“; gegenüber „der Vielheit der Dinge in Raum und Zeit“, diese allerdings

„in einem einheitlichen Zusammenhang gesehen“ 152.

149 Ebd., 125. 150 Ebd. 151 Ebd., 133. 152 Ebd., 147 bzw. 125. Auch diese vorsichtige, an den Taoismus angelehnte All-Einheits-Konzeption Tugendhats partizipiert noch an dem Gedanken eines geordneten Zusammenhangs, dem man sich in

75

Die mystische Selbstrelativierung zum „absichtslosen“ Tätigsein relativiert den Eigenwil-

len, bringt ihn – sehr weitgehend(?) – zum Verstummen; gleicht ihn der Willenlosigkeit

der Natur an. Tugendhat räumt ein, dass er sich mit dieser Perspektive von der christli-

chen Mystik etwa eines Meister Eckhart zu entfernen scheint. Dieser habe eben nicht die

radikale Willenlosigkeit gepredigt, sondern das Einswerden mit Gottes gutem Willen – um

zur Wirk-lichkeit dieses guten Willens in der Welt zu werden. Es scheint bei Meister Eck-

hart gerade nicht so, dass der endliche Wille Mittel zum Zweck oder gar nur Durch-

gangsmoment der Selbstdurchsetzung eines Unendlichen wäre. Der endliche Wille ge-

winnt vielmehr Anteil am unendlich-göttlichen Willen, lässt sich von ihm erfüllen und

kann so aus ihm handeln. Mit diesem Gedanken kann Tugendhat gar nichts anfangen;

und er ist der Auffassung, dass damit Eckharts eigentliche Intention nicht getroffen wäre.

Er plädiert vielmehr dafür, den Gott Meister Eckharts mit dem Tao zu identifizieren und

seiner Mystik so einen heute noch nachvollziehbaren Sinn abzugewinnen. Tao aber ist für

Tugendhat die „Abbreviatur für irgendeine nichtpersönliche Auffassung des Numinosen,

angesichts dessen ein Mensch von sich zurücktritt.“ Versteht man Eckharts Gott in die-

sem Sinne, dann steht „das, was Gottes Wille genannt wird, einfach für das, was jeweils

real vorgegeben ist.“ Diese Eckhart-Deutung ergibt sich für Tugendhat schon aus der

Tatsache, dass bei Eckhart die religiöse Praxis des (Bitt-)Gebets zugunsten der „Erklä-

rung“ zurückgenommen werde, „dass man das Gegebene akzeptiere.“ Man dürfe dann –

so Tugendhat weiter – auch für die mystische „Theologie“ Meister Eckharts unterstellen,

mystischer Selbst-Zurücknahme einzuordnen hat, d.h. an der Vorstellung eines Kosmos, auch wenn Tu-gendhat neuzeitlich von Universum spricht. Charles Taylor hat zu Recht auf den „Niedergang des Kosmos-bewusstseins“ in den letzten beiden Jahrhunderten „zugunsten der Vorstellung vom Universum“ hinge-wiesen: „Letzteres ist unermesslich groß, ohne absehbare Grenzen und von keinem offensichtlichen Ent-wurf getragen. Sofern es überhaupt eine Struktur aufweist, scheint diese für die Moral (und für das Selbst-verständnis des Menschen ganz allgemein; J. W.) eher nicht von Relevanz. Insbesondere die Menschheit und ihr kleines Drama, das sich auf der Oberfläche eines winzigen Planeten abspielt, auf einem Stern mitt-leren Ausmaßes, in einer Galaxie wie tausend andere, scheinen in diesem Universum gänzlich gleichgültig zu sein“ (Charles M. Taylor, Ein Ort für Transzendenz?, in: Information Philosophie Heft 2/2003, 7–16, hier 12). Wenn denn in der argumentativen Auseinandersetzung zwischen mystisch-monistischen Optio-nen und eher monotheistisch-personalen Traditionen der Projektionsverdacht eine Rolle spielen muss (Tugendhat macht ihn, wie noch zu referieren sein wird, gegenüber den Religionen nachdrücklich gel-tend), so wäre hier zu fragen, ob die mystische Option nicht selbst in das Universum das Fascinosum eines Einheits-Mysteriums hineinprojiziert und so einen Einheitsgedanken beerben will, der jedenfalls vom Gedanken der Selbstzurücknahme nicht gedeckt sein kann und dessen Abstützung auf „Erfahrung“ zum Projektionsargument geradezu einlädt. Dass die entsprechenden Einlassungen von Willigis Jäger zur Kompatibilität von Mystik und evolutionärer Weltanschauung eher noch weniger Anspruch erheben kön-nen, den Grundgedanken des All-Einen argumentativ aufzuweisen, darauf hat Thomas Ruster in dem oben zitierten Gesprächsgang deutlich und überzeugend hingewiesen.

76

dass trotz des abweichenden Wortlauts „die religiöse Haltung hier das Mystische in sich

aufnimmt“, ja, „dass sie damit aufhört, religiös zu sein und in die Mystik übergeht.“153

An Tugendhats Eckhart-Interpretation im Geist des Tao zeigen sich die problematischen

Aspekte dieser „mystischen“ Bestimmung des Verhältnisses von Endlichem und Unendli-

chem mit großer Prägnanz. Die mystische Selbstrelativierung ist bei Eckhart sicher nicht

identisch mit bereitwilliger Integration in das, was so absichtslos geschieht wie die Natur,

sondern mit einem gelassen-zulassenden Eingehen auf das, was von Gott her und durch ihn

geschieht, da sein Wille geschieht. Sie hat ihren Sinn im liebenden Sich-ergreifen-Lassen

von diesem Liebeswillen, der mir gilt und mich Gottes Willen gleichgestalten will. Das ist

kein Naturprozess, sondern ein Beziehungsgeschehen, auch wenn bei Eckhart die Kon-

notation des Gegenüber – vielleicht zu weitgehend – zugunsten des Ich-in-Gott und des Gott-

in-mir reduziert ist. Unangemessen aber wäre es, die personalen Ausdrücke durchgehend

als Metaphern für Nicht-Personales zu dechiffrieren, denn dann bliebe keine Möglichkeit

mehr, zwischen dem faktisch Geschehenden und dem Guten – Gottes Willen – zu unter-

scheiden. Auch das Beten ist bei Eckhart nicht einfach Sich-Abfinden mit dem Fakti-

schen, sondern Glaubens-Praxis des Hineinfinden und Mitvollziehens des guten Willens

Gottes.

Tugenhats problematische Verzeichnungen der Intentionen einer christlichen Mystik prä-

gen schließlich auch sein Verständnis der Liebe. Diese wird von ihm durchgreifend ent-

personalisiert und verliert so ihren Beziehungscharakter schließlich vollends. Die Idee

einer „allseitigen Liebe“ bezieht sich konsequent einseitig auf die Selbstzurücknahme ge-

genüber anderem und zuletzt gegenüber allem, was geschieht: gegenüber dem Universum.

Sie ist nach Tugendhat „kaum anders vorstellbar denn als allseitiges Mitleid oder desinter-

essierte Liebe.“154

Dass Liebe in diesem Sinne wesentlich negativ zu bestimmen ist – eben als Selbstzurück-

nahme –, scheint der mitmenschlichen Erfahrung der Liebe durchaus zu widersprechen,

liegt aber in der Konsequenz ihrer Entpersonalisierung. Liebe erscheint bei Tugendhat

zuletzt und entscheidend als eine Beziehung der Nicht-Beziehung: als die räumlich kon-

notierte Bereitschaft, sich weniger „breit zu machen“, damit auch die anderen einen Raum

haben neben mir und schließlich das „Universum“ – das, was sowieso geschieht – vollends

das Feld beherrscht. Liebe wird dann gleichbedeutend mit der Fähigkeit, den sinnlos- 153 Vgl. ebd., 142f. 154 Ebd., 147f.

77

egozentrischen Wider-Willen gegen das willenlos-natürlich Geschehende aufzugeben.

Christlich verstanden gilt die Liebe als das schöpferische Wohlwollen, das dem Anderen

gut will, ihm bzw. ihr gerade in ihrer Besonderheit zugeneigt ist. In dieser Zugeneigtheit

bereitet sie sich auch dafür, dass wir füreinander Geschenk sein, dass wir miteinander

„glücklich“ sein können. Gemessen an Tugendhats diesseitiger Mystik wäre dies nur eine

egozentrische Vorstufe der wahren „desinteressierten“ Liebe. Aber warum sollte wahre

Liebe desinteressiert sein – und nicht unendlich daran interessiert, dass sie beantwortet

und so zu einer wechselseitigen Wirklichkeit wird; unendlich daran interessiert, dass über

den „Seelenfrieden“ des Gleichmuts hinaus die liebenden Menschen füreinander und mit-

einander menschlich lebendig werden; unendlich auch daran interessiert, dass die Liebe

über Missachtung und Unterdrückung siege?155 Und bezogen auf einen Gott, der christ-

lich eben nicht gleichbedeutend ist mit dem Tao des unabhängig vom menschlichen Wol-

len und Sehnen geschehenden Naturprozesses: Was ist unvernünftig an einem religiösen

Glauben, der Gott als den ursprünglich und vollendend Liebenden versteht, der deshalb

unendlich an jedem einzelnen menschlichen Leben „interessiert“ und ihm bleibend zuge-

neigt ist; der so sehr an ihm „interessiert“ ist, dass er nicht mehr ohne es sein will – dass

er auf Dauer sein Leben mit ihm teilen will? Man kann natürlich von vornherein unterstel-

len, dass dieser Glaube reine Projektion ist, die nur den Sinn hat, dem in der Mystik voll-

zogenen Sich-selbst-nicht-so-wichtig-Nehmen auszuweichen. Aber ist man zu dieser Un-

terstellung gezwungen? Ist es tatsächlich vernünftig – gar das einzig Vernünftige –, die

„mystische“ Option der Selbstzurücknahme dem Glauben an einen Gott vorzuziehen,

dessen Liebe den endgültigen Untergang der Menschen in einem allumgreifenden Fatum

nicht will und nicht zulassen wird?

Damit sind wir zu der zweiten Voraussetzung zurückgekehrt, die oben für das Selbstver-

ständlichwerden der mystisch-monistischen Option seit den Diskussionen des Pantheis-

musstreits namhaft gemacht wurde: zur moralischen Diskreditierung des Glaubens an die

Vollendung der personalen Existenz des Menschen in der Lebensgemeinschaft des drei-

persönlichen Gottes. Sie begegnet bei Tugendhat als philosophische „Fassungslosigkeit“

gegenüber einer Religion, die das Ich so wichtig nimmt, dass auch das Universum es

wichtig nehmen sollte – und die deshalb einen personalen Gott braucht, der die Wichtig-

155 Diesem ungestillten Gerechtigkeitsinteresse der Liebe gilt die „mystische Selbstrelativierung“ in der von Johann Baptist Metz zur Sprache gebrachten Mystik der offenen Augen; vgl. oben Kapitel 3.8.

78

keit der Menschenpersonen verbürgen soll. Werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf

die Problemgeschichte seit dem Ende des Pantheismusstreits!

3.13 Der Eine will nicht ohne die Vielen sein

Dass der Spinozismus mit dem Glauben an eine Lebensvollendung der einzelnen

menschlichen Person bei bzw. durch Gott schwer vereinbar ist, wurde von den Kontra-

henten des Pantheismusstreits deutlich gesehen. Jacobi berichtet von einem Gespräch mit

Lessing, in dem dieser eine „mit Persönlichkeit verknüpfte Fortdauer des Menschen nach

dem Tode“ zwar „nicht für unwahrscheinlich“ gehalten habe. Er vermutet aber, dass Les-

sing dabei mehr an eine Wiedergeburtslehre als an das christliche Bekenntnis zur Aufer-

weckung der Verstorbenen dachte.156 Der ebenfalls oben als Gewährsmann einer mo-

nistisch-spinozistischen Option angeführte Georg Christoph Lichtenberg äußert sich deutlich

im Sinne eines Verlöschens individuellen menschlichen Lebens im Tod. Und er greift für

seine Lebens- und Sterbensperspektive auf eine eindrucksvolle und traditionsreiche Na-

tur-Metapher zurück. „Mein Gott, wie verlangt mich“ – so bekennt er – „nach dem Au-

genblick, wo die Zeit für mich aufhören wird, Zeit zu sein. Wo mich der Schoß des müt-

terlichen Alles und Nichts wieder aufnehmen wird“157. Die Rückkehr zur Natur, in ihren

„Mutterschoß“, wird zur Metapher des Sterbens, die im Umfeld der Romantik vielfach

das Feld beherrscht. In dieser Rückkehr erlischt mit dem Ichsagenkönnen jede Selbst-

sucht: Sterben wird zur großen Tat der Selbsthingabe an die alles bergende, aber auch

alles verzehrende Natur – und in den eher materialistischen Umkehrungen der Romantik

zur bereitwilligen Selbstaufopferung an den Selbstsetzungsprozess der Menschengattung.

Dem „Verzehrtwerden“ entspricht eine Mystik „des Geborgenwerdens in und durch die

alte Physis. Die das Schimmlige, das (individuelles; J. W.) Leben heißt, das Unrecht, das

Individuum heißt, in sich zurücknimmt.“158

156 Friedrich Heinrich Jacobi, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, 40f. 157 Hier zitiert nach: Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a. M. 1959, 1350f. Vgl. die kommen-tierenden Überlegungen in meinem Buch: Glaube im Kontext. Prolegomena und Skizzen zu einer elemen-taren Theologie, Nachdruck St. Ottilien 1987, 482f. 158 Vgl. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 1364.

79

Das alles verzehrende Universum mag „anorganische Natur“, später auch „Unbewuss-

tes“, es mag „Leben“, „Materie“ oder „Menschengattung“ heißen: immer bedeuten Ster-

ben und Tod die Aufhebung der Eigenständigkeit und der Besonderung, das „Aufgehen“

der individuellen Existenz in einen alles umgreifenden und in sich zurücknehmenden Ur-

grund. Ludwig Feuerbach kommt hier mit seiner monistisch-pantheisierenden Frühschrift

„Gedanken über Tod und Unsterblichkeit“ eine aufschlussreiche Zwischenstellung zu. Er

sieht in Gott selbst – in der Liebe, die er ist – die alles Individuelle verzehrende und in

sich aufhebende Macht:

„Gott … opfert das natürliche selbstische Bestehen aller Kreaturen sich selbst auf; er ist die alles verzeh-

rende und in sich auflösende Liebe. Gott ist Person; aber er ist mehr, unendlich mehr noch als Person; er

ist Person, die lautere Liebe ist; es muss daher in Gott, sozusagen, einen Ort geben, wo alles besondere

Wesen, alle Kreaturen eins, verzehrt, aufgehoben sind. Die Dinge und alle besonderen Wesen vergehen

daher nicht unmittelbar und eigentlich in der Zeit, sondern in Gott selbst. Der letzte Grund aller Vergäng-

lichkeit ist Gott“159.

In seinen späteren Schriften ersetzt Feuerbach den pantheisierend verstandenen Gott

durch das, was diese Vorstellung nach der spinozistischen Maxime deus sive natura immer

schon mitbestimmt: durch den Gedanken der Natur. So wird der Ruf nach nichtegois-

tisch-liebender Selbsthingabe zur Forderung nach Selbstaufopferung an das Leben, an das

unendliche und ewige „Naturwesen“. Das sterbende Individuum rückt ein ins unsterbli-

che Universum, so wie es sterbend zur Erde zurückkehrt. Ernst Bloch sieht darin „Poeti-

sierungen des mechanischen Materialismus … Versuche, aus der individuellen Vernich-

159 Ludwig Feuerbach, Gedanken über Tod und Unsterblichkeit, in: Werke ins sechs Bänden, hg. von E. Thies, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1975, 77–349, hier 99. Dass die Besonderheit der Menschen, aber auch die „personale“ Besonderheit und Eigenständigkeit eines göttlichen Wesens in die alle Besonderheit, alle Lie-bes-Transzendenz“ ausschließende, wesentlich nicht-egoistische Macht der Liebe aufgehoben wird, dieser Gedanke findet seine Resonanz auch noch in Feuerbachs „Wesen des Christentums“ (vgl. in: Werke in sechs Bänden, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1976, 310f.), wo Feuerbach ausdrücklich und hervorgehoben sagt: „Gott ist die Liebe heißt: Gott ist nichts für sich“. Die Fortsetzung des Gedankens nimmt dann aber eine überraschende und von Feuerbach selbst nicht konsequent zu Ende gedachte Wendung. Es heißt weiter: „wer liebt, gibt seine egoistische Selbstständigkeit auf; er macht, was er liebt, zum Unentbehrlichen, We-sentlichen seiner Existenz.“ Heißt das nicht, dass der Liebende nicht ein und alles sein, sondern in Beziehung leben will? Feuerbach biegt diese naheliegende Konsequenz sofort um: „Der Begriff Liebe ist der der Identität. Aber zugleich taucht doch wieder, während ich in die Tiefe der Liebe das Selbst versenke, der Gedanke des Subjekts auf und stört die Harmonie des göttlichen und menschlichen Wesens, welche die Liebe gestiftet.“ Aber warum muss diese „Harmonie“ Identität bedeuten? Die Unklarheiten des Gedan-kens zeigen bei Feuerbach deutlich die Unausgewiesenheit seines „monistischen“ Konzepts.

80

tung durch den Tod eine generelle Erhebung zu machen. Eben auf der Basis des Unend-

lichen, auch Unbewussten, das das endliche Bewusstsein umschließt“ 160.

Die Hoffnung auf Rettung der individuellen Existenz und Eigenständigkeit bzw. die Ver-

weigerung gegenüber dem Sich-selbst-Zurückstellen in das Universum schon hier und

jetzt gilt als Ursünde des Sich-allzu-wichtig-Nehmens; als die Ur-Versündigung gegen die

Macht der Liebe oder gegen die gemeinschaftliche Emanzipation des Menschenge-

schlechts. Diese Ursünde kann nur und wird Erlösung finden durch Einübung ins Sich-

selbst-Zurücknehmen, durch die Mystik des Einsseins mit der Natur, mit dem Menschen-

geschlecht, mit der alles sich aufopfernden Liebe, wie sie sich am Einzelmenschen dann

mit seinem Tod unwiderruflich ereignet. Überwunden scheint das christliche Verständnis

der Sünde als ein Vergehen gegen Gott selbst, das eine personale Vergebung nötig mach-

te, für diesen Fall aber – als felix culpa – auf eine jenseitige Heilsperspektive verwies. Ü-

berwunden ist auch die naive Vorstellung eines von Gott ausgehenden „Eingriffs“, der

den Menschen ersparen soll, was ihnen nun einmal nicht erlassen werden kann: die Ü-

berwindung ihres Wider-Willens gegen die alles verzehrende Liebe, gegen das Aufgehen

im Universum, die Einübung der Selbstlosigkeit.

Aber ist diese Naivität wirklich so naiv, so unvernünftig, wie hier unterstellt wird? Ist es

etwa weniger naiv, Eigenständigkeit und Eigenständigseinwollen schon als den Sündenfall

der Egozentrik anzusehen – als das schlechterdings Nicht-sein-Sollende? Ist es wirklich

das einzig Vernünftige, die Sehnsucht nach einer Beziehung, in der ich meine Besonder-

heit ebenso „gerettet“ sehe, wie ich die Besonderheit meines bzw. meiner Geliebten wah-

re und gewahrt sehen möchte, mit der Hingabe an die „Macht der Liebe“ hinter mir zu

lassen oder schließlich im Tod aufzuopfern, damit sie von ihm aufgebrochen werde? Ist

es wirklich so naiv, darauf zu bestehen, dass die Missachtung der Eigenwirklichkeit des

Anderen, seine Ent-Würdigung und damit die Missachtung des Schöpfers, der die Würdi-

gung schenkt und mitvollzogen sehen will, Sünde gegen ihn wie gegen seinen Schöpfer

ist? Und daran zu glauben, dass Gott seinen guten Willen, in dem er die Gutheit und

Schönheit seiner Geschöpfe gewürdigt sehen will, durch seinen Geist und die Menschen,

die sich von ihm ergreifen lassen, gegen die Macht der Sünde in der Geschichte Wirklich-

keit werden lässt?

160 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 1358.

81

Die Unterstellung, all das sei zu naiv, um vernünftig sein zu können, hat ihre Plausibilität

allein darin, dass man für selbstverständlich zu halten geneigt ist, die Menschen gäben sich

hier naiven Hoffnungen hin. Und sie illustrierten diese Hoffnungen mit den Bildern eines

anthropomorph-personalen Retter-Gottes; sie kompensierten darin die Weigerung, auf

ihren Egoismus zu verzichten, mit Projektionen, die ihnen eine unvergängliche individuel-

le Wichtigkeit bestätigen sollen. Nach den Erfahrungen zweier Jahrhunderte, in denen die

Erlösung von der Individualität und einer unaufgebbaren individuellen Personwürde auf

den verschiedensten Wegen erzwungen werden sollte, erscheint es eher naiv, den Wider-

Willen gegen Selbstaufopferung für naiv zu halten. Und es erscheint überdies naiv, nur die

Personalismen des Gottesglaubens und nicht auch die eben dargestellten, mehr oder we-

niger „monistischen“ Vorstellungen für „anthropomorph“ zu halten, für menschlich-

allzumenschliche Vorstellungsmuster. Gott „in sich“ kann nicht in solchen Mustern und

Modellen erfasst werden – seien sie personal oder impersonal, an männlichen Bilder oder

an weiblich Bildern orientiert, seien sie räumlich oder eher zeitlich konnotiert. Solche Bil-

der und Vorstellungen müssen als Metaphern vollzogen werden, als Wege, die immer

wieder neu über begriffliche und damit auch antithetische Festlegungen hinausführen.

Das hat die negative Theologie der Theologie wie dem Glaubensbewusstsein eindrucks-

voll ins Stammbuch geschrieben. Sie hat auch dies deutlich gemacht – jedenfalls in ihrer

christlichen Ausprägung: dass eine „zweite Naivität“ (Paul Ricœur) unausweichlich ist, in

der man um die Metaphorizität von Gottes-Metaphern weiß und sie dennoch gebraucht,

weil man auch weiß, dass sie die uns geschenkten und eröffneten Wege sind, mit dem

Göttlichen vertraut zu werden und sich von ihm herausfordern zu lassen.161 Aber die

Naivitätsunterstellung hat ja in der Religionskritik noch einen weiteren, vielleicht den

zentralen und in den eben skizzierten Positionen immer schon angezielten Angriffspunkt:

Abgründig naiv ist es, sich selbst für den Mittelpunkt des Universums zu halten und die

Welt als um meinetwillen daseiend vorzustellen. Ebenso naiv wäre es, an einen Gott zu

glauben, der mir das verbürgen soll. Naiv schon deshalb, weil Gott hier eigentlich kein

anderes Daseinsrecht hat, weil er deshalb existieren „muss“ und dazu da ist, dass ich mich

naiv für unendlich und unaufhörlich bedeutsam halten kann. Ist diese Naivität nicht letzt-

lich doch entlarvend und unentschuldbar, jedenfalls unvernünftig?

161 Vgl. die Thesen meines Buches: Bilder sind Wege. Eine Gotteslehre, München 1992.

82

Das Kritik-Argument begegnet explizit bereits an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhun-

dert in einem zu Unrecht Spinoza zugeschriebenen „Traktat über die drei Betrüger“. Der

Gedanke geht hier schon in zwei Richtungen und will über den „Ursprung der Götter“

aufklären:

„Die Menschen glaubten, dass sie ihnen ähnelten und wie sie selbst alles um eines Zweckes willen tun. So

bekennen und glauben sie alle einhellig, dass Gott alles nur um der Menschen willen geschaffen hat, und

umgekehrt, dass der Mensch allein für Gott geschaffen wurde.“162 „Die Menschen waren also von der

lächerlichen Meinung eingenommen, dass alles, was sie sehen, ihretwegen erschaffen worden sei, und

machten es zu einem Bestandteil der Religion, alles auf sich selbst zu beziehen und den Wert der Dinge

nach dem Nutzen zu beurteilen, den sie aus ihnen ziehen.“163

Die Menschen konnten nach diesem Entlarvungsgedanken alles auf sich hin zentrieren,

weil sie Gott die Vor-Sorge zutrauten, alles auf die Menschen hin vorgesehen zu haben. Die-

se Vorsorge aber war ihm zu vergelten, indem man ihn allein in die Mitte des menschli-

chen Lebens rückte und sich denen unterwarf, die ihn auf Erden repräsentierten. Nietzsche

greift den Gedanken in seiner doppelten Ausrichtung auf. Es ist der Gedanke der Schwa-

chen, die es mit ihrer Endlichkeit nicht aushalten, und von den „Priestern“ ein Angebot

gemacht bekommen, das gerade den Schwachen und Zurückgebliebenen die höchste Be-

deutsamkeit zuspricht. Und gerade dieser „Steigerung jeder Art Selbstsucht“ verdankt das

Christentum seinen welt- und religionsgeschichtlichen Erfolg – dem Versprechen eines

Heils für die Seele, das doch in Wirklichkeit verspricht: „die Welt dreht sich um mich“.

Mit dieser „erbarmungswürdigen Schmeichelei vor der Personal-Eitelkeit“ hat das Chris-

tentum seine Karriere als Weltreligion der Trostbedürftigen gemacht.164 Aus dem „Res-

sentiment der Massen“ hat es „sich seine Hauptwaffe geschmiedet gegen uns, gegen alles

Vornehme, Frohe, Hochherzige auf Erden, gegen unser Glück auf Erden … Die ‚Un-

sterblichkeit’ jedem Petrus und Paulus zugestanden war bisher das grösste, das bösartigste

Attentat auf die vornehme Menschlichkeit“165. Denn dies war ja der Preis, dem man dem

göttlichen Garanten der Unsterblichkeit zu zahlen hatte: das Glück, das diese Erde für die

Starken und Lebenstüchtigen bereit hält.

162 Anonymus, Traktat über die drei Betrüger, 20f. (2. Kapitel, § 2). 163 Ebd., 28f. (2. Kapitel, § 7). 164 Vgl. Der Antichrist, Aph. 43, KSA 6, 217. 165 KSA 6, 218.

83

Die Kritik am Unsterblichkeits- bzw. Auferstehungsglauben richtet sich nicht nur gegen

eine naive Projektion eines personalen Jenseitsraumes und eines Diesseits, das wie dieses

Jenseits ganz auf die Bedeutung jedes einzelnen Menschen zentriert wäre. Sie zielt auf den

Preis, den diese Projektionen kosten: Sie machen den Menschen unfähig, wirklich diessei-

tig zu leben und mit dem glücklich zu werden, was in dieser Welt erreicht werden kann;

mit dem alle glücklich werden könnten, wenn sie es nicht Gott für ihr „ewiges Heil“ auf-

opferten. Dieses „überschießende“ Kritikmotiv hat seine Plausibilität inzwischen weitge-

hend eingebüßt. Es mag zwar zeitbedingt – im Blick auf eine entsprechende Theologie

und Verkündigungspraxis – mehr oder weniger überzeugend gewesen sein, den christli-

chen Auferstehungsglauben als weltfeindlich und als Entwertung des Diesseits zu denun-

zieren. Aber entspricht das wirklich den grundlegenden Intuitionen der biblischen Got-

teszeugnisse? Entspricht es den Zeugnisses des Glaubens an Gott den Schöpfer und den

Vollender der Schöpfung? Weshalb sollte es das Diesseits und das in ihm erreichbare

Glück entwerten, wenn man die Welt als Gottes Geschenk und als ein Versprechen ver-

steht, das die Liebe noch über diese Welt hinaus erfüllen will? Ist es nicht vielmehr so,

dass die liebende Sorgfalt für dieses Geschenk dazu motiviert, seine Gutheit und Schön-

heit jetzt schon zu hegen und zur Entfaltung zu bringen? Kann es nicht so sein, dass die

Hoffnung auf eine Erfüllung des in diesem Geschenk liegenden Versprechens auch über

den Tod hinaus tiefer in die als Versprechen erlebte Weltwirklichkeit hineinführt als der

oft so verzweifelte Versuch, der Welt hier und jetzt alles abzuringen? Über die Naivität,

den christlichen Auferstehungsglauben als welt-entwertend, weil jenseitsfixiert entlarven

und erledigen zu wollen, mag man aus heutiger Perspektive eher staunen. Die verblüffen-

de Selbstverständlichkeit, mit der die Kritiker annahmen, dem Auferstehungsglauben

durch dieses Argument den Todesstoß zu versetzen, hat den Schriftsteller Erhart Kästner

zu der Frage provoziert: „Sind sie so unweise, dass sie nicht wissen, Freude ist immer

Vorfreude?“166 Als weltfeindlich und deshalb unvernünftig wird man die christliche Aufer-

stehungshoffnung also gewiss nicht von vornherein abtun können. Aber es bleibt der

Vorbehalt gegen die „Naivität“ einer Hoffnung, die aus dem Sich-nicht-zurücknehmen-

Wollen und aus der nutzlosen Revolte gegen das Sterbenmüssen geboren scheint; gegen

einen Gedanken, der offensichtlich den Wunsch zu seinem „Vater“ hat; gegen eine Pro-

jektion, die ebenso offenkundig alles in den Dienst menschlicher Unendlichkeitssehn-

166 Erhart Kästner, Aufstand der Dinge, Frankfurt a. M. 1976, 212.

84

sucht stellen will. Und diese „religiöse“ Projektion erscheint auch Ernst Tugendhat noch

als zutiefst unvernünftig, weshalb er religiöse Weltdeutungen generell für unglaubwürdig

hält und nur die mystische Praxis des Sich-ins-Universum-Zurücknehmens für vernünftig

begründbar hält.

Sehen wir uns Tugendhats Projektionsthese genauer an! Religion ist für ihn „der im Hil-

febedürfnis gründende Glaube an Gott“. Sie ist entscheidend vom „pragmatischen Mo-

tiv“ bestimmt: vom „Bekümmertsein um die Erfüllung der eigenen Wünsche“, wie dies

vor allem im Bittgebet zum Ausdruck kommt.167 Die Unterscheidung zwischen Mystik

und religiösem Gottesglauben wäre dann so zu treffen: Der Weg der Mystik besteht darin,

„dass man das Gewicht, das die eigenen Wünsche für einen haben, relativiert oder geradezu leugnet, also

eine Transformation des Selbstverständnisses (versucht; J. W.). Der Weg der Religion hingegen besteht darin,

dass man die Wünsche lässt, wie sie sind, und statt dessen eine Transformation der Welt mittels einer

Wunschprojektion vornimmt: die Macht, die die Menschen umgibt, wird zu diskreten Wesen verdichtet,

von deren Wirken man sich vorstellen kann, dass (davon; J. W.) das eigene Glück oder Unglück abhängt,

und die als von uns beeinflussbar angesehen werden. Ein solches Beeinflussen ist auch durch Riten und

Magie denkbar, aber es ist nahe liegend, sich diese machtvollen Wesen personalisiert vorzustellen, so dass

man sich zu ihnen auf analoge Weise verhalten kann wie zu mächtigen Mitmenschen: bittend, dankend,

ihre Macht anerkennend und sich ihnen gegenüber für verantwortlich ansehend.“168

Die Götter oder der eine Gott haben hier die Aufgabe, das Universum auf das Wohlerge-

hen der ihnen verbundenen Menschen abzustimmen. Die Gottesgläubigen scheinen dann

nicht mehr zu einer „Transformation ihres Selbstverständnisses“ im Sinne eines Sich-

Zurücknehmens genötigt. Sie dürfen sich ja vorstellen, mit ihren Wünschen und speziell

mit ihrem Sich-unendlich-wichtig-Nehmen im Universum zum Ziel kommen zu können.

Religiöse Praxis und speziell das Beten will auf Gott Einfluss nehmen, damit die eigenen

Wünsche zuverlässig Erfüllung finden. An diesem „pragmatischen Motiv“ lässt sich nach

Tugendhat die Wesensdifferenz zur Mystik am deutlichsten erkennen. Mystik hat das

„pragmatische Motiv“ hinter sich gelassen, weshalb die Praxis des Betens, wo sie in der

Mystik doch noch vorkommt, in ihrer Intention radikal zum mystischen Einverständnis

uminterpretiert werden muss.169

167 Vgl. Ernst Tugendhat, Egozentrizität und Mystik, 138f. 168 Ebd., 122. 169 Ich habe oben dargestellt, in welchem Sinne Tugendhat bei Meister Eckhart eine solche Umformung der Gebetspraxis gegeben sieht.

85

Tugendhats Religionsbegriff ist strikt vom Gegensatz zur mystischen Selbst-

Zurücknahme ins En kai pan – in das All-Eine – bestimmt. Die „Personalisierung“ des

Göttlichen kann deshalb nur den Sinn haben, das Universum als durch personale Kom-

munikation beeinflussbar vorzustellen und es dazu bringen zu wollen, den eigenen Wün-

schen entgegenzukommen. Aus der Perspektive der biblischen Überlieferungen ist die

Festlegung auf dieses „pragmatische“ Religionsverständnis eher befremdlich. Die Gebets-

praxis ist gewiss auch biblisch für den Gottesbezug zentral. Und sie bestimmt das „perso-

nale“ Profil dieses Gottesbezugs entscheidend. Aber es kann keine Rede davon sein, dass

dabei das von Tugendhat geltend gemachte „pragmatische Motiv“ vorherrscht. Das mag

man sich etwa am Vaterunser vergegenwärtigen.170

Die Betenden bringen sich hier in ihrer Alltagsnot wie in ihrer Glaubensnot in ihr Gebet

ein. Das Gebet gibt ihnen die Möglichkeit, sich ganz in der kommunikativen Beziehung

zum „Vater“ auszusprechen, sich ihm zu öffnen und darum zu bitten, dass in dieser Be-

ziehung sein guter Wille immer mehr geschehe. Weil ich daran glauben darf, dass dieser

gute Wille auch mir gilt – und dir und jedem Betenden zugute kommen wird –, deshalb

suchen wir im Beten danach, wie er uns und allen geschehen kann und wie wir selbst in

dieses Geschehen einbezogen sein können. Wir beten um das Kommen der Gottesherr-

schaft. Wir rufen sie gleichsam herbei in der Glaubenshoffnung, dass dies ihrem Kom-

men und dem Geschehen des guten Gotteswillens den Weg bereitet. Wir halten uns be-

tend am „Vater“ fest, nicht um der „Transformation unseres Selbstverständnisses“ aus-

zuweichen, sondern gerade um uns in Gottes guten Willen hineinzubeten. Dabei wird die

Alternative zwischen pragmatischer Einflussnahme und Sich-Ergeben gerade nicht hinge-

nommen. Und sie muss nicht hingenommen werden, weil die Beziehung zwischen den

Betenden und ihrem „Vater“ als kommunikative gelebt wird: als Sich-Anvertrauen und

Sich-Zumuten in der hoffnungsvollen Suche nach dem Weg in die Gottesherrschaft, der

in den Engpässen und Ausweglosigkeiten des individuellen wie des gemeinschaftlichen

Lebens immer wieder neu von Ihm geöffnet werden muss. Beten heißt Sich-Hineinbeten

in das geliebte Ein-und-Alles, das mir gleichwohl ein Gegenüber und ein Voraus bleibt und

zum Innersten werden möge. Beten heißt Sich-Hineinbeten in das „Leben Gottes“, das uns

„nicht als äußere Macht“ gegenübertritt, „die sich uns einverleibt und uns dabei zerstört.“

Aber – so Peter Strasser – „gegenübertreten muss uns Gott doch. Das macht es so schwie- 170 Die nun folgenden kurzen Hinweise können auf dem Hintergrund meiner Überlegungen in: Gebets-glaube und Gotteszweifel, 81–101, gelesen werden.

86

rig, ihn zu verstehen.“ Er ist das Ein-und-alles, in dem wir sind und in das wir uns hinein-

beten. Und er ist der Gegenüber-Seiende, der uns für seinen guten Willen gewinnen will,

dessen guten Willen wir uns betend anvertrauen, den wir ansprechen, in den wir uns hi-

neinsprechen und den wir in unsere Mitte rufen. Wir beten – so sagt es wieder Peter

Strasser – „zu dem Gott auf beiden Seiten der Grenze“: zu dem Unendlich-

Umgreifenden, in den wir uns hineinbeten, und zu dem unendlich Herausfordernden, der

uns im Gegenüber widerfährt und unendlich voraus ist. Im In-Sein ist uns ein Bezie-

hungsraum eröffnet, in dem Er uns je neu zum Gegenüber und zur konkreten Herausfor-

derung wird – und wir bitten darum, sie zu erkennen und sie annehmen zu können. Wir

beten zum „Vater“, der uns Herkunft und Zukunft ist und zum Gegenüber wird, im

Geist, der uns in Ihm und Ihn in uns sein lässt. Wir beten zu einem Gott, „der zugleich

persönlich und alles ist“, zum Vater im Himmel, da, wo der „Riss“ zwischen dem Alles-

in-Allem und dem Einander-gegenüber-Sein geheilt ist.171

Es sind Metaphern, in denen das alles ausgesagt werden kann, Metaphern des Raumes, die

zugleich raum-transzendierenden Vorstellungen den Weg bereiten; Metaphern für eine

Kommunikation – für einen Kommunikationsraum – „worin“ die strikte Unterscheidung

von „In“ und „Gegenüber“ keine letzte Gültigkeit mehr hat. Dass die Metaphern keines-

wegs unvernünftig reden, lässt sich beim Blick auf mitmenschliche Kommunikationser-

fahrungen wahrnehmen, in denen das Zugleich von Gegenüber und wechselseitigem „In-

Sein“ zugänglich ist. Hegel hat daraus die Konsequenz gezogen, den Begriff des Unendli-

chen nicht mehr vorrangig räumlich, sondern kommunikativ zu bestimmen: von dem e-

ben angesprochenen Zugleich des „In“ und des „Gegenüber“ her. Das „wahrhaft Unend-

liche“ ist nicht mehr durch seinen Gegensatz zum Endlichen bestimmt. Es ist nicht mehr

das bloße „Jenseits“ zu einem davon ausgeschlossenen Diesseits, kein in sich selbst un-

endliches Diesseits gegen ein Jenseits. Es ist vielmehr darin unendlich, dass es seines An-

deren – des Endlichen – fähig ist; dass es vermag, das Andere sein zu lassen und ihm

zugleich „ewig“ und immer wieder neu den Beziehungsraum öffnet, in dem es vom Un-

endlichen her, durch es und auf es hin es selbst sein kann.172 Der wahrhaft Unendliche

vermag im anderen seiner selbst bei sich selbst und er selbst zu sein. Er vermag es, so er

171 Vgl. Peter Strasser, Der Gott aller Menschen, 108 und 191. 172 In diesem Sinne hat etwa Wolfhart Pannenberg Hegels Gedanken des „wahrhaft Unendlichen“ aufge-griffen; vgl. Systematischen Theologie, Bd. 1, Göttingen 1988, 429–433. Bei Hegel vgl. Wissenschaft der Logik, Werke in zwanzig Bänden, hg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1969, 156–166.

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selbst zu sein, dass der Andere er selbst sein kann. Genau darin – in dieser schöpferischen

Entsprechung – ist er für Hegel Person. In der mitmenschlich-kommunikativen Erfahrung

ist dieser Begriff des Unendlichen und der Person zumindest anfanghaft zugänglich: Per-

sonsein realisiert sich in einer Zuwendung, die mich zuinnerst ergreift und begegnungsfä-

hig macht, so dass wir füreinander, miteinander und für die anderen wir selbst sein kön-

nen. Der darin eröffnete Beziehungsraum ist gerade nicht der Raum eines äußerlich blei-

benden Aufeinander-wirken- und Einander-bestimmen-Wollens. Er ist vielmehr der

„Raum“ eines Miteinanders und Füreinanders, bei dem das Gegenüber zugleich das zuin-

nerst Mit-Gewollte und Erwünschte ist. Es bestimmt mich nicht von außen; es ergreift

mich vielmehr zuinnerst mit meiner ganz-personalen Zustimmung und ruft mich so zuin-

nerst zu mir selbst hervor.173

Warum sollte diese Erfahrung nicht auch ein Zugang zum Verständnis einer personalen

Gottesbeziehung sein können? Gott: die personale Wirklichkeit, die mich durch ihr In-

mir-Sein und dadurch, dass ich in ihr sein darf, begegnungsfähig macht und mir den Be-

gegnungsraum für eine gemeinsame Geschichte eröffnet, in der es entscheidend darum

geht, dass ihr guter Wille mir und allen anderen zugute geschieht? Gott: jene Wirklichkeit

der freien Zuwendung und Selbstgabe, die sich mir so gibt, dass ich mir selbst gegeben

werde – Nikolaus von Kues hat diese Mystik der Beziehung einfühlsam ins Wort, ins Ge-

bet gebracht:

„… wie wirst Du Dich mir geben, wenn Du mich nicht mir selbst gibst? Und wenn ich so im Schweigen

der Betrachtung verstumme, antwortest Du mir, Herr, tief in meinem Herzen und sagst: Sei du dein und

ich werde dein sein …

Du machst die Freiheit notwendig, da Du nicht mein sein kannst, wenn ich nicht mein bin. Und weil Du

das in meine freie Entscheidung gelegt hast, zwingst Du mich nicht, sondern erwartest, dass ich mein

eigenes Sein erwähle.“174

Tugendhats Religionsverständnis unterbietet diese Gottesbeziehungsmystik signifikant. Es

lässt ihn von der „Personalisierung“ eines göttlichen Gegenüber nur in dem Sinne spre-

chen, dass der Religiöse sich ein universelles Gegenüber projiziert, um – pragmatisch –

173 Dieser Gedanke ist im Trinitätskapitel (7.) zu vertiefen. 174 Nikolaus von Kues, De visione Dei, in: Philosophisch-Theologische Schriften, Bd. 3, 93–219, hier 121–123.

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auf das Ein-und-alles Einfluss nehmen zu können.175 Noch in dieses „religiöse“ Konzept

spielt eine Raumvorstellung hinein, in der die im Raum Vorkommenden einander äußer-

lich bleiben und deshalb auch nur äußerlich – gewissermaßen in der Außenperspektive –

aufeinander wirken können: nach dem Schema eines Kraftimpulses, der den Anderen, auf

den dieser Kraftimpuls wirken soll, in den gewünschten Zustand bzw. die gewünschte

Lage versetzt. Dass dieses äußerlich-räumliche Verständnis des Verhältnisses von unend-

licher Person und endlichen Personen auch die in der Wirkungsgeschichte biblischen

Glaubens gelebten Gottesbeziehungen immer wieder nachweisbar bestimmt, soll nicht

bestritten werden. Aber die Unterstellung, dieses äußerlich-räumliche Verständnis mache

den Sinn von Religion, speziell des biblisch-personalen Gottesglaubens aus, verrät wenig

Kenntnis von der inneren Dynamik biblischen Gottesglaubens und von der Inspirations-

kraft christlicher Gotteshoffnung. Sie verrät aber auch ein eigentümlich eingeschränktes

Verständnis der „Liebe“ zum Göttlich-Unendlichen. Wer daraus den Vorzug einer we-

sentlich apersonalen Mystik gegenüber der personifizierenden religiösen Gottesprojektion

ableitet, kann kaum den Anspruch erheben, die so verstandene Mystik als die einzig ratio-

nale Option in der Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Unendlich-Einen und

den Endlich-Vielen begründet zu haben. Und er kann allein aus der Tatsache, dass der

religiöse Glaube an den Gott, der die Menschen in der Gemeinschaft mit sich personal

vollenden will, einer ichbezogenen menschlichen Sehnsucht entspricht, nicht schon über-

zeugend auf die Unvernünftigkeit dieses Glaubens schließen.

Das neuzeitliche Rationalitätsideal ist an einem Verständnis von Objektivität orientiert,

das die Innenperspektive der Erkennenden – ihre Hoffnungen, ihre Sehnsucht, ihre Lei-

den, ihre Erfahrungen von Erfüllung und Bejahung – möglichst ausblendet. Es ist ge-

neigt, eher solche Erfahrungen als objektiv anzunehmen, die dem subjektiven Interes-

siertsein des Erkennenden entgegen gesetzt sind, es „enttäuschen“. Allein in solchen Er-

fahrungen scheint sich die objektive Realität gegen wunschbestimmte Projektionen – ge-

gen jedes subjektive Beteiligt- und Interessiertsein – durchsetzen und Erkenntnis begrün-

den zu können. So wird man hier erkenntnistheoretisch kaum noch damit rechnen, dass

175 Vergleichbar ist Sigmund Freuds These, die religiöse Einstellung sei die Universalisierung frühkindli-cher Hilflosigkeit und die Projektion eines universellen Vaters, die auch die erwachsene Hilflosigkeit ge-genüber dem All nach dem Schema der frühkindlichen Inanspruchnahme des übermächtigen Vaters zu bewältigen versuche; vgl. die Passage in den Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse und Neue Folge, in: Sigmund Freud Studienausgabe, hg. von A. Mitscherlich – A. Richards – J. Strachey, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1969, 591, die mit der Conclusio endet: „Endlich hat man sich im Gebet einen direkten Einfluss auf den göttlichen Willen und damit einen Anteil an der göttlichen Allmacht gesichert.“

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sich Hoffnungen auch als rational tragfähig – ja als verlässlich – erweisen können. Und

man ist geneigt zu verkennen, dass die menschliche Sehnsucht ja die Räume öffnet, in die

hinein vernünftige Wahrheitssuche dann methodisch ihren Weg bahnt.176 So erscheint

auch die religiöse Artikulation menschlicher Sehnsucht – etwa im Gebet – in Tugendhats

Wahrnehmung generell als die irrationale Weigerung, sich der „Transformation unseres

Selbstverständnisses“ durch radikale Selbstrelativierung auszusetzen, die uns die Ichlosig-

keit des „Universums“ abverlangt. Religion ist in dieser Perspektive gleichbedeutend mit

der Fixierung auf eine Egozentrik, die das Universum verändern will, statt sich selbst zu

verändern.

Biblischer Auferstehungslaube ist Glaube an die alles verwandelnde Liebe, die Gott ist

und in der er die Menschen in seine Unendlichkeit hinein nehmen will; Glaube an die Un-

endlichkeit dieser Liebe. Unendlich ist sie gerade darin, dass sie sich den Menschen zu-

wendet. Und sie realisiert sich gerade darin, dass sie nicht mehr ohne die von ihr und in

ihr Geliebten sein will. Unendlich ist sie schließlich darin, dass die Menschen sich durch

sie herausgefordert erfahren, sich ihr anzugleichen und sich von ihr von Grund auf ver-

wandeln zu lassen. Insofern sollten an diesen Gott Glaubende „danach streben, dem Ge-

danken der Transformation einen glaubwürdigen Ausdruck zu verleihen.“177 Gäbe es ei-

nen glaubwürdigeren Ausdruck als die Entschlossenheit, dieser unserer Transformation

und der Transformation unserer Welt durch uns selbst wie durch Ihn etwas zuzutrauen,

ihr alles zuzutrauen, alles Gute zuzutrauen?

3.14 Gott: die unendliche und unendlich verheißungsvolle Herausforderung

Der Parcours durch die Diskussionen um Einheit Gottes hat vielfältige Problemlagen und

spannungsreiche, z. T. widersprüchliche Optionen berührt. Antiker wie moderner Poly-

theismus und monistische Positionen schienen vereint in der Kritik am biblischen Mono-

theismus, an den „Dualismen“, die sich – so Jan Assmann – allesamt der Mosaischen Un-

terscheidung verdanken und Gott zum ganz Anderen der Welt machen: zur Referenz-

Wirklichkeit der Weltverneinung, zumindest der Weltentwertung, zum Initiator einer Er-

176 Vgl. meine erkenntnistheoretischen Überlegungen in: Den Glauben verantworten, 59ff. 177 Peter Strasser, Der Gott aller Menschen, 194.

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lösung, die letztlich von dieser Welt erlösen soll. Der Polytheismus schien und scheint

stattdessen für Weltfrömmigkeit zu optieren, für die Heiligkeit und Göttlichkeit dieser

Welt, der in ihr pulsierenden Kräfte der Fruchtbarkeit und der Kreativität. Monistische

Lehren erscheinen seit ihrer Wiederentdeckung im 17. Jahrhundert als die esoterisch-

philosophische Vertiefung eines volkstümlich-exoterischen Polytheismus. Wie er sind sie

einem Kosmotheismus verpflichtet, der Wege einer Versenkung ins Diesseits und der

Beheimatung in dieser Welt lehrt und darin der christlichen Weltentwertung um eines

transzendent-extramundanen Absoluten willen widerspricht:

„Hen kai pan ist das Credo eines neuen Kosmotheismus, der als ein Ausgang aus der Mosaischen Unter-

scheidung erschien und aus den Konfrontationen von Vernunft und Offenbarung, Irrtum und Wahrheit,

Erbsünde und Erlösung, Unglaube und Glauben, und der den Weg wies in einen neuen Raum der Schau,

Evidenz und Unschuld.“178

Das galt für die deutsche Frühromantik, in der die Wogen des Pantheismusstreits hoch

gingen. Es gilt heute wieder in den Diskussionen um biblische und heidnische Wurzeln

der europäischen Kultur. Vielfach wird der monistisch-polytheistische Kosmotheismus

begrüßt als „eine Wiederkehr des verdrängten ‚Heidentums’, der Verehrung des göttlich

beseelten Kosmos“179, ja als ökologischer Gegenentwurf gegen die biblische Entgötterung

des Alls: Die Vielfalt und Schönheit ist der Leib des ihr einwohnenden Göttlich-All-

Einen. Der kosmotheistische Monismus verbindet oder mischt sich aber auch vielfach mit

Traditionen östlicher Mystiken, die eher eine Loslösung von der Weltvielfalt und ihrer

Widersprüchlichkeit predigen und Wege lehren, durch Askese die Lebensgier zum Verlö-

schen zu bringen, zumindest durch Selbst-Zurücknahme in das Universum zum „Seelen-

frieden“ zu gelangen. Solche „Mischformen“ beleuchten den Spannungsreichtum der hier

angebotenen Optionen. Ihre Faszination mag vielfach mit der lebensbejahenden und sich

dennoch „vernünftig“ zurücknehmenden Diesseitsfrömmigkeit verbunden sein, die sie

anempfehlen. Wo die mystischen Wege in den Vordergrund treten, da liegt deren Faszina-

tion im Erfahrungsbezug180: Der durch mystische Erfahrung „ganz“ oder „neu“ Gebore-

178 Jan Assmann, Moses der Ägypter, 209. 179

Vgl. ebd. 180 Kehrseite dieses Erfahrungsbezugs ist nicht selten ein „Erfahrungs-Elitismus“ nach dem Motto: Contra experientiam non valet argumentum – Mitreden kann hier nur, wer es erfahren hat! Religiöse Erfahrung gilt hier – so etwa Carl Gustav Jung – als „absolut. Man kann darüber nicht diskutieren. Man kann nur sagen, dass man niemals eine solche Erfahrung gehabt habe, und der Gegner wird sagen: ‚Ich bedauere, aber ich

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ne überwindet die Beschränktheit der bloß partikularen Erfahrungsräume. Er gewinnt

Zugang zum „Geheimnis des Lebens“ und „erfasst es zutiefst von seinem innersten

Grund her, der zugleich ganz ihm gehört und doch sein empirisches Ich überschreitet.“181

Die Reifungswege, die diesen Zugang ermöglichen, sind erfahrungsgesättigt, aber auch

von der Erfahrung gezeichnet, über den innersten Grund nicht verfügen zu können. So

stellt sich hier eben doch die Frage, ob dieser innerste Grund nicht die mir zugesprochene

und zugemutete Herausforderung ist, mich auf ein Wort zu verlassen, um im Ganz-

Anderen – in seiner Zukunft – ganz ich selbst sein zu können. Der Dualismusverdacht

wird hier schnell geäußert, hat aber seine Plausibilität im Wesentlichen darin, dass die Be-

ziehungsdimension biblischen Glaubens auf eher autoritäre oder gar magische Konstella-

tionen reduziert erscheint.182 Es wird vielfach gar nicht mehr damit gerechnet, dass eher

personale Konnotationen des Verhältnisses von Unendlichem und Endlichem das Zu-

sich-selbst-Kommen des endlichen Beziehungspartners gerade deshalb herausfordern

können, weil – zumal im Traditionsraum der Bibel – der Unendliche und Ganz-Andere

die von ihm ins Dasein Gerufenen innerlicher mit sich selbst beschenken will, als diese

sich selbst innerlich sein könnten – und so auch dazu herausfordert, Gott „in“ und „hin-

ter“ den Projektionen eines guten Lebens als das Geheimnis ihres Lebens zu entdecken.

Die biblische Glaubensüberzeugung vom Allein-Gott JHWH, dem Vater Jesu Christi, der

in ihm den Menschen ein Mitmensch wurde und sie im Heiligen Geist ergreift, um sie den

hatte sie.’ Und damit wird die Diskussion zu Ende sein“ (C. G. Jung, Zur Psychologie westlicher und öst-licher Religion, Bd. 2, Olten 1971, 116; von Willigis Jäger beifällig zitiert in: Die Seele ist das Meer. Mysti-sche Spiritualität, hg. von C. Quarch, Freiburg – Basel – Wien 132004, 38). Der Erfahrene befindet sich auf einer anderen Ebene, die sich über „argumentativ-verkopfte“ Annäherungen gar nicht erreichen lässt und sich entsprechenden Anfragen auch nicht stellen muss. Von dieser höheren Ebene aus kann man mit dem Erfahrungspathos dessen, der eben selbst gesehen hat und deshalb allein urteilsfähig ist, das Wesent-liche in den beschränkt-konfessionellen Traditionen von den erfahrungsfernen Dogmatisierungen und Redogmatisierungen zu unterscheiden, ohne sich auf die innere Logik dieser Traditionsbildungen selbst einzulassen. Daraus folgt der kategorische Imperativ der religiös Erfahrenen: „Akzeptiere nur solche Sym-bolsysteme, die dir auszudrücken erlauben, was du an deinen persönlichen Gefühlen und Wünschen als wichtig empfindest“ (Matthias Jung, Religious Experience and Pluralism, in: Neue Zeitschrift für Systema-tische Theologie 43 (2001), 350–365, hier 355; die Hinweise auf C. G. Jung und M. Jung verdanke ich Veronika Hoffmann). Es ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass dieses Selbstverständnis viel gemeinsam hat mit dem Selbstverständnis der antiken Gnostiker, die sich den „Pistikern“ gegenüber nicht für argumentationspflichtig hielten, weil diese von ihrer Verstehensebene gar nicht nachvollziehen konnten, was sich der Gnosis erschloss. Es geht bei dieser Parallele wohlgemerkt nicht um inhaltliche Konvergenzen, sondern um epistemische Entsprechungen. Sie scheinen mir für den gegenwärtigen Mys-tikdiskurs durchaus erhellend zu sein und auf Gefährdungen hinzuweisen, die die seltenen Dialogversuche oft so frustrierend machen. 181 Thomas Merton, Im Einklang mit sich und der Welt, 123. 182 Die – auch im jeweils zutage tretenden Reflexionsniveau – ganz unterschiedlichen Abgrenzungen gegen die biblischen Überlieferungen bei Willigis Jäger und bei Ernst Tugendhat belegen das mit verblüffender Ein-deutigkeit.

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Weg der Nachfolge in den Spuren des gekreuzigten und auferweckten Menschensohnes

zu führen, unterscheidet freilich Gott und Welt. Sie gehorcht dem Bilderverbot und ver-

steht es als „Vermischungsverbot“183: Göttliches und Menschliches dürfen nicht ver-

mischt werden, damit nicht Menschliches verabsolutiert, damit nicht das, was ist, zum

Ein-und-Alles hypostasiert werde. Angesichts polytheisierender oder pantheisierender

monistischer Konzepte haben biblisch Glaubende zu begründen, weshalb die Grundun-

terscheidung zwischen Gott und (Menschen-)Welt zutiefst vernünftig ist, weshalb die

dem biblischen Gottesglauben unterstellten Dualismen Artikulationen von Spannungen

und Ambivalenzen sind, die in anderen Konzepten auf eher problematische Weise bear-

beitet, mitunter extrem zugespitzt oder aber weitgehend verdrängt werden.

Die Transzendenz-Immanenz des biblischen Gottes erwies sich als eine Sprach-

Herausforderung, die in räumlich geprägten Vorstellungsmodellen und Begriffen nur

schwer aufzufangen ist. So hat die christliche Zeugnissprache die eher räumlich konnotie-

renden Metaphern mit zeitlich geprägten ineinander gelesen. Gottes Transzendenz-

Immanenz erwies sich als seine Zukunft, als Seine Zukunft. In Seinem Geist hat sie die

Gegenwart schon ergriffen; und sie wird nicht aufhören wird, mit den Menschen eine

heilvolle Beziehung anzufangen. Gottes Zukunft aber zieht die Menschenwelt in einen

folgenreichen Prozess der Umkehr hinein; einer Umkehr, die Gottes gutem Willen in Sei-

ner Schöpfung Geltung verschaffen und Seine Herrschaft in ihr beginnen lässt. Raum-

Metaphern werden so als Metaphern für Gottes Ankunft gelesen: für einen geschichtlich

eröffneten und offen zu haltenden Beziehungs-Raum, in dem Gott, der Eine, sich den

Menschen vergegenwärtigt, ihnen zum geliebten Ein und alles werden, sie aber zugleich als

Mitliebende für all das gewinnen will, was ihrer Liebe würdig ist, weil es von Ihm her gut

und schön ist. Der biblische Gott ist Ein und alles, indem er es vermag, das Andere und

die Anderen sein zu lassen – und nicht mehr ohne sie sein will. Es wäre deshalb ein ab-

gründiges (Selbst-)Missverständnis des Biblisch-Christlichen, sähe man eine Konkurrenz

183 Vgl. meine Überlegungen in dem Aufsatz: Die Geburt der europäischen Wissenschaft aus dem Geist christlicher Religion, in: E. Brix – H. Schmidinger (Hg.), Europa im Zeichen von Wissenschaft und Hu-manismus, Wien – Köln – Weimar 2004, 59–76, hierzu 74ff. Diese Überlegungen nehmen die Resonanz auf, die die negative Theologie und das alttestamentliche Bilderverbot in der Negativen Dialektik Theodor W. Adornos gefunden hat. Das Bilderverbot ist für ihn das Verbot, „das Falsche als Gott anzurufen, das Endliche als das Unendliche, die Lüge als Wahrheit“ (Max Horkheimer – Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 3, 40). Aus der Weigerung, eine Iden-tität als gegeben anzusehen, die – wenn überhaupt erreichbar – vor uns liegt, erklärt sich die harsche Be-merkung Adornos: „Alle mystische Vereinigung bleibt Trug, die ohnmächtig inwendige Spur der abge-dungenen Revolution“ (ebd. 57).

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zwischen einer Bejahung des Schöpfers und der Bejahung des von ihm Geschaffenen.

Aber – und das sehen die monistischen Konzepte mit ihrer Kritik an den „theistischen“

Konzepten richtig, so wenig ihre Kritik damit auch schon einleuchtend scheint – diese

Bejahung bedeutet für den biblischen Glauben nicht die Zurücknahme der Glaubend-

Bejahenden in die Willenlosigkeit des alles umgreifenden Universums, sondern das Ein-

stimmen in Gottes guten Willen und die Bereitschaft, ihn in dieser Welt und über sie hin-

aus mitzuwollen. Gottes guter Wille ist nicht einfach als natürlich evident am faktisch Ge-

schehenden ablesbar. Er ist Inbegriff des Sein-Sollenden, von dem die Glaubenden in

ihrer Willens-Freiheit zutiefst in Anspruch genommen sind.

Diese Konzentration des Sprechens von Gott und der Beziehung zu ihm auf das Willent-

liche, auf die Geschichte, auf das Handeln und auf die Zukunft, die jetzt schon angefan-

gen hat und nicht aufhören wird anzufangen, auf Geschenk und Herausforderung, sollte

in diesem Kapitel vor den Anfragen kosmotheistischer Konzepte rational gerechtfertigt

werden. Sie berührt aber eine ganze Reihe von „Überhang-Problemen“, angesichts derer

monistisch-kosmotheistische Positionen sich seit dem Pantheismusstreit als dem biblisch-

christlichen Monotheismus rational überlegen darstellen konnten: die Frage nach dem

Verhältnis von natürlichen Abläufen und dem übernatürlichem(?) Handeln Gottes in der

Geschichte, die Frage vor allem, warum es Gott auf eine Realisierung seines Willens in der

Geschichte ankommen lässt, wenn ihm doch die Macht zugesprochen werden müsste,

seinen guten Willen in der Welt immer schon geschehen zu lassen. Damit sind die Fragen

nach der Sünde, nach dem Übel und der Möglichkeit von Freiheit aufgeworfen; letztlich

die Frage dem Grund menschlicher Entfremdung, Fragen, die sich neuzeitlich in dem

ausweglos erscheinenden Theodizeeproblem konzentrierten. Diesen Fragen ist im Fol-

genden nachzugehen. Sie werden freilich niemals definitiv „abzuarbeiten“ sein. In den

verschiedenen Sprach- und Problemkontexten der Gotteslehre werden sie sich immer

wieder zurückmelden. Immer wieder wird als rational gerechtfertigt auszulegen sein, dass

Christen davon überzeugt sind, Gott sei für die Menschen nicht nur das Ein-und-alles, in

dem sie aufgehen und sich verlieren, sondern die schlechthin verheißungsvolle Heraus-

Forderung in eine Zukunft hinein, in der sie sich in der personalen Lebensgemeinschaft

mit ihrem Gott einfinden dürfen.