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v. Ausgewählte Entwicklungsbereiche

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Lehrbuch Entwicklungspsycho 8

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v.AusgewählteEntwicklungsbereiche

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Inhaltsverzeichnis1. Sprachliche Entwicklungsaufgabe . . . . . . . . 446

2. Vom Laut zum Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448

3. Vorausläuferfähigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . 4513.1 Affektiv gesteuerte Aufmerksamkeit . . . . . . 4513.2 Vorsprachliche Gesten . . . . . . . . . . . . . . . . 4533.3 Angeborene sprachspezifische Fähigkeiten . 4553.4 Sprachlernen im und über den Dialog . . . . 458

4. Entwicklungskritische Zahl 50 . . . . . . . . . . . 460

5. Kinder mit verspätetem Spracherwerb («late talkers») . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4645.1 Sprachdefizite mit Plateaubildung . . . . . . . 4665.2 Allgemeine schulische Probleme und

Leseprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4675.3 Psycho-soziale Probleme . . . . . . . . . . . . . . . 469

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471

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Kapitel V. 1:

Im Zentrum steht das WortHannelore Grimm & Sabine Wilde, Bielefeld

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1. Sprachliche Entwicklungsaufgabe

Zwischen dem 10. und 12. Lebensmonat be-ginnen Kinder mit etwas, was keine anderelebende Kreatur macht: Sie sprechen. Die El-tern haben auf die ersten Wörter mit Span-nung gewartet und begrüßen diese als wichti-gen Meilenstein der kindlichen Entwicklung.Verzögert sich die Produktion der ersten Wör-ter, so reagieren die Eltern mit Sorge; und daszu Recht, stellt doch in der frühen Kindheitdie Sprache sozusagen das Fenster dar, das so-wohl Einblick in den kindlichen Geist alsauch Vorhersagen über die weiteren kindli-chen Entwicklungsmöglichkeiten zuläßt. Dassprachliche Wissen steht in enger Beziehungzu kognitiven und sozialen Fähigkeiten sowiezur Verhaltensregulation. Störungen der re-zeptiven wie produktiven Sprachkompetenzverweisen entsprechend immer auch aufStörungen in diesen nicht-sprachlichen Berei-chen.

Mit seinen ersten Wörtern hat das Kindden hörbaren Einstieg in das komplexe Sy-stem der Sprache vollzogen. Zu Beginn affek-tiv motiviert, gewinnt der Sprachlernprozeßzunehmend eine kognitive Dimension. Dabeierfolgt das Lernen innerhalb von biologi-schen Zeitfenstern und findet mit ungefährfünf Jahren seinen ersten wichtigen Ab-schluß: Die sprachliche Entwicklungsaufgabeist in ihren Grundzügen bewältigt. Das Kindbeherrscht die Regeln der Grammatik, bildetsinnvolle und teilweise schon sehr komplexeSätze und kann auch inkorrekte Satzformenerkennen und korrigieren. Nach dem 5. Le-bensjahr ist ein ungestörter Sprachlernprozeßnicht mehr möglich (vgl. Krashen, 1973; füreine Diskussion: Grimm, 1987a). Es sprichtfür die biologische Vorbereitetheit auf die Lö-sung der sprachlichen Entwicklungsaufgabe,daß Verzögerungen oder Defizite die Folgesind, wenn die sparsamste und effektivsteLernzeit nicht genutzt wird (vgl. hierzuKeller, 1996).

Wie es Tracy (1990) zutreffend auf denPunkt gebracht hat, würden Kinder mit demSprachlernprozeß erst gar nicht beginnen,wüßten sie, wie komplex dieser ist. So wie derErwerb also nicht bewußt reflexiv erfolgen

kann, so darf er auch nicht teleologisch indem Sinne verstanden werden, daß das Kinddie Erwachsenen-Sprache «vor Ohren» hatund nun eifrig und zielstrebig bemüht ist,sich diese Stück für Stück anzueignen. DieSprache ist kein Objekt, das sich außerhalbdes Kindes befindet und irgendwie internali-siert wird (Studdert-Kennedy, 1991). Die Spra-che ist vielmehr eine besondere Form zu han-deln, in die das Kind im Rahmen des affekti-ven Interaktionsprozesses mit der Mutter (diehier wie im folgenden für primäre Bezugsper-son steht) hineinwächst, weil diese Hand-lungsform im menschlichen Entwicklungssy-stem genetisch angelegt ist (vgl. auch Grimm,1986a).

Die Sprachentwicklung stellt einen konti-nuierlichen Prozeß dar, bei dem unterschied-liche Komponenten parallel wirksam sind.Wie an anderer Stelle ausführlicher beschrie-ben (Grimm, 1995a), handelt es sich dabeium die suprasegmentale Komponente, diePhonologie, die Morphologie, die Syntax, dasLexikon, die Sprechakte und die Konversati-ons- oder Diskurskomponente (vgl. auchSnow, 1991; Tracy, 1990). Diese Komponen-ten können als eigenständige Wissenssystemebetrachtet werden, die indes stets interagie-ren. Im Verlauf seiner Sprachentwicklung

«... muß das Kind nicht nur die Konzepteund Regeln dieser einzelnen Komponen-ten, sondern zugleich auch die Regelnihres Zusammenspiels erwerben. Es mußRepräsentationen aufbauen, die selb-ständig und doch stets miteinander ver-bunden sind» (Grimm, 1995a, S. 705).

Wie der Tabelle 1 zu entnehmen ist, erwirbtdas Kind drei unterschiedliche Kompetenzen:Die prosodische Kompetenz ist über das Er-kennen und die Produktion der Rhythmikvon Spracheinheiten definiert, an der Ton-höhe, Lautheit, Länge der Sprachlaute undPausengebung beteiligt sind. Diese Kompe-tenz bilden die Kinder am frühesten aus undnutzen prosodische Hinweisreize als erstenEinstieg in das grammatische System. Diesesmacht die linguistische Kompetenz aus undwird aus zwei ganz unterschiedlichen Quel-len gespeist: den Wörtern, die als willkürlicheZeichen im Gedächtnis gespeichert sind, und

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den regelgeleiteten Teilsystemen der Phono-logie, Morphologie und Syntax. Daß beideQuellen in Interaktion stehen, wird schondaran ersichtlich, daß es Sätze ohne Wörternicht geben kann, so wie umgekehrt einenoch so große Ansammlung von Wörternohne regelhafte Verknüpfungen keinen gram-matischen Sinn ergibt. Schließlich zeichnetsich die pragmatische Kompetenz durch dieangemessene kommunikative Verwendungs-weise von Sätzen in unterschiedlichen Kon-texten aus. Die fortgeschrittene Fähigkeit,über Sprechakte sozial-interaktive Beziehun-gen zum Kommunikationspartner herzustel-len sowie spezifische Mechanismen und Stra-tegien für die Herstellung einer kohärentensequentiellen Organisation von Konversati-onseinheiten einzusetzen, darf nicht mit demsehr frühen unreflektierten kommunikativenBedürfnis des Kleinkindes verwechselt wer-den, das überhaupt erst die Basis für dasSprachlernen bildet. Etwas zugespitzt formu-liert, führt das affektiv gesteuerte Grundbe-dürfnis nach kommunikativem Austauschüber die Aneignung der Grammatik zur Be-herrschung der pragmatischen Klaviatur derSprache.

Kinder lösen die komplexe Aufgabe desSpracherwerbs in einem Alter, in dem sie zuvergleichbar komplexen Leistungen in ande-ren kognitiven Bereichen noch nicht in derLage sind (vgl. u.a. Grimm, 1995a; Weinert,1991). So können sie sich noch kaum dasSchuhband zubinden, beherrschen nochnicht die Zahlen von eins bis zehn, vermö-

gen auch nicht die einfachsten Analogieauf-gaben zu lösen und sprechen dennoch inwohlgeformten Sätzen. Wie ist dies möglich?Das ist die große Frage, die im Hintergrundjeder Erklärungstheorie steht.

Ohne auf die zahlreichen unterschiedli-chen Erklärungsvarianten mit ihren jeweilsspezifischen Annahmen eingehen zu wollen(vgl. aber: Golinkoff & Hirsh-Pasek, 1990;Grimm, 1995a), gehen wir hier von einementwicklungspsychologisch-funktionalen An-satz aus, bei dem das Wort eine zentraleRolle als Entwicklungsbarometer spielt. Derfrühe Worterwerb wird als das Ergebnis desZusammenwirkens notwendiger Vorausläu-ferfähigkeiten und als Startpunkt für die An-eignung formalsprachlicher Regularitätengesehen. Anders als bei den primär lingui-stisch orientierten Spracherwerbstheoreti-kern ist diese Sichtweise nicht dem Chom-skyschen strukturalistischen Paradigma (vgl.u.a. Chomsky, 1969, 1982) verpflichtet, dasden Satz in den Mittelpunkt des Spracher-werbsprozesses stellt und dem Kind eine an-geborene Universalgrammatik verleiht, dieihm das Erkennen der syntaktischen Struk-tur des Satzes überhaupt erst möglich ma-chen soll. Locke (1993) bezeichnet dies zuRecht als einen entwicklungstheoretischenIrrtum. Denn die Beherrschung grammati-scher Regeln steht nicht am Beginn, sondernam Ende der Sprachentwicklung. Sie ist hör-bares Lernergebnis eines komplizierten Pro-zesses, der im folgenden genauer betrachtetwerden soll.

447Im Zentrum steht das Wort

Tabelle 1: Komponenten der Sprache (Grewendorf et al., 1989; O’Grady & Dobrovolsky, 1989)

Komponenten Funktion erworbenes Wissen

suprasegmentale Betonung prosodische KompetenzKomponente prosodische Gliederung

Grammatik Phonologie Organisation von Sprachlauten linguistische KompetenzMorphologie WortbildungSyntax SatzbildungLexikon Wortbedeutung

Pragmatik Sprechakte sprachliches Handeln pragmatische KompetenzDiskurs Kohärenz der Konversation

(aus Grimm, 1995a)

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2. Vom Laut zum Wort

Welche Wörter einjährige Kinder am häufig-sten produzieren, ist in Tabelle 2 zusammenge-stellt. Die von uns befragten Mütter warensich sehr einig, daß ‹Mama› und ‹Papa› amhäufigsten von ihren Kindern geäußert wer-den. Dies scheint ein universelles Phänomenzu sein, was in Anbetracht der Tatsache auchnicht erstaunlich ist, daß es sich dabei um dieaffektiv bedeutsamsten Bezugspersonen han-delt. Allerdings meint das kleine Kind etwasanderes als wir, wenn es ‹Mama›, ‹Papa›,‹Hund› oder ‹Ball› sagt. Die ersten Wörter stel-len noch keinen referentiellen Bezug in demSinne her, daß auf ein isoliertes Objekt ver-wiesen wird, sondern sie sind vielmehr inte-graler Bestandteil einer holistischen Ereignis-repräsentation (vgl. Nelson, 1985). Der Wort-gebrauch hat noch keine kognitive Qualität,sondern ist ausschließlich sozial-affektiv mo-tiviert. Wenn das kleine Kind ‹Hund› sagt, someint es nicht ein Tier mittlerer Größe, dasvier Beine hat und bellt, sondern es meintvielleicht das warme, kuschelige Etwas, dasman so schön am Schwanz ziehen kann.Auch die kleinen Wörter «nein», «danke»,«bitte» oder «essen» sind rein soziale Wörtermit interpersonalem Bezug und noch weitvon dem Erwachsenen-Bedeutungsgehaltentfernt.

Aber dennoch: Diese ersten Wörter stelleneine der wichtigsten Errungenschaften derfrühen Entwicklung des Kindes dar. Sie tau-chen nicht plötzlich aus dem Nichts auf, son-dern sind das wahrnehmbare Ergebnis einerfrühen und in schnellen Schritten erfolgen-den phonologischen Entwicklung (vgl.Grimm, 1995a).

Der Weg von den ersten Sprachlauten zurWortproduktion, so wie er in der Tabelle 3 zu-sammengefaßt dargestellt ist, umfaßt fünfwichtige Schritte: Zuerst können Lautbildun-gen beobachtet werden, die noch nichts mitSprachlauten im eigentlichen Sinne zu tunhaben. Dies ändert sich allerdings schnell,wie sich daran erkennen läßt, daß im Gurr-stadium vorgesprochene Vokale wie /a/ oder/ i / nachgeahmt werden, nicht aber nicht-sprachliche Laute. Daraus kann geschlossenwerden, daß Sprachlaute besonders effektiveReize sind, um beim Säugling Vokalisationenhervorzurufen. Zwischen dem vierten undfünften Lebensmonat werden die Gurrlauteexpandiert und nehmen zunehmend die vo-kalischen Charakteristika der realen Sprach-laute an. Vermittelt durch pränatale Erfah-rungen wird die Sprache der Mutter zur Mut-tersprache.

Dafür, daß tatsächlich ein intra-uterinesLernen stattfindet, sprechen die folgendenBeobachtungen: Föten sind wahrnehmungs-mäßig aktiv und reagieren auf sprachlicheReize mit dem sog. Augenpressen. So zeigensie auf laute Töne innerhalb von einer halbenSekunde ein sehr kräftiges Augenzwinkern(Birnholz & Benacerrat, 1983). Von 680 un-tersuchten Föten im Gestationsalter zwischen28 – 36 Wochen produzierten nur acht keinebeobachtbaren Zeichen. Und von diesenwaren im Säuglingsalter zwei gehörlos, undsechs zeigten Anomalien im ZNS (vgl. zusam-menfassend auch Locke, 1993). Besonders in-teressant ist, daß die Föten auf solche Lautereagieren, deren Frequenzbreite den intensi-veren Lauten der mütterlichen Sprache ent-spricht (Querleu, Renard & Crepin, 1981; zi-tiert nach Locke, 1993). Dabei zeigen sie Ad-aptationserscheinungen, was durchaus imSinne eines Lernvorgangs zu interpretierenist.

Das Erreichen des sog. kanonischen Lall-stadiums zwischen dem 6. und 9. Lebensmo-

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Tabelle 2: Die ersten 15 Wörter

Position Wort Angabehäufigkeitin Prozent*

1 Mama 662 Papa 633 nein 234 Hund 155 Ball 146 danke 127 Baby 88 Puppe 79 Auto 7

10 bitte 711 Bär 612 Kuh 413 Schaf 314 Ente 315 essen 2

* Die Prozentsätze beruhen auf Angaben von 91 Mütternmit Kindern im Alter von zwölf Monaten

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nat stellt schließlich einen besonders wichti-gen Entwicklungsschritt dar, weil die gebilde-ten Konsonant-Vokal-Verbindungen mitsatzähnlicher Intonation Ausdruck der not-wendigen zunehmenden Kontrolle über dieSprechwerkzeuge sind und als direkte Vorläu-fer der nachfolgenden Wortproduktion gel-ten können (Menyuk, 1988).

Das Bilden erster Wörter wird aber nichtallein durch die produktive phonologischeEntwicklung ermöglicht, sondern hat aucheine rezeptive phonologische Vorgeschichte,die in Anlehnung an die wichtige Arbeit vonTrehub und Trainor (1990) in 4 Regeln derSprachwahrnehmung zusammengefaßt wer-den kann (vgl. auch Grimm, 1995a):

Regel 1: Zeige schon kurz nach der Geburteine Reaktion auf Sprachlaute.

Regel 2: Zeige schon kurz nach der Geburteine Präferenz für die mütterliche Stimme. Sokonnten Mehler et al. (1988) in einer raffi-nierten Untersuchungsreihe nachweisen, daßgerade vier Tage alte Säuglinge prosodischeMerkmale nutzen können, um die Mutter-sprache von Fremdsprachen zu unterschei-den (vgl. die Zusammenfassung in Tab. 4, dieder Arbeit von Grimm, 1995a, entnommenist).

Interessant ist in diesem Zusammenhang,daß Babys dann keine Präferenz der Mutter-sprache zeigen, wenn ihre Mütter währendder Schwangerschaft eine andere Sprache ge-sprochen hatten (vgl. Bertoncini et al., 1989).

Denn vorgeburtliche Erfahrungen mit Merk-malen der mütterlichen Stimme können indiesem Fall nach der Geburt nicht für Wie-dererkennungs- und damit Differenzierungs-leistungen genutzt werden.

Regel 3: Nutze prosodische Merkmale fürwichtige Differenzierungsleistungen. DeCasperund Fifer (1980) konnten nachweisen, daßSäuglinge nicht nur im Sinne einer einfachenOrientierungsreaktion eine passiv-reaktivePräferenz für die mütterliche Stimme zeigen,sondern daß sie auch in der Lage sind, im Ha-bituierungsversuch durch Veränderung derSaugrate die mütterliche Stimme aktiv her-vorzurufen. Noch keinen Monat alt, könnensie entsprechend auch schon lernen, die müt-terliche Stimme anstatt einer fremden Stim-me oder musikalischen Lauten hervorzuru-fen. Auch hieran wird wiederum deutlich,daß das sprachliche Lernen zutiefst eine bio-logische Angelegenheit ist. Allerdings: Diefrühen lautlichen Differenzierungsleistungenstehen nicht isoliert im Dienste des Sprach-lernens, sondern dienen auch sozial-affekti-ven Funktionen wie dem Bindungsverhaltenund der Identifizierung von Geschlechtern(DeCasper & Fifer, 1980). So nutzen Säuglin-ge ihre Fähigkeit, zwischen männlichen undweiblichen Stimmen zu differenzieren, schonim Alter von zwei Monaten für die Ge-schlechtsidentifizierung. Und die intrauteri-ne Erfahrung mit der mütterlichen Stimme,die überhaupt erst die Aufmerksamkeit desSäuglings auf die menschliche Stimme lenkt,

449Im Zentrum steht das Wort

Tabelle 3: Vom Laut zum ersten Wort

Stadium Alter Kennzeichen

erste Laute 0. – 1. Mon. Befindet sich der Säugling in einer entspannten Situation, produziert er Laute mit einem offenen Vokaltrakt ohne Lippenbewegungen.

Gurren 2. – 3. Mon. Erste silbenähnliche Verbindungen, die mit Verschlußlauten beginnen, werdenproduziert (Gurrlaute) und vorgesprochene Vokale nachgeahmt.

Expansion 4. – 5. Mon. Die produzierten Laute werden realen Sprachlauten immer ähnlicher.

kanonisches Lallen 6. – 9. Mon. Das sogenannte kanonische Lallstadium wird erreicht, wenn der Säuglingdurch das Reduplizieren von Silben [dada-dada] wort- oder satzähnliche Intonationen erzeugt. Zeitgleich oder später kommt die Verbindung unterschiedlicher Silben [daba] hinzu.

erste Wörter 10. – 14. Mon. Die phonologische Entwicklung mündet in die Produktion der ersten Wörterein.

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Tabelle 4: Differenzierung prosodischer Merkmale

Experimentalreihe von Mehler und al. (1988)

Fragestellung: Können Säuglinge muttersprachliche Äußerungen von Äußerungen einer Fremdsprache differenzie-ren? Welche sprachlichen Merkmale werden für diese Differenzierung genutzt?

Stichproben:Säuglinge

Experimente Anzahl Alter SprachumweltI 40 4 Tage französischII 24 4 Tage unterschiedlichIII 36 4 Tage französischIV 32 4 Tage französischV 32 4 Tage französisch

Methode: Messung der Saugrate im Rahmen des Habituierungs-Dishabituierungs-Paradigmas.Experiment I: Präsentiert wurden französische (F) und russische (R) Äußerungen in 4 Varianten: F → R; F → F; R → F;R → R. Gemessen wurden die Saugrate während der Präsentation der ersten Sprache und die Veränderung der Sau-grate nach der Habituierung und Präsentation der zweiten Sprache.

Ergebnisse: (a) Saugrate signifikant höher für F → R- und F → F-Gruppen als für R → F- und R → R-Gruppen währendder Präsentation der ersten Sprache; (b) signifikante Zunahme der Saugrate nach Habituierung nur bei R → F-Gruppeim Vergleich zur R → R-Gruppe.

Interpretation: 4 Tage alte Säuglinge diskriminieren nicht nur zwischen den beiden Sprachen, sondern ziehen auch ihreMuttersprache vor.

Experiment II: Säuglingen ganz unterschiedlicher Sprachgemeinschaften (Deutsch, Arabisch, Polnisch etc.) wurden dieVarianten von Experiment I präsentiert mit dem Ergebnis, daß F und R weder bevorzugt noch diskriminiert wurden.

Experiment III: Methodisch vergleichbar konnte nachgewiesen werden, daß französische Säuglinge nicht zwischen ita-lienischen und englischen Äußerungen unterscheiden.

Interpretation: Säuglinge diskriminieren zwischen ihrer Muttersprache und Fremdsprachen, nicht aber zwischen Fremd-sprachen. Die Diskriminierungsleistung beruht also auf einer größeren Vertrautheit mit der Muttersprache.

Experiment IV: Vorgehen wie bei Experiment I, wobei die Äußerungen allerdings rückwärts vorgespielt wurden. DieSäuglinge zeigten weder Präferenz noch Diskriminierung.

Interpretation: Die in Exp. I gezeigte Diskriminierungsleistung ist an besondere spektrale Veränderungsmuster undnicht an einzelne phonetische Merkmale gebunden. Aber: Welche Information genau wird genutzt?

Experiment Va/Vb: Vorgehen wie bei Experiment I, wobei aber die Äußerungen so gefiltert waren, daß ohne distinkti-ve phonetische Informationen allein die rhythmisch-prosodische Struktur der Äußerungen erhalten blieb.

Ergebnis: Diskriminierungsleistungen wie in Experiment I.

Interpretation: Es sind die prosodischen Merkmale, die den Säuglingen ermöglichen, ihre Muttersprache zu erkennenund von anderen Sprachen zu unterscheiden.

bildet eine wichtige Basis für die entstehendeaffektive Bindung zwischen Mutter und Kind.

Regel 4: Richte die Aufmerksamkeit selektivauf die kind-gerichtete Sprache («baby talk»).Dieses spezielle Sprachregister ist durch eineüberzogene Intonationskontur, einen hohenTonfall und langen Pausen an Phrasenstruk-turgrenzen, kurz durch eine besonders aus-druckstarke und wahrnehmungsprägnanteprosodisch-rhythmische Struktur gekenn-zeichnet. Sie kann daher vom Säugling gutaufgenommen und für die erste kategoriale

Organisation der Sprache genutzt werden (s. auch Papousek & Papousek, 1991). Allge-mein kann gelten, daß der Säugling eine guteSprachgestalt einer weniger gut strukturiertenvorzieht, was übrigens auch auf Musikstückeübertragbar ist (u.a. Krumhansl & Jusczyk,1990). Hirsh-Pasek et al. (1987) präsentiertensieben bis zehn Monate alten Säuglingen kor-rekt segmentierte Texte und willkürlich seg-mentierte Texte, wobei die letzteren in derMitte eines Satzes begannen oder endeten.

Beispiel (die Schrägstriche zeigen Pausenvon einer Sekunde an):

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Korrekter Text: «Cinderella lived in a greatbig house, but it was sort of dark / because shehad this mean, mean, mean stepmother. / And,oh, she had two stepsisters / that were so ugly ...»

Willkürlich segmentierter Text: «...in agreat big house, but it was / sort of dark becauseshe had / this mean, mean, mean stepmother.And, oh, she / had two stepsisters that were so /ugly ...»

Das ganz klare Ergebnis war, daß die Säuglin-ge eine deutliche Präferenz für die korrektsegmentierten Texte zeigten, gemessen an derZahl und der Dauer der Orientierung ihrerBlickrichtung. «Die Muttersprache ist für dasvorsprachliche Kind kein undifferenzierterStrom von Lauten, sondern weist eine er-kennbare kohärente internale Struktur auf.Nur so kann die Sprache für das Kind erlern-bar sein» (Grimm, 1995a, S. 718).

3. Vorausläuferfähigkeiten

Wenn das kleine Kind beginnt, erste Wörterzu bilden, danach seinen Wortschatz auszu-weiten und einzelne Wörter zu Sätzen zu ver-binden, so kann dies nicht alleine als das Er-gebnis der produktiven und rezeptiven pho-nologischen Entwicklung verstanden werden.Das Kind äußert nicht akustisch wahrnehm-bare Lauthülsen ohne affektiven oder kogni-tiven Gehalt. Es äußert auch keine Wörteroder Sätze im sozialen Vakuum, sondern inder sozialen Interaktion. Es geht mit der Spra-che nicht wie mit einem abstrakten Objektum, sondern verwendet sie, um etwas auszu-drücken, etwas darzustellen, eine Beziehungherzustellen und etwas zu bewirken.

Wenn wir den Spracherwerb verstehenwollen, reicht also eine rein linguistischeSichtweise nicht aus. Vielmehr sind auch diesozial-affektiven und kognitiven Mechanis-men in Betracht zu ziehen, die mit den reinsprachlichen interagieren. Sie stellen Voraus-läuferfähigkeiten mit eigener Lerngeschichtedar, die eine Wortproduktion und den darauferfolgenden Spracherwerb erst ermöglichen(vgl. Abb. 1 nächste Seite).

Was genau sind aber Vorausläuferfähigkei-ten? Es sind Fähigkeiten, die das zu erklären-de Phänomen vorbereiten und entsprechendeinfacher als dieses selbst sind. Etwas schema-tisch dargestellt, können mit Locke (1993)die folgenden Beziehungen gelten:

451Im Zentrum steht das Wort

Einmal verhält es sich so, daß diejenigenMechanismen, die für das Wortlernen verant-wortlich sind, auch der später erfolgenden se-mantischen und formalsprachlichen Ent-wicklung zugrundeliegen. Zum anderen istdavon auszugehen, daß zu den für das Wort-lernen verantwortlichen Mechanismen weite-re hinzukommen müssen, um die spätereSprachentwicklung zu ermöglichen.

Da diese Mechanismen miteinander korre-liert sind, gilt in jedem Fall, daß eine Störungder Mechanismen A nicht nur zur Wortpro-duktionsstörung, sondern auch zu Störungender grammatischen Entwicklung führt (s.u.).Um den ungestörten wie gestörten kindli-chen Spracherwerb verstehen zu können,kann es also nicht ausreichend sein, schonerworbene Sprachstrukturen des Kindes zuanalysieren, selbst wenn dies nach allen Re-geln der linguistischen Kunst erfolgt. Anzu-setzen ist vielmehr ganz fundamental an denvorauslaufenden Fähigkeiten mit ihren inter-agierenden Entwicklungen. Nur auf dieseWeise lassen sich auf die folgenden Fragenentwicklungstheoretisch und -praktisch be-deutsame Antworten finden: Wie kommt dasKind als einzige Spezies überhaupt dazu zusprechen? Warum machen manche Kinderschnelle Sprachfortschritte und andere nicht?Warum gelingt manchen Kindern kein nor-maler Sprachaufbau? Welche Konsequenzenergeben sich daraus?

3.1 Affektiv gesteuerte Aufmerksamkeit

Die Aufmerksamkeit des Säuglings ist insbe-sondere auf das Gesicht der Mutter gerichtet.Dem trägt diese intuitiv Rechnung, indem sie

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452 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

Abbildung 1:Entwicklungskritische Zahl 50

auf Gesichtshöhe den Säugling in einem Ab-stand von etwa 20 bis 25 cm hält, der seinemnoch eingeschränkten Sehvermögen am be-sten entgegenkommt (vgl. u.a. Rauh, 1995).Es ist nicht die Mutter, die 1.65 m groß,schlank und blond ist sowie bevorzugtschwarze Hosen mit Hemdblusen trägt, son-dern es ist das bewegte Gesicht der Mutter,das den Säugling interessiert und fesselt. Die-ses Gesicht vermittelt ihm Emotionen, diemit Sprachlauten verbunden sind. Die Mutterschaut den Säugling an, lächelt und sprichtmit zärtlicher und prosodisch stark modulier-ter Stimme. Diese Bewegungen und die aku-stische Wahrnehmung bereiten den Säuglingauf den Spracherwerb vor.

Daß Gesichtsausdruck und stimmlicherAusdruck funktional zusammenhängen, wirddaran deutlich, daß Säuglinge beide Aus-drucksformen am Ende des zweiten Tagesnach der Geburt erkennen. Umgekehrt undvom negativen Fall her argumentiert kann

einmal gelten, daß autistische Kinder wederdas Gesicht noch die Stimme der Mutter be-achten. Und zum anderen hat Ross (1981)aufgezeigt, daß bei einer Hirnschädigung, diezu einem Ausfall der Fähigkeit zum Gesichts-ausdruck führt, immer auch die prosodischeStimmgebung gestört ist.

Wie wichtig die Einheit von Gesicht undStimme für den Spracherwerb ist, läßt sichnachdrücklich daran demonstrieren, daßSäuglinge ihre Aufmerksamkeit dann abzie-hen, wenn diese Einheit zerstört oder verzerrtwird. Ein Lernen kann entsprechend nichtmehr stattfinden. Als eine der ersten For-scher/ innen hat Carpenter (1974) hierzu dasfolgende Experiment durchgeführt:

Im Alter von zwei bis sieben Wochen wur-den Säuglingen das Gesicht der Mutter unddas Gesicht einer Fremden gezeigt, wobei dieStimmen einmal passend und einmal ver-tauscht waren. Es konnte aufgezeigt werden:(a) Das Gesicht der Mutter wird von dem

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fremden Frauengesicht im Alter von zweiWochen unterschieden (s.o.). (b) Jedes derbeiden Gesichter wurde dann länger betrach-tet, wenn es von der entsprechenden Stimmebegleitet war. (c) Wenn Gesicht und Stimmenicht übereinstimmten, also die Mutter mitder Stimme der fremden Frau sprach oderumgekehrt, wandten sich die Säuglinge durchKopfdrehen sehr schnell ab.

Daß Säuglinge selbst auf die Übereinstim-mung von Ton und Mundbewegung achten,konnten Kuhl und Meltzoff (1982) nachwei-sen. In ihrem Experiment sahen 18 bis 24Wochen alte Säuglinge einen Film, in demein Frauengesicht wiederholt die Vokale /i/und /a/ deutlich artikulierte. In einer Bedin-gung stimmten Mundbewegung und Lautüberein, in einer zweiten Bedingung nicht.Die Säuglinge, die die Mundbewegung für /a/sahen und den Ton /i/ hörten (oder umge-kehrt), betrachteten das Gesicht signifikantkürzer als diejenigen Säuglinge, die der inter-modal stimmigen Bedingung zugeordnetwaren. Verallgemeinernd läßt sich schließen,daß Säuglinge schon sehr früh die Fähigkeitzum ‹Lippenlesen› haben, was sie zur Nach-ahmung bringt (vgl. das Gurrstadium in Tab.3), die wiederum den Entwicklungsschrittvom rein akustischen Laut zum Sprachlautmöglich macht. Hierfür ist allerdings die Un-terstützung der Mutter notwendig. Es ist diezum Säugling hergestellte emotionale Bezie-hung, die diesen veranlaßt, auf übertriebeneAffekt- und Stimmerkmale zu achten. Dasentstehende Bedürfnis, sich mitzuteilen,kann so auf die sprachliche Form der Mittei-lung gelenkt werden. Locke (1993, S. 329)schreibt entsprechend einprägsam:

«I believe affect does for language acqui-sition what motivation does for learning.Affect moves infants to socialize and toassimilate the behavior of others; itgives them important personal informati-on to convey before they have languageand complex thoughts. Affect moves in-fants to restructure the environment andto create their own niche within that en-vironment.»

Auch Dore (1983) hebt zurecht darauf ab,daß das erste Wort die symbolische Konse-

quenz des Affektausdrucks darstellt. Der Af-fekt ist die primäre Dimension der frühenKommunikation und nicht die Kognition,wie unter dem Eindruck der kognitiven Struk-turtheorie Piagets lange Zeit postuliert wurde.Die Kognition spielt eine sekundäre Rolle indoppelter Hinsicht: Zum einen erfolgt dieKonstruktion semantischer Systeme auf derBasis schon erworbener Affekt-Wort-Bezie-hungen. Und zum anderen stellt die Inten-tionalität die Konsequenz und nicht die Vor-aussetzung für die Motivation dar, sich ande-ren Personen mitzuteilen und über die Dingeder umgebenden Welt zu sprechen.

3.2 Vorsprachliche Gesten

Zu der motivationalen Kraft für den Erwerbder Sprache, die in dem affektiv gesteuertenBedürfnis liegt, sich mitzuteilen, muß dieKognition der Mitteilung selbst hinzukom-men. Was will das Kind mitteilen? WelcherBedeutung will es Ausdruck verleihen?

In wenigstens dreifacher Hinsicht kann dieKognition als nicht-sprachliche Vorausset-zung für den Spracherwerb aufgefaßt werden(vgl. ausführlicher Grimm, 1995a):

1. Für das Sprachlernen sind generelle kogni-tive und wahrnehmungsrelevante Struktu-ren und Prozesse notwendig. So verarbeitetder Säugling von Beginn an aktiv Informa-tionen und sucht nach Regularitäten. Wiezuvor ausgeführt, ist schon der Fötus zurReizverarbeitung biologisch vorbereitet.Entsprechend zeigt der Säugling die ange-borene Fähigkeit, seine Umwelt wahrneh-mungsmäßig so zu analysieren, daß erKonzepte oder Vorstellungsschemata auf-bauen kann, die die grundlegende Basis fürden Spracherwerb darstellen. Diese Bezie-hung zwischen Wahrnehmungsanalyseund Sprachlernen konnten Rose et al.(1991) durch konsistente positive Korrela-tionen zwischen Daten zur visuellen Wie-dererkennung im siebten Lebensmonatund Daten zur rezeptiven und produktivenSprachleistungen mit 2;5 und 3;4 Jahrenempirisch eindrucksvoll nachweisen.

2. Die während der senso-motorischen Ent-wicklung ausgebildeten Handlungsstruktu-

453Im Zentrum steht das Wort

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ren bilden den wichtigen Ausgangspunktdafür, daß das kleine Kind Vorstellungs-schemata erwerben kann, die dann in dasMedium der Sprache überführt werden(vgl. Mandler, 1992). Daß dabei weiter zwi-schen der Fähigkeit zur Kategorisierungvon Objekten und der sprachlichen Be-nennungsfähigkeit eine enge Beziehungbesteht, haben Gopnik und Meltzoff(1992) empirisch-korrelativ aufgezeigt. All-gemein kann gelten, daß Säuglinge erken-nen müssen, daß sich Wörter auf Kategori-en ähnlicher Objekte beziehen. Das heißt,daß sie die Kategorisierung von Objektennach geteilten physikalischen und funk-tionalen Eigenschaften mit den sprachli-chen Benennungen zusammenbringenmüssen.Es ist auch richtig, sich vor Augen zu hal-ten, daß Entwicklungsschritte der Spracheimmer auch an Entwicklungsschritte imkognitiven Fähigkeitsbereich gebundensind. Bates und Mitarbeiter drücken diesals «simple take-home message» so aus(1991, S. 40): «Every major milestone inearly language development co-occurs re-liably with reorganizations in at least onearea of nonlinguistic cognition.»

3. Vorsprachliche Gesten bereiten den Er-werb und Gebrauch von Wörtern vor. Drei Arten von Gesten werden gewöhnlichunterschieden:(1) Vor-symbolische deiktische Gesten desZeigens, Gebens und Hinweisens, derenReferenzbezüge nur aus dem Kontext er-schlossen werden können.(2) Referentielle Gesten, die einen präzisenBezugspunkt und damit eine symbolischeQualität haben. So deutet z.B. das Kind aufein ganz bestimmtes Objekt.(3) Konventionalisierte Gesten, die aus sofestgefügten Bedeutungs- und Handlungs-zusammenhängen bestehen wie der Ver-neinung durch Kopfschütteln oder demGruß durch Winken mit der Hand.

Es ist ein bekanntes Phänomen, daß kleineKinder ihre Wünsche und auch ihre Ableh-nungen durch Gesten verständlich machenkönnen. Solche frühen Gesten stellen hervor-stechende Indikatoren der intentionalenKommunikation dar und bilden als Ausdruck

der symbolischen Fähigkeit eine wichtigeVoraussetzung für den Worterwerb (Bates,Bretherton & Snyder, 1988). So konnten u.a.Camaioni und Mitarbeiter (Camaioni et al.,1991) signifikante positive Korrelationen zwi-schen der Häufigkeit des Gebrauchs von Ge-sten mit zwölf Monaten und dem Wortschatzmit 20 Monaten feststellen.

Wenn Gesten eine Art Brückenfunktionfür den Übergang von der vorsprachlichen re-ferentiellen Fähigkeit zum produktiven Wort-schatz zukommt, so sollten Kinder mit einergestörten Sprachentwicklung auch einen vor-auslaufenden defizitären Gestengebrauch auf-weisen. Dieser Logik entsprechend habenThal und Tobias (1992) empirisch nachgewie-sen, daß 30 bis 35 Monate alte sprachent-wicklungsgestörte Kinder zwischen 18 bis 23Monaten signifikant weniger Gesten alssprachunauffällige Kinder benutzten. Dasvöllige Fehlen symbolischer Gesten impo-niert bei autistischen Kindern, die bekannt-lich auch immer sehr schwere Sprachstörun-gen bis hin zur Sprachlosigkeit aufweisen(vgl. u.a. Bates et al., 1991).

Verallgemeinernd läßt sich festhalten, daßGesten wichtige Vorausläufer der Wortschatz-entwicklung sind, wobei gelten kann, daßKinder, die früh Gesten benutzen, auch früheSprecher werden, wohingegen späte Gesten-benutzer späte Sprecher sind. Das Zeigen, dasreferentielle Hinweisen oder die konventio-nalisierte Geste stehen für die Erreichungeines kognitiven Meilensteins, der den Ge-brauch konventionalisierter sprachlicher Zei-chen möglich macht. Das Kind hat verstan-den, daß es einer anderen Person etwas überdie Dinge der Welt mitteilen kann. Allerdingswäre es nun zu kurz gedacht, wollte man einedirekte kausale Beziehung zwischen der Gesteund dem Wort in dem Sinne annehmen, daßder Sprachausdruck unmittelbar und unver-mittelt aus der Handlungsform entsteht. Ver-hielte es sich solcherart, müßten auch Schim-pansen und Gorillas, die nachweislich zumgestischen Ausdruck fähig sind, prinzipiell inder Lage sein, die Sprache zu erwerben, wennauch wegen anatomischer Gegebenheiteneingeschränkt auf den rezeptiven Bereich(vgl. für eine Diskussion Grimm, 1987a). Zwi-schen der Geste als notwendiger Vorausläu-ferfähigkeit für den Spracherwerb und diesem

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Erwerb selbst passiert hingegen noch etwasganz Entscheidendes, das offenkundig dermenschlichen Spezies vorbehalten bleibt. ZurGestik kommt eine spezifisch linguistischeFähigkeit dazu. Zwischen dem Hinweisen mitdem Zeigefinger und dem Hinweisen miteinem Wort besteht ein grundsätzlicher qua-litativer Unterschied. Der Entwicklungsfort-schritt verläuft entsprechend nicht kontinu-ierlich im Sinne eines einfachen und bruch-losen Übergangs zwischen den Modalitäten,sondern ist diskontinuierlich. Für ein besseresVerständnis hat Grimm an anderer Stelle(1995a, S. 741) die interessante Analyse Petit-tos (1983, zit. nach Seidenberg, 1986) heran-gezogen, wie gehörlose Kinder die konventio-nelle Zeigegeste erwerben. Interessant istdiese Analyse deshalb, weil sich bei gehörlo-sen Kindern die vor-konventionelle, das ist:die vor-linguistische Zeigegeste, und die kon-ventionelle, das ist: die linguistische Zeigege-ste, in der selben Modalität abspielen und fürden Beobachter nicht unterscheidbar sind.Dennoch sind sie in ihrer Qualität grundsätz-lich verschieden.

Es mag zunächst paradox anmuten, daßdie Gehörlosensprache dazu dienen soll, diegesprochene Sprache besser zu verstehen. Esist indessen ein viel genutztes entwicklungs-methodisches Prinzip, daß Abweichungenund Störungen bei Entwicklungsverläufen inbesonderem Maße geeignet sind, Prinzipienund Mechanismen normal verlaufender Ent-wicklungsprozesse aufzudecken, die andershätten gar nicht sichtbar gemacht werdenkönnen.

Petitto hat bei zwei gehörlosen Kindernbeobachtet, daß diese zwischen dem 10. und12. Lebensmonat begannen, vor-linguistischeZeichengesten zu verwenden, um auf sichselbst (Proto-Ich) und auf eine andere Person(Proto-Du) zu verweisen. Nach dem erstenLebensjahr wurden die Kinder dann in der of-fiziellen Gehörlosensprache unterrichtet. In-teressanterweise verwendeten sie nun nichtmehr ihre Zeigegesten für Ich und Du, ob-gleich diese mit den in der Gehörlosenspra-che gebräuchlichen völlig identisch sind.Sondern sie machten das, was auch normalhörende Kinder tun und bezeichneten sichund andere Personen mit dem vollen Namen.Dann, im Alter von 22 Monaten, kehrte die

Zeigegeste zurück, aber mit pronominalerUmkehrung, so daß sie auf ihren Interakti-onspartner zeigten, wenn sie sich selbstmeinten, und umgekehrt. Erst einige Monatespäter konnten dann die Zeichen korrekt ver-wendet werden.

Dieser entwicklungstheoretisch auf-schlußreiche Weg vom vor-linguistischen Zei-chen über die namentliche Personbezeich-nung zur falschen und dann richtigen Ver-wendung des linguistischen Zeichens läßteinen verstehenden Einblick in die interagie-renden kognitiven und linguistischen Prozes-se zu, die Sprache letztlich möglich machen.Wir haben wieder ein zweites Beispiel füreine «take-home message», also das, was manschwarz auf weiß nach Hause tragen kann:Jeder wichtige Meilenstein der sprachlichenEntwicklung fällt mit bedeutsamen Reorgani-sationen in anderen nicht-linguistischen Ko-gnitionsbereichen zusammen.

3.3 Angeborene sprachspezifischeFähigkeiten

«Is language really important for psycholo-gy?» fragt G. A. Miller (1990), um auch zu-gleich eine positive Antwort zu geben, da diefolgenden drei klassischen Fragen absolutfundamental für die Psychologie des Men-schen und die Linguistik sind: Was für ein Sy-stem ist das hoch komplexe sprachliche Wis-senssystem? Wie entsteht es? Wie wird es ge-braucht? Mögliche Antworten auf diese Fra-gen wurden in den letzten 30 Jahren durchdie linguistische Theorie Chomskys (1969,1982) beherrscht, wobei es ganz wesentlichum die Frage angeborener Fähigkeiten fürden Spracherwerb ging und immer nochgeht. Welches biologisch determinierteSprachprogramm bringt das Kind mit auf dieWelt, um die Entwicklungsaufgabe desSprachlernens zu lösen? Wie Miller wiederumrichtig aufführt, hat diese «innateness ques-tion» die Theoriediskussion viel zu lange undviel zu einseitig dominiert. Der Hauptkriegs-schauplatz stellt dabei nach wie vor die Syn-tax dar, für deren Erwerb Chomsky und vieleandere linguistisch orientierte Spracher-werbstheoretiker eine angeborene Universal-grammatik postulieren. Anders, so argumen-

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tieren sie, kann nicht erklärt werden, warumKinder zu einem frühen Entwicklungszeit-punkt vergleichbare Entwicklungsschrittevollziehen, um das der gesprochenen Sprachezugrundeliegende Regelsystem zu erwerben,das sie ja nie direkt wahrnehmen könnenund das ihnen auch nicht durch eine «allwis-sende» und didaktisch geschulte Mutter er-läutert wird. Daß Kinder eine so komplexeSache im Alter von noch nicht fünf Jahrenmeistern, wird entsprechend als Mysteriumdeklariert, das sich nicht anders als durch einschon vorprogrammiertes syntaktisches Wis-sen auflösen läßt. Dies ist mit Sicherheit einIrrtum, der letztlich auf den weiteren ent-wicklungspsychologischen Irrtümern beruht,daß die Struktur der Sprache unabhängig vonihrer Funktion erklärt werden kann und daßangenommen wird, daß der Spracherwerbuniversellen Mustern folgt, die deshalb not-wendigerweise angeboren sein müssen. Ohnediese Diskussion hier weiter vertiefen zu wol-len (vgl. aber u.a. Bates et al., 1988; Golinkoff& Hirsh-Pasek, 1990; Grimm, 1987a), istzunächst mit Studdert-Kennedy (1991) ganzklar festzustellen, daß die Universalgramma-tik, die sich über diejenigen Kategorien undRegeln definiert, die allen Einzelsprachgram-matiken, so unterschiedlich diese auch sonstsein mögen, gemeinsam sind, keine Voraus-setzung für den Spracherwerb bildet, sonderndas Ergebnis dieses Erwerbsprozesses ist.Dabei nehmen die Kinder ihren Weg von derkommunikativen Funktion hin zur Strukturund nicht umgekehrt. Weiterhin gilt, daßuniverselle Muster nicht notwendigerweiseangeboren sein müssen, sie können auch aufder Grundlage von Erfahrungen erworbenwerden. Und schließlich wissen wir heute,daß sich nicht bei allen Kindern Sprachfort-schritte in derselben Weise vollziehen, son-dern daß große interindividuelle Unterschie-de bestehen können. Auf eines ist dabei aberimmer Verlaß: Sie alle beginnen, Wörter zuverstehen und zu produzieren, bevor sie Sätzebilden. Und schon gar nicht machen sie sichdarüber Gedanken, ob Chomskys «Farblosegrüne Ideen schlafen wütend» ein gramma-tisch korrekter Satz ist oder nicht. Das müß-ten sie jedoch, wenn es primär um die Syntaxbeim Spracherwerb ginge. In seiner sehr le-senswerten Arbeit über die evolutionäre Per-

spektive der Sprachentwicklung stellt Stud-dert-Kennedy entsprechend erleichtert fest(1991, S. 8):

«We are freed from preoccupation withthe ‘initial state’ as an index of geneticendowment, and from the nativist-empiri-cist controversy that has dominated stud-ies of language development almostsince their inception.»

Was ist nun aber angeboren? Etwas Wichti-ges muß es doch schließlich sein, wenn dieSprachentwicklung als eine biologische Ange-legenheit verstanden wird? Drei Aspektescheinen hier wichtig zu sein, wenn auch alledrei noch nicht hinreichend verstanden sind:Der erste ist, daß das Kind tatsächlich ange-borene Voraussetzungen mitbringt, um mitdem Medium Sprache in bereichsspezifischerWeise umzugehen. Hierzu gehören die schondargestellten Fähigkeiten im phonologischenWahrnehmungsbereich (s.o.), die vorgeburt-lich und kurz nach der Geburt gegeben sind.Zweitens interagieren diese sprachspezifi-schen Voraussetzungen mit den wiederumangeborenen affektiven und kognitiven Vor-aussetzungen, die sich u.a. unter die Begriffedes Bedürfnisses nach Kommunikation, derAufmerksamkeit, der Differenzierungsfähig-keit, der Kategorisierungsfähigkeit sowie derRegelsuche fassen lassen. Schließlich müssendie Interaktionsprozesse innerhalb von biolo-gischen Zeitfenstern erfolgen, in denen dasSprachlernen am optimalsten erfolgen kann.Locke (1993, 1994) hat vier solcher Zeitfen-ster unterschieden, die er als kritische Peri-oden für die Aktivierung linguistischer Me-chanismen bezeichnet. Zwar überlappend,aber in festgelegter Sequenz, erfüllen sie spe-zifische Funktionen mit eigener neuraler Spe-zialisierung.

Während der ersten primär affektiv-sozia-len Phase, die von den letzten Gestationsmo-naten bis zur Mitte des ersten Lebensjahresreicht, sind Mechanismen der rechten Hemis-phäre vorherrschend. Wie schon bekannt,steht der Säugling unter prosodischer Kon-trolle und lernt, seine Vokalisationen auf diemütterliche Stimme abzustimmen. Auch diezweite Phase, die einen Zeitraum von etwa 14Monaten umfaßt, ist weitgehend durch Me-

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chanismen der rechten Hemisphäre kontrol-liert. Das kleine Kind erwirbt einzelne Wörterund segmentell unanalysierte prosodischeMuster, sog. «frozen forms». Diese assoziati-ven und nicht-generativen Sprachformen bil-den dann in der dritten Phase das Ausgangs-material für Distributionsanalysen, die demKind ermöglichen, grammatische Kategorienund Regeln zu erkennen. Wie an anderer Stel-le ausgeführt, erfolgt

«der Spracherwerb nicht über ein bloßesImitieren der gehörten Sprache, sondernstellt einen fortschreitenden struktursu-chenden und strukturbildenden Prozeßdar, der als ein aktiver Induktionsprozeßim Sinne einer Distributionsanalyse vor-gestellt werden kann» (Grimm, 1995a, S. 712).

Das heißt, auf der Grundlage im Gedächtnisgespeicherter ganzheitlicher Formen werdenVerteilungsmuster erkannt, die der Klassifika-tion von Teileinheiten in Kategorien und derAbleitung bestehender Regelmäßigkeiten zwi-schen diesen dienen. Entsprechend bezeich-net Locke diese Phase auch als analytisch undregelgeleitet. Sie beginnt ab dem 20. Lebens-monat und wird durch die linke Hemisphärekontrolliert. In der vierten Phase schließlich,beginnend im 4. Lebensjahr, werden die neu-ronalen Ressourcen beider Hemisphären ge-nutzt. Diese Phase ist daher integrativ undsorgt für einen elaborativen Lernprozeß.

Wenn die notwendigen neuralen Systemewährend der Zeitfenster nicht aktiviert wer-den, dann ist die biolinguistische Uhr abge-laufen, und ein normaler Sprachlernprozeßkann nicht mehr erfolgen. So haben senso-risch deprivierte oder sozial vernachlässigteKinder einen nur beschränkten Zugang zu re-levanten Sprachdaten. Ebenfalls wissen wir,daß blinde Kinder oder Kinder mit reduzier-tem Sprachinput ganz extreme Sprachlern-probleme aufweisen können. Besonders inter-essant sind in diesem Zusammenhang dys-phasisch sprachentwicklungsgestörte Kinder,die weder eine schwerwiegende sensorischeStörung aufweisen noch sozial depriviert sindund auch keine geistige Behinderung aufwei-sen (vgl. für eine genaue Charakterisierungund Darstellung Grimm, 1986a, 1993,

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1995a). Bei diesen Kindern mit einer spezifi-schen Sprachentwicklungsstörung erfolgt einverspäteter Beginn und eine langsamere Lern-rate des vermutlich von der rechten Hemis-phäre gesteuerten Erwerbs von Äußerungs-einheiten. Daß es sich tatsächlich um eineVerlangsamung der Gehirnfunktionen han-delt, ist daran ablesbar, daß die Kinder auchbei nicht-sprachlichen Aufgaben länger alsunauffällige Kinder brauchen. So verhaltensie sich bei motorischen Aufgaben wie demAufreihen von Perlen oder dem Balancierenauf einem Fuß ungeschickt und sind auffälliglangsam beim Klopfen mit der Hand. Wiehäufig festgestellt, sind dysphasisch sprach-entwicklungsgestörte Kinder oft klein und be-ginnen spät zu laufen, was wiederum für einelangsame Gesamtentwicklung spricht (vgl.zusammenfassend u.a. Locke, 1994). Der ein-geschränkte Äußerungserwerb während der2. Phase führt dann zu einer ebenfalls einge-schränkten Analyse der Äußerungen in derdritten Phase mit dem Ergebnis massivergrammatischer Probleme.

Wenn auch die Phasen theoretisch undempirisch noch nicht vollständig untersuchtund validiert sind, so kann dennoch jetztschon als wichtige Erkenntnis festgehaltenwerden, daß so wie die normale Sprachent-wicklung auch die gestörte nur als Prozeßverstanden werden kann. Die gestörteSprachentwicklung stellt keinen plötzlichenZusammenbruch eines Mechanismus oderauch mehrerer Mechanismen dar, sondern sieentsteht kumulativ, wobei die verzögerte neu-rologische Entwicklung mit einer abnehmen-den Sensitivität für das Sprachlernen intera-giert. Daher werden Kinder immer wenigerfähig, sprachliche Informationen spezifischsprachstrukturell zu verarbeiten. Folglich isteine frühe Intervention notwendig. Wennwährend der zweiten Phase die Umweltsti-mulation angereichert und alles versuchtwird, damit das kleine Kind auf diese Stimu-lation reagieren kann, so sollte sich das Ge-hirn reorganisieren und sollten entsprechendsprachliche Informationen schneller verarbei-tet werden können.

Die zweite Phase stellt also eine besonderskritische Periode für das Sprachlernen dar.Kinder mit Verzögerung der Hirnreifung er-reichen diese in jedem Fall erst spät, so daß

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sie nur wenig Stimulusmaterial speichernund entsprechend ihren analytischen Struk-turmechanismus nicht zur optimalen biolo-gischen Zeit aktivieren können. Wie Locke(a.a.O.) weiter ausführt, hat dann, wenn dieKinder schließlich genügend Wörter für denÜbergang gelernt haben, die modulare Fähig-keit zum Grammatikerwerb schon begonnenabzunehmen, womit gleichzeitig eine Beein-trächtigung der Kapazität der linken Gehirn-hälfte verbunden ist.

Der wohl witzig gemeinte Rat an Frühge-borene, entweder einen großen Kopf mitzu-bringen oder den Kopfumfang so schnell wiemöglich zu vergrößern, ist doch besser durchden konkreten Interventions-Rat zu ersetzen,daß mit den betroffenen Kindern intensivund prosodisch angereichert gesprochen wer-den soll. Kann dadurch ihre aktive Stimulus-aufnahme angeregt werden, so wird auch dasGehirnwachstum aktiviert.

3.4 Sprachlernen im und über denDialog

Die internalen Voraussetzungen wie diefrühen phonologischen Wahrnehmungslei-stungen, die Differenzierungs- und Kategori-sierungsfähigkeiten sind die Bedingungendafür, daß die relevanten sprachlichen Infor-mationen gespeichert und weiter analysiertwerden können; aber erst im sozialen Interak-tionskontext, wo das Sprachangebot geschaf-fen wird, werden diese Fertigkeiten zur Kom-munikation genutzt, und die Basis für denSpracherwerb ist geschaffen.

Es stellt sich die Frage, welche Vorgängeund Abläufe in der Mutter-Kind-Kommunika-tion diese Basis bilden. Die interaktionisti-sche Sichtweise betont besonders den Pas-sungsgedanken. Nur wenn eine optimale Pas-sung zwischen elterlichem Interaktionsver-halten und den perzeptuellen und kognitivenKompetenzen des Säuglings besteht, kanndas Kind aus diesen frühen Interaktionssitua-tionen für den Erwerb der Sprache profitie-ren.

Die Mutter-Kind-Interaktion kann als eindidaktisches System bezeichnet werden.

«The parent-infant interaction representsa specific interacting system in which

the two partners critically differ in amount of knowledge and social aware-ness and thus constitute a didactic sys-tem» (Papousek & Papousek, 1984, S.157– 158).

Die elterlichen Verhaltensweisen funktionie-ren als perfektes Gegenstück zum Entwick-lungsstand des Säuglings mit seinen entspre-chenden Bedürfnissen, Möglichkeiten undGrenzen. Die Eltern lenken dabei das Kindnicht gezielt und bewußt, sondern verfügenüber intuitive Strategien. Diese werden auchals intuitives Elternprogramm bezeichnet.

Papousek und Papousek (1981) diskutierenfünf elterliche Verhaltenstendenzen, die indem nicht-reflexiv funktionierenden didakti-schen System von Bedeutung sind:

1. Vereinfachung und Verdeutlichung vonMimik, Gestik und Sprechweise:Die Eltern bilden in der Interaktion mitihrem Baby vereinfachte und verlangsamteMuster in allen drei Ausdrucksarten. Be-sonders auffallend ist die elterliche Sprech-weise («baby-talk»), die durch kurze, häu-fig wiederholte Sequenzen, lange Pausen,erhöhte Grundfrequenz und ausdrucksvol-le Prosodik gekennzeichnet ist. Mit diesem elterlichen Verhalten findetsich in den Fähigkeiten des Neugeboreneneine perfekte Entsprechung. Um nur zweiPunkte zu nennen (s.o.): Erstens nutzenschon vier Tage alte Säuglinge prosodischeMerkmale für Differenzierungsleistungen;zweitens ist die hohe Stimmlage die aku-stisch präferierte Frequenz von Säuglingen.

2. Wechsel zwischen Wiederholungen undNeuerungen:Die Verhaltens- und Sprechsequenzen derEltern werden häufig wiederholt, durchAbwandlungen und Neuerungen jedochauch ergänzt. Dieses Verhalten steht ineiner Passung zur kindlichen Aufmerksam-keit, da Säuglinge besonders jenen Reizeneine erhöhte Aufmerksamkeit schenken,die sich gleichzeitig durch einem hohenVertrautheitsgrad und einen mittlerenGrad an Neuheit auszeichnen.

3. Abstimmung der Anregungen auf denkindlichen Zustand:

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Eltern scheinen intuitiv den Grad derWachheit und den aktuellen Status derAufnahmebereitschaft, Aufmerksamkeitund Bedürfnisse ihres Kindes zu erfassen.Somit sind sie in der Lage, ihre Anregun-gen darauf abzustimmen und die verfüg-baren Lernzeiten ihres Kindes optimal zunutzen.

4. Unterstützung des Blickkontaktes:Daß Eltern sich ständig bemühen, mitihrem Kind Blickkontakt zu halten, hatebenfalls sein Pendant in der Präferenz desKindes, besonders auf das Gesicht – undinsbesondere auf den Mund – zu achten.Wie schon ausgeführt, können Kinder frühdie funktionale Einheit von Gesichtsaus-druck und Vokalisationen erkennen.

5. Kontingentes Eingehen auf das kindlicheVerhalten:Dadurch, daß Eltern kontingent auf dasVerhalten ihrer Säuglinge eingehen, diesesnachahmen und positiv verstärken, wirddas Erkennen von Intentionalität, das Ent-decken von Kausalität und die Differenzie-rung von Selbst und Umwelt gefördert. Indiesem Wechselspiel belohnt der Säuglingdas elterliche Verhalten wiederum mit sei-nem Lächeln, dem Aufrechterhalten vonBlickkontakt und seinen Vokalisationen.

Die Eltern mit ihren intuitiven Lehrstrategientreffen auf einen Säugling, der neben einerReihe von Fähigkeiten vor allem eine intrinsi-sche Motivation zu lernen mitbringt. Pa-pousek und Papousek (1984, S. 158) resümie-ren:

«... on the one hand, the human infant isintrinsically motivated to learn and ac-quire knowledge, while on the other, theparent is intrinsically motivated to shareknowledge with his progeny and to con-vey information to the infant in accor-dance with the developmental and mo-mentary states of infant integrative abili-ty.»

Für den Spracherwerb bedeutet dies, daß dieinternalen phonologischen, kategorialen unddiskriminierenden Fähigkeiten des Kindessich in optimaler Passung zu den äußerensprachlichen Lernbedingungen befinden

müssen. Bruner (1981) geht davon aus, daßbeide Systeme – die frühkindliche Fähigkeit,die konstituierenden Regeln der Mutterspra-che zu analysieren, und die entsprechende el-terliche Fähigkeit, den sprachlichen Input sozu formen, daß er dem kindlichen Systementspricht – gemeinsam als spezies-spezifi-sche Systeme operieren.

Auf diese Weise kommunizieren Kindermit ihren Bezugspersonen also schon lange,bevor sie zu reden beginnen. Grimm (1995a)betont, daß die grammatischen Regeln in die-sem Kommunikationsprozeß besonders guterworben werden können. Drei Phasen dieserEntwicklung der grammatischen Kompetenzim Kommunikationskontext können nachHoff-Ginsberg (1993) unterschieden werden:

1. Im Alter von acht bis elf Monaten begin-nen Kinder, Gesten intentional einzuset-zen. Sie blicken beispielsweise auf ein be-stimmtes Objekt, das sie haben möchten,oder sie zeigen das Objekt ihres Interessesder Mutter. Oft reagiert die Mutter dannmit einem Blick zu dem entsprechendenObjekt und der Nennung seines Namens,so daß die Kinder auf diese Weise das refe-rentielle Benennen lernen. Gleichzeitiglernen die Kinder dabei aber auch Ent-scheidendes über Kommunikationsmuster,wie z.B. «turn-taking» und Kontingenz.

2. Ab dem 16. Lebensmonat verwenden dieKinder dann schon selbst sprachliche Aus-drücke, um ihre kommunikativen Inten-tionen zu verdeutlichen. Sie «fragen» mitEin-Wort-Sätzen nach Objekten oder Per-sonen, und sie «antworten» auf Fragen.

3. Danach nehmen die sprachlichen Aus-drücke der Kinder sowohl an Vielfalt alsauch an Länge schnell zu, so daß sie mitzweieinhalb Jahren nach Grimm (1995a)etwa 20 zusammenhängende Äußerungenproduzieren können.

Auch im weiteren Sprachlernprozeß behältdas didaktische Eltern-Kind-System seineGültigkeit. Für den Erwerb des grammati-schen Regelsystems der Sprache gibt es wie-derum ein perfektes Zusammenspiel zwi-schen Mutter und Kind, das den Regelinduk-tionsprozeß des Kindes unterstützt.

Die Mutter fördert den Sprachlernprozeßdes Kindes auf mindestens zweierlei Art: Er-

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stens lenkt die Mutter den kommunikativenAustausch zunächst mehr und zeigt demKind damit den normalen Gang eines Kom-munikationsprozesses auf. Im weiteren Ent-wicklungsverlauf übernimmt dann das Kindmehr und mehr die initiative Rolle.

Zweitens setzt die Mutter sogenannteSprachlehrstrategien ein. Grimm und Wei-nert (1993) zählen sechs solcher Strategienauf, die Einfluß auf den kindlichen Spracher-werb haben:

– invertierte Ja/Nein-Fragen (mit dem Auxi-liar in der ersten Person)

– W-Fragen– teilweise Wiederholungen der kindlichen

Äußerungen– teilweise Wiederholung der eigenen Äuße-

rungen (mit und ohne Modifikation)– Expansionen– gesprächsanregende Fragen oder allgemein

ein gesprächsanregender Stil

Diese Sprachlehrstrategien erhöhen zumeinen die Wahrscheinlichkeit für Gesprächeund vermehren so die Gelegenheiten für dasSprachlernen. Zum anderen betonen und ver-deutlichen sie die strukturellen Gegebenhei-ten der Sprache und bilden damit eine beson-ders geeignete Basis für eine Analyse der Ver-teilungsmuster der sprachlichen Daten vomKind. Am Beispiel der Expansion kann diesbesonders gut verdeutlicht werden (vgl.Grimm, 1985): Wenn die Mutter die vorgege-bene Äußerung des Kindes [«Ich bin des, ichFuß brocht»] in [«Das bist du, als du den Fußgebrochen hast»] abwandelt, gibt sie ihremKind eine Möglichkeit, die eigene Äußerungmit einem Modell zu vergleichen. Das Kindkann die Veränderungen und Korrekturen anden einzelnen Wortpositionen nachvollzie-hen und bekommt eine korrekte Formulie-rung der Äußerung demonstriert.

Daß das Kind aktiv diesen Prozeß mitbe-stimmt – wie ein interaktionistischer Ansatzes fordert –, zeigte Grimm (1984, 1986b,1987c). Natürlich geht es dabei nicht um einebewußte Aktion des Kindes; vielmehr scheintbeispielsweise der Entwicklungsstand desKindes zu bestimmten Adaptionsleistungender Mütter zu führen. Dabei sind die Sprach-fähigkeiten der Kinder offenbar von besonde-

rer Salienz. Denn wenn beispielsweise eineDissoziation zwischen allgemeiner kognitiverEntwicklung und den sprachlichen Fähigkei-ten eines Kindes besteht, orientieren sich dieMütter in ihren Interaktionen vor allem anden sprachlichen Leistungen ihrer Kinder. Soscheint der Spracherwerb im und über denDialog durch einen ständigen Lehr-Lern-Pro-zeß gekennzeichnet zu sein (Grimm, 1985).

4. EntwicklungskritischeZahl 50Die Vorausläuferfähigkeiten, die interaktivzusammenwirkend die Produktion ersterWörter ermöglichen, sind nochmals der Ab-bildung 1 zu entnehmen (S. 452). Die erstenWörter tauchen also nicht plötzlich aus demNichts auf oder stellen simple imitativ erwor-bene Fertigkeiten dar, sondern sie sind hochkomplexe Einheiten, in denen sich die Ent-wicklungslinien unterschiedlicher Fertigkeits-bereiche kreuzen. Der Worterwerb ist dem-nach nur auf den ersten Blick eine einfacheSache. Dies trifft auch auf das nachfolgendeWortlernen zu, das geradezu explosive Aus-maße annimmt. Wenn nach dem erstenlangsamen Erwerb mit ungefähr 18 Monatendie 50-Wort-Grenze erreicht wird, dann be-finden sich die Kinder an einem entwick-lungskritischen Punkt, ab dem sehr schnellviele Wörter dazu gelernt werden können. In-nerhalb von 16 Jahren wird ein Grundwort-schatz von etwa 60.000 Wörtern aufgebaut,wofür, Carey (1978) zufolge, täglich etwaneun neue Wörter hinzukommen müssen.

Die Quantität von 50 Wörtern markierteine qualitative Reorganisation des Lexikons,die sich als Wunsch nach Kategorisierung dererfahrbaren Objekte und Ereignisse fassenläßt. Es geht den Kindern nicht mehr alleinedarum, Informationen über ganz bestimmteDinge oder Personen mitzuteilen, sondernder Wortgebrauch gewinnt nun eine abstrakt-kognitive Qualität. Die Kinder haben er-kannt, daß alle Dinge einen Namen haben(Goldfield & Reznick, 1990). Schon vor 90Jahren haben die Sterns diese für die Entwick-lung weitreichende Erkenntnis in ihrer ‹Kin-

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dersprache› herausgestellt (Stern & Stern,1907).

Wie kommt es dazu, daß Kinder nach demErreichen der 50-Wörter-Grenze ihren Wort-schatz so schnell erweitern können? An Um-welterfahrungen alleine kann es sicherlichnicht liegen. Denn die Mütter schränken dasAusmaß ihrer Benennungsspiele deutlich ein,wenn die Kinder das zweite Lebensjahr über-schritten haben. Die Kinder sind vielmehrweitgehend selbst für diese Leistung verant-wortlich, die sie nur deshalb erbringen kön-nen, weil sie bereit sind, Wörter mit noch un-vollständig erkannten Bedeutungen zu ver-knüpfen. Was passiert, ist eine sehr schnelleZuordnung («fast mapping», vgl. Rice, 1990)zwischen Wort und unvollständiger Bedeu-tung. Es wäre demnach falsch anzunehmen,daß Wörter erst dann erworben und ge-braucht werden, wenn die zugrundeliegen-den Konzepte vollständig erkannt sind.

Die Unvollständigkeit der Wortbedeutun-gen steht dafür, daß Kinder Wörter häufig an-ders gebrauchen als Erwachsene. So nehmensie einerseits Übergeneralisierungen vor undwenden dasselbe Wort auf unterschiedlichePersonen, Tiere oder Gegenstände an. Allemännlichen Personen werden so beispiels-weise mit «Papa» oder «Onkel» bezeichnet.Oder das Wort «Hund» wird auf alle Tiere an-gewendet, die vier Beine und einen Schwanzhaben. Wie komplex der überdehnte Wortge-bauch sein kann, schildern anschaulich de Villiers und de Villiers (1992, S. 351 bis352): Ihr Sohn Nicholas hatte das Tierreich invier Kategorien eingeteilt: «Nunu» für Hundeund andere kleine Tiere; «moo» für Kühe,Pferde und andere große Tiere; «du» fürEnten und andere Vögel; «turtle» schließlichfür eine aufziehbare Schildkröte im Badewas-ser. Dieser eingeschränkte Schildkröten-Ge-brauch wurde innerhalb von wenigen Tagenauf eine Schildkröte auf Rädern, auf eineechte sowie auf eine abgebildete Schildkröteausgedehnt. Neben dieser Bedeutungserwei-terung auf perzeptueller Grundlage nahmNicholas aber auch eine funktional motivier-te Erweiterung vor und bezeichnete andereGegenstände, die in seinem Badewasserschwammen, wie z.B. einen Frosch oder einWalroß, ebenfalls als «turtle». Mit 17 Mona-ten bezeichnete er entzückt und zum Ent-

zücken seiner Tagebuch führenden Eltern sei-nen großen, aus dem löchrigen Strampelan-zug ragenden Zehen ebenfalls – und nun inpragmatischer Funktion – als «turtle» (zitiertnach Grimm, 1995a).

Andererseits neigen kleine Kinder auchdazu, den Geltungsbereich eines Wortes sehrviel enger zu fassen als dies ältere Kinder oderErwachsene tun. Ein solch eingeengter Be-deutungsumfang wird als Überdiskriminie-rung bezeichnet, wofür wiederum de Villiersund de Villiers (1992, S. 352) ein schönes Bei-spiel parat haben: Mit zwölf Monaten be-nutzte Adam das Wort «duck» nur, wenn ereine seiner drei gelben Enten aus der Bade-wanne warf. Nach wenigen Wochen benutzteer «duck» auch in anderen Situationen fürseine Spielzeugenten, nicht aber für richtigeEnten. Fünf Monate später übergeneralisierteer dann den referentiellen Gebrauch von«duck» und bezeichnete damit auch andereWasservögel und das Bild einer Wachtel (zi-tiert nach Grimm, 1995a).

Übergeneralisierungen und Überdiskrimi-nierungen sind also der Ausdruck dafür, daßjüngere Kinder Wortrepräsentationen aufge-baut haben, die noch unvollständig sind.Werden diese spezifischen Wortgebrauchsfor-men nicht mehr produziert, so kann entspre-chend geschlossen werden, daß eine erneuteReorganisation des Lexikons, und zwar eineUmstrukturierung in hierarchische Organisa-tionen der semantischen Wortfelder, stattge-funden hat.

Wie aber kommt ein Kind überhaupt dazu,ein bestimmtes Wort mit einer bestimmtenBedeutung zu verknüpfen? Während der er-sten langsamen Phase kann von einem asso-ziativen Prozeß im Sinne des Paar-Assoziati-ons-Lernens ausgegangen werden. Wenn dasKind sehr häufig einen Gegenstand oder einePerson gesehen und dazu von der Mutter dasentsprechende Wort gehört hat, kann esbeide Wahrnehmungen zusammenbringen.Verständlich, daß auf diese Weise nicht mehrals ein Wort oder zwei Wörter im Monat ge-lernt werden können. Nach Erreichen der 50-Wörter-Grenze gewinnt das Lernen jedocheine vollständig andere Qualität. Es wird nundurch «constraints» (Beschränkungen) gelei-tet, die bewirken, daß sehr schnell eine Bezie-hung zwischen Wort und Bedeutung herge-

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stellt werden kann. Daß Constraints als Lern-mechanismen im Sinne der Einschränkungvon möglichen Annahmen über die Bedeu-tungen von Wörtern verstanden werdenkönnen, hat Markman mit ihren Mitar-beitern (z.B. Markman & Hutchinson, 1984;Markman & Wachtel, 1988) in sehr einfalls-reichen Experimenten aufgezeigt.

Die Ausgangsfrage stellt dabei das sog. In-duktionsproblem dar: Zahlreiche unter-schiedliche Bedeutungen können mit einemWort gemeint sein. Wenn ein Kind einenHund sieht, der weiß ist, lange Ohren hatund an einem Knochen nagt, woher sollte eswissen, daß sich das neue Wort «Hund» aufdas ganze Tier und nicht auf seine Größe,seine Farbe oder auf die Handlung des Na-gens bezieht? Wie also gelingt es, die jeweilsspezifische Bedeutung eines Wortes aus einergroßen Anzahl prinzipiell möglicher Bedeu-tungen herauszufinden? Hier greift einmaldie Beschränkung (Constraint), daß ein neuesWort auf das Ganze bezogen zu verwenden

ist. Das Kind folgt damit der Strategie, daßneue Wörter sich vorzugsweise auf ganze Ob-jekte und nicht auf Teile davon, ihre Größe,Farbe oder andere Eigenschaften beziehen.Besonders interessant ist auch, daß Kinderbeim Hören neuer Wörter zudem zur Herstel-lung taxonomischer Beziehungen neigen, wieMarkman und Hutchinson (1984) mit demfolgenden Experiment nachgewiesen haben:Vier- bis fünfjährigen Kindern wurden Ob-jekt-Bilder (Kuh, Ring, Hund, Zug usf.) vorge-legt, zu denen sie aus zwei weiteren Bildernein passendes auswählen sollten. Eines dieserBilder stellte eine taxonomische Wahl dar(z.B. Schwein zu Kuh; Halsband zu Ring;Katze zu Hund, Bus zu Zug), das andere einethematische Wahl (z.B. Milch zu Kuh; Handzu Ring; Knochen zu Hund; Schienen zuZug). In der Bedingung ohne Benennungwurden die Kinder instruiert: «Ich zeige direin Bild. Und du sollst noch so eines finden.»In der Bedingung mit Benennung lautete dieInstruktion: «Ich zeige dir nun ein ‹dax›

462 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

Abbildung 2: Veränderung der Zusammensetzung des Wortschatzes in Abhängigkeit vom Alter

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(Kunstwort). Und du sollst ein anderes ‹dax›finden. Kannst du ein anderes ‹dax› finden?»Die bloße Präsenz des Kunstwortes reichteaus, daß die Kinder keine thematischen Zu-ordnungen wählten wie bei der Bedingungohne Benennung, sondern taxonomische Be-ziehungen herstellten.

Durch die Wortexplosion wird die ent-wicklungskritische Schwelle für den Gram-matikerwerb erreicht (vgl. Abb. 1). Produzie-ren die sehr jungen Kinder zunächst aus-schließlich Nomen, so differenziert sich derWortschatz anschließend in der Weise aus,daß die Produktion der Nomen abnimmt,dafür jedoch zunehmend Verben und Adver-bien auftauchen. Marchman und Bates(1991) sprechen von der «kritischen Masse»an Verben, die erreicht werden muß, damitdie Induktion grammatischer Regelmäßigkei-ten ermöglicht wird. So konnten sie einehoch positive Beziehung zwischen der Größedes Verbwortschatzes und Verbflektionen(r = .52, p > 0.001) feststellen. Anders ausge-

drückt: Erst wenn ein prädikativer Wort-schatz einer bestimmten Größenordnung er-reicht ist, haben die Kinder eine hinreichen-de Induktionsbasis, um grammatische Regelnableiten zu können.

Wie groß dieser prädikative Wortschatzungefähr sein muß, läßt sich den Abbildun-gen 2 und 3 entnehmen. Die Daten der Abbil-dung 2 beruhen auf Querschnittsvergleichenbei vier unterschiedlichen Altersgruppen. Esist deutlich erkennbar, daß über das Alter derGesamtwortschatz rapide zunimmt, wobeiVerben und Adverbien erst zwischen 27 und31 Monaten deutlich ansteigen. Daß dieserAnstieg in diesem frühen Alter in nur gerin-gem Maße direkt alterskorreliert ist, läßt sichan dem geringen Unterschied des nicht-no-minalen Wortschatzes zwischen den Alters-gruppen 27 bis 31 Monate und 32 bis 36 Mo-nate ablesen. Demgegenüber zeigt Abbildung 3die deutliche Beziehung zwischen Größe undVeränderung der Zusammensetzung desWortschatzes. Vor der Wortexplosion stehen

463Im Zentrum steht das Wort

Abbildung 3: Veränderung der Zusammensetzung des Wortschatzes in Abhängigkeit von der Gesamtwortschatz-größe

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Nomen alleine da, ab der Wortschatzgrößevon 100 bis 150 ist indes der prädikative An-teil zunehmend stärker vertreten. Hinter die-sen Quantitäten verbirgt sich, wie schon aus-geführt, eine bedeutsame bereichsspezifischeReorganisation der lexikalischen Repräsenta-tion, die den Boden für den Grammatiker-werb bereitet.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daßder Weg vom Wortschatz hin zum Satz keineEinbahnstraße darstellt. Sondern nach demErreichen der kritischen Masse beginnt dieSyntax beim Erwerb neuer Wörter eine wich-tige Rolle zu spielen. Sozusagen als Steigbü-gelhalter macht das morpho-syntaktischeSatzmuster das Erlernen von nicht-konkretenVerben erst möglich («syntactic bootstrap-ping»). Dies läßt sich u.a. an solchen Verbenverdeutlichen, die auf unterschiedlichemSpezifikationsniveau visuelle Wahrnehmun-gen bezeichnen. Die konkrete Situation gibtfür die Differenzierung zwischen «sehen»,«wahrnehmen», «anschauen» oder «bemer-ken» überhaupt keine Hinweise, da es nichtmöglich ist, daß man etwas sieht, ohne eswahrzunehmen, oder daß etwas angeschautwird, ohne es zu sehen. Woher, wenn nichtaus dem linguistischen Satzkontext sollte einKind daher diese Wörter in ihrer differentiel-len Bedeutung lernen können? Wörter wie«wissen», «vermuten» oder «denken» sindschließlich überhaupt nicht auf beobachtbareEreignisse bezogen. Um diese mentalen Ver-ben zu erwerben, können wiederum schonverfügbare kognitive Konzepte und auch ge-gebene beschränkende Strategien (Con-straints) in keinem Fall ausreichend sein. DieKinder müssen vielmehr auf der Basis vonSatzrahmen operieren, in denen diese Verbenvorkommen bzw. nicht vorkommen. «Ichdenke über etwas nach» ist beispielsweise einkorrekter Satz, wohingegen «Ich weiß überetwas nach» völlig falsch ist. Umgekehrt gehtwieder «Ich weiß dies wohl zu unterschei-den», nicht jedoch «Ich denke dies wohl zuunterscheiden».

Die wichtigsten drei Schritte der lexikali-schen Entwicklung nochmals kurz zusam-mengefaßt:

1. Früher Worterwerb ab ungefähr dem 10.Lebensmonat, der auf assoziativen Ver-

knüpfungen im sozial-interaktiven Lern-kontext beruht.

2. Erreichen der entwicklungskritischen Zahl50, worauf eine Benennungsexplosion er-folgt. Ungefähr ab dem 18. Lebensmonaterfolgt ein schnelles Wortlernen für Objek-te und Objektmerkmale, wobei Con-straints im Sinne von Beschränkungenmöglicher Wortbedeutungen eine wichti-ge Rolle zukommt.

3. Nach dem Erwerb eines bestimmten Wort-schatzumfangs erreicht der prädikative An-teil eine für den Grammatikerwerb kriti-sche Quantität. Aufgrund der Steigbügel-halterfunktion syntaktischer Muster wirddadurch wiederum der Erwerb von Wör-tern, insbesondere von Verben und auchanderer relationaler Wörter gesteuert.

5. Kinder mit verspätetem Spracherwerb(«late talkers»)

Kinder, die im Alter von 24 Monaten nochkeine 50 Wörter produktiv beherrschen, wer-den in der Literatur als ‹late talkers› bezeich-net (vgl. u.a. Grimm, Doil, Müller & Wilde,1996; Paul, 1991; Rescorla, 1989). Was bedeu-tet das Verpassen dieses kritischen Wertes, dergewöhnlich schon im Alter von 18 Monatenerreicht wird (s.o.)? Retrospektiv können wirvor dem Hintergrund der Darstellung derVorausläuferfähigkeiten für den Spracher-werb annehmen, daß Entwicklungsdefizitebei einer oder auch mehreren dieser Fähigkei-ten ursächlich sind. Hierfür sprechen die em-pirisch festgestellten prädiktiven Beziehun-gen zwischen Vorausläuferfähigkeiten undMaßen späterer Sprachleistungen, wie sieoben schon diskutiert wurden. Auf die Frage,wie es überhaupt zu Sprachlernproblemenkommen kann, braucht entsprechend nichtmehr eingegangen werden. Vielmehr interes-siert nun der prospektive Aspekt der Nachfol-geprobleme. Wohin führen Sprachentwick-lungsprobleme? Welche Auswirkungenhaben diese auf die spätere kindliche Ent-wicklung? Abbildung 4 kann hierzu entnom-men werden, daß eine sehr spezielle und

464 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

Page 23: 5-8

scheinbar hoch bereichsspezifische Angele-genheit in ein kumulatives kognitives undpsycho-soziales Defizit münden kann.

Bei Stichproben mit einem Umfang vonwenigstens 80 zweijährigen Kindern konntein unterschiedlichen amerikanischen Unter-suchungen zuverlässig festgestellt werden,daß zwischen 13 und 20% dieser Kinder we-niger als 50 Wörter produzieren (vgl. u.a.Dale, 1991; Dale et al., 1989; einen Überblickgibt Grimm, 1995b). In unseren eigenen Un-tersuchungen ist es uns für den deutschenSprachraum gelungen, diese Größenordnungzu bestätigen (vgl. Grimm et al., 1996). Wennman bedenkt, daß es sich dabei um Kinderhandelt, die sowohl für die Eltern als auch fürdie Kinderärzte/Kinderärztinnen als normalentwickelt gelten, stellt dies einen ganzerheblichen Anteil dar. Etwa 50% der ‹latetalkers› gelingt es dann im weiteren Entwick-lungsverlauf, ihren Sprachrückstand aufzu-holen, so daß sie im Alter von 3–4 Jahren

keine Auffälligkeiten mehr zeigen. Den ande-ren Kindern gelingt dies jedoch nicht, son-dern ihr Störungsbild hat sich verfestigt, sodaß ihre Sprachleistungen nun offensichtlicherkennbar defizitär sind. Die anfänglicheVerzögerung der Wortschatzentwicklung istzu einer Störung der Sprachentwicklung ge-worden (vgl. für eine ausführlichere Darstel-lung Grimm, 1993, 1995b). Da sich abernicht nur die Sprachprobleme, sondern auchProbleme im kognitiven und sozialen Be-reich verfestigt haben, besteht für die gesam-te Persönlichkeitsentwicklung die Gefahr,einen abweichenden Verlauf zu nehmen. Sowerden u.a. Defizite bei der Informationsver-arbeitung, ängstliches oder auch aggressivesVerhalten sowie Kommunikationsschwierig-keiten mit anderen Kindern (Peers) berich-tet (vgl. hierzu die Arbeiten in Grimm &Skowronek, 1993).

Im Schulalter schließlich werden die nega-tiven Auswirkungen der anfänglich als bloße

465Im Zentrum steht das Wort

Abbildung 4: Störungsverlauf bei ‹late talkers›

Stichprobenumfang N ≥ 80

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Verzögerung des Wortlernens erkennbarenEntwicklungsstörung in erschreckenderWeise manifest. Die Sprach- und Kommuni-kationsfähigkeit der Kinder bleiben auf einemreduzierten Niveau stehen und bewegen sichauch mit therapeutischer Hilfe nur sehrschwerfällig vorwärts. Bei den schulischenProblemen haben die Kinder zuverlässig mitLeseschwierigkeiten zu kämpfen, die be-kanntlich außerordentlich persistent sind.Zusätzlich werden häufig psycho-soziale Pro-bleme ausgebildet, so daß die Kinder Verhal-tensauffälligkeiten und soziale Interaktions-probleme zeigen.

5.1 Sprachdefizite mit Plateaubildung

Bei sprachentwicklungsgestörten Kindern er-folgt der Sprachaufbau langsam und müh-sam. Die gebildeten Sätze sind simpel undgrammatikalisch falsch: Morphologische For-men und Präpositionen werden nicht oderfalsch gebraucht; pragmatische Sprachaspektewie die Herstellung der Dialogkohärenzdurch pronominalen Rückbezug fehlen weit-gehend. Daß die Sprache der Kinder selbst beider unmittelbaren Reproduktion vorgespro-chener Sätze zusammenbricht, ist dem Bei-spiel in Tabelle 5a zu entnehmen.

466 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

Tabelle 5b: Satzimitationen eines sprachunauffälligen Mädchens (Alter: 5;8 Jahre)*

Satzvorgabe Reproduktion

Der Ball rollt den Abhang hinunter. Der Ball rollt den Abhang hinunter.Die Katze leckt die ganze Schüssel aus. Die Katze leckt die ganze Schüssel aus.Das Fahrrad wird von dem Omnibus an die Wand geschoben. Das Fahrrad wird von den Omnibus an die Wand

geschoben.Die Tante, die weit weg wohnt, kommt zu Besuch. Die Tante, die weit weg wohnt, kommt zu Besuch.Der Schrank, den ich mir gekauft habe, ist schön. Der Schrank, den ich mir gekauft habe, is schön.Vater hat einen Rucksack gekauft, bevor wir wanderten. Vater hat einen Rucksack gekauft, bevor wir

wanderten.Das ist der Mann, dessen Sohn krank ist. Das ist der Mann, dessen Sohn krank ist.Die Sonne scheint, nachdem es immer geregnet hatte. Die Sonne scheint, dann nach es immer geregnet

hatte.

(aus Grimm, 1993)* Der Untertest ist hier nicht vollständig wiedergegeben

Tabelle 5a: Satzimitationen eines sprachentwicklungsgestörten Mädchens (Alter: 5;8 Jahre)*

Satzvorgabe Reproduktion

Der Ball rollt den Abhang hinunter. Der Ball de Abemine runter rollt.Die Katze leckt die ganze Schüssel aus. Die Katze die ganze Schüssel ausleck.Der Teppich wird von dem Vater ausgeklopft. Den Teppich n Vater aufgeklopft.Die kleine Maus wird von dem Löwen gejagt. Die Maus ihre/irche? Löwen jagt wird.Es ist heute morgen kein schönes Wetter. Heute morgen kein schön Wetter is.Bevor du spielst, mußt du den Tisch abräumen. He du spiel hen Tisch abräumen muß.Es sitzt der kleine Vogel im Gebüsch. Und der kleine Vogel in Gebüsch sitzt.Ursula wird von Peter auf dem Rücken getragen. Die Peter jage Rücken tragen wird.Das Fahrrad wird von dem Omnibus an die Wand geschoben. Das Fahrrad .. Wand geschoben.Die Tante, die weit weg wohnt, kommt zu Besuch. Den Tante Besuch kommt. Der Schrank, den ich mir gekauft habe, ist schön. Der Schrank gekauft hab, is schön. Vater hat einen Rucksack gekauft, bevor wir wanderten. Der Vater ein Rucksack und dann de wandern. Das ist der Mann, dessen Sohn krank ist. Dere ein Mann, sein Sohn is krank.Die Sonne scheint, nachdem es immer geregnet hatte. Die Sonne scheint nach immer regne

(aus Grimm, 1993)* Untertest des H-S-E-T (Grimm & Schöler, 1991)

Page 25: 5-8

Eines Tages sagte ein Sohn zu seinem Vater:«Ich werde mich verstecken,und du wirst mich nicht finden.»Der Vater antwortete:«Verstecke dich, wo du willst»,dann ging er ins Haus.Der Sohn verzauberte sich in eine Erdnuß.Die Erdnuß wurde von einem Huhn hinuntergeschluckt.Das Huhn wurde von einer Katze gefressen.Die Katze wurde von einem Hund gefressen.Nach kurzer Zeitwurde der Hund von einer Schlange gefressen.Die Schlange wurde in einem Fischnetz gefangen.Als der Vater nach seinem Sohn suchte,sah er die Schlange in dem Fischnetz.Er machte die Schlange auf und fand den Hund.Dann fand er die Katze, dann das Huhnund in dem Huhn die Erdnuß.Er zerbrach die Schaleund entdeckte seinen Sohn.Der Sohn war so verblüfft,daß er nie wieder versuchte,seinen Vater hereinzulegen.

467Im Zentrum steht das Wort

dann hier Sohn hier versteckengar nicht finden

dann verwandeln hab eine Nußhierche Huhn runterschluck

hierche komm dann eine Katze

eine Schlange und ein Hund

ihrche Netz abeschneide

ihrche dann Huhn gefunde

dann Nuß aufgeschneidedann wiedergefunde das Sohn

Im Vergleich zu den Satzimitationen einessprachunauffälligen Mädchens gleichen Al-ters sind die Sätze des fast sechsjährigensprachentwicklungsgestörten Mädchens ineinem Ausmaß grammatikalisch falsch, daßsie ohne die entsprechenden Satzvorgabennur sehr schwer oder gar nicht verständlichsind. Eine längsschnittliche Untersuchungvon Grimm (z.B. 1986a, 1993) sowie anderelängsschnittliche wie querschnittliche Unter-suchungen (z.B. Morehead & Ingram, 1973)verweisen darauf, daß die Schere zwischensprachunauffälligen und sprachentwicklungs-gestörten Kindern über die Zeit immer weiterauseinandergeht. Im Schulalter und selbstnoch im Erwachsenenalter sind sprachlicheDefizite nachweisbar (z.B. Walker et al., 1994;für einen Überblick vgl. Aram & Hall, 1989).Weinert (1994, S. 34) schlußfolgert entspre-chend:

«Wenn Kinder, die bereits im Vorschulal-ter als sprachentwicklungsgestört dia-gnostiziert wurden, auch im Jugend- undErwachsenenalter noch Sprachdefizite

aufweisen, so verweist dies sehr deut-lich auf langfristige, vermutlich sogardauerhafte Probleme beim Erwerb be-stimmter Sprachmerkmale.»

5.2 Allgemeine schulische Probleme und Leseprobleme

Die Ausbildung allgemeiner schulischer Pro-bleme ist schon fast zwingend, da, wie Wei-nert (1994) zurecht aufführt, der größte Teilder schulischen Wissensvermittlung durchsprachliche Informationen erfolgt. Die Text-reproduktion in Tabelle 6 läßt erahnen, wiebruchstückhaft und defizitär das Wissen ist,das sprachentwicklungsgestörte Kinder ausvorgegebenen Texten entnehmen.

Diese Textverarbeitungsprobleme der Kin-der konnten in einem Experiment unserer Ar-beitsgruppe (vgl. Weinert et al., 1989) be-stätigt und um einen interessanten Gesichts-punkt ergänzt werden. 16 sprachentwick-lungsgestörten Schulkindern (mit einemdurchschnittlichen Alter von 7;7 Jahren) und

Tabelle 6: Textreproduktion eines sprachentwicklungsgestörten Mädchens (Alter: 5;8 Jahre)*

Geschichte Reproduktion

(aus Grimm, 1993)* Untertest des H-S-E-T (Grimm & Schöler, 1991)

Page 26: 5-8

16 Kontrollkindern wurde eine kohärenteund eine inkohärente Version einer Ge-schichte vorgelesen. Die kohärente Versionzeigte eine komplexe hierarchische Strukturauf, wohingegen bei der inkohärenten Versi-on übergeordnete Ziele der Handlung ausge-lassen und die Inhalte in einer simplen tem-poralen «und dann»-Folge angeordnet waren.Das erste Ergebnis ist, daß die sprachentwick-lungsgestörten Kinder signifikant wenigerSinneinheiten als die Schüler/ innen der Kon-trollgruppe reproduzierten. Zweitens ließensie dabei den strukturellen Effekt vermissen,der sich bei den Kontrollkindern sehr deut-lich zeigte; diese reproduzierten nämlich sig-nifikant mehr Sinneinheiten der kohärentenals der inkohärenten Textversion. Das heißt,daß die Kinder die inhärente Struktur deskohärenten Textes für ihre Reproduktion nut-zen konnten. Die sprachentwicklungsgestör-ten Kinder konnten dies nicht, was wohl mitihren syntaktischen Problemen zusammen-

hängt. Etwas verkürzt ausgedrückt kann gel-ten, daß ihren defizitären Satzrepräsentatio-nen defizitäre Textrepräsentationen entspre-chen.

Bei den schulischen Problemen der Kinderimponieren ganz besonders Leseschwierigkei-ten. Warum führen eigentlich Sprachdefizitezuverlässig zu Leseproblemen? An andererStelle hat Grimm versucht, diesen Zusam-menhang genauer zu analysieren (Grimm,1995c).

Ausgehend davon, daß die Leseschwächesprachentwicklungsgestörter Kinder eine ob-ligate Nachfolgestörung ist, wird dieseSchwäche als eine echte Entwicklungsstörungverstanden und nicht als eine Teilleistungs-störung, die erst im Schulalter auftaucht.Sehen wir uns hierzu Abbildung 5 genauer an,so ist zunächst die Unterscheidung in einenfrühen und einen späteren Leselernprozeßzentral. Ist der frühe Prozeß primär ein pho-netisch geleiteter «bottom-up»-Prozeß, um

468 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

Abbildung 5: Sprachstörung → Leseschwäche

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Wörter und Phrasen zu dekodieren, so stehtdemgegenüber im späteren Verlauf das Lese-verständnis im Vordergrund. Hierfür werden«top-down»-Prozesse in der Weise wirksam,daß das syntaktische Wissen und das Diskurs-wissen genutzt werden, um Satzelemente zuantizipieren und Satzkonstituenten zu orga-nisieren. «Probleme der frühen Leser sindentsprechend durch Langsamkeit und Unge-nauigkeiten gekennzeichnet, während Pro-bleme der späteren Leser insbesondere in Leseverständnisproblemen resultieren»(Grimm, 1995a, S. 950). Selbst wenn es densprachentwicklungsgestörten Kindern zu Be-ginn ihrer Lesekarriere gelingen sollte, dieWorterkennung im Sinne der Phonem-Gra-phem-Korrespondenz zu leisten, das heißt,zwischen Lauten und Buchstaben richtige Zu-ordnungen zu treffen, so haben diese Kinderdennoch in jedem Fall Verständnisprobleme.Die oben beschriebenen Beispiele zur Textver-arbeitung haben dies anschaulich gemacht.

5.3 Psycho-soziale Probleme

Erscheint es einsichtig und plausibel zu sein,daß die gestörte Sprachentwicklung sichnicht plötzlich in Wohlgefallen auflöst, son-dern zu dauerhaften Defiziten im sprachli-chen Bereich führt und darüber hinaus fürschulische Probleme verantwortlich ist, so istes auf den ersten Blick doch schwierig nach-zuvollziehen, wie sie mit psycho-sozialenSchwierigkeiten zusammenhängen soll. Esgibt jedoch eine Reihe empirischer Evidenzendafür, daß zwischen Sprachstörungen undpsycho-sozialen Problemen ein Zusammen-hang besteht. Verschiedene Studien kommenübereinstimmend zu dem Schluß, daß min-destens die Hälfte der sprachauffälligen Kin-der Verhaltensstörungen oder andere Proble-me sozial-emotionaler Art aufweist. Dabeikönnen sämtliche Störungsformen vertretensein – von Hyperaktivitätssymptomen undaggressivem Verhalten über eine erhöhte Nei-gung zur Ängstlichkeit bis hin zu depressivenVerstimmungen (Baker & Cantwell, 1987a, b,c). Dabei stellt sich die Frage, wie diese Zu-sammenhänge erklärt werden können.

Theoretische Überlegungen und Forschun-gen zu Vermittlungsprozessen zwischen

sprachlichen Defiziten und sozial-emotiona-len Nachfolgeproblemen betonen vor allemdie Rolle von kommunikativen Kompetenzenfür das Gelingen sozialer Interaktionen. Sichkommunikativ angemessen verständigen zukönnen, hat beispielsweise einen bedeuten-den Einfluß auf die Akzeptanz von Interakti-onspartnern. So gibt es Hinweise darauf, daßsowohl Peers als auch erwachsene Bezugsper-sonen sprachgestörte Kinder negativer beur-teilen als sprachunauffällige Vergleichskinder(Rice, 1993a, b). Es beginnt eine «negative so-ziale Spirale» (Rice, 1993a, S. 111), in derenVerlauf die sprachgestörten Kinder immerweiter in eine Außenseiterposition geraten.

Dodge (1985) hat ein Modell entwickelt,mit dem er die Reziprozität von sozialen In-teraktionen beschreibt und einen Eindruckder dabei ablaufenden Prozesse vermittelt (s.Abb. 6). Aus diesem auch empirisch gestütztenModell kann ein Vermittlungsmechanismusals Erklärung für das Entstehen einer negati-ven sozialen Spirale abgeleitet werden.

Dodge (1985) nennt fünf Komponentendes sozialen Interaktionsprozesses, die mit-einander in Wechselbeziehung stehen:

1. soziale Reize, wobei es sich um Situationenmit spezifischen Aufgaben handelt, denenein Kind gegenüber steht wie beispielswei-se den Eintritt in eine Spielgruppe;

2. individuelle Voraussetzungen, die die Ver-arbeitung der sozialen Reize beeinflussenwie beispielsweise soziale und kommuni-kative Kompetenzen, Selbstvertrauen oderErfahrungen;

3. soziale Informationsverarbeitung der so-zialen Reize, wobei diese durch die indivi-duellen Voraussetzungen beeinflußt wer-den. Die soziale Informationsverarbeitungbesteht aus fünf Schritten: die Kodierungoder Erkennung, die Interpretation, dieSuche nach Reaktionen, die Evaluationmöglicher Reaktionen und die Ausführungdes Verhaltens;

4. die Reaktion, die das Ergebnis der sozialenInformationsverarbeitung darstellt;

5. die Informationsverarbeitung und Evalua-tion durch die Interaktionspartner überdas Kind; bei den Interaktionspartnern desKindes durchläuft die Wahrnehmung derReaktion ebenfalls einen Informationsver-

469Im Zentrum steht das Wort

Page 28: 5-8

470 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

Abbildung 6: Reziprozität von Sozialen Interaktionen

arbeitungsprozeß und führt zu einer Be-wertung des Kindes und seines Verhaltens.

Die Reziprozität dieses Interaktionsprozesseswird besonders deutlich, bedenkt man, daßdie Evaluation durch die Interaktionspartnerwiederum von dem Kind als sozialer Stimulusaufgenommen wird und so wiederum seineindividuellen Voraussetzungen beeinflußt.

Es ist nun anzunehmen, daß dieser Inter-aktionsprozeß für sprachgestörte Kinderdurch ihre Defizite belastet ist mit entspre-chenden Folgen für die Kinder:

zu 1. Sprachgestörte Kinder bringen als in-dividuelle Voraussetzungen ihre sprachlichenDefizite und weitergehende kommunikativeProbleme in die Interaktion ein.

zu 2. Vor dem Hintergrund der Informati-onsverarbeitungsdefizite, die sprachgestörte

Kinder aufweisen, ist es möglich, daß diesesich auch auf die Verarbeitung sozialer Stimu-li beziehen, so daß die Kinder auch in diesemBereich beispielsweise als langsamer geltenund Gedächtnisprobleme aufweisen.

zu 3. Entsprechend ist die Verhaltensaus-führung sprachgestörter Kinder durch ihrekommunikativen Defizite und ihre Informati-onsverarbeitungsprobleme betroffen. Sie sindbeispielsweise in der Kommunikation unfle-xibler und weniger initiativ.

zu 4. Die Interaktionspartner reagieren aufdiese Defizite, indem sie die entsprechendenKinder als inkompetent und sozial unreif be-urteilen oder sie sogar als Interaktionspartnerablehnen.

zu 5. Die Interaktionserfahrungen und diewahrgenommene Ablehnung führen zu einerVeränderung der individuellen Voraussetzun-gen bei den sprachgestörten Kindern. Zumeinen besteht die Gefahr, daß sich diese Er-fahrungen im Selbstwert der Kinder negativniederschlagen, zum anderen ist es denkbar,daß sie Kompensationsstrategien entwickelnwie beispielsweise Rückzug oder auch aggres-sives Verhalten, die wiederum auf Ablehnungstoßen.

Für den so vermuteten Prozeß konnteneinige empirische Evidenzen gefunden wer-den (Wilde, 1996). In vergleichenden Un-tersuchungen zeigen sprachgestörte Kindertatsächlich gravierende kommunikative Pro-bleme, die nicht allein durch ihre formal-sprachlichen Defizite erklärt werden können.Sie scheinen insgesamt eher untergeordneteRollen in Peer-Interaktionen einzunehmenund passive Kommunikationspartner darzu-stellen. Weiterhin zeigt sich, daß die gleich-altrigen Interaktionspartner der Kinder aufdie sprachgestörten Kinder tendenziell mitAblehnung in soziometrischen Befragungenund mit Rückzug und Dominanz in der frei-en Interaktion reagieren. Schließlich konntedeutlich nachgewiesen werden, daß derSelbstwert von sprachgestörten Kinder nied-rig und von negativen Selbstbeurteilungengeprägt ist.

Am Ende dieses sich weiter konsolidieren-den Prozesses stehen mit dem negativenSelbstwert und der erfahrenen Ablehnungdurch die Gleichaltrigengruppe Entwick-

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lungsergebnisse, die mit schweren psycho-so-zialen Problemen assoziiert sind. Die Kinderlaufen also Gefahr, eine Außenseiterkarrieremit niedrigem Selbstvertrauen und sozialenProblemen zu durchlaufen.

Fazit: Die auf der Oberfläche simpel er-scheinende Zahl von 50 Wörtern kann sichals äußerst kritisch nicht allein für die weitereSprachentwicklung, sondern insgesamt fürdie Persönlichkeitsentwicklung erweisen.

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473Im Zentrum steht das Wort

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Inhaltsverzeichnis1. Was sind moralische Urteile – ein wenig Begriffsklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476

2. Die Untersuchung der Entwicklung moralischer Urteile in der Psychologie . . . . . . 4792.1 Die Beziehung zwischen Philosophie und

Psychologie bei Piaget und Kohlberg . . . . . 4802.2 Moral, Kognition und Affekt . . . . . . . . . . . 4822.3 Moral und andere normative Regelsysteme

für soziale Handlungen . . . . . . . . . . . . . . . . 4872.4 Erhebungstechniken: Kooperation,

Beobachtung, fiktive Szenarien und hypothetische Dilemmata . . . . . . . . . . . . . 489

2.5 Auswertung und Ergebnisse: Die Ontogenese des moralischen Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . 4902.5.1 Piaget und die Folgen . . . . . . . . . . . . 4902.5.2 Kohlberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495

2.5.2.1 Die Stufen der Entwicklung des moralischen Urteils – ein Beispiel . 495

2.5.2.2 Kohlbergs Stufenkonzeption . . . . . 4972.5.2.3 Struktur und Inhalt der Stufen . . . 4972.5.2.4 Das Auswertungsverfahren . . . . . . 4992.5.2.5 Empirische Evidenzen für die

Stufenannahmen . . . . . . . . . . . . . . 5002.5.2.6 A/B-Unterstufen . . . . . . . . . . . . . . . 5022.5.2.7 Moralisches Urteilen und Handeln 5032.5.2.8 Anregungsbedingungen . . . . . . . . . 503

2.6 Eine handlungstheoretische Rekonstruktion der Theorie der Entwicklung moralischer Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504

3. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511

475

Kapitel V. 2:

Die Entwicklung des moralischen UrteilsLutz H. Eckensberger, Frankfurt

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Nachdem dieser Themenbereich in der Ent-wicklungspsychologie lange Zeit kaum eineRolle spielte, ist er in den letzten 30 Jahren,vor allem durch den Einfluß der Arbeiten vonLawrence Kohlberg (1927–1987), extrem ex-pandiert. Es gibt eine «Lawrence KohlbergGesellschaft» und eine «Gesellschaft für Mo-ralerziehung» («Association for Moral Educa-tion», AME), die jährlich Tagungen mit zu-nehmendem Umfang abhält; es wurden zweiZeitschriften gegründet («Journal for MoralEducation» und «Moral Education Forum»).Es existiert eine beachtliche Fülle umfangrei-cher englischsprachiger Monographien zurMoralentwicklung allgemein, in denen Kohl-bergs Theorie zentral ist (z. B. Kurtines &Gewirtz, 1991; Lickona, 1976; Noam & Wren,1993) sowie zu Kohlberg speziell (Modgil &Modgil, 1985; Munsey, 1980; Kuhmerker,1991), und es gibt so etwas wie die gesam-melten Werke von Kohlberg in mehrerenBänden (Kohlberg, 1981, 1984; Kohlberg et al.1983; Power, Higgins & Kohlberg, 1989). Auchim deutschsprachigen Bereich liegt eine be-achtliche Zahl von Monographien zu diesemThema vor (z. B. Bertram, 1978; Edelstein &Nunner-Winkler, 1986; Edelstein, Nunner-Winkler & Noam, 1993; Lind, Hartmann &Wakenhut, 1983; Garz, 1984, 1996; Heidbrink,1991; Oser, 1981; Oser & Althof, 1992; Oser,Althof & Garz, 1986; Oser, Fatke & Höffe,1986; Peltzer, 1986; Portele, 1978) wie auchÜbersetzungen von Kohlbergs Arbeiten (Kohl-berg, 1974, 1995). Die Zahl der Einzelarbeiten(Artikel/Buchkapitel) zu Kohlbergs Theorie istnicht überschaubar. Bereits diese kurze äußereSkizze rechtfertigt sicher, diese Theorie insZentrum der folgenden Ausführungen zu stel-len, gleichzeitig macht sie aber auch deutlich,daß es sich nur um eine sehr knappe Ein-führung handeln kann, die sich auf die wich-tigsten theoretischen Positionen und empiri-schen Trends beschränken muß. Die oben ge-nannten Werke bieten dem interessiertenLeser jede Möglichkeit der Vertiefung.

Obgleich sich unsere Ausführungen alsostark auf die Arbeiten des Amerikaners Law-rence Kohlberg stützen werden, setzen siedoch in der Regel bei dem Genfer Biologen,Psychologen und Philosophen Jean Piaget(1896–1980) an, da Kohlbergs Werk auf des-sen frühen Arbeiten aufbaut. Die Gliederung

des folgenden Kapitels ist zwar problemorien-tiert, dennoch enthält sie auf diese Weiseauch eine starke historische Komponente,denn innerhalb der einzelnen Abschnittegehen wir meist von Piaget aus, führen dasThema zu Kohlberg weiter und schließen esmit weiterführenden gegenwärtigen Ergeb-nissen und Trends ab.

1. Was sind moralischeUrteile – ein wenig Begriffsklärung

Zwei Fragen werden schnell gestellt, wenn esum die Behandlung dieses Themas geht: Er-stens: Was hat eine empirische Entwicklungs-psychologie überhaupt mit Moral, also mitwertenden Kategorien zu tun, ist das nichteine Sache der Philosophie oder spezieller derMetaphysik? Zweitens: Wenn schon Moral,wieso untersucht man dann moralische Ur-teile und nicht moralisches Verhalten? BeideFragen lassen sich nur beantworten, wennwir zumindest kurz zu bestimmen versuchen,was Moral oder genauer, was ein moralischesUrteil ist.

Überraschenderweise ist die Bestimmungdieser Begriffe weit weniger klar, als man den-ken könnte (s. Ilting, 1994). Wir beziehenuns im folgenden vor allem auf Frankenas(1981) Begrifflichkeit, die auch das Bezugssy-stem für Kohlberg bildete. Das Wort Moralleitet sich vom lateinischen Wort mores ab,das Wort Ethik dagegen stammt vom griechi-schen ethos. Beide bedeuten soviel wie Sitte,Brauchtum, Gewohnheit. Es ist jedoch not-wendig, verschiedene «Niveaus» dieser Be-griffsverwendung zu unterscheiden und zu-sätzlich zwei Bedeutungen dieser Begriffevoneinander zu trennen. (a) Die deskriptiveBedeutung bezieht sich auf die faktisch herr-schenden Sitten und Normen, die in einerGesellschaft vorliegen und gelebt werden,also auf das, was ist. (b) Die normative Bedeu-tung bezieht sich auf die Begründung undRechtfertigung der Sitten, aber auch von Rechtund Gesetz (Kambartel, 1984), also auf das,was sein sollte.

Üblicherweise meint Moral oder Ethos das,was in einer Gesellschaft oder einzelnen

476 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

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Gruppen gelebt wird. Wenn darauf (wissen-schaftlich) reflektiert wird, benutzt manmeist den Begriff der Ethik (s. auch Stein-mann & Löhr, 1991; Spielthenner, 1996).Frankena (1981) unterscheidet drei Arten derReflexion. (1) Die deskriptiv-empirische Ethik:Sie wird von Psychologen, Anthropologen,Soziologen mit dem Ziel der Beschreibungund Erklärung durchgeführt. (2) Die normati-ve Ethik: Hier werden nicht nur Handlungenuntersucht, sondern auch begründet. (3) Dieanalytische oder kritische Ethik oder «Meta-Ethik»: Sie reflektiert die normative Ethik,indem sie (a) Fragen der Bedeutung morali-scher Ausdrücke/Begriffe und (b) Fragen derBegründungsformen normativer Ethiken zumGegenstand hat.

Diese einfache Unterscheidung legt einevergleichsweise klare Aufgabentrennung zwi-schen Psychologie (Sozialwissenschaften)und Philosophie nahe: Die Sozialwissen-schaftler untersuchen, welche Normen undHandlungsregeln in einer Gesellschaft/Grup-pe oder für ein einzelnes Subjekt tatsächlichhandlungsleitend sind (Moral/Ethos, deskrip-tive Ethik), die Philosophie reflektiert überderen Rechtfertigung (normative Ethik, Meta-ethik), sie analysiert die «logische Natur unse-res moralischen Denkens» (Hare, 1995). Aufder anderen Seite ist die Trennung beider Be-reiche im Detail nicht so schlicht, wie esscheint (s. dazu u. a. Eckensberger & Gähde,1993). So gibt es spätestens seit David Hume(1711–1776) die Beobachtung, daß es nichtselten in den ethischen Argumenten (ineinem Moralsystem) einen Übergang gibtzwischen Sätzen, die «ist» oder «nicht ist»enthalten, zu Sätzen, in denen «sollte» oder«sollte nicht» auftaucht. Henry Moore(1873–1958) hat später für diesen Übergangvon «Sein» zum «Sollen» den Begriff des «na-turalistischen Fehlschlusses» («naturalisticfallacy») geprägt, der die Unmöglichkeitmeint, aus empirischen Tatsachenfeststellun-gen logisch normative Konsequenzen zu zie-hen (derart daß, weil etwas so und so ist, esdeshalb gesollt, ethisch richtig oder gewünschtist; vgl. dazu Engels, 1993). Diese Problematikhat Kohlberg (1971), wie wir sehen werden,provokativ aufgegriffen.

Zweitens sind trotz aller Unterscheidbar-keit zwischen Moral/Ethos und der deskripti-

ven Ethik einerseits und der normativenEthik andererseits diese beiden dennochnicht voneinander unabhängig. So stellt sichdie normative Ethik als eine «regulative Idee»heraus (Kant, 1781), die zwar im täglichenLeben nie erreicht werden kann und die zwardie Moral transzendiert, diese aber dennochrückwirkend entweder auszeichnet oder regu-liert (Steinmann & Löhr, 1991). Und schließ-lich stellt sich die rein logische Analyse derEthik dann als nicht hinreichend heraus,wenn es um ihre Anwendung geht, wennalso aus ethischer Sicht zu konkreten (gesell-schaftlichen) Fragen Stellung genommenwerden soll oder wird (Gentechnologie, Um-weltprobleme, Sterbehilfe, Organtransplanta-tion etc.). Dann spielen nicht nur die deskrip-tiven Fakten eine zentrale Rolle auch für denAufbau ethischer Argumente, sondern es ent-stehen ganz andere ethische Schwerpunkte(z. B. die Verantwortungsethik, Jonas, 1984).

Bedeutsamer für den Entwicklungspsycho-logen ist aber, daß auch die Entstehung, Auf-rechterhaltung oder Änderung der Moral imSinne der faktisch gegebenen handlungslei-tenden Normen in einer Gesellschaft sichnicht völlig unreflektiert vollziehen kann,sondern daß auch das «naive Subjekt» (dervielzitierte «Mann» oder die «Frau von derStraße») auf normative Handlungsentschei-dungen reflektiert, diese rechtfertigt und be-gründet, eigenes und fremdes Verhalten be-wertet. Er oder sie tut das im Prinzip auf diegleiche Art und Weise, wie das der Philosophin seinen systematischen Untersuchungentut. Genau darum geht es nun eigentlich beider Untersuchung des moralischen Urteils(das nach der oben unterschiedenen Termi-nologie eigentlich präziser «ethisches Urteil»hieße): Es geht darum, Begründungs-und /oder Rechtfertigungsargumente (undderen Veränderung) für normative Hand-lungsentscheidungen von sogenannten «nai-ven Subjekten» zu untersuchen. Eine der Ar-beiten von Lawrence Kohlberg lautet dennauch «The child as a moral philosopher»(1968). Das bedeutet aber nichts anderes, alsdaß aus der «normativen Ethik» naiver Subjek-te ein empirisches Geschäft gemacht wird, undes deutet sich bereits hier an, daß es dadurchÜbergänge zwischen Empirischem und Nor-mativem geben wird, die von der eingangs

477Die Entwicklung des moralischen Urteils

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gemachten Unterscheidung etwas verdecktwerden.

Nun können wir auf die vorne gestelltenFragen eine erste Antwort geben. Einerseitswird nämlich deutlich, daß die Analyse auchder normativen ethischen Begründungen fürdas menschliche Handeln ein legitimer Ge-genstand der Psychologie ist, zweitens ist evi-dent, daß es zunächst nicht um das Verhaltenselbst gehen kann, sondern tatsächlich umdie Analyse der «regulativen Ideen» im SinneKants, die Menschen selbst zu normativenHandlungsentscheidungen entwickeln. Dasbedeutet natürlich nicht, daß man den Zu-sammenhang zwischen diesen ethischenÜberzeugungen und konkretem Handelnnicht zu untersuchen braucht.

Bisher haben wir unterschiedliche Ebenenund Formen normativer Begriffe unterschie-den, wobei Moral bzw. Ethos sehr allgemeinbeschrieben wurde. Um diesen Bereich kon-kreter zu fassen, halten wir folgende Aspektefür sinnvoll: (1) Zunächst bezieht sich Moralvor allem, wenn auch nicht ausschließlichauf zwischenmenschliches Handeln. Insofernist die Achtung anderer Personen (sie nicht alsMittel zu behandeln, Kant, 1781) ein ersteszentrales Moment der Moral. Das bedeutet,daß man in moralischen Überlegungen /Ur-teilen fremde Standpunkte, Interessen undBedürfnisse nicht nur zu tolerieren, sondernanzuerkennen hat. Das impliziert, daß (2) dieGerechtigkeit als ein Kernkonzept der Moralgilt, aber auch (3) die Verantwortung gegenü-ber dem Anderen sowie (4) das Wohlwollenanderen gegenüber. Denn es gilt in einer mo-ralischen Entscheidung allgemein, Schadenvon anderen abzuwenden oder «ihr Wohlbe-finden zu fördern» (Delius, 1958). DerartigeHandlungen sind intrinsisch, d. h. aus sichselbst heraus, gut. Da dies so ist, müßte jederrationale Mensch dem zustimmen. Insofernhaben moralische Urteile auch die formalenCharakteristika, «objektiv» und «universali-sierbar» zu sein (Hare, 1995; Kohlberg et al.,1983). Schuldgefühle sind emotionale Hin-weise auf die Übertretungen moralischer Nor-men. Moralisch negativ bewertete Handlun-gen sind z. B. Töten, Lügen, Stehlen, und mo-ralisch positiv bewertete Handlungen sindz. B. Helfen, Teilen, die Wahrheit sagen.

Besonders drei philosophische Positionen

sind für die Begründung dieser moralischenKategorien bedeutsam. Das sind zunächst dierein deontologischen oder Pflichtethiken. Dieseversuchen, die Pflichtigkeit des Handelns ent-weder auf eine Situation oder Regel zu bezie-hen. Der bekannteste Fall einer solchen Ethikist diejenige Kants, der im kategorischen Impe-rativ eine Bestimmung der moralischen Ver-nunft gegeben hat: «Handle nur nach derjeni-gen Maxime, durch die du zugleich wollenkannst, daß sie ein allgemeines Gesetzwerde» (Kant, 1788, S. 54). Um Moralitäthandelt es sich nach seiner Auffassung nurdort, wo die Pflicht den Bestimmungsgrunddes Handelns abgibt, wobei die Erfüllung derPflicht autonom, d. h. gewollt sein muß.

Damit jedoch das moralische Prinzip nichtmit äußerlicher Pflichterfüllung verwechseltwird, unterscheidet Kant je nachdem, ob eineHandlung aus Neigung (Selbstsucht), Nei-gung zur Pflicht oder nur aus Pflicht erfolgt.Nur letztere entspricht einem moralischenSollen. Auch aus diesen Gründen kann es keinemoralischen Handlungen geben, sondern nureinen guten Willen (Kant, 1788; Höffe, 1993).Auch diese Erkenntnis hilft uns wieder zuverstehen, weshalb nicht die Analyse des Ver-haltens die erste Wahl sein kann, wenn es umdie Entwicklung der Moral geht, denn dasVerhalten selbst (Teilen, Schlagen o.ä.) kön-nen wir ja noch nicht als moralisch oder un-moralisch qualifizieren, sondern nur die zu-grundeliegenden Intentionen (der «guteWille»).

Die zweite große Gruppe von Ethiktypenumfaßt die teleologischen, utilitaristischen oderZweckethiken. Hier geht es nicht um die Rich-tigkeit des inneren Wesens der Handlung (dieWahrheit zu sagen, Leben zu erhalten etc.),sondern Handlungen sind gut, wenn sie ge-eignet sind, gute Ziele zu erreichen. Der Sachenach sind diese Ethiken auch durch Max We-bers (1919) Unterscheidung in eine Gesin-nungsethik und eine Verantwortungsethik gutgekennzeichnet: Der Gesinnungsethiker rich-tet sich ausschließlich nach seinen persönli-chen Prinzipien und stellt den Erfolg derHandlung hintenan, der Verantwortungsethi-ker fragt vor allem nach den Konsequenzenseines Tuns und ob er diese für vertretbar hält.

Eine dritte wichtige Begründungsformliegt in der Diskursethik vor, die vor allem von

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Apel (1973) und Habermas (1983a) formuliertwurde. Diese Ethik ist aus drei Gründen inter-essant:

a) Der Diskurs ist zum einen ein Prinzip,nach dem man Konsens über normativeFragen herstellen kann. Dazu müssen al-lerdings bestimmte Kriterien formuliertwerden, z. B. daß man unvoreingenommensein sollte, den anderen nicht mit Appel-len zur Zustimmung zwingen, Verweigerun-gen von Zustimmungen hinnehmen sowiesich sachverständig machen und Gründevortragen sollte, die eine gute Chancehaben, akzeptiert zu werden.

b) Der Diskurs führt aber nicht nur zur Ent-stehung von und Zustimmung zu Nor-men, sondern in ihm sind wichtige ethi-sche Kategorien bereits vorausgesetzt. Dasist vor allem die Verständigungsbereitschaftund die gegenseitige Achtung der am Dis-kurs Beteiligten. Hier ist also – extrem for-muliert – im kommunikativen Prozeß derKonfliktlösung bereits die Ethik verwirk-licht, die es anderenorts erst zu begrün-den gilt. Auch in dieser Ethik wird ange-nommen, daß idealiter alle rationalenWesen einer Lösung in einem konkretenDiskurs zustimmen würden.

c) Schließlich kann man die Diskursethikauch als einen Versuch verstehen, die Ge-sinnungs- und Verantwortungsethik zuintegrieren, denn natürlich sind in einemDiskurs sowohl Ziele (Interessen) als auchFolgen zu thematisieren.

2. Die Untersuchung derEntwicklung moralischer Urteile in der Psychologie

Piaget und Kohlberg folgen dem in Kapitel I.1skizzierten organismischen Entwicklungsmo-dell, das heißt, die moralischen Urteile wer-den in Deutungs- und Überzeugungsstruktu-ren abgebildet, die sich in der Ontogenese

qualitativ verändern. Zur Erklärung dieser Ver-änderungen dient das Äquilibrationsmodellsowie die Wechsel von Zentrierung und De-zentrierung sowie die abstrahierende Reflexi-on, wenngleich letztere bei Kohlberg nur inseinen letzten Werken angedeutet wird.1

Piaget hat bereits 1932 «Das moralischeUrteil beim Kind» geschrieben, das heißt, esgehört eher zu seinen Frühwerken. Mankönnte deshalb verführt sein anzunehmen,daß sich die Behandlung dieses Werkes er-übrige, allein schon, weil Kohlberg es ja pro-duktiv weitergeführt und damit vermutlichin gewissem Sinn überholt hat. Im folgendenwird jedoch deutlich werden, daß Piaget eineReihe wichtiger Themen angeschnitten hat,die z.T. erst wieder in jüngerer Vergangenheitaufgegriffen wurden.

Piaget (1932) untersucht in einem Quer-schnitt Kinder, die im wesentlichen fünf biszwölf Jahre alt waren. Diese Forschung führte– wie wir später genauer sehen werden – zudem Ergebnis, daß er die bei Kant unterschie-denen Formen der Moral, die heteronome (anäußeren Regeln orientierte) und die autonome(an der eigenen Entscheidung orientierte)Moral, entwicklungslogisch ordnete: Schwer-punktmäßig beschreibt er die Entwicklungdes moralischen Urteils als einen Trend voneinem heteronomen zu einem autonomen Urteil.

Der Kern von Kohlbergs empirischer Ar-beit war ein fast dreißigjähriger Längsschnitt,der an den Querschnitt seiner Dissertation(Kohlberg, 1958) anschloß. Da er explizit aufPiaget aufbaute und die Weiterentwicklungder Moral im Jugendalter untersuchen wollte,wählte er seine 72 (männlichen) Probandenzum Zeitpunkt seiner Dissertation im Altervon 10 bis 16 Jahren aus. Er hat diese Stich-probe insgesamt sechsmal aufgesucht. DasHauptergebnis seiner Untersuchung war, daßer die Entwicklung des moralischen Urteils –differenzierter als Piaget – in insgesamt sechsStufen beschreiben konnte, die er zu drei Ni-veaus (mit je zwei Stufen pro Niveau) zusam-menfaßte, dem präkonventionellen Niveau(Stufe 1 und 2), dem konventionellen Niveau(Stufe 3 und 4) und dem postkonventionellenNiveau (Stufe 5 und 6). Dabei werden die In-teressen von zunehmend mehr Personen-gruppen koordiniert (differenziert und inte-griert), so daß die Stufen zunehmend flexible

479Die Entwicklung des moralischen Urteils

1 Es ist interessant, daß der Philosoph Habermas beiseiner Kohlberg-Rezeption von dieser Vorstellung be-reits 1976 extensiv Gebrauch machte.

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Strukturen repräsentieren, die einen größer-werdenden Geltungsbereich beanspruchen.Die sechste Stufe ist diejenige «ethischer Prin-zipien», sie wird in der Zwischenzeit nichtmehr empirisch definiert, sondern repräsen-tiert im wesentlichen die deontologische ethi-sche Position, wie wir sie (trotz aller Unter-schiede im Detail) bei Kant, Rawls oder auchHabermas vorfinden. Kohlbergs Theorie – dieeigentlichen Stufen der Entwicklung morali-scher Urteile – ist durch Rückgriff auf diemehrfach publizierten Tabellen an sichschnell zusammenzufassen. Versucht man je-doch, etwas mehr ins Detail zu gehen, sowird nicht nur deutlich, daß diese Theorieweit reichhaltiger und anspruchsvoller ist, alsin kurzen Stufenbeschreibungen sichtbarwird, sondern daß es darüber hinaus theore-tisch wie methodisch schwierig ist, ihr wirk-lich gerecht zu werden. Das liegt zum einendaran, daß Kohlberg die Theorie über dieJahre hin weit stärker verändert hat, als dierelativ geringen Veränderungen der Stufenbe-schreibungen in den Tabellen erkennen las-sen (zu Veränderungen der Tabellen s. Berg-ling, 1981); zum anderen ist Kohlberg in sei-nen theoretischen Äußerungen häufig unklarund läßt deshalb oft verschiedene Interpreta-tionen zu (eine Tatsache, die allerdings ver-schiedentlich bedauert wurde, s.z.B. Peters,1971; Alston, 1971; Spielthenner, 1996).Schließlich kommt erschwerend hinzu, daßmanche seiner theoretischen Überlegungennicht auf die Empirie durchschlugen, weil er– zumindest seit Ende der siebziger Jahre –seine Auswertungsmethode nicht mehr ver-änderte.

Besonders der gegenwärtige nicht-empiri-sche Status der Stufe sechs (auch sie warzunächst ja empirisch definiert), führt unsnun zu der wichtigen Thematik der Bezie-hung zwischen Philosophie und Psychologiein diesem Forschungsbereich.

2.1 Die Beziehung zwischen Philosophie und Psychologie beiPiaget und Kohlberg

Die grundsätzliche Kenntnis der unterschie-denen ethischen Positionen ist eine Voraus-setzung für das Verständnis sowohl von Pia-

gets als auch von Kohlbergs Theorie. Piaget(1932) verfolgte mit seiner Arbeit über dasmoralische Urteil im Grunde das gleichegrundsätzliche epistemologische (erkenntnis-theoretische) Ziel, das er auch in seinen Ar-beiten zur Entwicklung des logischen Den-kens verfolgt hat, nämlich die Frage nach derAnnäherung des kindlichen moralischenDenkens an die äquilibrierten Moralsysteme,wie sie in der Philosophie vorliegen. Er ver-sucht also hier, die Validität der Moralbegriffean ihre Genese zurückzubinden (s. Kap. I.1).

Kohlbergs ursprüngliches Interesse an derUntersuchung des moralischen Urteils warzunächst offenbar weit weniger theoretisch,sondern vielmehr biographisch bedingt(Garz, 1996)2. Später war seine Position, dieer zur Rolle der Philosophie für die psycholo-gische empirische Arbeit einnahm, jedochsogar prononcierter als diejenige Piagets,zudem hat sie sich über die Zeit auch stärkerverändert. Ganz generell hält Kohlberg zurBestimmung des Gegenstandes Moral einenBlick in die begriffsanalytische Arbeit der Phi-losophie auch für den Empiriker für unerläß-lich. Entsprechend hat er sich bereits in sei-ner Dissertation mit philosophischen Argu-menten auseinandergesetzt. Später bezieht ersich häufig auf Frankenas (1981) Einführungin die Ethik. Die dort vorfindlichen ethischenKategorien benutzt er nicht nur, wie wir spä-ter genauer sehen werden, für seinen Ver-such, die «moralische Adäquatheit» deonto-logischer Ethiken als Gehalt seiner höchstenStufe 6 zu rechtfertigen (z. B. Kohlberg, 1973;Kohlberg et al., 1983; Kohlberg, Boyd & Levi-ne, 1986), sondern auch für die inhaltlicheBestimmung der moralischen Urteile allge-mein und für einen spezifischen Aspekt sei-

480 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

2 Kohlberg trat im Herbst 1945 in die Handelsmarineein. So kam er auch in das vom zweiten Weltkrieg zer-störte Europa und nahm eine Stelle als unbezahlter In-genieur auf einem Frachtschiff an, das unter der Lei-tung der Haganah jüdische Flüchtlinge aus Osteuropains spätere Israel schmuggelte. Er wurde von britischenEinheiten festgesetzt und auf Zypern interniert. In die-ser «erzwungenen Reflexionsphase» wurde ihm klar,daß auch in diesem Fall der Zweck nicht die Mittel hei-ligte. Er begann, in Harvard Jura zu studieren, weil esdort um Gerechtigkeitsfragen ging. Erst später stieß erzur Psychologie (Garz, 1996, S. 13 f).

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nes Auswertungsschemas, den wir auch erläu-tern werden.

Dennoch argumentiert er in seinen frühengroßen Überblicksartikeln (Kohlberg, 1963,1964) eher psychologisch und empirisch,wenn er begründet, daß man die Entwick-lung der Moralität weitgehend als ein kogniti-ves Geschäft auffassen muß: Er lehnt die Mo-ralauffassung der Psychoanalyse als Über-Ich-Funktion wie auch den Zugang zur Moralüber Verhaltensindikatoren mit empiriebezo-genen Argumenten ab: Die Über-Ich-Entwick-lung, die vor allem in der Überwindung desÖdipuskonfliktes stattfinden soll, sei viel zufrüh abgeschlossen, um die spätere morali-sche Entwicklung erklären zu können; gegendie verhaltenstheoretischen Positionen weister vor allem auf den umfangreichen (in dreiBänden publizierten), aber fehlgeschlagenenVersuch von Hartshorne und May (1928–1930) hin, über die Interkorrelation verschie-denster «moralischer» Verhaltensweisen undBeurteilungen einen «moralischen Charak-ter» zu definieren.

Später postuliert er in einer Arbeit mit demprovokativen Titel «Vom Sein zum Sollen: Wieman in der Untersuchung der moralischenEntwicklung den naturalistischen Fehlschluß

begehen, und damit ungeschoren davonkom-men kann» (1971) eine wechselseitige Befruch-tung von Philosophie und Psychologie undtritt damit gewissermaßen eine Lawine los. In-teressant ist, daß er diese Diskussion unseresErachtens eigentlich nicht aus erkenntnistheo-retischen, sondern vielmehr aus ganz prakti-schen Gründen geführt oder jedenfalls zumin-dest begonnen hat: Sie bildete nämlich dieVoraussetzung der Rechtfertigung der Anwen-dung seiner Theorie in der Erziehung. Auchwenn Kohlberg selbst diese Umsetzung3 fürverfrüht hielt (Kohlberg, 1980), entwickelte erdennoch seit Ende der sechziger Jahre dieIdee, daß in der Moralerziehung nicht inhaltli-che Tugenden gelehrt werden sollten, sonderndaß das Ziel der Erziehung – auch das der Mo-ralerziehung – die Entwicklung selbst sei(Kohlberg & Mayer, 1972).

Diese Idee läßt sich etwa wie folgt herlei-ten: (a) Die Stufe sechs ist die «angemes-senste» Form moralischer Urteile (Kohlberg,1973). (b) Die Entwicklung von Stufe zu Stuferepräsentiert nicht nur eine Zunahme an Dif-ferenzierung und Integration (kognitiveMerkmale), sondern diese Entwicklung reprä-sentiert gleichzeitig ein immer angemessene-res ethisches Denken, weil es die Kriterien derStufe sechs immer besser erfüllt (Kohlberg,1971, 1976). (c) Aus diesem Grunde ist essinnvoll und geboten, Bedingungen zu schaf-fen, die diese Entwicklung ermöglichen oderbeschleunigen, und gleichzeitig «validiert»die empirisch bestimmte Entwicklungsse-quenz die ethische Position der Stufe sechs.

Die Diskussion über die Arbeit zum Über-gang von Sein zum Sollen (Kohlberg, 1971)kann hier nicht im Detail rekonstruiert wer-den (s. dazu Spielthenner, 1996, S. 224–271)4.Schließlich war es jedoch Habermas (1983b),der Kohlbergs Position in der sogenanntenKomplementaritätsthese interpretierte, diedann von Kohlberg selbst (dankbar) aufge-griffen wurde (Kohlberg et al., 1983). Haber-mas schlug auf der Basis von Kohlbergs Äuße-rungen vor, das Verhältnis von Psychologieund Philosophie im Sinne einer Arbeitstei-lung zwischen diesen aufzufassen. Er leugne-te damit die Bedeutung der empirischen Psy-chologie für die Philosophie nicht vollkom-men, schwächte sie jedoch ab. Spiethenner(1996) erläutert diese Beziehung wie folgt:

481Die Entwicklung des moralischen Urteils

3 Diese Anwendung (speziell in der Schule) geschahdurch Moishe Blatt, der 1965 zu ihm kam, um eineDissertation über die Möglichkeit des Trainings mora-lischer Urteile zu schreiben (s. Blatt & Kohlberg, 1975).4 In dieser Diskussion waren einige Unschärfen inKohlbergs Äußerungen nicht gerade hilfreich. Jeden-falls sind seine Äußerungen auch sehr verschieden ge-deutet worden. Grob läßt sich diese Diskussion jedochetwa so zusammenfassen, daß Kohlberg (1971)zunächst argumentierte, daß zwar weder die psycholo-gische noch die philosophische Perspektive aufeinan-der reduzierbar sind, daß sie aber parallel oder isomorphseien. Spielthenner unterscheidet drei Auslegungendieser allgemeinen Äußerung, die zu unterschiedli-chen Thesen führen (a) die Identitätsthese: danachwählen Philosophie und Psychologie den gleichen Zu-gang zum Gegenstand des moralischen Urteils. (b) DieErklärungsthese: nach ihr sind die Gründe, weshalb einePerson die nächste Stufe erreicht, die gleichen wie dieje-nigen, wegen derer diese Stufe auch philosophischüberlegen sei. (c) Die Korrespondenzthese: nach ihr herr-sche zwischen den psychologischen Konzepten derDifferenzierung und Integration (bezüglich derer dieStufen immer besser würden) eine Korrespondenz zuden philosophischen Kriterien der Universalisierbar-keit und Präskriptivität.

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«Die Komplementaritätsthese ... [be-steht] aus zwei miteinander verbunde-nen Behauptungen: (a) Eine empirischeTheorie wie die von Kohlberg setzt dieGeltung einer normativen Theorie vor-aus, die sie verwendet. (b) Umgekehrtwird aber die Gültigkeit dieser normati-ven Theorie zweifelhaft, sobald sichdie philosophischen Rekonstruktionenim Verwendungszusammenhang derempirischen Theorie als unbrauchbarerweisen». (Spielthenner, 1996, S. 251)

Konkret heißt das, daß durch die empirischeArbeit Kohlbergs mittelbar auch die von ihmpräferierte Ethik wenn auch keine Bestäti-gung, so doch auch keine Kritik erfährt.

2.2 Moral, Kognition und Affekt

Wie charakterisieren Piaget und Kohlberg die«reife Moral», auf die die Ontogenese sich(idealiter) hin entwickelt? Beginnen wirzunächst wieder mit Piaget, der sich aller-dings nicht nur 1932, sondern, wie wir sehenwerden, mehrfach zur Moral geäußert hat.Weinreich-Haste (1982) stellt zu Recht fest,daß Piagets Ausführungen auch eine starkesoziologische oder sozialpsychologische Per-spektive enthielten, da er sich auch auf dieEntstehung und Weitervermittlung der Moralin der Gesellschaft bezog. Und tatsächlichdiskutiert Piaget die Rolle, die der Moral imZusammenspiel zwischen dem Individuumund der Gesellschaft zukommt, unglaublichfrüh (Piaget, 1918), noch weit vor seiner Mo-nographie zum moralischen Urteil: Dazuwendet er seinen Gleichgewichtsbegriff auf dieBeziehung zwischen dem Ganzen der Gesell-schaft und den Individuen als Teile desGanzen an. Wie wir in der Ethik eine deskrip-tive und eine normative Betrachtung unter-schieden haben, unterscheidet auch er einideales und ein reales Gleichgewicht, in demsich die Teile zueinander und zum Ganzenbefinden können. Unter Moral versteht er indiesem Zusammenhang im wesentlichen dasideale Gleichgewicht, in dem die Gesellschaftzu den Individuen steht (auch hier wäre aller-dings der Begriff Ethik wieder treffender).

Und konsequent formuliert er den Kantschenkategorischen Imperativ (s. o.) in Termini die-ser Vorstellung: «Handle so, daß Du das abso-lute Gleichgewicht der lebendigen Organisa-tion – der kollektiven ebenso wie der indivi-duellen – verwirklichen kannst» (Kesselring,1981, S. 196). Er zieht daraus nicht nur Kon-sequenzen sowohl für die Verpflichtung desIndividuums der Gesellschaft gegenüber alsauch umgekehrt der Gesellschaft dem Indivi-duum gegenüber, sondern bereits hier spieltbei ihm die Vorstellung der Kooperation alsMöglichkeit der Verwirklichung dieses idea-len Gleichgewichts eine wichtige Rolle. Diesunterstreicht die frühe Bedeutung, die er(entgegen manchen Kritiken) den sozialenFaktoren in der Entwicklung zugewiesen hat.Ebenfalls sehr früh (1924) sieht Piaget den«Zusammenstoß mit anderen» als eine wich-tige Voraussetzung für die Entwicklung desDenkens, weil dieser die Bewußtheit fördert.Später (1945) schreibt er, daß er sich «ständigbemüht habe nachzuweisen, daß die Ver-nunft Kooperationen und soziale Wechselbe-ziehungen voraussetzt» [Hervorhebung desAutors]. Nun fügt er allerdings hinzu, daß«das soziale Selbst ein zu erklärender Tatbe-stand sei und nicht einfach als Ursache für ir-gendwelche Entwicklungsprozesse angesehenwerden könne» (zitiert nach Kesselring, 1981,S. 96). Diese Positionen verdeutlichen, wel-che an sich zentrale Rolle seiner Meinungnach das moralische Urteil in der Entwick-lung spielt. 1932 wie 1945 betont Piaget je-doch, daß die Vernunft lediglich zur Verallge-meinerung der sozialen Regeln beitragen kann,jedoch nicht selbst zur Entwicklung der morali-schen Regeln führt.

In weitgehender Übereinstimmung mitunseren einleitenden Bemerkungen verstehtauch Piaget (1932) unter Moral «ein Systemvon Regeln». Er führt aus: «... der Kern derSittlichkeit besteht in der Achtung, welchedas Individuum für diese Regeln empfindet».Zum zentralen Begriff wird also bei Piagetneben der Kooperation der Begriff der Achtung.Wesentlich ist u.E. daß er die «reife Moral»vor allem als gegenseitige Achtung versteht.Burgard (1986) diskutiert in diesem Zusam-menhang sorgfältig und kritisch spätereÄußerungen von Piaget zur gegenseitigenAchtung (Piaget, 1965), die zeigen, daß Piaget

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unter der gegenseitigen Achtung im wesentli-chen das gegenseitige sich in den anderen Hin-einversetzen bei gleichzeitiger Anerkennung vondessen Werteskala versteht. Wir können aufdiese sehr differenzierten Überlegungen imDetail hier nicht eingehen, möchten aberfeststellen, daß sie mit dem Rollenübernah-mebegriff, den Kohlberg später ins Zentrumrückt, weitgehend kompatibel sind. DieseMoralauffassung setzt Piaget nun kreativ um,indem er Spielregeln von Kindern als einen zu-mindest moralanalogen Bereich auffaßt unduntersucht, inwieweit sich die Praxis derSpielregeln und das Bewußtsein der Spielre-geln in der Ontogenese verändern. Er unter-scheidet zwischen konstituierenden Regeln,die das Funktionieren der Zusammenarbeitermöglichen, und den konstituierten Regeln,die sich aus dem Funktionieren der Zusam-menarbeit selbst ergeben. Dabei machen diekonstituierenden Regeln den «Geist desSpiels» aus. Vor dem Hintergrund der gegen-wärtigen Forschung ist anzumerken, daß Pia-get also sehr wohl gesehen hat, daß die (kon-stituierten) Spielregeln nur moralanalogePhänomene repräsentieren – heute würdeman präziser sagen, daß es sich bei diesen umKonventionen5 handelt (Turiel, 1983). Den-noch sieht er die einfache Tatsache, daß dieRegeln im Spiel geachtet werden, als hinrei-chend an, daß er sie als eine Art strukturellerVorläufer für spätere moralische Regeln auf-fassen kann. Zusätzlich untersucht Piageteine beachtliche Fülle moralisch relevanterThemen wie z. B. den Begriff der Lüge (wassind Lügen, warum darf man nicht lügen,wen darf man belügen?), das Verständnis dermoralischen Verantwortung, die man in einerHandlung hat, und, wie später Kohlberg, ana-lysiert er den Gerechtigkeitsbegriff bei Kindern,allerdings mit anderen Schwerpunkten als Kohl-berg: Er untersucht die immanente Gerechtig-keit (die Vorstellung, daß eine Strafe der Mis-setat quasi immanent ist), die Verteilungs- undstrafende Gerechtigkeit, wobei er hier insbeson-dere dem Strafbegriff nachgeht und Phä-nomene untersucht, die später unseres Wis-

sens nicht wieder aufgegriffen worden sind,wie etwa das der Rechtfertigung von Kollektiv-strafen. Auch wenn dies sicher einschlägigeAspekte der Moral sind, bemängelt Wein-reich-Haste (1982), daß dieses Moralverständ-nis auch unter einer Kantschen Perspektivesehr eng sei: Allerdings ist sie etwas sehrstreng mit Piaget. Einerseits kreidet sie ihman, daß vor allem die Verteilungsgerechtigkeit(oder die positive Gerechtigkeit) bei ihmkaum angesprochen ist. Das ist im Prinziprichtig, dennoch hat Piaget auch diesenAspekt, vor allem den der Fairneß beim Tei-len, unter dem Gesichtspunkt der Moral zwi-schen Kindern sehr wohl untersucht. Weiter-hin beklagt sie, daß die Konzepte der Pflichtenund Rechte ebenfalls kaum zum Tragen kom-men. Auch diese Kritik ist nur teilweise be-rechtigt, da Piaget das Pflichtgefühl explizitauf die Achtung zurückführt (Piaget, 1932, S.221), und bezüglich der Rechte ist es durch-aus zweifelhaft, ob diese eindeutig in den Be-reich der Moral gehören (s. Burgard, 1986).Und schließlich ist ihre Kritik, daß Piaget diemotivationale Grundlage für die Moral, die inder Sympathie vorliege, nicht berücksichtigthabe, bestenfalls dann richtig, wenn mansich auf seine Monographie zum moralischenUrteil beschränkt.

Die Rolle der Affekte ist nämlich für Pia-gets Moralverständnis eigentlich sogar zen-tral, denn die Moral spielte für Piaget geradeim Kontext der Affektentwicklung und derAffektregulation eine wichtige Rolle; er faßtenämlich die (aus der Moral resultierende)«Ordnung der Werte als Analogon zur Logikselbst» (Piaget, 1972) auf und schrieb:

«Ehrlichkeit, Gerechtigkeitssinn undGegenseitigkeit im allgemeinen bildennämlich ein rationales System persönli-cher Werte, und man kann es ohneÜbertreibung mit den Gruppierungenvon Relationen vergleichen, die am Ur-sprung der einsetzenden Logik stehen,bloß daß hier Werte in einer Stufenlei-ter gruppiert werden, und nicht objekti-ve Zusammenhänge. Wenn jedoch dieMoral in ihrer Eigenschaft als Koordi-nierung von Werten mit einer logischenGruppierung verglichen werden kann,so muß man gleichzeitig annehmen,

483Die Entwicklung des moralischen Urteils

5 Wir gehen auf die Unterscheidung zwischen Moralund Konventionen später kurz ein.

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daß die interindividuellen Gefühle zu ir-gendwelchen Operationen führen. Nunauf den ersten Blick scheint es, alswäre das Gefühlsleben rein intuitiverNatur und als schlösse eine Sponta-neität alles aus, was einer Operationder Intelligenz gleichkommt. Aber inWirklichkeit trifft diese romantischeThese einzig auf die Kleinkindheit zu,in deren Verlauf die Impulsivität jedeFolgerichtigkeit des Denkens und derGefühle verhindert. In dem Maße dage-gen, als sich diese beiden organisie-ren, setzen Regelvorgänge ein, derenendgültige Gleichgewichtsform nichtsanderes ist als der Wille: der Wille istalso im Gefühlsleben das wahre Äqui-valent der Operationen des Verstan-des». (S. 245)

Wenn Piaget hier von interpersonalen Ge-fühlen redet, so deutet das darauf hin, daß inseiner Theorie Gefühle sogar konstitutiv für dieMoral sind. Daß dies tatsächlich so ist, wird ineiner Sorbonner Vorlesung (1981) deutlich,in der er versuchte, die Wechselbeziehungzwischen der Ontogenese der Kognitionenund der Affekte darzustellen, im wesentli-chen allerdings, indem er die kognitivenOperationen als strukturelle Voraussetzungs-bedingungen für das Auftreten unterschied-licher Affekte betrachtete. Wir werden aufdiese Arbeit später zurückkommen. An diesenÜberlegungen Piagets werden wir jedochsehen, daß bei ihm die Moral ohne ein ge-fühlsmäßiges Engagement, ohne eine Wurzelim Affektiven nicht auskommt. Und mankann ohne Übertreibung sagen, daß in Pia-gets Theorie (zumindest in seiner späterenPerspektive von 1981) die Gerechtigkeit(sge-fühle), die im gegenseitigen Respekt ihrenAusdruck finden, aus den zwischenpersönli-chen Gefühlen der Sympathie hervorgehen.Dies erklärt, weshalb er bereits in seiner Mo-nographie schreibt, daß in der reifen Moralder Gegenseitigkeit die Liebe und die Gerech-tigkeit zusammenfallen (Piaget, 1932, S. 367).

Schließlich tauchen Affekte unter einemdritten Gesichtspunkt bei Piaget (1932) auf:Sie gelten bei ihm als Anregungsbedingungenfür die kognitiven Prozesse wie auch für die

moralischen Urteile. So wie er grundsätzlichden «Zusammenstoß mit anderen» als Anre-gungsbedingungen für die Intelligenzent-wicklung sieht, hält er also Ungerechtigkeits-erlebnisse für wichtige Anregungsbedingun-gen für die Entwicklung moralischer Urteils-strukturen. Auch hierin zeigt sich, daß beiPiaget die Affekte konstitutiver Bestandteil derMoral sind.

Bei Kohlberg spielen Affekte in der Ent-wicklung der Theorie zunächst eine unklareRolle, dann nimmt ihre Bedeutung stark ab,und schließlich kommen sie in gewissemSinn wieder zu Ehren.

In seiner Dissertation betont auch Kohl-berg (1958) zunächst, daß die Moral von derKonformität mit kulturellen Regeln zu unter-scheiden sei. Vor dem Hintergrund der heuti-gen Diskussion über verschiedene Regelsyste-me (s. u.) ist es deshalb gut, daran zu erin-nern, daß auch Kohlberg keineswegs Konven-tionen mit Moral konfundiert hat (Turiel,1982), bloß weil er von einer präkonventio-nellen, konventionellen und postkonventio-nellen Ebene der Moral spricht, sondern daßer im Gegenteil klar postuliert hat, daß «eineHandlung ... gleichgültig wie sie in einer Kul-tur klassifiziert wird, weder gut noch schlechtist, solange ihr nicht ein Urteil über richtigund falsch vorausgegangen ist» (S. 5). Folgen-de Kriterien sollte ein solches Urteil überrichtig und falsch erfüllen: (1) Es sollte vomUrteilenden als wichtiger angesehen werdenals andere Werturteile. In der moralischenHandlung sollte ein Widerstand überwundenwerden). (2) Moralische Urteile und Hand-lungen sollten eine starke Selbstbewertungenthalten. (3) Sie werden begründet durchBezug auf übersituative Rechte und Pflichten,legitime Ansprüche anderer. (4) Sie haben einhohes Maß an Allgemeingültigkeit, Universa-lisierbarkeit und Konsistenz. (5) Sie werdenvon dem Urteilenden deshalb als «objektiv»angesehen, als etwas, auf das man sich unab-hängig von Unterschieden zwischen Perso-nen oder Interessen einigen kann. Es ist un-schwer zu erkennen, daß die ersten Äußerun-gen stark von Kants Ethikauffassung beein-flußt sind. Bedeutsam ist jedoch, daß Kohl-berg in seiner Dissertation noch (a) die Ver-nunft («prudence») auch im Kontext morali-scher Urteile (daß man einen großen positi-

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ven Nutzen einem kleinen vorzieht) sowie (b)die Nächstenliebe (Wohlwollen, «benevolen-ce»), die auf dem grundlegenden Gefühl derSympathie basiert, und (d) die Gerechtigkeit(nicht nur die strafende, sondern auch dieausteilende Gerechtigkeit) diskutiert. DieRückführung der heteronomen Moral auf dieAchtung der Regel bestreitet Kohlberg (1958)sogar explizit.6

Zirka zehn Jahre später ist Kohlberg (1969)dann jedoch erstaunlich nahe an den Auffas-sungen Piagets zum Wesen der Moral, wenner (1) betont, daß die kognitive und affektiveEntwicklung parallel laufen, daß (2) die allge-meine soziale Entwicklung im wesentlicheneine Restrukturierung des Ichs in seiner Be-ziehung zu anderen in einer gemeinsamenWelt mit sozialen Standards sei und daß (3)die soziale und die Ich-Entwicklung auf eineReziprozität zwischen den Handlungen desIchs und der auf das Ich bezogenen Handlun-gen der anderen hinauslaufe, so daß der End-punkt der Moralität in individualisierterForm die Beziehung der Liebe und in verall-gemeinerter Form das Prinzip der Gerechtig-keit (Reziprozität oder Gleichheit) sei.

Wenn hier also insgesamt noch starke Be-züge auch zu den affektiven Aspekten in Pia-gets Moralbegriff enthalten sind, schält erdoch später, vor allem in den Arbeiten dersiebziger Jahre, immer mehr die alleinige Be-deutung der Gerechtigkeit für Kohlbergs Mo-ralverständnis heraus (Kohlberg, 1971, 1973),

wobei er allerdings z. T. Gerechtigkeit auchmit Achtung der Person gleichsetzt (Kohl-berg, 1971; Kohlberg et al., 1983).

Dieses Moralverständnis ist in mancherHinsicht tatsächlich ein anderes als dasjenigevon Piaget, weil es weniger auf Kooperationals auf der Lösung von Interessenskonflikten(verschiedener «claims»)7 fußt. Kohlbergschreibt dazu:

... wir behaupten, daß die wichtigsteStruktur der Moralität eine Gerechtig-keitsstruktur ist. Moralische Situatio-nen sind Situationen des Konfliktesvon Perspektiven oder Interessen: Prin-zipien der Gerechtigkeit sind Konzepteder Lösung dieser Konflikte: Jedem daszu geben, was ihm zusteht ..... Der Kernder Gerechtigkeit ist die Verteilung vonRechten8 und Pflichten, die durch dieKonzepte der Gleichheit und Rezipro-zität reguliert wird.» (Kohlberg, 1976,S. 40 [kursiv im Original, Übersetzungdes Autors])

Aus diesem Moralverständnis erklärt sichauch, weshalb er zur gleichen Zeit (1971) dasWohlwollen («benevolence») nicht mehr alsTeil seines Moralkonzeptes ansah: Wohlwol-len könne zwar universalisiert werden, eskann «... jedoch keinen Konflikt ... lösen,außer durch quantitative Maximierung ....aber Maximierung ist kein echtes Moralprin-zip» (Kohlberg, 1971, S. 220). Aus diesem Mo-ralverständnis heraus erklärt sich ebenfallsdie von ihm postulierte Struktur der Stufesechs als die «gerechteste Form» der Lösungvon Interessenkonflikten. Während er sichfrüher bezüglich der Formulierung der Prinzi-pien auf Stufe sechs Kant anschloß, benutzteer später die Gerechtigkeitstheorie von Rawls(1971) und nannte das Verfahren, das zueiner optimal gerechten Entscheidung führt,«ideale Rollenübernahme».

«Die Schritte für einen Handelnden, deran einer Entscheidung beteiligt ist, dieauf der idealen Rollenübernahme ba-siert sind: (1) Sich vorzustellen, in derPosition einer jeden Person in dieserSituation zu sein (einschließlich der ei-genen) und alle Ansprüche zu erwägen,

485Die Entwicklung des moralischen Urteils

6 Diesem komplizierten Thema können wir hier nichtnachgehen. Kohlberg interpretierte die heteronomeMoral als Furcht vor Strafe und als kognitives Defizit.Tatsache ist jedoch, daß Piaget die Achtung zur Interpre-tation benutzt hat, Kohlberg dagegen die Kinder ge-fragt hat, was sie unter Achtung verstehen. Zudemsteckt hierin ein historisches Problem. Die Rolle derErwachsenen im Erziehungsprozeß war sicher 1932 inGenf eine andere als 1955 in Chicago.7 Spielthenner (1996, S. 14) zeigt allerdings, in wievielfältiger und deshalb durchaus verwirrender FormKohlberg den Begriff «claim» benutzt. 8 Es ist daran zu erinnern, daß Rechte (Anrechte) kei-neswegs eindeutig in den Moralbereich fallen, sonderneher in den Bereich des Rechts. Burgard (1986) arbeitetdiesen Aspekt bei Kohlberg ebenfalls heraus undkommt am Ende sogar zu dem Schluß, daß KohlbergsStufen eigentlich die Rechts- und nicht die Moralent-wicklung betreffen (s. dazu relativierend Eckensberger& Breit, 1997).

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die man erheben könnte (oder die jederselbst in seiner Opposition erhebenkönnte). (2) Sich dann vorzustellen,daß der einzelne nicht weiß, wer er inder Situation ist und zu fragen ob erjenen Anspruch immer noch aufrechterhalten würde. (3) Dann in Überein-stimmung mit diesen reversiblen An-sprüchen in der Situation zu handeln.»(Kohlberg, 1973, S. 43)

Auch wenn diese Grundfigur weitgehend aufRawls aufbaut, ist sie doch auch mit der idea-len Kommunikationssituation im Sinne vonHabermas kompatibel, auf den er später auchzunehmend Bezug nimmt (Kohlberg, 1985).

Die Kenntnis dieser Moralauffassung ist,wie wir sehen werden, eine unerläßliche Vor-aussetzung sowohl für das Verständnis vonKohlbergs Methode als auch der Kriterien sei-ner Stufendefinition, ja sogar seiner Hypothe-sen über die Anregungsbedingungen für dieEntwicklung moralischer Urteile in der Erzie-hung und Pädagogik. Es ist wichtig zu erken-nen, daß dieses Moralverständnis geradenicht induktiv aus dem Material (den Ant-worten der Kinder und Jugendlichen) gewon-nen wurde, sondern (wenngleich nichtimmer mit der gebotenen Klarheit und Strin-genz, aber jedenfalls im Prinzip) theoretischvorgegeben war.

Andererseits wurde diese Moralauffassungz.T. heftig kritisiert. So bemängeln z. B. Sullivan(1977) oder Schreiner (1979) gerade denKognitivismus und die mangelnde Hand-lungsorientierung in Kohlbergs Theorie9, abervor allem hielt Caroll Gilligan (1982/1984) siein ihrem Buch «In a different voice» (Mit an-derer Stimme) für einseitig, daher für defizitär.

Der zentrale Kritikpunkt Gilligans bestandin ihrer Behauptung, daß Frauen eine andereMoralauffassung haben als Männer, daß diesesich nämlich ergebe aus «einander widerspre-chenden Verantwortlichkeiten und nicht auskonkurrierenden Rechten» (Gilligan, 1984, S.30). Diese Überzeugung entwickelte sie auseiner Studie an Frauen, in der es über Abtrei-bungskonflikte ging, und sie stellte deshalbder (männlichen, von Kohlberg präferierten)Moral der Gerechtigkeits- oder Fairneßorientie-rung eine (weibliche) Moral der Fürsorge und

Verantwortung gegenüber. Sie begründetedamit auch einige Ergebnisse, nach denenFrauen hinsichtlich der Gerechtigkeitsper-spektive z.T. in niedrigere Stufen eingeordnetwurden als Männer (z. B. Holstein, 1976).Diese These zeigte ihre Wirkung in zwei Rich-tungen: Zum einen wurde die Geschlechts-spezifität der Moralauffassungen (und damitder mögliche «bias» in Kohlbergs Theorie zu-gunsten der Männer) diskutiert10, zum ande-ren wurde unabhängig davon grundsätzlichdie Frage nach der Beziehung der Moralkon-zeptionen der Fürsorge und Verantwortungzur Gerechtigkeit thematisiert, wobei nichtselten diese beiden Gesichtspunkte vermischtwurden.

In umfangreichen Überblicksartikeln (Ana-lyse von 41 Stichproben, Walker, 1984; und152 Stichproben, Walker & de Vries, 1985)zeigten sich in der weitaus größten Zahl derFälle keine Geschlechtsunterschiede in derFairneßorientierung zwischen weiblichenund männlichen Probanden; dort, wo sichwelche fanden, lagen nicht immer die Män-ner höher. Auch im Kulturvergleich zeigensich diese Unterschiede nicht (vgl. Snarey,1985; Eckensberger, 1993a; Eckensberger &Zimba, 1997). Auch wenn zumindest dieerste Studie von Walker (1984) durchBaumrind (1986) kritisiert worden war, schei-nen Geschlechtsunterschiede im moralischenUrteil vor allem mit dem Bildungsniveau unddem Beruf zusammenzuhängen.

Komplexer ist die Datenlage, wenn es umdie Frage geht, ob die beiden von Gilligan un-terschiedenen Orientierungen (Fürsorge/Fair-neß) geschlechtsspezifisch präferiert werden.

486 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

9 Wir können diese frühe Kritik nicht aufgreifen. Essollte aber nach dem bisher Gesagten klar sein, daßnatürlich die gewählte Moralauffassung eine Vorent-scheidung enthält. Auf den Zusammenhang zwischenHandeln und Denken kommen wir später zu sprechen.10 Diese Diskussion wurde natürlich dadurch erstmöglich, daß Kohlberg in seiner Dissertation undnatürlich in dem aus ihr folgenden Längsschnitt keineMädchen/Frauen untersucht hatte. Kohlberg hat dasaus eher technischen Gründen getan (Stichproben-größe); abgesehen davon, daß er keine geschlechtsspe-zifischen Unterschiede erwartete, hat er später die Ein-schränkung auf Jungen/Männer durchaus bedauert .

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Faßt man die z. B. bei Spielthenner aufgeliste-ten zwölf Untersuchungen zusammen, so zei-gen vier relativ klare Ergebnisse, daß Männerdie Fairneßorientierung, Frauen die Fürsorge-orientierung präferieren, eine Studie zeigteine entsprechende Tendenz für Männer, sie-ben Studien konnten keine Unterschiede fest-stellen. Insofern ist diese spezifische TheseGilligans nur schwach bestätigt.

Wie sieht es aber mit der grundsätzlichenUnterscheidung der beiden Ethikformen aus(vgl. Puka, 1986; Nunner-Winkler, 1984)?Zunächst müssen wir uns daran erinnern,daß Kohlberg in seiner Dissertation durchausdas Wohlwollen (die Fürsorge) und die Sym-pathie diskutiert hatte, daß er diese aberdann nicht als den Kern der Moral ansah. Al-lerdings hat er (Kohlberg et. al., 1983) in derGerechtigkeitsperspektive die Achtung deranderen Person und das Bemühen, ihr Wohl-wollen zu fördern, bereits implizit vorausge-setzt. Diesen Gedankengang nimmt er 1986zusammen mit Boyd und Levine auf und dis-kutiert die Stufe sechs nun allerdings explizitunter dem Gesichtspunkt der Integration vonGerechtigkeit und Wohlwollen (Fürsorge).Und auch die Sympathie (die ja mehr ist alsRollenübernahme) ist bei dem Prozedere deridealen Rollenübernahme nun explizit vor-ausgesetzt, weil sie erst das tatsächliche Einge-hen auf die Interessen aller möglichen Kon-fliktparteien ermöglicht. Insofern hat die Kri-tik Gilligans (1984), abgesehen von der Frageder Geschlechtsspezifität (von der sie ausge-gangen war), zu einer Präzisierung des Kohl-bergschen Moralbegriffs im Detail beigetra-gen, die in gewissem Sinn den Kreis zu seinerDissertation, aber auch zu Piaget wiederschließt, bei dem ja Liebe und Gerechtigkeitin der reifen Moral auch zusammenfielen(s. o.). Allerdings hat diese theoretische Arbeit

Kohlbergs keinerlei Bedeutung für seine Me-thode (Erhebung und Auswertung der Daten)und für seine Stufenbeschreibung. Diesebleibt, wie wir sehen werden, auf die Gerech-tigkeitsperspektive beschränkt.

2.3 Moral und andere normative Re-gelsysteme für soziale Handlungen

Obgleich sowohl Piaget als auch Kohlbergden Unterschied zwischen moralischen Prin-zipien und Konventionen sehr wohl gesehenhaben, ist diese Unterscheidung erst spätersystematisch aufgegriffen worden. Auchwenn wir uns hier auf die Entwicklung dermoralischen «Regelsysteme» beschränken,sind doch ein paar Anmerkungen zu dieserForschung notwendig.

Vor allem die Autoren Eliot Turiel, JudithSmetana und Larry Nucci haben argumen-tiert, daß die bei Kohlberg auf den drei Ni-veaus angesprochenen Regeltypen, die Re-geln der persönlichen Vorlieben (präkonventio-nelle Moral), die Konventionen und die Moral,offenbar keineswegs auseinander hervorge-hen, sondern bereits sehr früh voneinanderunterschieden werden, sich also in gewissemUmfang unabhängig voneinander ent-wickeln, auch wenn sie unterschiedlich kom-plex miteinander in Beziehung treten kön-nen.11 Worum handelt es sich bei diesen Re-gelbereichen?

Unter «persönlichen Vorlieben» verstehenNucci (1977) und Smetana (1982) Bezugs-oder Regelsysteme, die nur das Individuum selbstbetreffen, sie sind also allein Angelegenheit derhandelnden Personen (z. B. die Haare lang tra-gen, die Wahl der Freunde etc.). Auch siedurchlaufen eine Ontogenese. Nucci (1977)und Smetana (1982) beschreiben fünf qualita-tive Transformationen solcher Vorlieben (Stu-fen). Auch wenn das in der Forschung wenigthematisiert wird, haben sie durchaus Bezie-hungen zu Stufen der Selbstentwicklung(Kegan, 1982), weil die Kontrolle persönli-cher Angelegenheiten u. a. die Funktion hat,das Selbst zu erhalten, zu festigen, es aber auchgegenüber Fremdkontrolle zu schützen. Hand-lungen, die aus solchen individuellen Regel-systemen folgen, sind erlaubt, sie benötigenkeine soziale Absicherung oder gar Regelung, sie

487Die Entwicklung des moralischen Urteils

11 Im Grunde müßten hier noch religiöse Regelsystemegenannt werden. Sie würden aber die gesamte Diskus-sion erheblich komplizieren. Sie sind einerseits intrin-sisch begründet wie die Moral (Handlungen sind alsoaus sich heraus gut oder schlecht). Zusätzlich habensie aber einen Bezug zu etwas Transzendentem, Ultima-tem, sei dies ein konkreter Gott oder etwas abstrakt Heili-ges (vgl. Eckensberger, 1993b; Fowler, 1991; Oser &Reich, 1992).

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können sich durch veränderte Präferenzen derPerson ändern.

Sozial-konventionelle Regelsysteme zielen da-gegen auf Verhaltensuniformitäten ab, die so-ziale Interaktionen in sozialen Systemen koordi-nieren. Sie haben die Funktion, die soziale Ord-nung aufrechtzuerhalten. Sie sind deshalb inihrer konkreten Ausformung variabel und ingewissem Sinne sogar willkürlich, sie müssennur diese Funktion erfüllen (Turiel, 1983),(z. B. Begrüßungsformen, Tischsitten). Ob-gleich soziale Konventionen am ehestendurch inhaltliche Verhaltensrichtlinien be-schreibbar sind, erfährt ihre Interpretationdoch auch eine Differenzierung in der Onto-genese. Sie wird von Turiel (1983) in siebenStufen beschrieben, in denen jeweils eine be-stimmte, neu konstruierte Auffassung sozia-ler Konvention durch deren Negation ab-gelöst wird. Diese Regelsysteme sollten des-halb in jedem sozialen System existieren, siesind funktional für das System, und sie sindänderbar bzw. austauschbar.12 In Tabelle 1 fas-

sen wir die Charakteristika dieser Regelsyste-me und ihre Beziehung zur Moral zusammen.

Es ist eindrucksvoll, wie ontogenetischfrüh diese Regel- oder Deutungssysteme derpersönlichen Vorlieben, der Konventionenund der Moral bereits voneinander unter-schieden werden können, nämlich z.T. be-reits im Alter von vier Jahren. Andererseitsdürfen bei aller begrifflichen und empiri-schen Eigenständigkeit dieser sozial-kogniti-ven Bereiche ihre komplizierten Wechselbe-ziehungen nicht übersehen werden. So läßtsich denn auch die Ontogenese jeweils nichtnur durch die je spezifische stufenweise

488 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

Tabelle 1: Normative soziale Regel-, Bezugssysteme (persönliche Vorlieben, Konventionen, Moral), (nach Eckens-berger, 1997; Eckensberger & Breit, 1997)

Normative soziale Regelsysteme

Persönliche VorliebenCharakteristika:

Formal:idiosynkratisch

Materiell:Verhalten beruht auf persönlichen,subjektiven Präferenzen, Gruppensind nicht betroffen. Die Bedeutungfür das Subjekt variiert inhaltlich undzeitlich (Entwicklung).

Beispiele:Wahl der Haartracht, der Freunde,Vorlieben in der Kleidung.

Gefühl bei Übertretung:Ärger/Scham

Entwicklung:Inhaltliche Veränderung/ Interessenentwicklung

KonventionenCharakteristika:

Formal:kulturell/gesellschaftlich relativ

Materiell:Verhalten koordiniert das Zusam-menleben in Gruppen. Es gibtErwartungen an das Individuum/Zwänge auch ohne eine «natürlicheRegel». Gäbe es keine konventionelle Regel,könnte man sich anders verhalten.Die Bedeutung für das Individuum va-riiert mit dem Alter/ Entwicklungs-stand.

BeispieleGrüßen, Tischsitten, Benutzung desVornamens von Erwachsenen.

Gefühl bei Übertretung:Peinlichkeit

Entwicklung:Inhaltslernen, Konsensbildung.

Moralische UrteileCharakteristika:

Formal:universell, absolut, objektiv

Materiell:Eine Handlung ist «aus sich heraus»(selbstzwecklich) gut oder schlecht.Um das zu erkennen, braucht mankeine soziale Regel. Pflichten undRechte gründen auf Vorstellungenüber «Gerechtigkeit» und auf derAchtung anderer Personen/ethischerPrinzipien; Vermeidung vonSchädigung anderer; das Befolgen/Verletzen moralischer Kategorien hatüber die gesamte Lebensspanneeinen hohen «Ichbezug».

BeispieleEhrlichkeit, Treue, Verantwortlichkeit,Achtung vor dem Leben.

Gefühl bei ÜbertretungSchuld

Entwicklung:Rationale Einsicht, Intuition, Assimilation/Akkommodation,reflektierende Abstraktion.

12 Wir führen diese Stufen konventionellen Denkenshier auch nicht weiter aus, müssen aber feststellen,daß es zur Validierung der von Turiel (1982) definier-ten Stufen unseres Wissens keine weiteren Arbeitengibt, die meisten Untersuchungen beschränken sichauf die Bereichsunterscheidungen als solche und nichtauf deren Entwicklung.

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Transformation dieser Bereiche beschreiben,sondern auch durch ihre zunehmende Inte-gration (Turiel & Davidson, 1986). Gleichzei-tig zeigt vor allem die kulturvergleichendeForschung (vgl. dazu Eckensberger & Zimba,1996), daß die Unterscheidung der Regelty-pen empirisch keineswegs eindeutig ist. Ver-haltensweisen, die in einer Kultur als persön-liche Angelegenheiten oder Konventionengelten (z. B. außerehelicher Geschlechtsver-kehr), werden in einer anderen als moralischaufgefaßt (Zimba, 1994; s. auch Shweder,Mahapatra & Miller, 1987).

Auch wenn in diesem Forschungsfeld dasletzte Wort noch lange nicht gesprochen ist(es fehlen vor allem die Arbeiten, in denendie Regelbereiche einerseits unterschieden,andererseits ontogenetisch aufeinander bezo-gen werden), erscheint insgesamt die Kritikan Kohlberg in diesem Punkt verfrüht, denndessen Dilemmata zur Untersuchung des mo-ralischen Urteils liegen thematisch eindeutigin Verhaltensbereichen, die übereinstim-mend als «moralisch» bezeichnet werden: Esgeht um Erhaltung von Leben, Erhaltung vonVertrauen, um Achtung der Autorität, umVerträge/Versprechen und um das Gewis-sen.13

2.4 Erhebungstechniken: Koopera-tion, Beobachtung, fiktive Szena-rien und hypothetische Dilemmata

Auch methodisch legt Piaget (1932) mit sei-nem originellen Vorgehen wichtige Grund-

steine für die spätere Forschung: Bei der Ana-lyse der Spielregeln beobachtet er einerseitsdas Spiel der Kinder, andererseits bietet ersich selbst als Mitspieler an und versucht, dieRegeln zu ändern, exploriert, woher sie ge-kommen sind, und fragt, weshalb sie änder-bar oder nicht änderbar sind und auf welcheWeise dies geschehen könnte.

Die übrigen Bereiche erfaßt er mit Hilfeeiner sehr großen Zahl kleiner Geschichtenaus dem Lebenskontext von Kindern, indenen er moralisch relevante Parameter imInterview (klinische Methode) mehr oder we-niger systematisch variiert (ob z. B. eine Aus-sage irrtümlich falsch ist oder intendiert gelo-gen ist; ob es schlimmer ist, einen großenSchaden irrtümlich oder einen kleinen imRahmen einer Gebotsübertretung zu produ-zieren; ob man Aufgaben in einer Gruppeverteilen oder immer der gleiche die Aufgabeerledigen soll, ob man beim Teilen das Alterberücksichtigen soll usw.).

Er läßt die fiktiven Geschichten zunächstvon den Kindern wiederholen und dann dasVerhalten eines Kindes oder eines Erwachse-nen als richtig, gerecht, streng usw. bewertenund dieses Urteil begründen. Dabei ist er sichdarüber im klaren, daß die Befragung die Ge-fahr enthält, dem Kind Antworten in denMund zu legen und so das moralische Urteilentstellen kann (Piaget, 1932, S. 310).

Kohlberg führt mit seinen Probanden nurInterviews14 durch; er benutzt allerdings in-sofern «verschärfte» Szenarien, als die Pro-banden sich in einer Geschichte für eine vor-gegebene Handlungsalternative entscheidenmüssen. Diese Szenarien werden «hypotheti-sche Dilemmata» genannt. Hypothetisch sindsie, weil sie relativ reduzierte Situationen re-präsentieren, die in der vorgelegten Formkaum oder selten vorkommen werden, umDilemmata handelt es sich, weil sie eine Ent-scheidung für einen Wert erfordern, in der(zumindest in Kohlbergs Systematisierung)zwingend ein konkurrierender Wert verletztwird.

Nehmen wir als ein Beispiel das Joe-Di-lemma (Colby & Kohlberg, 1987b, S. 3[Übersetzung des Autors]), in dem nachKohlberg die beiden Werte «Autorität» und«Vertrag/Versprechen» miteinander in Kon-flikt stehen:

489Die Entwicklung des moralischen Urteils

13 Schwieriger gestaltet sich die Frage nach der Bezie-hung zwischen Moral und Recht, die wir deshalb spä-ter kurz aufgreifen.14 U. a. wegen des großen Aufwandes, den man mitder Durchführung und Auswertung von Interviewstreiben muß, wurde mehrfach versucht, ein schriftli-ches Fragebogenverfahren zu entwickeln. Zwei Verfah-ren brachten es zu einer internationalen Anerkennungund Anwendung: (a) der DIT («Defining Issues Test»)von Rest (1979) und (b) der Moralische Urteilstest(MUT) von Lind (1978). Auch wenn die Beziehung dermit diesen Tests gewonnenen Daten zum moralischenUrteil unterschiedlich eingeschätzt wird, scheint sichdoch der Test von Lind für viele Fragen zu eignen. Esist nach unserer Auffassung auch in der Auswertungorigineller als derjenige von Rest. Wir können daraufhier jedoch nicht weiter eingehen.

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Zunächst ist es für Kohlbergs Moralkonzeptwesentlich, daß er nicht primär herausfindenwill, welche Handlung nach Ansicht der Pro-banden die richtige oder die falsche ist, son-dern wie diese Entscheidung begründet wird.Gegenstand der Untersuchungen sind alsodie Begründungsstrukturen für die für richtigoder falsch gehaltenen Handlungen in einersolchen Dilemmasituation (hier: Entschei-dung für oder gegen die Herausgabe des Gel-des). Wenn wir uns an unsere einleitendenBemerkungen zur Ethik/Moral erinnern, soist klar: Kohlberg untersucht eigentlich die«normativen Ethiken» oder gar (je nach Sy-stematik und Stufe) die «Metaethiken» seinerProbanden.15

Insgesamt hat Kohlberg neun solcher Di-lemmata entwickelt, die er im Laufe der Zeitin drei Parallelformen von Dilemma-Sets zuje drei Dilemmata geordnet hat.

2.5 Auswertung und Ergebnisse:Die Ontogenese des moralischenUrteils

Da vor allem bei Kohlberg eine enge Bezie-hung zwischen den Stufendefinitionen(sowie ihren Veränderungen) und der Aus-wertungsmethode besteht, müssen diese auf-einander bezogen dargestellt werden.

2.5.1 Piaget und die Folgen

Zunächst ist interessant, daß Piaget (1932) fürdie Genese der moralischen Urteilsstrukturengar keine Stufen oder Stadien annahm, diese Annahme sogar eher zweifelhaft fand (S. 321). Entsprechend war bei ihm die Aus-wertungseinheit die einzelne Antwort, undnicht das einzelne Kind. Konsequent wurdenalso auch die Kinder keinen Stufen zugeord-net, sondern ihm ging es um Entwicklungs-trends, um die Analyse von Typen ähnlicherAntwortmuster. Weiterhin ging Piaget davonaus, daß ein einzelnes Kind in den verschie-denen Geschichten eine sehr große Streuungin den Antworten bezüglich der moralischenAspekte (Verantwortung, Gerechtigkeit etc.)aufweisen konnte (er nahm also auch keine«Konsistenz» der Antworten an). Undschließlich diskutierte er an mehreren Stellendie Beziehung zwischen dem konkreten Han-deln in einer Situation, der Beurteilung einerkonkreten erlebten Situation (praktisches Urteil)und der Beurteilung einer fiktiven oder hypotheti-schen vorgestellten Situation (theoretisches Ur-teil). Er nahm an, daß das Regelbefolgen oder-begründen in genau dieser Reihenfolge an«Schwierigkeit» zunahm, daß also die theo-retischen Überlegungen des Kindes immerein oder zwei Jahre später einsetzen als eineReaktion in konkreten Lebenssituationen.Ein Kind z. B., das in einer hypothetischenGeschichte eine bestimmte Strafe noch fürrichtig hält, würde diese gleiche Strafe ineinem konkreten Lebenszusammenhangmöglicherweise bereits begründet ablehnen.An dieser Stelle gibt es wieder einen interes-santen Zusammenhang zur Rolle der Gefüh-le. Piaget meint nämlich, daß praktische Ur-teile vor allem intuitive Stellungnahmen re-präsentieren, die auf Gefühlen (Gerechtig-keitsgefühl) basieren. Diese intuitiven Urtei-le gibt es also bereits, bevor ein Urteil ratio-nal begründet werden kann. Intuitive mora-lische Urteile werden erst in jüngerer Zeitwieder diskutiert

490 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

Joe ist ein 14jähriger Junge, der unbedingtin ein Ferienlager wollte. Sein Vater ver-sprach ihm, daß er fahren dürfe, wenn ersich das Geld dafür selbst verdienenwürde. Joe arbeitet hart beim Zeitungsaus-tragen und sparte sich die 100 $, die dieFahrt kosten würde, und noch ein bißchenmehr. Kurz bevor er in das Ferienlager fah-ren wollte, änderte der Vater jedoch seineMeinung. Einige seiner Freunde hatten ihnzum Fischen eingeladen, er hatte aber dasGeld nicht, das diese Tour kosten würde.Also sagte er zu John, dieser solle ihm dasGeld geben, das er beim Zeitungsaustragenverdient hatte. John wollte aber seineFahrt ins Ferienlager nicht aufgeben unddachte darüber nach, dem Vater das Geldzu verweigern.

15 Zusätzlich werden allerdings noch diverse Standard-nachfragen gestellt, auf die wir hier nicht eingehenkönnen.

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491Die Entwicklung des moralischen Urteils

Tabelle 2: Hauptergebnisse von Piagets (1932) Untersuchung. Die Altersangaben repräsentieren nur grobe Richt-werte.

Alter in Jahren 5 6 7 8 9 10 11 12HETERONOMIE AUTONOMIE

Aspekte / Dimensionen des moralischen Urteils

Spielregeln(Regelpraxis)

Spielregeln(Regel-bewußtsein)

Regeln sind heilig, unveränderbar, sie kommen von der Autorität. Änderungen sind Übertretungen

Regeln sind Gesetze, die aus gegenseitigemRespekt (Achtung) und aus gegenseitiger Loyalitätstammen. Sie sind durch Verhandlungen(Konsens) veränderbar. Der «Geist» des Spiels wird erkannt.

egozentrisch, imitativ,regelbefolgend

kooperativ, Versuch zugewinnen, gegenseitigeKontrolle

Übereinstimmung inRegeln, Variationenwerden geschätzt

Regeln sind kodifiziert,werden eingehalten unddurch Gruppe kontrolliert

Verantwortung Moralischer Realismus(Verantwortung äußerlich)

objektiv (Folgen wichtiger als Intentionen) subjektiv (Intentionenwichtiger als Folgen)

ImmanenteGerechtigkeit

Naturprozesse sind physikalisch undmoralisch (keine explizite «Theorie»)

Die Folgen (auf eine Untat) sind gerecht, bildeneinen Ausgleich, sind aber kausal und nicht inten-diert («just world»).

Folgen sind kausal,haben keine Beziehungzur Übertretung.

RetributiveGerechtigkeit

Sühnestrafe, streng istgerecht.

Reziprozität (lex taleonis, Gleiches mit Gleichem) Strafe muß angemessensein, Umstände berück-sichtigen, muß im Zusammenhang mit demVergehen stehen («equity»).

ist ein häßliches Wort Differenzierung von Lüge und Irrtum (beidesind Unwahrheiten)

Irrtum ist Fehler, Lüge ist explizit

Intention als Kriteriumfür Lüge

Lüge Strafe definiert das«Gewicht» einer Lüge,Lügen sind schlimmer,wenn sie bestraft werden

Lügen sind schlimm, weil sie Regeln brechen. Lügen zerstören Vertrauen.

Es ist schlimmer, einen Erwachsenen zu belügen

Es ist schlimmer, einenFreund zu belügen

Fassen wir im folgenden die wichtigstenErgebnisse der Arbeit Piagets zusammen (s.Tab. 2): Ganz generell hat er, wie bereits ge-sagt, die beiden bei Kant unterschiedenenFormen von Moral in eine Entwicklungsse-quenz geordnet. Die Moral erscheint danachzunächst fremdbestimmt (heteronom), dannselbstbestimmt (autonom).

Hoffman (1970), Lickona (1976), Modgilund Modgil (1985) sowie Weinreich-Haste(1982) haben umfangreiche Überblicke überNachuntersuchungen zu Piagets (1932) Theo-rie und Daten vorgelegt, von denen wir eini-ge berücksichtigen wollen. Historisch ist be-

deutsam, daß diese Reviews viele Kritikpunk-te zunächst grundsätzlich abwehrten, weil sieaus einem anderen Psychologieverständnisheraus formuliert wurden (die generelle Pro-blematik der Stufen, das Verständnis der In-telligenz, die benutzten Verfahren, die man-gelnde Kontrolle klassischer Variablen wieGeschlecht, sozio-ökonomische Klasse undKultur); hier zeigt sich also eindrucksvoll diein Kapitel I.1 in diesem Band dargestellte Problematik der unterschiedlichen «Men-schenbilder», die verschiedenen Theorien zu-grundeliegen und die natürlich zu unange-messenen Bewertungsmaßstäben führen kön-

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nen. Davon abgesehen zeigen aber die mei-sten Arbeiten, daß die von Piaget dargestell-ten Entwicklungstrends im wesentlichen inallen von ihm unterschiedenen inhaltlichenAspekten replizierbar sind, auch wenn sie z.T.früher, z.T. langsamer ablaufen. a) Die Spielregeln sind zunächst egozentrisch,

werden imitativ befolgt und später kodifi-ziert und von der Gruppe eingehaltenund kontrolliert.

b) Parallel entwickelt sich das Verständnis der Regeln (Regelbewußtsein). Sie sindzunächst heilig und unveränderbar undkommen von Autoritäten, später werdensie als Gesetze verstanden, die aus gegen-seitigem Respekt und Loyalität stammenund durch Verhandlungen, das heißtdurch Konsens veränderbar sind. Dieskonnte kürzlich in einer Untersuchungvon Roos und Claar (1994) beim Spielenmit Spielkarten (also eigentlich in einemdeutlich anderen Spielkontext) ge-schlechtsunspezifisch bestätigt werden. Indieser Untersuchung wurde die Beach-tung der bestehenden Spielregeln aller-dings nicht auf den Respekt vor der Auto-rität zurückgeführt, sondern vielmehr aufpragmatische Gründe wie den ungestör-ten Ablauf des Spiels. Epstein (1965) hatzudem festgestellt, daß die jungen Kindernicht zwischen dem Brechen und Verän-dern einer Regel unterscheiden, was er aufein kognitives Defizit zurückführte. Einenvon Piagets Daten abweichenden Trendfinden ebenfalls Havighurst und Neugar-ten (1995) bei einigen Spielen nordameri-kanischer Indianerstämme, was Hoffman(1970) sogar dazu veranlaßte, von einerFalsifikation von Piagets Theorie zu spre-chen. Dies ist jedoch ein Mißverständnis,da Piaget (1947) angenommen hatte, daßin sogenannten einfachen Gesellschaftendie Erwachsenen einem zunehmendenZwang (der Regelunterwerfung) unterlie-gen und nur die Kinder frei sind, von Re-geln abzuweichen. Besonders bedeutsamist, daß die indianischen Spiele selbst einereligiöse und wirklich moralische Bedeu-tung hatten, da in ihnen z. B. die Vorfah-ren geehrt werden. Havighurst undNeugarten selbst sehen diese Ergebnissedeshalb (zu Recht) als Bestätigung von

Piagets Theorie an. Gleichzeitig wird klar,daß Spielregeln selbst keine wirklicheMoral repräsentieren, sondern eben Kon-ventionen, daß bestenfalls die Kriterienfür eine Regeländerung (der Konsens) einemoralische Komponente enthält.

c) Die Verantwortung wird ebenfalls zunächstäußerlich und dann intrinsisch interpre-tiert: Zunächst sind die Folgen einer Hand-lung wichtiger als deren Intention, wasdann später «umkippt»: Intentionen einerTat werden als wichtiger beurteilt als derenFolgen. Diese Dimension ist mehrfach re-pliziert worden. Lickona (1976) und Hoff-man (1970) zitieren allein 18 bestätigendeStudien. Allerdings gibt es auch hier Pro-bleme im Detail. Zum Beispiel scheint dieBerücksichtigung der Intentionalität be-reichsspezifisch zu sein (Lickona, 1973),d. h., der Inhalt scheint eine zunehmendstärkere Rolle zu spielen (s. auch Kohlberg,Havighurst & Neugarten, 1967).

d) Auch das Verständnis der Lüge folgt inPiagets Untersuchung im wesentlichendiesem Entwicklungsverlauf. Sie istzunächst ganz äußerlich ein häßlichesWort, danach werden Lüge und Irrtumdifferenziert, und erst später wird die In-tention, nicht die Wahrheit zu sagen, zumKriterium. Interessant ist, daß auch derSchweregrad einer Lüge zunächst davonabhängig gemacht wird, wie stark sie be-straft wird. Lügen sind um so schlimmer,je stärker sie bestraft werden. Später, inder autonomen Phase, wird erkannt, daßLügen das Vertrauen zerstören. Parallelläuft auch die Auffassung, daß eszunächst schlimm ist, einen Erwachsenenzu belügen, später ist es dann schlimmer,einen Freund zu belügen.

e) Indikativ für die gesamte kognitive Ent-wicklung ist die Transformation des Kon-zeptes der immanenten Gerechtigkeit: DieBeurteilung des Ereignisses, daß eineBrücke zusammenbricht, über die jemandflieht, der vorher gestohlen hat, wirdzunächst mit dem Diebstahl in Verbin-dung gebracht, und erst später wird er-kannt, daß dieses Ereignis mit der vorher-gehenden «Missetat» in keinem Zusam-menhang steht. Hier zeigt sich allerdingseine sehr plausible Zwischenposition, in

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der zwar erkannt wird, daß beide Dingenichts miteinander zu tun haben, daß esaber gerecht sei, daß die Brücke zusam-menstürzt. Auch hierzu gibt es eine be-achtliche Zahl von Nachuntersuchungen.Lickona (1976) zitiert 11 Studien, die die-sen Trend bestätigen, wiederum gibt esaber einige Abweichungen, die eine Be-reichsspezifität dieses Phänomens nahele-gen. Besonders tritt wieder in der Studievon Havighurst und Neugarten (1955) beinordamerikanischen Indianerstämmender bei Piaget beobachtete Verlauf nichtauf, wenn die Urteile z. B. mit religiösenÜberzeugungen (Gott straft) verknüpftsind (für einen Überblick s. Eckensberger,1993a; Eckensberger & Zimba, 1997). Die-ser Aspekt zwingt nicht nur dazu, dieMoral von den Konventionen zu unter-scheiden, sondern auch von religiös be-gründeten Regelsystemen (s. Fußnote 11).

f) Auch die Fragen zur Gerechtigkeit zeigendiesen Trend. Zunächst sind die Kinderder Auffassung, daß die Strafe eine Sühneist und insbesondere strenge Strafen ge-recht sind. Etwas ältere Kinder vertretendann die Auffassung, daß Gleiches mitGleichem vergolten werden muß, undschließlich fordern die ältesten, daß dieStrafe angemessen sein und insbesonderedie Umstände der Tat berücksichtigenmuß. Beeindruckend ist, daß sie nachAuffassung der Kinder im Zusammenhangmit dem Vergehen stehen sollte. Diese Auf-fassung ist deshalb beeindruckend, weilEllscheid (1982) diesen Trend benutzt hat,um ihn für die Rekonstruktion der Ent-wicklung des modernen Strafrechts nutz-bar zu machen (s. Eckensberger, imDruck). Hier zeigt sich auf der Gesell-schaftsebene erst in jüngster Vergangen-heit eine Diskussion, wie sie Kinder offen-bar schon früh führen.

Zur Interpretation dieser Trends hat Piagetvieles rekonstruktiv (spekulativ) herangezo-gen (z. B. die Sozialisationseinflüsse, die Inter-aktionen mit Gleichaltrigen, die emotionalenAnregungsbedingungen), was empirischnicht untersucht ist. Allemal ist sein Werkdamit aber eine Fundgrube für Hypothesengeworden (vgl. Tab. 3 nächste Seite).

Zunächst besteht nach Piaget eine dialekti-sche Beziehung zwischen dem Inhalt (dieRegel und ihre Beachtung, das moralischGute) und der Struktur (die Form der Interak-tion zwischen den Handelnden) der Moral:Echte Gegenseitigkeit, die Kooperation unddie Verständigung sind nach seiner Meinungnur im Rahmen einer gegenseitigen Achtungmöglich, und umgekehrt hemmt Zwang oderGehorsam die Bildung eines autonomen Ge-wissens (Piaget, 1932, S. 366). Diese Sichtgeht – wie wir sehen werden – bei Kohlbergspäter zunächst verloren und wird in gewis-sem Sinn erst neuerdings wieder mühsam er-arbeitet. Die heteronome Moral basiert da-nach eher auf den Interaktionen mit Erwach-senen und deren Übermächtigkeit, und siewird dadurch überwunden, daß erkannt wird,daß auch Erwachsene Fehler machen. Vorallen Dingen wird sie gefördert durch Grup-penerfahrungen, durch Erfahrungen mitGleichen unter Gleichen. Diese Sicht hat inden Nachuntersuchungen z.T. Bestätigung er-halten, z. T. nicht: Allerdings ist die ThesePiagets auch trivialisiert oder mißverstandenworden (vgl. Kugelmass & Bresnitz, 1987;Krebs, 1967). Lerner (1971) schlußfolgertez. B., daß Gleichaltrige sogar einen negativenEffekt auf die Moralentwicklung haben kön-nen, wenn die Mehrheit der Jugendlichen,ähnlich wie beim Zwang durch die Erwachse-nen, gegen Regeln der Fairneß und Koopera-tion verstößt. Diese Ergebnisse gehen aller-dings von einer sehr äußerlichen Interpretati-on von Piagets Überlegungen aus. Dieserhatte nämlich weniger die Gleichaltrigen alssolche gemeint, sondern gerade einen auf Ko-operation angelegten Interaktionsstil, der sichnach seiner Vermutung allerdings eher beiden Gleichaltrigen zeigen würde, der abernatürlich auch von Erwachsenen und Kin-dern gepflegt werden kann. Den AussagenLerners hätte Piaget also von Anfang an garnicht widersprochen.

Wichtiger erscheinen uns deshalb dieDaten aus dem Bereich der Erziehungsstilfor-schung zu sein, die insbesondere von Hoff-man (1970) zusammengestellt worden sind.Danach zeigt der Typus der Machtausübung(«power assertion») – ganz im Sinne der Über-legungen Piagets in diversen Studien zu ver-schiedenen Moralindikatoren – tatsächlich

493Die Entwicklung des moralischen Urteils

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einen negativen, ein erklärender Erziehungsstil(«induction») dagegen einen positiven Zu-sammenhang.

Die internen Voraussetzungen für die Ent-wicklung des moralischen Urteils sind einer-seits kognitive Bedingungen und zum ande-ren emotionale Prozesse (s. o.). Besonders diesoziale Kognition, d. h. die Entwicklung vomEgozentrismus zur Perspektivenübernahme(des Hineinversetzens in fremde Standpunk-te), ist eine wichtige Voraussetzung ebensowie die zunehmende Differenzierung kogniti-ver Bereiche, der Kausalität und der Finalität.Bei den Emotionen geht er davon aus, daßdie einseitige Achtung eine Mischung aus

Furcht und Liebe ist, er diskutiert an dieserStelle allerdings auch die Emotionen der Wutund des Mitleides (Sympathie) bei Strafe mitdem Strafenden und dem Bestraften.

Abgesehen von einigen Studien, in denendie kognitive Dimension mit IQ-Tests gemes-sen wurde (die zwar positiv ausfielen, aberPiagets Überlegungen eigentlich nicht betref-fen), haben die sozialkognitiven Prozesse inden siebziger Jahren einen unglaublichenForschungsboom erfahren (z. B. Eckensberger& Silbereisen, 1980), so daß an dem vonPiaget früh definierten Trend als solchemheute kein Zweifel mehr bestehen kann.Allerdings sind in diesem Bereich die Frage-

494 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

Tabelle 3: Interpretation der Entwicklungstrends des moralischen Urteils durch Piaget (1932)

HETERONOMIE AUTONOMIE

Inhalt(Achtung derRegel, desGuten)

Der Inhalt wirkt auf die Form(Gegenseitigkeit [Form]ist nur im Guten [Inhalt]möglich)

(der Zwang/Gehorsam [Form]hemmt die Bildung eines

autonomen Gewissensdes moralisch Guten [Inhalt])Die Form wirkt auf den Inhalt

einseitige Achtung: Regel und Regelinhaltsind «heilige Verpflichtung»

Gegenseitige Achtung,Moral des Guten; autonomes Gewissen

STRUKTUR(Form der Interaktion)

Gehorsam Zwang Relativierung des Gehorsams Kooperation /Verständigung

äußerlich soziale Erfahrungen:

intern:

Interaktionen mit Erwachsenen

Auch Erwachsene machen Fehler Gruppenerfahrungenunter Gleichen /Gleichaltrigen

kognitive Prozesse:

soziale Kognitionen

Egozentrismus Perspektivität

Rahmenbedingungen für die Entwicklung des moralischen Urteils

Bereichsspezifitätphysikalische/moralische, kausale / finale Prozesse sind ungetrennt

Bedürfnis nach Anerkennung,Bedürfnis nach Gleichheit

Trennung von physikalisch / moralisch;

kausal / final

Emotionen

Furcht / Liebe (Wut, Mitleid bei Strafe)

Solidaritätsgefühle

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stellungen, Verfahren und Versuchsanord-nungen dermaßen verfeinert worden, daß dieAltersangaben von Piaget je nach Verfahrenzum Teil zu spät ansetzen (s. auch KapitelIV.1 in diesem Band).

Besonders die Untersuchungen von Hoff-man (1976, 1982) zur Sympathie, Empathieund Schuld, also Gefühle, die in Piagets Sor-bonne-Vorlesung ja alle indikativ für dieMoral waren, lassen sich weitgehend als Be-stätigung für die von Piaget postulierten Ent-wicklungstrends interpretieren. So sprichtman im ersten Halbjahr von einer «globalenEmpathie» (z. B. Affektansteckung bei Säug-lingen), in dieser Zeit gibt es weder Hinweiseauf Sympathie oder Schuldgefühle. Bis zumzweiten Lebensjahr spricht man dann von«egozentrischer Empathie» (man selbst, nichtder andere, leidet), Sympathie(hilfe)reaktio-nen dienen deshalb der eigenen Erleichterung.Zwischen zwei und sieben Jahren (im Altersbe-reich der präoperativen Intelligenz, in dersich ja einige von Piagets Probanden in derUntersuchung zum moralischen Urteil befan-den) entstehen über Schamgefühle dieSchuldgefühle, wenn man selbst andereneinen Schaden zufügt. Empathie basiert indiesem Alter vor allem auf den Gefühlen deranderen: Die Schmerzgefühle des anderensind ein unangenehmes Erlebnis für dasSelbst, daraus resultiert der Versuch zu helfen(hier liegt die Wiege des Altruismus, die sichso zunächst als besondere Form des Egoismusherausstellt). Im Altersbereich von sieben biszwölf Jahren (der konkreten Operationen), indem Piaget ja auch untersucht hat, tretenSchuldgefühle auch bei Unterlassungen auf,empathische Reaktionen beziehen sich aufdie Lage des anderen (nicht mehr nur Gefüh-le des anderen in einer bestimmten Situati-on). Ab zwölf Jahren und im Erwachsenenalter(im Bereich der formalen Operationen), mitdenen nach Piaget die Moral der gegenseiti-gen Achtung korrespondiert, tritt nach Hoff-man die Möglichkeit auf, Empathie mitGruppen, der Gesellschaft und später mit all-gemeinen Fällen zu empfinden; entspre-chend wird auch eine Solidarität zunächstmit Gruppen, dann mit der Gesellschaft undallgemeinen Fällen möglich. In diesem letz-ten Bereich lokalisiert Hoffman das Phäno-men der «existentiellen Schuld», das z. B. Vi-

etnamrückkehrer oder Überlebende aus KZserlebten. Diese letztgenannten Ergebnissegehen über die Altersgruppen hinaus, die Pia-get untersucht hatte, sie werden aber für dieForschung von Kohlberg durchaus relevant.Allerdings wird der Zeitpunkt des Auftretensder Schuldgefühle und ihre Bedeutung als In-dikatoren für moralische Überzeugungenkontrovers diskutiert. Nunner-Winkler undSodian (1988) z. B. behaupten auf der Basisihrer Untersuchung, daß Kinder zwischenvier und sechs Jahren zwar über das morali-sche Wissen (daß eine Handlung x in einerSituation y schlecht ist) verfügen, daß sieaber dennoch meinen, daß eine Person, die xtatsächlich ausführt, aber dies zu ihrem eige-nem Nutzen tut, sich «gut fühlt» (also keineSchuldgefühle hat). Erst mit sieben Jahrensoll das Schuldgefühl und das Wissen über-einstimmen (s. auch M. Keller et al., 1995; Arsenio & Kramer, 1992). Roos und Gott-schalk (1996) konnten aber zeigen, daß essich bei diesem höchst wichtigen Ergebniswahrscheinlich um ein Artefakt handelt.Fragt man nämlich die Kinder, wie sie sichselbst fühlen würden, wenn sie x getan hät-ten, dann sagen sie nur noch zu einem klei-nen Prozentsatz, daß sie sich gut fühlen wür-den; dieser Effekt wird noch deutlicher, wennman auf die negativen Handlungen der Tatfür andere hinweist. Bei den Kindern der Stu-die von Nunner-Winkler und Sodian (1988)fällt also Gefühl und Wissen keineswegs aus-einander, vielmehr sind die Urteile sehr kon-sistent, da ja offenbar ein anderes Kind, das xtut, sich auch wohl fühlt, die Kinder jedochbei der Selbstbeurteilung x weder tun würdennoch sich gut fühlten.

2.5.2 Kohlberg

2.5.2.1 Die Stufen der Entwicklung des morali-schen Urteils.

Ein Beispiel: Da wir bisher die Niveaus desmoralischen Urteils nur sehr allgemein ange-sprochen haben, schauen wir uns diesezunächst etwas genauer an. Wir beginnenmit einer sehr konkreten Stufenbeschreibungund benutzen dafür zusammengefaßte Ant-worten zum «Joe-Dilemma», die sich im Aus-wertungsmanual von Colby und Kohlberg(1987b) finden (s. Tab. 4 nächste Seite).

495Die Entwicklung des moralischen Urteils

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Zunächst sehen wir wieder, daß es nurfünf Stufen sind, die empirisch definiert wer-den (die Stufe sechs würde das Hineinverset-zen in alle möglichen Standpunkte, bei glei-cher Achtung aller Positionen, bedeuten)16.Weiterhin wird deutlich, daß man sich aufallen Stufen dafür oder dagegen entscheidenkann, dem Vater das Geld zu geben. DieserAspekt der Auswertung bezieht sich auf denInhalt des moralischen Urteils, da in dem Di-lemma (aus Kohlbergs Sicht) die Werte Ver-trag/Versprechen und Autorität miteinanderkonfligieren. Die eigentlich relevante Struk-tur der moralischen Urteile bildet sich jedochin den Argumenten ab, mit denen diese Entschei-dungen begründet werden. Sie sind unterschied-lich komplex, und in dieser Komplexitätszu-nahme bildet sich die Entwicklung des mora-lischen Urteils ab. Auch wenn wir die Begrün-dungen hier extrem vereinfacht haben, istdoch evident, daß die Unterscheidung inStruktur und Inhalt moralischer Urteile zen-trale Bedeutung für die Theorie hat. Es istnicht nur ein Strukturkriterium notwendig,das theoretisch überzeugt, sondern es muß

zudem auch noch empirisch umsetzbar sein.Die nunmehr dreißigjährige Diskussion umeinen Strukturbegriff, aber auch die fortlau-fende empirische Überprüfung der Stufendurch die Daten des Längsschnitts (Kohlbergnannte diese wechselseitige Kontrolle vonTheorie und Empirie das «bootstrapping-Ver-fahren»17) führte (a) zu einer immer schärfe-

496 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

Tabelle 4: Stufen der (ontogenetischen) Entwicklung moralischer Urteile im Dilemma «Joe und sein Vater»

Stufe / Niveau Richtig ist

I. Vorkonventionelles Niveau

Stufe 1: Gehorsam, – dem Vater das Geld zu geben, weil er stärker ist;Strafe-Orientierung – dem Vater das Geld nicht zu geben, weil er gelogen hat.(Egozentrismus) Es ist schlecht, zu lügen;

Stufe 2: Instrumenteller Zweck – dem Vater das Geld zu geben, weil der Vater sonst viel für ihn tut;und Austausch – dem Vater das Geld nicht zu geben, weil(konkrete Andere) Joe für das Geld gearbeitet hat;

II. Konventionelles Niveau

Stufe 3: Interpersonelle – dem Vater das Geld zu geben, weil Joe den Vater liebt und er Anerkennung; Harmonie diese Beziehung aufrecht erhalten möchte;(Beziehungen) – dem Vater das Geld nicht zu geben, weil Joe sich sonst in der

Beziehung zum Vater ziemlich schlecht fühlen würde;

Stufe 4: Soziale Anerkennung – dem Vater das Geld zu geben, weil er vor ihm Respekt hat,und Systemerhaltung der Zusammenhalt der Familie erhalten werden muß;(Systemperspektive) – dem Vater das Geld nicht zu geben, weil der Vater keinen

Respekt vor dem Eigentum hat, das in unserer Gesellschaftsehr wichtig ist;

III Postkonventionelles Niveau

Stufe 5: Sozialverträge, – dem Vater das Geld zu geben, weil der Sohn so zu einer PersonNützlichkeit, individuelle Rechte mit verantwortlichen, autonomen Entscheidungen heranreifen(rationales Subjekt) wird;

– dem Vater das Geld nicht zu geben, weil Joe ein Individuum mit gleichen Rechten ist wie der Vater und er den gleichen Wertwie der Vater hat;

16 Habermas hat 1976 eine siebte Stufe formuliert, dieinsofern eine Kontextualisierung enthält, als sie aufeiner universellen Bedürfnisinterpretation basieren sollund statt der moralischen auch die politische Freiheitenthält. Abgesehen davon, daß dieser Gesichtspunktsicher nicht zu einer siebten Stufe führt, ist sie auchsang- und klanglos verschwunden. Allerdings hat auchKohlberg (1973) über eine Stufe 7 (theoretisch) speku-liert, die den Sinn des Lebens betraf und die eine kos-mische oder unendliche Perspektive repräsentierte.Diese Überlegungen mündeten später in die Analysevon religiösen Strukturen (s. Fußnote 11).17 Inwieweit dieser Wechsel von Empirie und Theorieein legitimes Vorgehen ist oder inwieweit sich darinzirkuläre Prozesse oder unangemessene «Rettungsver-suche» der Theorie zeigen, ist eine interessante Diskus-sion, die wir hier jedoch ebenfalls nicht verfolgen kön-nen (s. dazu Heidbrink, 1991; Lapsley & Serlin, 1983;Nicolayev & Phillips, 1979; Peltzer, 1986; Puka, 1979).

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ren Formulierung der Stufenkriterien, aberauch zu einer fortlaufenden Veränderung desManuals z.B. nach der Auswertung der erstenLängsschnittdaten durch Kohlberg und Kra-mer (1969).

2.5.2.2 Kohlbergs Stufenkonzeption

Während Kohlberg (1958) in seiner Disserta-tion noch vorsichtig von Typen moralischerUrteile sprach und sich mehr oder wenigerintensiv mit der Beziehung zwischen Real-und Idealtypen auseinandersetzte (S. 80f), hater, wie eingangs bereits erwähnt, PiagetsÄquilibrationsmodell, das Piaget im Bereichmathematisch-logischen und naturwissen-schaftlichen Denkens entwickelt hatte, zu-nehmend auf den Bereich der Moral übertra-gen und damit sein Stufenkonzept erheblichpräzisiert – insofern war er dort «piagetiani-scher» als Piaget selbst.

Dieses strenge Stufenkonzept hat drei wichti-ge Merkmale: (1) Die Stufen sind «strukturier-te Ganzheiten», sie bilden also eine einheitli-che Denkorganisation. Das bedeutet empirisch,daß die moralischen Urteile eines Probandenhinsichtlich verschiedener Dilemmata alleauf der gleichen Stufe gefällt werden müßten(interne Konsistenz). (2) Spätere Stufen tretennicht additiv zu früheren Stufen hinzu(wobei die früheren erhalten bleiben), son-dern die früheren Stufen werden in die späte-ren integriert oder transformiert. (3) Aus derAnnahme der Parallelität zu logischen Opera-tionen folgt weiterhin, daß die Stufenfolge em-pirisch universell auftritt, es keine Regressio-nen auf einmal überwundene Stufen gibt unddaß schließlich einzelne Stufen nicht über-sprungen werden können.

2.5.2.3 Struktur und Inhalt der Stufen

Theoretisch setzt diese Stufenkonzeption einstrenges Strukturkriterium und eine Klärungder Struktur-Inhalts-Beziehung voraus18.Kohlberg hatte sich bereits in seiner Disserta-tion nicht nur auf Piaget (1932), sondern

auch auf Mead (1934/1968) gestützt, so daßsich bereits dort die Rollenübernahmefähigkeitals eine wichtige Operation für das morali-sche Urteil andeutete. Explizit zum Stufenkri-terium wurde dieses Merkmal allerdings vorallem durch Selmans (1971, 1976) Arbeitenzu den Stufen der Rollenübernahmefähigkeit(und ihrer Beziehung zum moralischen Ur-teil). In diesen Arbeiten versuchte Selman,die Struktur der sozialen Perspektive formalerherauszuarbeiten; sie ist erst auf das Selbst be-schränkt (Stufe 1), bezieht dann den konkre-ten Anderen mit ein (Stufe 2), dann den«Standpunkt einer dritten Person» (also auchRelationen zwischen Perspektiven (Stufe 4))und endet schließlich im Denken ganzer so-zialer Systeme (Stufe 4). Da diese Perspekti-ven nicht nur beschreibend, sondern norma-tiv wertend benutzt werden, nennt Kohlbergsie die «sozio-moralische Perspektive» (Kohl-berg, 1976). Es ist selbstevident, daß dieserAnsatz ausgezeichnet zu der Gerechtigkeitsper-spektive allgemein paßt, die ja gerade in der«idealen Rollenübernahme» besteht, dieKohlbergs Moralverständnis zentral aus-macht. In seiner Theorie besteht das Morali-sche Urteil also (a) in einem Rollenübernahme-prozeß, der (b) auf jeder neuen Stufe eineneue «logische Struktur» aufweist, die zu denlogischen Stufen Piagets parallel verläuft(Kohlberg, 1973; Walker, 1984). Diese Struk-tur selbst ist am besten durch eine (c) Gerech-tigkeitsstruktur beschreibbar, die (d) zuneh-mend umfassender, differenzierter und äqui-librierter ist als die vorausgegangener Stufen(z. B. Kohlberg, 1969).

Vor allem in den achtziger Jahren hatKohlberg das Strukturkriterium der sozio-mo-ralischen Perspektive, die er zunehmend auchGerechtigkeitsperspektive nennt, durch die so-genannten Gerechtigkeitsoperationen Gleich-heit («equality»), Billigkeit («equity») und Re-ziprozität ergänzt, deren Wechselspiel zueiner Zunahme an Reversibilität und Balanceder Stufen führt. Auch wenn diese Strukturie-rung weder die Methode noch die empiri-schen Stufenbeschreibungen wirklich beein-flußt hat, soll in Tabelle 5 versucht werden, dieinnere Logik zwischen diesen Konzepten dar-zustellen. Sie ist aus den Stufenbeschreibun-gen konstruiert worden, die Kohlberg in einerArbeit mit Levine und Hewer vorbereitete

497Die Entwicklung des moralischen Urteils

18 Das Kriterium der Integration hat durchaus aucheine kritische Diskussion erfahren (Levine, 1979), aufdie wir nicht eingehen wollen.

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Sorgen um Koope-ration und Handlun-gen, die sozialeUnordnungvermeiden

System-perspektive

Gleichheit vor demGesetz. Personenhaben als Bürgergleiche Rechte und Pflichten (Was ist gut für die Mehrheit)

Ausnahmen wennsoziale Standardsindividuelle Umstände undBedürfnisse nichtgenügend berück-sichtigen. Wichtig:Das System mußdie Ausnahmen definieren

Verknüpfung von Individuum und Gesellschaft. Pflich-ten und Rechte gegenüber der Gesellschaft folgen aus der Möglichkeit, im System zu leben

Balance zwischen individuellen und sozialen Standards.Abweichungen sindmöglich, man mußaber bereit sein, individuelle Konse-quenzen zu tragen.

Beschränkung aufein System

Begrenzung vonabweichenden Handlungen durchuniversalisierbareAchtung vor dem Gesetz

= konkrete Regeln

Naiver moralischer Realismusegozentrisch

Gleichbehandlungaller Handlungs-klassen oder Typen.Ungleichbehand-lung wird begründetdurch Hierarchie von Typen

nicht vorhanden, da egozentrisch

Austausch von Gütern oder Hand-lungen ohnepsychologischeBewertung durchden Handelndenoder des Selbst«Gleiches mitGleichem»

Keine Berücksichti-gung von Umstän-den (endloser Zirkel von Rache)

Keine Ausnahme außer Autorität

Normen

Gerechtigkeits-perspektive

Gerechtigkeits-operationen1. Gleichheit(«equality»)

2. Billigkeit («equity»)

3. Reziprozität

4. Balance der Perspektive

1. Zunahme anReversibilität

2. Mangel

Universalisierbar-keit

498 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

Tabelle 5: Stufen des moralischen Urteils sensu Kohlberg (1985): Definition durch Inhalte (Normen) und Strukturen (Gerechtigkeitsoperationen) und deren zunehmende Äquilibration.

Stufen Heteronome Moral Individualistische Zwischen- Moral des Moral der Moral universalisier-(1) instrumentale persönliche sozialen Menschen- barer, reversibler

Moral (2) Moral (3) Systems (4) rechte und und präskriptiver all-der sozialen gemeiner ethischer

Kriterien Wohlfahrt (5) Prinzipien (6)Alter (modeal) 10 J. 13–14 J. 16–18 J. 30–36 J. Erwachsene (nicht empirisch)

Erwartungen konkreter anderer

Auch andere habenihre Bedürfnisse,die man verstehenkann

Bedürfnisse von S und A könnendurch eigene, fremde oder Austauschhand-lungen befriedigtwerden

Gleichheit und Reziprozität werdenkoordiniert: manberücksichtigt Bedürfnisse, aberkeine Ziele von A

Konkreter Austausch von Gefälligkeiten, jemand bekommtdas, was er verdient

Berücksichtigungvon Umständen:Bedürfnissen

Keine Koordinationvon Perspektiven /Bedürfnissen /Interessen

Begrenzung vonNormenabweichung(Abschreckungdurch Strafe)

geteilte Erwartun-gen von Personen in einer Beziehung(Zweck: Beziehungaufrecht erhalten)

Dritter Standpunkt

Personen mit gutenMotiven, die ihreRolle gut erfüllen

Man berücksichtigt«gute Motive»

Pflicht zu handelnentsteht aus Schuld(gefühl) /Loyalität gegenüberanderen (konkrete goldene Regel)

Friedliche Koexi-stenz, da ver-schiedene Hand-lungspartner inKonsens zu-stimmen können

Beschränkung auf gemeinsame guteMotive. Keine Möglichkeit ange-messen mit Geset-zen umzugehen

Begrenzung vonabweichenden Handlungen, die mit guten Inte-ressen kollidieren

Maximieren undSchützen individueller Rechte, Einigung

Die Menschheit,rationale Individuenin beliebigen Gesellschaften

Gleichheit der Menschen als fun-damentales Recht,abgeleitet aus demultimaten WertmenschlichenLebens und dermenschlichen Freiheit

Ausnahmen sindnötig, wenn sozialeStandards es nichtermöglichen, dieGrundrechte derMenschen zu realisieren

Reziprozität besteht aus freienÜbereinkünften (Vertragsidee)

Einnahme von Positionen jedes Individuums in einer konkretenSituation, unabhän-gig von sozialen Systemen und Regeln

Beschränkung aufeine Situation

Der Wert des menschlichen Lebens und der Freiheit ist universell.

Bewußte Prinzipiender Gleichheit,Billigkeit und Reziprozität

Moralischer Standpunkt

(Gleichheit rationaler Subjekte)

Keine Berücksichti-gung speziellerTalente, Verdiensteetc. Berücksichti-gung der / desjeni-gen, der / die diegeringsten Vorteilehat

Prozeß, wie Überein-künfte geschaffen werden

Ideale Rollenüber-nahme «moral musi-cal chair». IdealeKommunikationsge-meinschaft. Original-position unter dem«vail of ignorance».

kein Defizit

Universalisierung des Prozedere.

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499Die Entwicklung des moralischen Urteils

(Kohlberg et al., 1983) und die er in einer sei-ner letzten Arbeiten (Kohlberg, 1985) weiterausgebaut hat. Die Stufen sind hier in denSpalten angegeben19. Es ist interessant, daß ernun die Stufe 1 wieder die «heteronomeMoral» nennt. In der oberen Spalte werdenNormen benannt, die in den Stufen angespro-chen oder realisiert werden (hier zeigt sich,daß Kohlberg sich eher einer dialektischenAuffassung der Beziehung zwischen Strukturund Inhalt nähert, wie sie bereits von Piagetformuliert worden war, und nicht mehr diefrüher nahegelegte Unabhängigkeit vonStruktur und Inhalt meint). Dann folgt dieklassische Gerechtigkeitsperspektive, dieimmer noch den Kern der Stufen ausmacht.Sie ist zunächst egozentrisch (Stufe 1), dannberücksichtigt sie auch Andere und deren Be-dürfnisse (Stufe 2), es folgt der «Dritte-Person-Standpunkt» mit der Betonung von Bezie-hungen (Stufe 3) und die Systemperspektive(Stufe 4) mit der Orientierung auf den System-erhalt. Die Stufe 5 enthält die Perspektive ra-tionaler Individuen mit individuellen(Grund-)Rechten und einer Vertragsorientie-

rung, die schließlich in den «moralischenStandpunkt» («ideal roletaking») übergehtmit seiner Orientierung auf ethische Prinzipi-en (Stufe 6).

Diese Perspektive begrenzt nicht nur dieUniversalisierbarkeit (unterste Zeile), die aufden Stufen vorgenommen wird, sondern be-stimmt auch die Form, in der sich die Ge-rechtigkeitsoperationen in den einzelnen Stu-fen darstellen oder realisieren. Die Gleichheitist deshalb genauso stufenspezifisch wie dieBilligkeit. Auch die Reziprozität verändertsich über die Stufen hinweg, sie ist zunächstkonkret, dann auf Gefühle bezogen, dann aufRechte und Pflichten, dann aus symbolischenÄquivalenten für Objekte, und schließlich istsie in den Operationen der Stufe sechs verall-gemeinert realisiert.20

Auf der anderen Seite präzisiert Kohlbergaber auch die Inhalte der Stufen, indem erzwischen Werten (normative Inhaltskategori-en, die er eher induktiv aus den Dilemmadis-kussionen schöpft, die aber auch zentraleKonzepte der Philosophie repräsentieren;Colby und Kohlberg, 1987a) und Elementen(moralpsychologische Positionen, die er vorallem in Anschluß an Frankena, 1981, formu-lierte) unterscheidet. Die folgende Tabelle 6gibt einen Überblick über diese Inhalte.

Diese Inhaltsbestimmung ist deshalb sowichtig, weil sie ab Ende der siebziger Jahreein Kriterium auch für die Auswertung morali-scher Argumente ist.

2.5.2.4 Das Auswertungsverfahren

Die Auswertungsmethode Kohlbergs bestandzunächst, in der Dissertation, in sehr einfa-chen Inhaltsanalysen, sie wurde jedoch zu-nehmend systematisiert. Das gegenwärtig be-nutzte sogenannte standardisierte Auswerten(«Standard-Scoring») wird anhand eines Stan-dardauswertungsmanuals («Standard IssueScoring Manual», Colby et al., 1987b) durch-geführt, das durchaus Kochbuchcharakterhat. Dort findet man für jede Entscheidungs-richtung in jedem Dilemma für jede Stufemehrere sogenannte «Kriterienurteile» («cri-terion judgments»), also Beispiele für Ant-worten, die bestimmte Stufen repräsentierenund mit deren Hilfe man deshalb Äußerun-gen, die in einem Interview gemacht werden,

19 Die Altersangaben beziehen sich auf die Längs-schnittdaten (Colby et al, 1983).20 Besonders die Tatsache, daß auch in KohlbergsTheorie das Reziprozitätsprinzip eine wichtige Rollespielt, verdient im Grunde eine längere Diskussion,weil dieses Prinzip in anderen Theorien, insbesondereauch in der Soziobiologie (Alexander, 1987; Wilson,1980), eine tragende Bedeutung hat. Entsprechendweist auch Alexander (1987) auf die Ähnlichkeit vonKohlbergs Theorie mit der soziobiologischen Auffas-sung der Moral hin. Diese Autoren scheinen aber dieTransformation der Reziprozität in den verschiedenenStufen nicht verstanden zu haben, insofern stimmenwir Heidbrink (1991) zu, wenn er feststellt, daß Alex-anders Verzerrung der Theorie Kohlbergs geradezu gro-tesk ist, wenn dieser die Pavian- und Schimpansen-gruppen auf Kohlbergs Stufe 4 stellt und die Stufesechs als eine Stufe interpretiert, «... in der es der ein-zelne gelernt hat, selbst zu beurteilen, wie groß seinepersönlichen Kosten und sein Nutzen bei der Befol-gung und Anwendung der jeweils gültigen sozialenRegel ist» (Alexander, 1987, S. 477). Die bisherige Dis-kussion zeigt, daß dies bestenfalls ein Argument derStufe 2 wäre, die in Kohlbergs Theorie eine Kosten-Nutzen-Kalkulation am ehesten repräsentiert. Aller-dings befinden wir uns hier grundsätzlich auf einer an-deren Ebene, weil wir den Verhaltensweisen der Tiereresp. den «genetischen Kalkulationen» eine solche«Rechnung» bloß unterstellen. Andererseits steht eineAuseinandersetzung gerade mit einer soziobiologi-schen Perspektive eindeutig an (s. Kapitel I.1).

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einer Stufe zuordnen kann. Insgesamt hatdieses Manual einen beachtlichen Umfang(fast 1000 Seiten).21

2.5.2.5 Empirische Evidenzen für die Stufenan-nahmen

Auch wenn wir seit Reese und Overton(1970) wissen, daß Stufen in Entwicklungs-theorien weitgehend auf Modellannahmenberuhen, gibt es doch Möglichkeiten, dieFruchtbarkeit dieser Annahme zu prüfen.

a) Die Daten zur internen Konsistenz sind wi-dersprüchlich. Einerseits zeigen Ergebnisseder Längsschnittstudie Kohlbergs (Colby,Kohlberg, Gibbs & Lieberman, 1983), aberauch von Walker, de Vries und Trevethan(1987), Bush, Krebs und Carpendale (1993)

500 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

Tabelle 6: Inhalte (Werte und Elemente) in Kohlbergs Theorie

Werte1. Leben (a) Erhaltung, (b) Quantität / Qualität 7. Recht2. Eigentum 8. Vertrag3. Wahrheit 9. (Bürgerrechte)4. Bindung / Affiliation 10. (Religion)5. (Erotische Liebe und Sexualität) 11. Gewissen6. Autorität 12. Strafe

ElementeI Modale ElementeAufrechterhalten einer normativen Ordnung1. Personen oder einer Gottheit gehorchen (berücksichtigen). Sollte gehorchen und sollte Konsens erlangen (sollte

berücksichtigen, überzeugen).2. Tadeln (billigen). Sollte getadelt werden für etwas, mißbilligt werden (sollte gebilligt werden).3. Strafen, vergelten (freisprechen). Sollte vergelten (sollte freisprechen).4. Ein Recht haben (kein Recht haben).5. Eine Pflicht haben (keine Pflicht haben).

II Wertelemente«Egoistische» Konsequenzen

6. Guter Ruf (schlechter Ruf)7. Belohnung erstreben (Strafe vermeiden)

Utilitaristische Konsequenzen

8. Positive individuelle Konsequenzen (negative individuelle Konsequenzen)9. Positive Konsequenzen für die Gruppe (negative Konsequenzen für die Gruppe)

Konsequenzen, die dem Ideal oder der Harmonie zugute kommen

10. Den Charakter wahren (aufrechterhalten)11. Die Selbstachtung aufrechterhalten12. Dem sozialen Ideal oder der Harmonie dienen13. Der menschlichen Würde und Autonomie dienen

Fairneß

14. Perspektiven abwägen oder Rollen übernehmen15. Reziprozität oder positiver Verdienst16. Die Gleichheit aufrechterhalten17. Den Sozialvertrag oder freie Übereinkünfte aufrechterhalten.

21 Für das Verständnis eines «Kriterienurteils», unddamit eines Stufenwertes, müssen wir auf die inhaltli-chen Stufenbeschreibungen (Elemente und die Werte)wie auch auf die strukturellen Kriterien (Gerechtig-keitsperspektive) zurückgreifen. Wir hatten bereits ge-sagt, daß in jedem Dilemma zwei Werte konfligierenund daß man mit einer Entscheidungsrichtung einendieser Werte präferiert. In dieser Funktion nennt Kohl-berg die Werte «Issues». Zusätzlich benutzt man aberbei der Begründung einer Antwort wiederum inhaltli-che Kategorien. Hier bezieht sich Kohlberg auf die glei-chen Werte (s. Tab. 6), die er in dieser (methodischen)Funktion aber Normen nennt. Darüber hinaus beziehtman sich noch auf eines der Elemente. Und schließ-lich geschieht das ganze im Kontext einer Gerechtig-keitsperspektive. Ein Kriteriumsurteil ist also die Ver-knüpfung von Issue x Norm x Element im Kontext einerGerechtigkeitsstruktur. Diese Scores werden für alleStufen bestimmt, und auf ihrer Basis werden die Stu-fenwerte eines Probanden festgelegt. (s. im DetailColby & Kohlberg, 1987a).

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und Lei (1994), daß die interne Konsistenzder Stufen sehr hoch ist22, Burgard (1989). DeVries & Walker (1986), Eckensberger (1989)sowie Teo, Becker und Edelstein (1995) fan-den dagegen niedrige Konsistenzen. Dabeiversuchen Burgard (1989) und Eckensberger(1989), die Variabilität der Scores auf den Di-lemmatyp zurückzuführen, Teo et al. (1995)auf die «issues» (angesprochenen Werte). Esgilt also, in Zukunft zu prüfen, inwieweit Ab-weichungen von Stufenkonsistenzen im ein-zelnen Subjekt systematisch sind.

b) Die These der Stufeninvarianz hat inso-fern eine interessante Geschichte, als die ersteLängsschnittstudie (Kohlberg & Kramer,1969) gerade diese Erwartung falsifizierte.Ohne hier auf die z. T. komplizierte Diskussi-on einzugehen (s. dazu Gibbs, 1977), hattendiese Regressionen vier Folgen. (1) Kohlbergunterschied seither stärker in harte strukturel-le und weiche funktionale Stufen (letzterehaben einen höheren Anteil an psychodyna-mischen Prozessen). Er nahm in diesem Zu-sammenhang an, daß einige der Regressionen(der Kramer-Studie) durch die «College-At-mosphäre» zustande kamen und funktionaleAnpassungen und damit keine echten strukturel-len Regressionen waren. (2) Besonders höhereStufen (5 und 6 ) bekamen einen anderenStatus. Stufe sechs wurde nicht mehr ausge-wertet, sondern repräsentierte eine philoso-

phische Position. (3) Unter anderem trug dieStudie von Kohlberg und Kramer (1969) zurFormulierung einer Stufe 41/2 bei. Diese Stufehat in Kohlbergs Theorie nach wie vor einenSonderstatus (Colby et al., 1983). Sie reprä-sentiert einerseits eine Ablehnung einer Ge-sellschaftsperspektive (Stufe 4), andererseitseine sehr individualistische Perspektive (derWahlfreiheit). Diese Struktur hatte ursprüng-lich zur Annahme einer Regression höherstu-figer Argumente auf die Stufe 2 beigetragen.Da sie aber offensichtlich eine Systemper-spektive enthielt, aber noch nicht den Ver-tragsgedanken der Stufe 5, wurde sie als Zwi-schenstufe (41/2) umschrieben, sie behieltauch später diesen etwas unklaren Statuseiner besonderen Stufe, die nicht als Zwi-schenstufe verstanden wurde (vgl. Colby etal, 1983). (4) Eckensberger (1984, 1986) hatanhand von Kohlbergs Publikationen nach-gewiesen, daß die Stufenwerte zunehmend«schwieriger» wurden; die gleiche Längs-schnittstichprobe, die früher (Kohlberg, 1958,1964, 1969), aber auch noch 1971, bei den16jährigen Stufen 5 und 6 enthielten, lagenbei Kohlberg et al. 1983 nur noch zu ca. 10 %auf der Stufe vier, die Stufen fünf und sechswurden gar nicht mehr vergeben. Kohlbergpaßte seine Methode der Theorie an23. Er warsich dessen allerdings bewußt. Seit es jedochdas letzte Standardauswertungsverfahren gibt(Colby & Kohlberg, 1987a, b), das spätestensseit 1978 auf dem «grauen Markt» existierteund benutzt wurde, sind Stufenregressionentatsächlich nicht mehr bestimmbar. Auch imKulturvergleich treten sie so selten auf, daßsie innerhalb des Meßfehlers (Reliabilität) desVerfahrens liegen (Snarey, 1985).

c) Die These der Universalität: In der Zwi-schenzeit gibt es aus praktisch jeder Regionder Welt Untersuchungen zu KohlbergsTheorie (Edwards, 1981, 1985; Eckensberger,1993a, 1994; Eckensberger & Zimba, 1997;Snarey, 1985; Snarey & Keljo, 1991). DieHaupttrends lassen sich wie folgt zusammen-fassen: (1) Relativ selten ist die Stufe 5, aberauch Stufe 1 nachgewiesen. Die Stufe 4 hatin gewissem Sinn eine Reinterpretation erfah-ren (Edwards, 1975), im klassischen Sinn derVerwirklichung eines elaborierten Gesell-schaftsbegriffes tritt sie auch relativ selten

501Die Entwicklung des moralischen Urteils

22 Die Daten Kohlbergs wurden z. T. mit Interkorrela-tionen («Cronbachs Alpha») und Faktorenanalysenmit dem Ergebnis eines starken g-Faktors ausgewertet.Das halten wir jedoch für keine angemessene Überprü-fung, da trotz hoher Interkorrelationen zwischen denDilemmata Mittelwertunterschiede zwischen diesen,um die es eigentlich geht, nicht ausgeschlossen wer-den. Die ipsativen Streuungen sind da ein angemesse-neres Kriterium. So lagen 68% (Form A), 72% (Form B)und 69% (Form C) der Interviews auf der gleichenoder einer benachbarten Stufe. Ließ man zwei benach-barte Stufen zu, so waren es 98% (Form A), 97% (FormB), 99% (Form C). Da gleichzeitig allerdings die Wahr-scheinlichkeit, höhere Stufen zu bekommen, immerschwieriger wurde, weil das Auswertungsmanual ent-sprechend geändert wurde (Eckensberger, 1986), kannman darüber streiten, ob die Streuung von insgesamt 3Stufen bei praktisch vier empirisch ausgenutzten Stu-fen (auch die Stufe 5 ist extrem selten in dieser Stich-probe) ein überzeugendes Maß für Konsistenz ist.23 Siehe «bootstrapping» und Fußnote 9.

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auf. Von einem einfachen «westlichen bias»,den man der gesamten Theorie wegen ihrerHerkunft in der westlichen Philosophie nach-gesagt hat (vgl. Simpson, 1974), kann man soeinfach nicht sprechen, weil hohe Stufenauch in nicht-westlichen Kulturen auftreten(im Kibbuz in Israel; in Indien und Taiwan).Das Auftreten höherer Stufen hängt eher mitder «kulturellen Komplexität» zusammen24.Auf der anderen Seite ist allerdings fraglich,inwieweit nicht zusätzlich andere Ethiksyste-me, insbesondere die Beziehung zur Religion(Hinduismus: Vasudev, 1986; Buddhismus:Huebner & Garrod, 1991; Konfuzionismus:Ma, 1988), zum Ausgangspunkt der Bestim-mung höherer Stufen benutzt werden müs-sen, um mehr über die Universalität der Stu-fen zu erfahren.

2.5.2.6 A/B-Unterstufen

Nachdem wir etwas mehr über die Inhalte(Normen und Elemente) der Theorie wissen,kommen wir zu einem letzten schwierigen,aber theoretisch wie praktisch interessantenKonzept in Kohlbergs Theorie: die A/B-Unter-stufen. Wir haben ihre Herkunft früher schoneinmal zu rekonstruieren versucht (Eckens-berger, 1984, 1986; Eckensberger & Reinsha-gen, 1980). In gewissem Sinn nähert sichKohlberg, wie wir sehen werden, auch mit

diesem Konzept wieder Piagets Verständnisder Entwicklung moralischer Urteile an. Prak-tisch sind diese Unterstufen bedeutsam, weilsie ganz offenbar für die Verhaltensvorhersa-ge eine gewisse Rolle spielen (s. u.), theore-tisch handelt Kohlberg sich damit allerdingsnach unserer Auffassung erhebliche Unklar-heiten ein (s. auch Gielen, 1991). Vereinfachtgesagt sind die A-Unterstufen weniger reife,die B-Unterstufen reifere Versionen einerStufe. Die Entwicklungssequenz, die Kohlbergzuletzt auf der Grundlage seiner Längs-schnittdaten beschrieb, ist, daß man im Prin-zip alle Hauptstufen in einer A- oder B-Vari-ante durchlaufen kann, daß man nie von Bnach A wechselt, wohl aber von A nach B.Die spätere Operationalisierung25 (vgl. Kohl-berg et al., 1983) anhand Piagetscher undKantscher Kriterien für die Unterstufe B ist inTabelle 7 dargestellt.

502 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

24 Wir kommen auf Anregungsbedingungen für dieEntwicklung moralischer Urteile allerdings noch ge-sondert zurück.25 Früher hatte Kohlberg die A-Unterstufen durch dieElemente eins bis neun, die B-Unterstufen durch dieElemente zehn bis 17 operationalisiert. Sie ließen sichdeshalb mit Hilfe des Manuals bestimmen. Das istheute nicht mehr möglich.

Tabelle 7: A-/B-Unterstufen (Kriterien für B-Unterstufen)

I. KANTsche Kriterien:

1. Entscheidung: (deontische Wahl) Empirisch – wie Stufe 5*2. Hierarchisierung: Person als Ziel, nicht als Mittel zu verstehen3. Selbstzwecklichkeit: Achtung der Person4. Präskriptivismus: Moralisches «Sollen» (ought)5. a. Universalismus: Die einzelne Handlung wird einem allgemeinen Gesetz unterworfen.

(Du sollst so und so handeln gegenüber allen Menschen.)5b. Verallgemeinerungsfähigkeit: Alle Handelnden werden dem Gesetz unterworfen.

(Alle sollen so und so handeln in der Situation x.)

II. PIAGETsche Kriterien:

6. Autonomie: Der Handelnde kann (muß) entscheiden7. Gegenseitige Achtung8. Reversibilität: Berücksichtigung aller Standpunkte9. Konstruktivismus: Moralische Kategorien sind konstruiert

* empirisch wird auf der Stufe 5 eine Entscheidungsrichtung präferiert, auch wenn die andere nicht völlig ausgeschlos-sen ist. Beispiel: Heinz sollte einbrechen, Joe sollte seinem Vater das Geld verweigern etc. Diese Entscheidungsrich-tung, die auf der Stufe 5 durch Rückgriff auf grundlegende Rechte begründet wird, wird ja auch auf unteren Stufen (intuitiv) – wenn auch mit schwächeren Argumenten – gewählt. Dies gilt z.B. als Hinweis auf eine Unterstufe B.

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Treffen diese Merkmale überwiegend zu,handelt es sich um eine Unterstufe B, treffensie nicht zu, liegt eine Unterstufe A vor. DieProblematik dieser Unterscheidung liegt u.E.jedoch darin, daß das Zutreffen dieser Kriteri-en eigentlich die Stufe sechs operationalisiert,daß diese Kriterien jedenfalls aus analyti-schen Gründen auf keinen Fall in größererZahl auf den unteren Stufen auftreten kön-nen. Diese völlig unklare (theoretische) Bezie-hung zwischen Haupt- und Unterstufen zeig-te sich bereits in der ersten Version ihrer Ope-rationalisierung über die Elemente (s. Fußno-te 23). Eckensberger (1986) hat gezeigt, daßdie A-Elemente im Manual systematisch indie Stufen eins bis fünf fallen und daß in glei-chem Maß die B-Elemente ansteigen. DieA/B-Unterstufen repräsentieren also im Grun-de einen zweiten Entwicklungspfad von einerHeteronomie zu einer Autonomie, der aber zudem ersten (der sozio-moralischen Perspekti-ve) in völlig ungeklärtem Verhältnis steht,

2.5.2.7 Moralisches Urteilen und Handeln

Dieser Bereich, der aus der Sicht der Theoriekeineswegs im Zentrum steht (Kohlberg hatja mit der Überzeugung begonnen, daß derZugang zur Moral über das Verhalten wedertheoretisch möglich noch empirisch frucht-bar ist), gilt allerdings innerhalb der Psycho-logie (wenn auch weitgehend unreflektiert)geradezu als Lakmuspapier für eine Theorie.Dieses Thema wurde von Piaget, wie wir gese-hen haben, eher unter systematischen Ge-sichtspunkten der zeitlichen Verschiebungvon Handeln, praktischen und theoretischenUrteilen diskutiert. Es wurde jedoch auch vonKohlberg in den achtziger Jahren verstärktaufgegriffen. Seine Ergebnisse können sich si-cher mit den Verhaltensvorhersagen etwa ausdem Bereich der Einstellungsforschung mes-sen, allerdings geht man in diesem Bereichvon unterschiedlichen «Prädiktoren» aus. Diewohl umfangreichste Zusammenstellung vonStudien (die allerdings nicht alle im Theorie-rahmen von Kohlberg durchgeführt wurden)stammt von Blasi (1980). Nach dieser Zusam-menstellung stützen die meisten Untersu-chungen einen Zusammenhang zwischenmoralischem Denken und Ehrlichkeit sowieHilfehandlungen und Widerstand gegen Konfor-

mität (Gehorsam), letzteres war jedoch wider-sprüchlich. Nach Analysen mehrerer Unter-suchungen durch Kohlberg und Candee(1984) und Reanalysen einer älteren Studievon Haan, Smith und Block (1968) mit demneuen Auswertungsmanual durch Candeeund Kohlberg (1987) schlagen sie folgendesSchema zum Zusammenhang zwischen Urtei-len und Handeln vor: (1) In einem erstenSchritt wird die Situation vor der Folie desmoralischen Urteils (sozio-moralische Per-spektive) interpretiert; (2) die Entscheidung(etwas zu tun oder zu unterlassen, a oder b zutun) wird getroffen; (3) ein Verantwortlich-keits- oder Verpflichtungsurteil, das sich aufdie eigene Person bezieht, wird aktiviert.Schließlich spielen noch nicht-moralischeAspekte eine Rolle (Ich-Kontrollen, Intelli-genz, Aufmerksamkeit etc.). Ein ähnlichesModell hat Rest (1979) vorgeschlagen. We-sentlich sind in diesem Zusammenhang dieA-/B-Unterstufen oder – allgemeiner – eineautonome Orientierung, die nach den empi-rischen Daten sowohl die Entscheidung alsauch das Verantwortungsurteil beeinflußt.Generell scheint zu gelten, daß Probandenauf höheren Stufen ein bestimmtes Verhaltennicht nur für richtig halten, sondern auchdas tun, was sie für richtig halten. Nach unse-rem Eindruck (vor allem der Diskussion beiKohlberg & Candee, 1984) sollte man bei denAnalysen dieser Daten jedoch weniger nachErgebnissen fahnden wie «je höher die Stufe,desto wahrscheinlicher ein Verhalten x», viel-mehr sollte man stärker auf spezifische Situa-tionsdeutungen und die Verknüpfung mitspeziellen Stufen achten (etwa Hilfehandlun-gen innerhalb oder außerhalb der Familie fürStufe-3-Probanden etc.).

2.5.2.8 Anregungsbedingungen

Zuletzt sollen die Entwicklungsvoraussetzun-gen für das moralische Urteil kurz angespro-chen werden. Auch hier wird deutlich, wiesehr die Forschungsfragen von dem zugrun-deliegenden Moralbegriff abhängen. Wäh-rend sich bei Piaget die Suche nach Anre-gungsbedingungen aus der Idee der Art derKooperation ergab, geschieht dies bei Kohlbergauf der Basis des Konzeptes der Rollenübernah-me. Er stellte ganz generell die These auf, daß

503Die Entwicklung des moralischen Urteils

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die Gelegenheit zur Übernahme unterschiedli-cher Positionen26 eine wichtige Vorausset-zung für die Entwicklung des moralischenUrteils sei. Diese Möglichkeit kann man aufverschiedenen strukturellen Ebenen wie auchhinsichtlich verschiedener Aspekte, inklusiveder affektiven, untersuchen. Ganz generellzeigt sich z. B. im Kulturvergleich (Eckens-berger & Zimba, 1997), daß – abgesehen vomBildungsniveau, der Urbanisierung, der Religio-sität, Modernisierung und dem sozialen Status(als globale Anregungsbedingungen) – vorallem die kulturelle Komplexität (weitgehendder Grad ihrer Industrialisierung) mit demNiveau des moralischen Urteils korrespon-diert (insbesondere eine Voraussetzung fürdie Stufen 4 und 5 bildet), ebenso wie z. B.die Berufsausübung und die Bildung vor allemeinen Übergang zur Stufe 4 ermöglicht,während «face-to-face societies» (kleinereStammesgruppen), aber auch sehr familieno-rientierte Kulturen, weitgehend mit der Stufe3 «zurechtkommen» (Setiono, 1994). Ebensosind Erfahrungen außerhalb der Familie (Be-such von heterogenen Schulen) fördernd –Ergebnisse, die mit der These der Gelegenheitzur Rollenübernahme durchaus kompatibelsind. Auf der feinkörnigsten psychologischenEbene der interindividuellen Interaktionenhat Lempert (1988) die wohl sorgfältigste Zu-sammenstellung von Änderungsbedingungenin der Literatur vorgelegt (vgl. Tab. 8).

Die Tabelle ist in stufenunspezifische undniveauspezifische Anregungs- und Hemmbe-dingungen für den Übergang vom präkon-ventionellen zum konventionellen und vomkonventionellen zum postkonventionellenmoralischen Urteilsniveau unterteilt. Wieman unschwer erkennt, passen die Befundeausgezeichnet zu den Annahmen Kohlbergs,obgleich sich auch hier die wichtige Bedeu-tung affektiver Voraussetzungsbedingungenzeigt, auf deren Bedeutung Piaget ja sehrwohl insistiert hat.

2.6 Eine handlungstheoretischeRekonstruktion der Theorie der Entwicklung moralischer Urteile

Eigentlich war es vor allem unser allgemeineskulturvergleichendes Interesse, das eine frühekritische Auseinandersetzung mit KohlbergsTheorie provozierte. In der kulturvergleichen-den Forschung zeigt sich nämlich besonders

504 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

26 Dies ist im Grunde ja auch die Idee, die in derPädagogik der Moralentwicklung benutzt wird, wennz. B. Dilemmata von verschiedenen Positionen ausdiskutiert werden. Diesen Aspekt haben wir hier ver-nachlässigt (s. dazu den ausgezeichneten Überblickbei Oser & Althof, 1992).

Tabelle 8: Anregungs- und Hemmbedingungen für eine «Höherentwicklung» moralischer Kategorien

Stufenunspezifische Bedingungen

AnregungsbedingungenGelegenheiten zur Rollenübernahme; Partizipation an kooperativen Entscheidungen; Einnahme von Positionen mitVerantwortung; offene Konfrontation mit sozialen Problemen

HemmbedingungenVerdrängung/Verleugnung von Widersprüchen; standardisierte, machtorientierte, mechanische Kommunikation.

Übergangsbedingungen präkonventionell ⇒ konventionell

AnregungsbedingungenStabile emotionale Akzeptanz durch die Eltern; sozialeWertschätzung durch (Autoritäten) Lehrer und Gleichaltrige;Erfahrungen von Handlungskonsequenzen für andere;

HemmbedingungenInkonsistente Autoritäten; ungerechtfertigte Gehor-samsforderungen; instrumenteller Mißbrauch vonMacht, Erfahrung von Machtausübung und Liebesentzug

Übergangsbedingungen konventionell ⇒ postkonventionell

AnregungsbedingungenKonfrontation mit sich widersprechenden Rollen / Normen; Erfahrung mit Verantwortung /Partizipation; Selbständigkeit

HemmbedingungenKonfrontation mit diffusen sozialen Strukturen oder völlig unverträglichen Standards; Fehlen jeder Verantwortung;

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eindrücklich, welche immense Bedeutung dieWahl des Strukturkriteriums für die morali-schen Urteile hat, denn dort spitzt sich ja dieAnnahme einer universellen moralischenStruktur und möglicher kultureller Variatio-nen der Inhalte besonders zu. In den siebzigerJahren zeichnete sich zudem bereits ab (Ed-wards, 1975), daß nicht nur die Stufe 5 in vie-len Kulturen nicht auftritt, sondern bereitsdie Stufe 4 in traditionellen Kulturen («face-to-face societies») oft nicht erreicht wird, dieStufe 3 aber offenbar als regulative Idee (s.o.)bereits ausreicht. Eine beeindruckende Zahlkulturvergleichender Untersuchungen hatdies inzwischen belegt. Ähnlich wie späterSnarey und Keljo (1991) in Anlehnung anden Soziologen Toennies (1887/1957) eineGemeinschaftsperspektive von einer Gesell-schaftsperspektive unterschieden, spekulier-ten wir, daß nicht jeweils zwei Stufen derKohlberg-Theorie zu insgesamt drei Niveauszusammengefaßt werden sollten, sonderndaß besonders zwischen der dritten und vier-ten Stufe eine völlig neue Interpretation derRealität enthalten ist (die Stufe 4 scheintübrigens auch mit höheren formal-logischenkognitiven Leistungen einherzugehen (vgl.Kohlberg, 1973).

Ähnlich wie Lenk (1978) von Handlungenals Interpretationskonstrukten spricht (s. o.),schlugen wir – in der Diskussion um die Frageder Bereichsspezifität kognitiver Prozesse –

vor (Eckensberger, 1977), eine Kognitiondann als «soziale Kognition» (Rekonstruktioneiner anderen Person) zu bezeichnen, wennsie auf finalen oder intentionalen (also hand-lungskonstituierenden) Deutungen basiert.

Eine solche Perspektive einzunehmenliegt, nach allem was wir einleitend zur Moralgesagt haben, vor allem für die Strukturie-rung moralischer Urteile besonders nahe,denn bei diesen handelt es sich ja vor allemum die Vermeidung oder Lösung zwi-schenmenschlicher Konflikte zwischenHandlungselementen oder ganzen Handlun-gen (Zielkonflikte, Abwägung von Hand-lungsfolgen etc.). Insofern bot es sich an,nicht die allgemeine soziale Perspektive alsStrukturkriterium zu benutzen, wie Kohlbergdas tat, sondern die spezifischeren Hand-lungsstrukturen (Ziele, Mittel, Ergebnisse,Konsequenzen, Folgen) zu verwenden, die ineinem Urteil angesprochen werden. DiesesStrukturkriterium haben wir zunächst aufKohlbergs Material (Dilemmata und Auswer-tungsmanuale; Eckensberger & Reinshagen,1978, 1980) und dann auf eigene Daten(Eckensberger & Burgard, 1986; Eckensberger,1984, 1986) angewendet. Einen ähnlichenAnsatz wählten M. Keller und Reuss (1984).Zusätzlich haben wir allerdings einen etwasanderen methodischen Zugang zur Untersu-chung moralischer Urteile als Kohlberg ge-wählt27. Diese Arbeiten führten nicht nur zueiner Verfeinerung von Zahl und Art der Stu-fen moralischer Urteile, sondern auch zueiner anderen inneren Gliederung der Stufen,die nun in der Tat manche Unstimmigkeitenin der Theorie Kohlbergs aufzufangenscheint.

Nach diesen Untersuchungen zeigt sich:Moralische Urteile lassen sich tatsächlichstrukturell zunächst hinsichtlich der Art undKomplexität des in ihnen enthaltenen deskripti-ven Handlungsbegriffs rekonstruieren: Werdenvom Probanden Ziele rekonstruiert? Wieweitwird die Äquifinalität von Handlungsmittelnerkannt? Werden Handlungsergebnisse undFolgen unterschieden? Wird ein Unterschiedzwischen intendierten und nicht-intendier-ten Folgen gemacht? usw.. Zudem beziehensich moralische Urteile aber auf Konflikte zwi-schen Handlungen. Insofern lassen sie sichstrukturell zusätzlich durch die in ihnen ent-

505Die Entwicklung des moralischen Urteils

27 Wir benutzen statt vollständiger Dilemmata einensogenannten Dilemmakern, der nur eine Zielvorstel-lung (Heinz möchte ein Medikament), eine Barriere(der Apotheker verweigert es ihm) und eine Entschei-dung (was soll er tun) enthält. Der Proband kann aufdieser Basis natürlich kein vernünftiges moralischesUrteil fällen, wir bitten ihn deshalb nachzufragen, waser von der Geschichte noch wissen will. Wenn er dannfragt (z. B. wozu braucht Heinz das Medikament) be-kommt er nicht die Antwort »seine Frau ist Krebs-krank», sondern er wird zunächst gefragt, wozu er daswissen wolle. Auf diese Weise konstruiert sich der Pro-band nicht nur selbst das gesamte Scenario, sondern ertut das unter laufender Verwendung von Unterschei-dungen, die er wichtig findet. Sein moralisches Urteilwerten wir direkt mit Handlungsstrukturen aus, als«Stufe» erhält der Proband den höchsten erreichtenWert (beste Kompetenzschätzung).

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haltenen, (ebenfalls deskriptiven) Konfliktloka-lisierungen näher bestimmen: Handelt es sichin einem moralischen Urteil um einen Ziel-konflikt, oder konfligieren die möglichenHandlungsfolgen miteinander? Entsteht derKonflikt vor allem durch die Wahl/Einschrän-kung von Handlungsmitteln? Schließlich be-kommen diese Urteile jedoch ihre eigentlichemoralische Dimension durch die Verwendungeines präskriptiven Standards, mit dessen Hilfedie Konfliktlösung vorgenommen oder be-wertet wird. Diese Standards haben bei ver-schiedenen Urteilen unterschiedliche Gel-tungsbereiche. Als «Minimalstandard» (dergleichzeitig konstitutiv ist für den Bereich derMoral) kann die Berücksichtigung konfligie-render (meist fremder) Interessen gelten; dengrößten Geltungsanspruch findet man dage-gen in der Universalisierung moralischerPrinzipien. Insofern bestimmen wir im Un-terschied zu Kohlberg moralische Urteiledurch drei Merkmale, zwei deskriptive undein normativ-präskriptives.

Auf der Grundlage der genannten Analy-sen unterscheiden wir heute insgesamt elf Be-gründungstypen (Stufen), die wir alle als ei-genständige Strukturen auffassen.

In Abbildung 1 sind diese Stufen in ihrer in-neren Ordnung und bezüglich der drei ge-nannten Parameter (Art und Struktur desHandlungsbegriffs; Konfliktlokalisierung undStandard) zwar immer noch grob, aber fürunseren Zweck hinreichend differenziert ver-anschaulicht. Zudem ist in der Abbildungdurch sehr knappe Begriffe markiert, daß dieKonflikte auf den verschiedenen Stufenzunächst einen immer komplexeren und zuneh-mend integrierteren Handlungsbegriff enthalten.

a) Art und Komplexität des verwendetenHandlungsbegriffs:

Ontogenetisch wird Handeln zunächst alsindividuelles Handeln rekonstruiert. Es wirdzu Beginn (Stufe 1) als Verhalten (äußeresTun) aufgefaßt, dann als Handeln im eigentli-chen Sinn, weil es auf Intentionen eines Han-delnden bezogen wird (Stufe 2). Dann wirddie Vielfalt von Handlungsinteressen undderen Koordination erkannt und thematisiert(Stufe 3). Im nächsten Schritt wird Handelnvor allem im Hinblick auf die Folgen inter-pretiert (Stufe 4). Erst daraufhin wird Handeln

als interpersonales Handeln im eigentlichenWortsinn (Stufe 5) verstanden. Von nun anwird der Handlungsbegriff «sozialisiert»: Han-deln wird zunächst gruppenbezogen (Stufe 6),dann institutionsbezogen (Stufen 7 und 8),schließlich gesellschaftsbezogen (Stufe 9) re-konstruiert. Endlich wird der Handlungsbe-griff abstrahiert: Handeln wird als (dekontex-tualisiertes, idealtypisches oder hypotheti-sches) autonomes Handeln verstanden, daszunächst als objektivierbar gilt (Stufe 10) undschließlich formal (Stufe 11) ist.

b) Interpretation und Lokalisierung des Kon-fliktes:

Diese je unterschiedlichen Handlungsbe-griffe verweisen auf (sind Voraussetzung füroder Folge von) unterschiedliche(n) Konflikt-lokalisierungen innerhalb der Stufen. Ent-sprechend der Entwicklungslinie, die in denHandlungsbegriffen enthalten ist, werdenauch die Konflikte zunächst zwischen äuße-ren Handlungsregeln und äußerem Tun (Ver-halten) lokalisiert (Stufe 1), dann zwischen In-tentionen und äußeren Regeln (Stufe 2), wei-terhin zwischen den Intentionen und denMittelbeschränkungen im Dilemma (Stufe 3),zwischen den sich (logisch) ausschließendenFolgen der alternativen Handlungen im Di-lemma (Stufe 4) und schließlich zwischenganzen Handlungsentwürfen (Stufe 5). Dannwird auch die Konfliktlokalisierung nichtmehr zwischen konkret Handelnden, son-dern zwischen Handlungen und Normen(unterschiedlicher Art und unterschiedlichenNiveaus) gesehen (Stufen 6, 7, 8); schließlichwerden die Konflikte zwischen Werten undNormen (verallgemeinerten Bewertungenvon Handlungen/Handlungsergebnissen)selbst festgemacht (Stufen 10, 11).

c) Moralische Standards: Diese bestehen zunächst in einer einseiti-

gen Achtung rigider, äußerlicher Regeln undder Vermeidung von Sanktionen (Stufe 1), dieals Hinweis für eine moralische Bewertungeines Verhaltens verstanden werden. Diesewird dann transformiert in eine reflektierteeinseitige Achtung (Stufe 2), die ihrerseits ineine gegenseitige Beachtung der Konfliktpartnerund ihrer Ziele mündet (Stufe 3). Später wirdversucht, einen Standard aus der Objektivie-

506 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

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507Die Entwicklung des moralischen Urteils

Abbildung 1: Handlungstheoretische Rekonstruktion und Weiterentwicklung der Stufentheorie der Entwicklungmoralischer Urteile sensu Kohlberg (nach Eckensberger, 1986)

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rung von Interessen und der Abwägung vonHandlungsfolgen zu entwickeln (Stufe 4), einVersuch, der schließlich zum Standard der ge-genseitigen Achtung führt (Stufe 5). Von da anwerden auch die Standards transpersonalisiert.Sie bestehen zunächst in der Anerkennung ver-schiedener Normen und Werte (Stufe 6) sowieformaler Gesetze unterschiedlicher Komple-xität (Stufen 7, 8) – in Stufe 8 wird von Geset-zen gefordert, daß sie auch Ausnahmen ent-halten. Dieser Prozeß verläuft dann weiterüber die Gewissensentscheidung (Stufe 9) unddie Hierarchisierung von Werten (Stufe 10) bishin zur Formulierung eines Prinzips rationalerÜbereinkünfte (Stufe 11).

Diese eng miteinander verflochtenenstrukturellen Charakteristika verknüpfen wirim Unterschied zu Kohlberg explizit durchdas Konzept der «abstrahierenden Reflexion»(Piaget, 1977), das wir bereits in Kapitel I.1erläutert haben, so daß im Prinzip die gleicheArgumentation zunächst Struktur (operativ)dann Inhalt (der Reflexion) ist. Die Abbil-dung veranschaulicht die Charakteristika dereinzelnen Stufen (liegende Rechtecke), diestufenspezifischen Anregungsbedingungen(liegende Ovale), die zu kognitiven Konflik-ten (Defiziten) führen (aufsteigende Pfeile),die dann eine Reflexion des jeweils vorausge-gangenen Standards provozieren (abwärts ge-richtete Pfeile).

Zudem veranschaulicht Abbildung 10 dieAnnahme, die wir bereits Ende der siebzigerJahre formuliert hatten. Die Entwicklung desMoralischen Urteils scheint als Ordnungsprin-zip eher einer Spirale (oder einer Pendelbewe-gung) zu folgen als einem linearen Trend(Eckensberger & Reinshagen, 1980), vorallem aber wird deutlich, daß die Zuordnungder Stufen zu psychologisch gehaltvollen Ni-veaus eine andere ist, als die bei Kohlberg ge-wählte.

Während Kohlberg drei Niveaus morali-scher Urteile (mit je zwei Stufen) unterschei-det, ordnen wir die 11 unterscheidbaren Stu-fen vier Niveaus zu: Wir postulieren, daß sichdie zur Lösung benutzten Standards offenbarontogenetisch ganz im Sinne der Terminolo-gie Piagets (1932) von einem heteronomen zueinem autonomen moralischen Urteil verän-dern, da sie nicht nur zunehmend verallge-meinert werden, sondern gleichzeitig auch

zunehmend auf eine gegenseitige Achtung(Berücksichtigung aller Handlungselementein den konfligierenden Handlungen) hinsteu-ern. Diese «Bewegung» in der Rekonstruktionsozialer Wirklichkeit geschieht jedoch zwei-mal, nämlich bezüglich zweier «sozialer Deu-tungsräume»: Zunächst werden die Konfliktein einem «personalen» oder auch «interperso-nalen» Raum rekonstruiert, in dem konkreteIndividuen interagieren, dann in einem«transpersonalen Raum», in dem «Funktio-nen» und/oder «Rollen» miteinander in Be-ziehung gesetzt werden (dem sozialen Sy-stem).28 Diese Sicht trennt allerdings die beiKohlberg auf der Stufe 3 vermischten hetero-nomen (traditionale Moral der «nice boy,good girl»-Orientierungen oder Erwartungendurch die Gruppe) und autonomen (Gegen-seitigkeit) Anteile konkreter zwi-schenmenschlicher Beziehungen und ver-deutlicht damit gleichzeitig, daß es auch iminterpersonalen Raum eine «ausbalancierte»gegenseitige Achtung gibt. Diese Interpretati-on hilft vor allem die Daten aus dem Kultur-vergleich («face to face societies», s.o.) zu ver-stehen, sie repräsentieren tatsächlich einereife Moral, nur wird diese in einem einfache-ren sozialen System verortet. Dadurch entste-hen insgesamt vier Niveaus mit jeweils zweiStufen, die durch Übergangsstufen verbun-den sind.

I. Das (inter-)personal-heteronome Niveau(Stufen 1, 2) besteht in einer mehr oder weni-ger rigiden Betonung einseitiger Achtung vorHandlungsregeln oder im Versuch, es mög-lichst allen recht zu machen. Übergang: Stufe3.

II. Das (inter-)personal-autonome Niveau(Stufen 4, 5) repräsentiert Folgenabwägungenfür konkrete Interessengruppen oder überge-

508 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

28 Oberhalb dieses Deutungsraumes lassen sich dannmetaethische Positionen lokalisieren, die allerdingsnicht mehr Gegenstand der psychologischen Untersu-chung im engeren Sinne sind (Eckensberger & Reins-hagen, 1980). Schreiner (1983) hat diese Ordnungaufgegriffen und noch weitere Deutungsräume unter-schieden. Wir halten diesen Ansatz im Prinzip fürfruchtbar, nur liegen bisher keine Daten dazu vor.

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ordnete Interessen, die eine gegenseitige Ach-tung der handelnden Personen oder Interes-sengruppen enthalten. Übergang: Stufe 6.

III. Das transpersonal-heteronome Niveau(Stufen 7, 8) ist durch eine unterschiedlich ri-gide Betonung der sozialen oder juristischenRegelbefolgung charakterisiert. Übergang:Stufe 9.

IV. Das transpersonal-autonome Niveau(Stufen 10, 11) schließlich enthält Ableitun-gen der moralischen Urteile aus individuellenStandards, eine allgemeine Wertabwägungoder einen Bezug auf universelle Prinzipien.

Die folgende Tabelle 9 gibt zur besseren Orien-tierung einen groben Überblick über den(theoretischen und äußerlichen) Zusammen-hang zwischen Kohlbergs und den von unsbestimmten Niveaus/Stufen der Entwicklungmoralischer Urteile. Die Tabelle zeigt, daß inunserer Theorie das konventionelle Niveauaufgespalten wird und daß wir auch auf demNiveau, das Kohlberg das postkonventionelle

Niveau nennt, eine größere Differenzierungvorschlagen.

Die Wiederholung der Bewegung voneiner Heteronomie zu einer Autonomie imtranspersonalen Deutungsraum erfordert abervor allem eine genauere Analyse der Bezie-hung zwischen Recht und Moral, als das beiKohlberg der Fall ist (vgl. Burgard, 1986,1991; Eckensberger, im Druck; Eckensberger& Breit, 1997). Diese Analyse macht vorallem deutlich, daß die Orientierung auf Ge-setze tatsächlich eine andere, neue (ebentranspersonale) Qualität hat und daß deshalbGesetze einerseits etwas genuin anderes sindals die Moral, andererseits wird aber auch an-schaulicher, weshalb sie gleichzeitig als Äqui-valente von Moral verstehbar sind, also zurMoral in enger Beziehung stehen. Wir wollendas im Anschluß an Eckensberger und Breitabschließend etwas genauer ausführen.

Wir gehen davon aus, daß der Übergangvom interpersonalen zum transpersonalenRaum in der Interpretation der «naiven Sub-jekte» in gewissem Sinn durch die Konfronta-tion der Moral (als einer regulativen Idee) mitder sozialen Wirklichkeit geschieht: Die Pro-

509Die Entwicklung des moralischen Urteils

Tabelle 9: Beziehung der Entwicklungsstufen des moralischen Urteils in der Theorie Kohlbergs zur handlungs-theoretischen Rekonstruktion dieser Theorie durch Eckensberger et. al.

Stufen/Niveaus moralischer Urteile

ECKENSBERGER et al.

IV. Transpersonal-autonomes NiveauStufe 11: Prinzipien rationaler ÜbereinkünfteStufe 10: Moralische Konsequenzennorm,

Werte-Hierarchien Stufe 9: Gewissensnorm und Selbstachtung (Übergang: het. - aut.)

III. Transpersonal-heteronomes Niveau:Stufe 8: Gesetz-schaffende NormStufe 7: Achtung kodifizierter gesellschaftlicher Normen

und Rechtfertigung von SanktionenStufe 6: Achtung nicht-kodifizierter Normen sozialer

Systeme (Übergang: [inter-]pers. - transpers.)

II. Interpersonal-autonomes NiveauStufe 5: Gegenseitiger Respekt, interpersonale NormenStufe 4: Evakuierung von HandlungskonsequenzenStufe 3: Praktisch, instrumentelle Orientierung (Übergang: het. - aut.)

I. Interpersonal-heteronomes NiveauStufe 2: Achtung von Intentionen, ErwartungenStufe 1: Einseitige Achtung

KOHLBERG et al. (1983)

III. Postkonventionelles NiveauStufe 5: Sozialkontrakt und Nützlichkeit

II. Konventionelles NiveauStufe 4: Soziales System und Gewissen

Stufe (3): Gegenseitige zwischenpersönliche Erwartungen

Stufe (3): Beziehungen und zwischenpersönliche Konformität

I. Vorkonventionelles Niveau:Stufe 2: Individualismus, instrumenteller AustauschStufe 1: Heteronome Moral

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banden erfahren, daß sich im realen Lebennicht alle an die Moral halten. Sie sind wegendieser konkreten Erfahrungen der Auffassung,daß Abweichungen von «moralischem Ver-halten» äußerlich sanktioniert werden müs-sen. Dazu beziehen sie sich zunächst auf dieSanktionen durch die soziale Gruppe undihre nicht-kodifizierten Gruppenormen (Stufe6). Sie nehmen erst explizit Bezug auf denGesetzesbegriff, also die kodifizierten Nor-men im engeren Sinn, wenn die Probandenerkennen, daß die sozialen Sanktionen dieseregulative Aufgabe nicht zuverlässig leistenkönnen. Gesetze werden genau deshalb fürdie Sicherung moralischen Verhaltens gefor-dert, weil nur sie ein Verhalten zuverlässig er-zwingen können. Insofern entsteht hier derGesetzesbegriff in einer relativ strengen Form(Stufe 7) – übrigens aus den gleichen Ge-sichtspunkten, die auch in der Rechtssoziolo-gie und Rechtsphilosophie als Begründungenbenutzt werden.

Allerdings endet die Analyse der Bezie-hung zwischen Recht und Moral hier nicht,sondern ontogenetisch wird dann erkannt,daß gerade diese Zuverlässigkeit der Anwen-dung des Rechts zu einer unangemessenenRigidität im Einzelfall führt, also dieser stren-ge Gesetzes- oder Rechtsbegriff wieder mitMoralvorstellungen konfligieren kann. DieseErkenntnis führt jedoch zunächst nicht zueiner Aufgabe des Rechts zugunsten derMoral, sondern zunächst wird das Recht ingewissem Sinn moralisch angereichert, undes wird gefordert, daß es auch im Gesetz(selbst gesetzlich geregelte) Ausnahmengeben muß. Es wird also (auf der Stufe 8) einsehr elaborierter Gesetzesbegriff entwickelt.

Darüber hinaus lehrt uns allerdings dieOntogenese des Verständnisses der Beziehungzwischen Recht und Moral, daß es jenseitsdieser (sehr elaborierten) Rechtsperspektivefür die «naiven Subjekte» sehr wohl wiederden Standpunkt einer autonomen Moralauch auf der transpersonalen Ebene gibt. Sowird die Liebe und Freundschaft der Stufe 5(unserer Rekonstruktion, vergleichbar amehesten der Stufe 3 bei Kohlberg) zur Solida-rität (mit Fremden oder Menschen schlecht-hin) auf der Stufe 11 (unserer Rekonstruktion,am ehesten vergleichbar mit Kohlbergs Stufe5).

3. AusblickInsgesamt wissen wir also schon viel über dieEntwicklung der Moral, spezieller über die in-dividuellen moralischen Überzeugungs- undRechtfertigungssysteme. Zwei Aspekte sind esjedoch, die sich nach unserer Literaturüber-sicht als Desiderata besonders aufdrängen: (1)Ganz grundsätzlich kann es kaum Zweifelgeben, daß das moralische Urteil, das ja nor-mativ, wertend ist, ohne eine Herausführungaus den Emotionen, insbesondere aus derEmpathie und Sympathie nicht entstehenkann. Hier bleibt Piagets Diktum, daß dieKlugheit als Basis für die Erklärung (Rekon-struktion) der Moral defizitär ist, weil sie imIndikativ und nicht im Imperativ steht, kor-rekt und unhintergehbar. Wenn Kohlbergeinen von möglichen «naturalistischen Fehl-schlüssen» nicht begehen wollte, nämlich dieMoral auf psychologische Bedingungenzurückzuführen (Kohlberg, 1971), so solltedie Psychologie in Zukunft diesbezüglich mu-tiger sein, in dem sie sich dem Übergang vomVerstehen zur Verständigung, von der Empa-thie zur Sympathie, von der Rollenübernah-me zur Achtung stärker widmet, und dasnicht nur in Altersbereichen, in denen dieAnalyse von Sprache und Denken über dieseProzesse möglich ist, sondern sie sollte injüngere Altersbereiche hineingehen, in denendiese Übergänge ganz offenbar faktisch statt-finden (s. Hoffman, 1976, 1982). (2) Auchwenn wir diesen Gegenstand nur kurz ge-streift haben, so ist doch ein zweites weitge-hend offenes Problemfeld die Beziehung der«horizontal» unterscheidbaren Regelsysteme(persönliche Vorlieben, Konventionen, Mo-ral, Recht, Religion) und ihre «vertikale» Ent-wicklung, und natürlich die Zusammenhängebeider Betrachtungen. Und schließlich wird(3) ein Thema in der Zukunft bedeutsamerwerden, was wir zu Beginn bei Piaget nurkurz behandelt haben: die Problematik derDekontextualisierung moralischer Urteile (inhypothetischen Situationen) und ihre Kon-textualisierung in realen Lebenszusammen-hängen. Unter dieser Perspektive werden dieerstgenannten (Kognitionen und Affekte, Be-reichsspezifität des Denkens und vertikaleEntwicklungslinien) mit Sicherheit zu inte-grieren sein (s. Turiel & Davidson, 1986).

510 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

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516 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

Page 75: 5-8

Inhaltsverzeichnis1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518

2. Gedächtnis und Gedächtnismodelle . . . . . . . 5182.1 Speichermodelle des Gedächtnisses . . . . . . 5212.2 Prozeßmodelle des Gedächtnisses . . . . . . . 5222.3 Komplexe Gedächtnissysteme . . . . . . . . . . 522

3. Das Gedächtnis von Säuglingen und die Anfänge des deklarativen Gedächtnisses . . . . 524

4. Die Kapazität des Gedächtnisses . . . . . . . . 5294.1 Die Entwicklung der Gedächtniskapazität

im Kindesalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5304.2 Die Entwicklung der Gedächtniskapazität

im Erwachsenenalter und im höheren Alter 531

5. Lern- und Erinnerungsstrategien und Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5315.1 Die Entwicklung des strategischen Lernens

und Erinnerns im Verlauf des Kindesalters . 532

5.2 Die Entwicklung des strategischen Lernens und Erinnerns im Erwachsenenalter und höheren Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533

6. Wissen und Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . 534

7. Metagedächtnis und Gedächtnis . . . . . . . . . 5367.1 Die Entwicklung des Metagedächtnisses

im Kindesalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5377.2 Die Entwicklung des Metagedächtnisses im

Erwachsenenalter und im höheren Alter . . 538

8. Die Entwicklung des impliziten Gedächtnisses im Verlauf der Lebensspanne . . . . . . . . . . . . . . 539

9. Gedächtnisentwicklung im Verlauf der Lebensspanne – ein Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . 541

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542

517

Kapitel V. 3:

Gedächtnisentwicklung im Verlauf der Lebensspanne1

Monika Knopf, Frankfurt am Main

1 Ich danke Stephan Jäger, Horst Krist, Nadya Natour und Michael R. Waldmann für kritische Kommentare.

Page 76: 5-8

1. EinleitungDer Mensch ist imstande, ganz unterschiedli-che Informationen und Fertigkeiten zu erler-nen und zu erinnern: das Tennisspiel ebensowie Gedichte, Gesichter ebenso wie Gerücheund Farben, Namen und Daten ebenso wiedie Geschehnisse auf einer Geburtstagsfeieroder die Erlebnisse auf einer Urlaubsreise. Dieexperimentelle Gedächtnisforschung bemühtsich seit Hermann Ebbinghaus (1885) inten-siv darum, den Erwerb, das Behalten und dasErinnern solcher Informationen und Fertig-keiten zu beschreiben.

Die Ursprünge der entwicklungspsychologi-schen Gedächtnisforschung finden sich eben-falls in dieser Zeit. Während die frühenentwicklungspsychologischen Arbeiten vor-nehmlich praktische Ziele verfolgten (z. B.optimale Instruktionsarten zu erkennen; füreine Übersicht s. Schneider & Pressley, 1989),geht es in den letzten drei Jahrzehnten, indenen der Informationsverarbeitungsansatz for-schungsleitend ist, in der entwicklungspsy-chologischen Forschung vermehrt um grund-legende Fragen nach dem Erwerb von Mecha-nismen des Gedächtnisses. In dieser Übersichtwollen wir uns auf diesen aktuellen Aus-schnitt entwicklungspsychologischer Ge-dächtnisforschung beschränken.

Die Forschungsaktivität konzentrierte sichin den siebziger und achtziger Jahren im we-sentlichen auf zwei Abschnitte des Lebens:auf das Kindergarten- bzw. Schulalter einer-seits und auf das Erwachsenenalter sowiehöhere Alter andererseits. Die Entwicklungs-veränderungen in diesen zwei Lebensaltersab-schnitten wurden dabei in aller Regel in sepa-raten, unabhängigen Studien analysiert. Un-tersuchungen zur Entwicklung des Gedächt-nisses im Verlauf der gesamten Lebensspannefehlen weitgehend. In dieser Übersicht sollversucht werden, Befunde aus den Lebensal-tersabschnitten zu einem einheitlichen Bildzusammenzuführen. Eine derartige Integrati-on der Ideen und Befunde aus unabhängigenStudien erscheint deswegen möglich, weil inbeiden Altersgruppen vergleichbare Akzentegesetzt werden:

1. In beiden Altersbereichen werden bevor-zugt universelle Entwicklungsverläufe des

Gedächtnisses betrachtet. Es wird alsonach allgemeingültigen Gesetzmäßigkei-ten gesucht, die prinzipiell für alle Indivi-duen gelten. Differentielle Entwicklungsver-läufe, die spezifische Populationen charak-terisieren, sind demgegenüber selten un-tersucht worden.

2. Bei der Analyse der Gedächtnisentwick-lung in beiden Altersbereichen werden inder Regel die gleichen Gedächtnismodellezugrunde gelegt. Diese sind der allgemein-psychologischen Forschung entnommen.Sie sollen unter Punkt 2 skizziert werden.Dies bedeutet aber auch, daß es keine ori-ginär entwicklungspsychologischen Ge-dächtnismodelle gibt, die große Beach-tung erfahren haben (vgl. z. B. Piaget &Inhelder, 1974).

3. Von der großen Zahl an Informationsver-arbeitungsprozessen, für die sich dieallgemeinpsychologische Gedächtnisfor-schung interessiert, wird lediglich ein klei-ner Ausschnitt hinsichtlich ihrer Entwick-lung untersucht. Es handelt sich dabei imwesentlichen um Komponenten des de-klarativen Gedächtnisses, also um Erfahrun-gen und Wissensbestände, auf die prinzi-piell bewußt zugegriffen werden kann. Sokönnen wir beim Einkaufen am Obst-stand den Namen der länglichen, gelbenFrucht ebenso bewußt erinnern wie dieHandlung eines Films, den wir tags zuvorgesehen haben. Deklarative Gedächtnis-leistungen werden häufig auch als bewuß-te oder explizite Gedächtnisleistungen (vgl.Graf & Schacter, 1985) bezeichnet.

Diesen werden die sogenannten nicht-de-klarativen Gedächtnisleistungen gegenüber-gestellt, deren Entwicklungsverlauf bis-lang lediglich ansatzweise betrachtet wird.Dabei handelt sich um ein ganzes Bündelsehr unterschiedlicher Gedächtnisaspekte.Ihnen allen ist gemeinsam, daß es sichum die Nutzung von Erfahrungen han-delt, die verhaltenswirksam werden, ohnedaß diese an bewußte Erinnerungen ge-knüpft sind. Solche Indizien früherer Er-fahrung, die nicht auf Bewußtsein ange-wiesen sind, werden auch als indirekte oderimplizite Gedächtnisleistungen bezeichnet.Ein Beispiel hierfür sind unsere Fertigkei-

518 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

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ten (z. B. Skilaufen, Lenken eines Fahr-zeugs), die durch Übung verbessert wer-den, ohne daß wir die Gedächtnisinhalteberichten könnten, die diesen Fertigkeitenzugrunde liegen. Sie werden in Punkt 2.3genauer dargestellt (vgl. auch Abb. 2).

4. Entwicklungsveränderungen des deklara-tiven Gedächtnisses werden mit Hilfeeines kleinen Spektrums von Aufgaben-stellungen analysiert. Diese verlangen vonden Lernenden im allgemeinen den ab-sichtlichen Erwerb sprachlicher Materiali-en sowie die unmittelbare Reproduktiondes Erlernten.

In der klassischen Aufgabe der entwicklungspsycholo-gischen Gedächtnisforschung, der Wortlisten-Aufgabe,wird eine Serie von Wörtern nacheinander odergleichzeitig präsentiert, die sich die Untersuchungsteil-nehmer einprägen sollen, um sie anschließend erin-nern zu können. Zwei Beispiele solcher Wortreihensind:

nern; Wiedererkennen). Die entwicklungspsy-chologische Gedächtnisforschung beschäftigtsich demzufolge vornehmlich mit der Analy-se strategischen Lernens und dem Erinnern nachabsichtlichem (intentionalem) Informationser-werb.

Die enge Verknüpfung von Informations-erwerb und -abruf in der entwicklungspsy-chologischen Forschung hat zu genauen Er-kenntnissen über die Bedeutung des Lernvor-gangs für das Erinnern geführt. So ist gut un-tersucht, wie Personen unterschiedlichen Al-ters typischerweise strategische Lern- und Ge-dächtnisaufgaben bearbeiten und welche Ge-dächtnisleistungen mit unterschiedlichenArten des Lernens einhergehen. Demgegen-über sind diejenigen Gedächtnisaspekte we-niger gut erforscht, die das langfristige Behal-ten des Erlernten betreffen. Fragen danach,ob und unter welchen Bedingungen spätererworbene Gedächtnisinhalte frühere störenund was das «Schicksal» von Wissen ist, dasüber längere Zeit gespeichert wurde, wie zuunterschiedlichen Zeitpunkten des Lebensneues in bereits existierendes Wissen inte-griert wird, wurden selten gestellt. Vergleichs-weise weniger gut ist auch das Lernen und Erinnern untersucht, das ohne Lern- und Gedächtnisstrategien auskommt (z. B. dasbeiläufige Einprägen eines Namens).

Die entwicklungspsychologische Gedächt-nisforschung fokussierte demnach auf einenGedächtnisaspekt, der seit Tulving (1972,1985; Schacter & Tulving, 1994; vgl. auchAbb. 2) episodisches Gedächtnis genannt wird.Das episodische Gedächtnis speichert Infor-mationen über spezifische, raum-zeitlich lo-kalisierbare Ereignisse. Dieses wird vom se-mantischen Gedächtnis unterschieden, welchesEinträge enthält, die hochgradig strukturiert,organisiert und unabhängig von spezifischenLernerfahrungen und -kontexten langfristiggespeichert sind. Den Inhalt eines Films zuerinnern, den man tags zuvor gesehen hat,stellt eine Leistung des episodischen Ge-dächtnisses dar, am Obststand bei Anblickder länglichen, gelben Frucht den Begriff «Ba-nane» zu erinnern, hingegen eine Leistungdes semantischen Gedächtnisses.

Die enge Verzahnung von Informationser-werb und -abruf in der entwicklungspsycho-logischen Gedächtnisforschung läßt sich bis

519Gedächtnisentwicklung im Verlauf der Lebensspanne

Katze SeifeApfel TasseFahrrad BaumHammer BleistiftHund SchuhAuto BrilleZange FlöteMaus Stuhlusw. usw.

Während die erste Liste Wörter enthält, die sich in un-terschiedliche Klassen (Tiere, Fahrzeuge, Werkzeuge,Obst) ordnen lassen, sind die Wörter der zweiten Serienicht semantisch organisierbar. Eine alltagsnähere Va-riante einer vergleichbaren Aufgabe wäre beispielswei-se das Lernen und Erinnern einer Einkaufsliste (Istomi-na, 1975).

Die optimale Bearbeitung dieser Aufgabe istan die Verwendung von Lern- und Erinne-rungsstrategien gebunden (z. B. Organisationdes Lernmaterials in Klassen; subjektive Or-ganisation in Form einer Geschichte; vgl.auch Punkt 4). Im allgemeinen soll das Er-lernte nach kurzen Behaltensintervallen re-produziert werden, ohne daß Hilfestellungenvorgegeben werden (freies Erinnern). Gele-gentlich werden auch Hilfen präsentiert, diedas Erinnern erleichtern (unterstütztes Erin-

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in die sechziger Jahre zurückverfolgen: Beider Beschreibung des Lernens von Kindernim Rahmen neobehavioristischer Theorienwar ein Mediationsdefizit (Reese, 1962) festge-stellt worden. Darunter versteht man die Un-fähigkeit von Kindern, vorgegebene, verbaleMediatoren lern- und gedächtnisförderlich zunutzen (für einen historischen Rückblick zumstrategischen Lernen und Erinnern vgl. Bjork-lund, 1990). Da damit die Frage des absichtli-chen, strategischen Lernens den Ausgangs-punkt der entwicklungspsychologischen Ge-dächtnisforschung der letzten drei Jahrzehntebildete, hat auch das aktuelle Forschungspro-gramm eine psychologisch-pädagogische Ak-zentsetzung. Eine bedeutsame Absicht derGedächtnisforschung war stets, effektives Ler-nen zu identifizieren, um damit Lernen perInstruktion optimieren zu können.

Abbildung 1 gibt einen Überblick über dieLeistungsfähigkeit des Gedächtnisses zu un-terschiedlichen Zeitpunkten des Lebens (vgl.Denney, 1982). Diese Entwicklungskurve desGedächtnisses zeigt die typische Leistungs-fähigkeit von Personen unterschiedlichen Al-ters bei der Bewältigung strategischer Lern-und Gedächtnisaufgaben und dem unmittel-baren Erinnern des Erlernten. Es handelt sichhierbei um durchschnittliche Werte, die ma-terial-, aufgaben- und personspezifische Fak-toren nicht wiedergeben (vgl. dazu auch Wei-nert, Knopf & Schneider, 1987).

Demnach verbessert sich die Leistung desepisodischen Gedächtnisses im Verlauf des

Kindesalters kontinuierlich und vergleichs-weise schnell, erreicht im früheren Erwachse-nenalter ihr Optimum und verschlechtertsich im Verlauf des Erwachsenenalters lang-sam und kontinuierlich.

Der vorliegende Überblick über die Ent-wicklung des Gedächtnisses wird sich vorwie-gend mit diesem zentralen Thema der Ent-wicklung des episodischen Gedächtnisses imVerlauf des Lebens befassen (vgl. die Punkte4, 5, 6 und 7).

Im letzten Jahrzehnt ist die Perspektive derentwicklungspsychologischen Gedächtnisfor-schung deutlich verbreitert worden. Ein aktu-eller Forschungsschwerpunkt bemüht sichum die Beschreibung der Anfänge des Ge-dächtnisses bei Säuglingen und Kleinkindern.Darauf soll unter Punkt 3 eingegangen wer-den. In einem zweiten aktuellen Forschungs-programm wird die Entwicklung nicht-dekla-rativer Gedächtnisleistungen im Verlauf desLebens analysiert. Ein Ausschnitt dieses For-schungsprogramms soll unter Punkt 8 darge-stellt werden.

2. Gedächtnis und GedächtnismodelleDie Vorstellung des psychologischen Laien,wonach Gedächtnis eine Einheit repräsen-tiert (z. B. «gutes Gedächtnis»), unterscheidetsich von der wissenschaftlichen Konzeptionvon Gedächtnis, wie sie in der psychologi-

520 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

Abbildung 1: Leistungsfähigkeitdes episodischen Gedächtnissesim Verlauf der Lebensspanne

Page 79: 5-8

schen Forschung zugrunde gelegt wird. In deraktuellen Gedächtnispsychologie werdenLern- und Gedächtnisleistungen auf komple-xe Gedächtnissysteme zurückgeführt. Im fol-genden sollen drei Typen von Gedächtnismo-dellen skizziert werden, die historisch nach-einander entwickelt wurden. Sie haben dieMehrzahl der Fragen generiert, die in der ent-wicklungspsychologischen Gedächtnisfor-schung bearbeitet wurden: (1) Speichermo-delle des Gedächtnisses, die im wesentlichenstrukturelle Merkmale des Gedächtnissystems be-schreiben, die deklarativen Gedächtnislei-stungen zugrunde liegen; (2) Prozeßmodelledes Gedächtnisses, die vornehmlich die ge-dächtnisbezogenen Verarbeitungsprozesse imBlick haben; auch diese Modelle beschäftigensich in der Regel mit deklarativen Gedächtnis-prozessen; (3) eine Taxonomie unterschiedli-cher Gedächtnisprozesse, oder ein Gedächtnis-system, das die Verarbeitung sowohl bewußtzugänglicher als auch bewußt nicht zugängli-cher Gedächtnisinhalte umfaßt.

2.1 Speichermodelle des Gedächtnisses

Eine grundlegende Idee der Speichermodelledes Gedächtnisses ist, daß beim Informati-onserwerb sukzessive unterschiedliche Spei-cher zu durchlaufen sind, die spezifischeMerkmale und Funktionen aufweisen. Ambekanntesten ist dabei das Mehrspeichermodellvon Atkinson und Shiffrin (1968), das von

drei Gedächtnisspeichern ausgeht: dem Sen-sorischen Register (SR; auch: Ultrakurzzeitge-dächtnis), dem Kurzzeitgedächtnis (KZG) unddem Langzeitgedächtnis (LZG). In Tabelle 1 sinddie wesentlichen Merkmale dieser drei Ge-dächtnisspeicher dargestellt. Wie daraus er-sichtlich ist, lassen sich die drei Gedächtnis-speicher durch die unterschiedliche Dauerder Informationsspeicherung, die Speicherka-pazität, die Ursachen für den Informations-verlust bzw. das Vergessen, die Art der Reprä-sentation der Information sowie die Art derInformationsverarbeitung charakterisieren.

In der ersten Speicherinstanz, dem SR,wird die Information für eine sehr kurzeZeitspanne in modalitätsspezifischer Weisegespeichert (visuelle Information: 1/4 Se-kunde; auditive Information: zwei bis vierSekunden). Die Kapazität des SRs ist dabei sogroß, daß eine Art «Kopie» des Informations-materials angefertigt werden kann. In dieserfrühen Phase basiert die Informationsverar-beitung im wesentlichen auf automatischenProzessen. Die zentrale Ursache für den Ver-lust von Information zu diesem Zeitpunktder Informationsverarbeitung ist die Über-schreibung des Gedächtnisinhalts durchneues Material.

Die Teile des Materials, denen Aufmerk-samkeit zugewandt wird, werden zur Verar-beitung in das Kurzzeitgedächtnis weiter-transportiert. Das Kurzzeitgedächtnis ist dieInstanz des Gedächtnissystems, in der die ak-tive, strategische Verarbeitung der Informa-tionen erfolgt.

521Gedächtnisentwicklung im Verlauf der Lebensspanne

Tabelle 1: Charakteristika einzelner Gedächtnisspeicher im Überblick (nach Lutz, 1994)

Merkmale Sensorisches Register Kurzzeitgedächtnis Langzeitgedächtnis

Dauer 1/4 sec (visuell) 18 sec lebenslang2–4 sec (auditiv) (recall)

Kapazität annähernd 7+/–2 unbeschränkt1000 + Bit Chunks

Ursache für Infor- Verfall, Verfall, akustische semantischemationsverlust Überschreibung Interferenz Interferenz

Art der sensorische primär akustisch primär semantischRepräsentation Merkmale (verbale (Bedeutung

(analog Kopie) Beschreibung) oder Proposition)

Verarbeitung automatisch aktiv automatisch(reaktiv) (passiv)

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Auch dieser Gedächtnisspeicher weist hin-sichtlich seiner zeitlichen wie räumlichen Ka-pazität erhebliche Beschränkungen (Sekun-den bzw. 7+/–2 Chunks) auf. Ein «Chunk»stellt dabei eine Kombination von einzelnenInformationen zu einer für den Lernendenbedeutungshaltigen Einheit dar. So läßt sichdie Ziffernkombination «4711» dann als eineEinheit speichern, wenn man an ein Duft-wasser denkt.

Im KZG ist das Lernmaterial verbal reprä-sentiert. Die wesentlichen Ursachen von In-formationsverlust sind zu diesem Zeitpunktder Informationsverarbeitung Interferenz-sowie Zerfallsprozesse. Das Vergessen läßtsich durch aktive Informationsverarbeitungaufhalten.

Die aktiv bearbeitete Information wird ausdem KZG in das LZG transportiert, welcheseine sehr große Speicherkapazität hat. ImLZG liegt die Information im wesentlichensemantisch-propositional vor, wobei eine au-tomatische Informationsverarbeitung dafürverantwortlich ist, daß neue mit bereits exi-stierenden Gedächtniseinträgen verbundenwerden («spreading activation»).

Baddeley (1990) hat die Informationsver-arbeitungsprozesse, die im Kurzzeitgedächt-nis ablaufen, genauer betrachtet und das Mo-dell des Arbeitsgedächtnisses entwickelt. Er hatdabei, den unterschiedlichen Enkodiermoda-litäten entsprechend, drei Teile des KZGs un-terschieden: nämlich ein Subsystem, das fürdie Verarbeitung sprachlicher Information(«verbal rehearsal loop») erforderlich ist, einzweites Subsystem, das auf die Verarbeitungvisuell-räumlicher Information spezialisiertist («visuo-spatial sketch pad»), sowie ein exe-kutives System («executive system»), das diebeiden Systeme koordiniert. Im Anschluß andiese Neufassung des KZG-Konzepts sind eineReihe entwicklungspsychologischer Studiendurchgeführt worden, auf die hier nicht ein-gegangen werden soll (für einen Überblick s.de Ribaupierre & Hitch, 1994).

2.2 Prozeßmodelle des Gedächtnisses

Eine zweite Gruppe von Gedächtnismodellenfokussiert auf die Informationsverarbeitungspro-

zesse, auf denen der Informationserwerb, dieSpeicherung der Information und der Infor-mationsabruf basiert. Der zentrale Gedankein diesen Gedächtnismodellen ist, daß die Artder Verarbeitung der Information wesentlichfür den Lernerfolg ist. Sie kommen dabeiohne die Vorstellung unterschiedlicher Ge-dächtnisspeicher aus.

Craik und Lockhart (1972) konnten bei-spielsweise bei der Analyse des Informations-erwerbs feststellen, daß keineswegs jede akti-ve Form der Informationsverarbeitung zuguten Lern- und Gedächtnisleistungen führt.Vielmehr ist der Typ der Informationsverar-beitung von Bedeutung. In ihrem Modell derEbenen der Informationsverarbeitung («levels-of-processing») unterschieden sie bedeutungs-haltige, «tiefe» Arten der Informationsverar-beitung, die wesentlich mit dem semanti-schen Inhalt der Information zu tun haben,von bedeutungsarmen bzw. oberflächlichenArten der Informationsverarbeitung, die imwesentlichen perzeptive Merkmale der Infor-mation analysieren. Dauerhafte und guteLern- und Gedächtnisleistungen werden vorallem durch tiefe Informationsverarbeitungerzeugt, während perzeptiv orientierte Artender Informationsverarbeitung zu schlechte-ren oder zumindest schwerer abrufbaren Ge-dächtniseinträgen im LZG führen.

2.3 Komplexe Gedächtnissysteme

In den bislang dargestellten Gedächtnismo-dellen ging es um die Frage, wie Informationverarbeitet wird, auf die später bewußt zuge-griffen wird, also um das deklarative Ge-dächtnis. Insbesondere in jüngster Zeit sindandere Aspekte des Gedächtnisses stärker be-trachtet worden. Abbildung 2 (nach Marko-witsch, 1994) zeigt die unterschiedlichenKomponenten eines solchen komplexen Ge-dächtnissystems im Überblick. Nicht-bewuß-te Gedächtnisaspekte sind hier unter dem Be-griff nicht-deklaratives Gedächtnis zusam-mengefaßt.

Aspekte des nicht-deklarativen Gedächtnisses sind (1)motorische Fertigkeiten und Skills; (2) sogenannte«Priming»-Aufgaben (Bahnungs-Aufgaben); Bahnungs-Effekte werden beispielsweise bei Bild- oder Wortfrag-mentergänzungs-Aufgaben festgestellt (z. B. «repetition

522 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

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priming task»; vgl. Parkin, 1993; Light & La Voie,1993); (3) einfache Assoziationen, die auf den Prinzipi-en der klassischen oder operanten Konditionierung ba-sieren, sowie (4) Veränderungen der Vertrautheit vonObjekten, wie sie sich in Habituierungsstudien (s.Punkt 3) typischerweise finden.

Die nicht-deklarativen Gedächtnisleistungenscheinen einen grundsätzlich anderen Aspektdes Gedächtnissystems als deklarative bzw.explizite zu betreffen. Diese These wird durcheine Reihe von aktuellen Beobachtungen ge-stützt. Drei der wichtigsten sind: (1) der Be-fund, daß deklarative und nicht-deklarativeGedächtnisleistungen durch unterschiedlicheBedingungen in der Lern- und Abrufphasebefördert und gehemmt werden (funktionaleDissoziation). Wie unter Punkt 2.2 dargestelltwurde, verbessert die Tiefe der Informations-verarbeitung deklarative Gedächtnisleistun-gen. Nicht-deklarative Gedächtnisleistungensind von einer solchen Variation nicht be-troffen (z. B. Jacoby & Dallas, 1981); (2) Studi-en mit amnestischen Patienten; Amnestiker

weisen in ihrer gedächtnisbezogenen Lei-stungsfähigkeit deutliche Dissoziationen auf:Im Unterschied zum deklarativen Gedächt-nis, das bei diesen Patienten erheblich beein-trächtigt ist, sind viele implizite Gedächtnis-leistungen weitgehend intakt (Shimamura,1993); (3) und schließlich gibt es Evidenzenaus neuropsychologischen Studien, die füreine solche Zweiteilung des Gedächtnissessprechen. Schacter und Moscovitch (1984)weisen darauf hin, daß diese beiden Systemezu unterschiedlichen Zeitpunkten des Lebensihre Arbeit aufnehmen. Entsprechend ihrerAuffassung werden bis ca. zum achten Le-bensmonat die Informationen ausschließlichim früh entwickelten Gedächtnissystem ab-gelegt und sind dort bewußt nicht zugäng-lich. Erst danach baut sich das zweite Ge-dächtnissystem auf, das einen bewußten Zu-griff auf die Gedächtnisinhalte erlaubt. Eswerden vornehmlich neuroanatomische Rei-fungsprozesse für die langsame Entwicklungdes zweiten Gedächtnissystems verantwort-

523Gedächtnisentwicklung im Verlauf der Lebensspanne

Abbildung 2: Modell eines Gedächtnissystems (nach Markowitsch, 1994)

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lich gemacht. Nelson (1995) bringt frühe Ge-dächtnisleistungen mit dem Hippocampus inZusammenhang und geht ebenfalls davonaus, daß erst zwischen dem achten undzwölften Lebensmonat deklarative Gedächt-nisleistungen möglich werden, die stärker auflimbische und kortikale Strukturen zugreifen.

Diese Unterscheidung zweier Gedächtnis-systeme wird in den letzten Jahren in derEntwicklungspsychologie aufgegriffen. JeanMandler (1988, 1990a) spricht ebenfalls voneinem früh entwickelten, einfachen Gedächt-nissystem, das im wesentlichen Wiedererken-nensleistungen ermöglicht («sensomotori-sches Gedächtnissystem»), und einem sichspäter entwickelnden, zweiten System («kon-zeptuelles Gedächtnissystem»), das den be-wußten Zugriff auf die Gedächtnisinhalte er-laubt (vgl. auch Cohen, 1984; Mandler,1984). Ähnlich unterschied bereits Piaget(Piaget & Inhelder, 1974) ein Gedächtnis imweiten und im engen, strikten Sinne.

Demnach wird sowohl in der aktuellenNeuro- wie in der kognitiven- und Entwick-lungspsychologie eine grobe Zweiteilung desGedächtnisses vorgenommen: Dabei wird einGedächtnissystem beschrieben, welches In-formationen speichert, die bewußt nicht zu-gänglich sind. Die Informationsverarbeitungin diesem früh entwickelten Gedächtnissy-stem erfolgt automatisch, implizit, sensomo-torisch und/oder prozedural. Davon wird einzweites Gedächtnissystem unterschieden,welches sich langsam entwickelt und bewußtzugängliche Information speichert. Dieses Sy-stem basiert auf expliziter, konzeptueller unddeklarativer Information (vgl. auch Perrig &Perrig, 1993). Obwohl keine Einigkeit zwi-schen den Forschern innerhalb der unter-schiedlichen Disziplinen darüber besteht, obdiese beiden Systeme vollkommen getrenntvoneinander operieren, und obwohl die Be-schreibungen dieser beiden Systeme sowieihre Bezeichnungen bei unterschiedlichenAutoren nicht identisch sind, wird eine sol-che Zweiteilung heute in den meisten Ge-dächtnismodellen als wesentlich angese-hen. Ein entwicklungspsychologischer For-schungsschwerpunkt der letzten Jahre drehtesich um die Frage, wann diese beiden Ge-dächtnissysteme ihre Arbeit aufnehmen. Dar-auf soll im folgenden eingegangen werden.

3. Das Gedächtnis vonSäuglingen und die Anfängedes deklarativen Gedächtnisses

Es gibt viele Belege dafür, daß NeugeboreneInformationen erwerben und auf diese spä-ter wieder zugreifen können. Selbstverständ-lich ist es nicht einfach, die Funktionsweisedieses früh entwickelten Gedächtnissystemszu analysieren. Zwei wichtige Untersu-chungstechniken, die dabei verwendet wer-den, sind die Präferenz- und die Habitu-ierungsmethode.

Seit Fantz (1964) ist bekannt, daß Kinder die Betrach-tung neuer gegenüber vertrauter Information bevorzu-gen. Bei der Präferenzmethode nutzt man dies dadurchaus, daß man Säuglingen einen vertrauten gemeinsammit einem neuen Reiz vergleichbarer Komplexität dar-bietet und überprüft, welcher der Reize bevorzugt be-trachtet wird. Bei der Habituierungsmethode wird dieserUmstand ebenfalls benutzt, um Gedächtnis zu erfas-sen. In einer ersten Phase eines Habituierungsexperi-ments wird dabei ein Reiz solange präsentiert, bis erden Säuglingen vertraut ist. Die Vertrautheit erschließtman aus dem allmählich nachlassenden Interesse derSäuglinge für den gezeigten Reiz, wobei häufig dieBlickdauer als Indikator der kindlichen Aufmerksam-keit verwendet wird (Habituierungsphase). In der zwei-ten Phase eines Habituierungsexperiments wird dererste Reiz gemeinsam mit einem neuen präsentiertund die Betrachtungsdauer der beiden Reize vergli-chen (Testphase). Die unterschiedlichen Betrachtungs-zeiten von vertrauter und neuer Information werdenbei beiden Methoden im allgemeinen als Gedächtnis-indikator verwendet.

Friedman (1972) benutzte die Habituierungs-methode zur Analyse der Gedächtnisleistun-gen von Säuglingen, die zwischen einem Tagund vier Tagen alt waren. Den Kindern wur-den Schachbrettmuster unterschiedlicherKomplexität (2 x 2 und 12 x 12 Felder) mehr-mals hintereinander gezeigt. Es fand sich,daß mit zunehmender Dauer der Präsentati-on des gleichen Reizes das Interesse der Kin-der an dem jeweiligen Reiz nachließ. Daskindliche Interesse blieb auf einem niedrigenNiveau, wenn in der Testphase der gleicheReiz erneut gezeigt wurde, stieg jedoch aufdas Ausgangsniveau an, wenn in der Testpha-se ein neues Schachbrettmuster präsentiertwurde.

In einer großen Zahl von Untersuchungen

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wurde bestätigt, daß Kinder in den ersten Le-benstagen und -wochen ein gutes Gedächtnisfür statische Objekte und ihre Merkmale (z. B.Farbe, Form, Muster, Lage etc.) haben unddiese nach Behaltensintervallen von Minu-ten, Stunden oder nach Tagen wiedererken-nen (z. B. J. W. Fagan, 1984; Quinn, Sique-land & Bomba, 1985). J. F. Fagan (1973)konnte Wiedererkennensleistungen für Ge-sichter bei 22 Wochen alten Kindern sogarnoch nach einem Behaltensintervall vonzwei Wochen feststellen. Die Gedächtnislei-stung variiert dabei mit den Aufgaben- undMaterialmerkmalen (Komplexität des Lern-materials; Länge der Habituierungsphase;Zeitraum des Behaltens; Erfahrungen im Be-haltensintervall).

In einem Untersuchungsprogramm vonRovee-Collier und ihren Mitarbeitern (Rovee-Collier, 1995; Rovee-Collier & Hayne, 1987; J.W. Fagan & Prigot, 1993) wird das Gedächt-nis von sehr jungen Kindern für dynamischeInformation untersucht. Diese Forschungs-gruppe verwendet dabei einen zweiten An-satz zur Analyse des Gedächtnisses von Klein-kindern, nämlich die operante Konditionie-rungsmethode.

Über dem Bettchen des Säuglings wird ein Mobile an-gebracht, das mit einem Gummiband an dem Bein desKindes befestigt ist. Auf diese Weise kann der Säuglinglernen, daß er mit seinen Beinbewegungen das Mobilein Bewegung versetzen kann («mobile conjugate rein-forcement paradigm»).

Zur Bestimmung der Grundrate der Beinbewegun-gen wird in einer ersten Phase der Lern- und Gedächt-nisuntersuchung gemessen, wie viele Beinbewegungendas Kind macht, wenn das Mobile bereits über demBettchen befestigt ist, das Gummiband jedoch miteinem fixen Gegenstand und nicht mit dem Mobileverbunden ist. In dieser ersten Phase führt das Stram-peln zu keiner Bewegung des Mobiles. In einer zweitenPhase des Experiments, der Verstärkungsphase, wirddas Gummiband mit dem Mobile verbunden, so daßdie kindlichen Beinbewegungen das Mobile in Bewe-gung versetzen. Dabei zeigt sich, daß die Zahl derBeinbewegungen des Kindes erheblich ansteigt. In derdritten Phase des Experiments wird das Gummibandwieder mit dem festen Gegenstand verbunden, so daßdas Kind durch seine Bewegung erneut keinen Effekterzeugt. In dieser Phase wird die unmittelbare Ge-dächtnisleistung gemessen, indem die Bewegungshäu-figkeit bestimmt und mit der zu Beginn des Experi-ments verglichen wird. Eine Steigerung der Zahl derBeinbewegungen gegenüber dem Ausgangsniveau wirdals Hinweis darauf gewertet, daß das Kind eine neueFertigkeit erworben hat, nämlich durch Beinbewegun-gen das Mobile in Bewegung versetzen zu können.

Die Ergebnisse einer Reihe von Arbeiten die-ser Arbeitsgruppe, die mit Kindern ab demzweiten Lebensmonat durchgeführt werden,belegen, daß Kinder dieses Alters die neueFertigkeit erlernen und daß sie diese zumin-dest einige Tage lang im Gedächtnis behal-ten, insofern die entsprechende Situationwiederhergestellt wird. Zirka zehn Tage nachdem Erwerb ist diese Fertigkeit anscheinendvergessen, weil dann die Auftretenshäufigkeitder erlernten Verhaltensweise wieder auf dasAusgangsniveau zurückgegangen ist.

In Analogie zu Tieruntersuchungen, indenen sich zeigte, daß scheinbar vergesseneVerhaltensweisen durch geeignete Erinne-rungshilfen («reminder») reaktiviert werdenkönnen, setzten Rovee-Collier und Mitarbei-ter vor einem späteren Behaltenstest Erinne-rungshilfen ein. Dazu zeigten sie den Kindernvierzehn Tage nach dem Lernexperiment,also zu einem Zeitpunkt, da die erlernte Fer-tigkeit scheinbar vergessen war, ein sich be-wegendes Mobile über ihrem Bettchen. DieBewegung wurde durch den Versuchsleiter(Vl) erzeugt, der an dem Gummiband zog.Einen Tag später wurde dann der langfristigeGedächtnistest durchgeführt, in dem dieursprüngliche Situation wiederhergestelltwurde. Durch derartige Erinnerungshilfen ge-lang es, auch noch vier Wochen nach demErwerbszeitpunkt die erlernte Fertigkeit zu re-aktivieren. Dabei waren solche Mobiles als Er-innerungshilfen besonders effektiv, die mög-lichst viele Merkmale desjenigen Mobiles auf-wiesen, das in der Lernphase verwendetwurde. Dabei scheinen bestimmte zeitlicheBegrenzungen («time windows») zu existie-ren, innerhalb derer die Gedächtniseinträgenoch aktivierbar sind. Diese werden derzeitgenauer untersucht (Rovee-Collier, 1995).

Ein weiteres Forschungsprogramm, in demdas Gedächtnis von Säuglingen untersuchtwird, erschließt Gedächtniseinträge auf derBasis kindlicher Erwartungen über zukünftigeEreignisse. Haith und Mitarbeiter (für einenÜberblick s. Haith, Wentworth & Canfield,1993) analysieren die kindlichen Augenbewe-gungen und prüfen, welchen Punkt auf einerProjektionsfläche die Kinder fixieren, denenregelhafte Muster visueller Reize präsentiertwerden. Diese Studien zeigten, daß bereitsKinder im Alter von dreieinhalb Monaten

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sehr schnell die Reizabfolge speichern undihren Blick antizipatorisch auf jenes Areal derProjektionsfläche richten, auf denen dernächste Lichtpunkt erscheinen wird. Über dielängerfristige Speicherung dieser Informationist allerdings bisher nichts bekannt.

Vergleichbare Ergebnisse stammen aus Un-tersuchungen, die neuerdings zum Erwerbdes Konzepts der sogenannten Objektperma-nenz durchgeführt wurden. Bei der Objektper-manenz handelt es sich um die Erkenntnis,daß Objekte auch dann weiterexistieren,wenn sie sich nicht im Blickfeld einer Personbefinden. Piaget (1975), der den Erwerb derObjektpermanenz bei Kindern mit Hilfe vonSuchaufgaben studiert hatte, war der Mei-nung, daß die Objektpermanenz erst um denneunten Lebensmonat erworben wäre. Diesschloß er aus der Beobachtung, daß Kindererst ab diesem Lebensalter nach Objektensuchten, mit denen sie gespielt hatten unddie dann versteckt wurden. In neueren Arbei-ten, in denen die kindlichen Erwartungen alsIndiz für den Erwerb der Objektpermanenzgewertet werden, geht man davon aus, daßdieses Konzept zumindest bereits im viertenLebensmonat erworben ist. Baillargeon unddeVos (1991) untersuchten in einem Habi-tuierungsexperiment dreieinhalb Monate alteKinder. In der Habituierungsphase sahen dieKinder abwechselnd eine kurze und einelange Karotte, die sich auf einen Sichtschirmzubewegte und schließlich hinter einemSchirm verschwand. Nachdem sie eine kurzeZeit den Blicken der Kinder entzogen war,tauchte sie an der anderen Seite des Schirmswieder auf. Dadurch war bei den Kindern derEindruck erzeugt worden, daß die Karottesich hinter dem Schirm von der einen zur an-deren Seite bewegt hatte. Nach Erreichen desHabituierungskriteriums wurde in der Test-phase ein Schirm verwendet, in dessen obererHälfte ein Teil ausgespart war. Der ausgespar-te Teil im Schirm war so groß, daß die langeKarotte bei ihrer Passage in diesem Aus-schnitt hätte erscheinen sollen, die kurze je-doch nicht. In der Testphase, in der die bei-den Ereignisse abwechselnd dreimal gezeigtwurden, war tatsächlich kein Karottenteil imSchirmausschnitt zu sehen; die Passage derlangen Karotte war deswegen ein physika-lisch unmögliches Ereignis. Es zeigte sich,

daß das physikalisch unmögliche Ereignisinsgesamt länger als das physikalisch mögli-che betrachtet wurde. Dies wird als Hinweisdarauf gewertet, daß die Kinder in der Habi-tuierungsphase spezifische Informationenüber die Merkmale der gezeigten Objekte en-kodiert hatten und auf der Basis dieser Infor-mationen Erwartungen generierten. Zu-gleich gilt dieser Befund als Indiz dafür, daßdie Kinder um die Existenz des Objekts wis-sen, auch wenn dieses für kurze Zeit nichtzu sehen ist.

Die Resultate aus diesen drei Forschungs-programmen sollen genügen, um das Lei-stungsvermögen des früh entwickelten Ge-dächtnissystems grob zu charakterisieren,über das bereits Neugeborene verfügen. Eshandelt sich bei all diesen Hinweisen für In-formations- und Fertigkeitserwerb durchSäuglinge um Beispiele nicht-deklarativer Ge-dächtnisleistungen. Diese Gedächtniseinträgewerden vergleichsweise dauerhaft vorgenom-men. Wenn sich eine bestimmte Situationwiederholt oder ein Objekt erneut auftritt,werden die darauf bezogenen Gedächtnisein-träge offenbar automatisch aktiviert. Es wirdferner davon ausgegangen, daß die frühenGedächtniseinträge modalitätsspezifischenCharakter haben, d. h. daß sie jeweils nurdurch das Informationsverarbeitungssystemabgerufen werden können, von dem sie er-zeugt wurden.

Bezüglich der Anfänge deklarativer Ge-dächtnisleistungen galt bis in die jüngste Zeitdie These Piagets, wonach Kinder erst gegenEnde der sensomotorischen Phase imstandesind, die Welt modalitätsunabhängig, d. h.symbolisch, zu repräsentieren. Da eine sym-bolische Repräsentation der Welt als die Vor-aussetzung für einen modalitätsunabhängi-gen Zugriff auf das Gespeicherte angesehenwird, wurde das zweite Lebensjahr als derZeitpunkt betrachtet, zu dem deklarative Ge-dächtnisleistungen frühestens auftreten.Diese Auffassung veränderte sich in jüngsterZeit, nachdem die Technik der aufgeschobenenNachahmung, die bereits Piaget (1951) ver-wendet hatte, modifiziert worden war.

Piaget beobachtete, daß ein Kind einen Wutausbrucheines anderen Kindes, den dieses tags zuvor gesehenhatte, originalgetreu nachahmte, wobei dieses Ereignisfür das Kind neu war. Er beobachtete solche aufge-

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schobenen Nachahmungen erstmals zwischen dem18. und 24. Lebensmonat.

Untersuchungen, in denen mit einer neuenVariante der Methode der aufgeschobenenNachahmung gearbeitet wurde, kommen zudem Ergebnis, daß Kinder bereits vor dem er-sten Lebensjahr beobachtete Ereignisse undEreignisabfolgen längere Zeit im Gedächtnisbewahren und diese dann ausführen können.Die Ereignisse in diesen aktuellen Studiensind dabei einfacher als die von Piaget be-schriebenen und bestehen im allgemeinen le-diglich aus einer kleinen Zahl von Kompo-nenten. Ferner werden in den aktuellen Stu-dien in der Abrufphase Objekte als Erinne-rungshilfen präsentiert. Es handelt sich inden aktuellen Untersuchungen demnach umunterstütztes Erinnern.

Meltzoff (1988) zeigte beispielsweise, daßneun Monate alte Kinder einfache Hand-lungsabfolgen mit (neuartigen) Objekten(z. B. die Schenkel eines beweglichen Winkelszusammendrücken), deren Ausführung sie 24Stunden zuvor im Labor erstmals beobachtethatten, aus der Erinnerung nachahmten.Wenn ihnen ein Tag nach der Präsentationder Handlungen die handlungsbezogenenObjekte vorgelegt wurden, zeigten sie die ge-sehenen Handlungen häufiger als eine Kon-trollgruppe, die diese Handlungen zuvornicht gesehen hatte. In Anschlußstudienwurde die Länge des Behaltensintervalls aus-gedehnt. Meltzoff (1995) berichtet über zweiStudien, in denen mit der gleichen MethodeGedächtnis von 14 und 16 Monate alten Kin-dern nach einem Behaltensintervall von zweibzw. vier Monaten nachgewiesen wurde. DieTatsache, daß Kinder solche beobachtetenHandlungsabfolgen über längere Zeiträumespeichern und bei Vorgabe der handlungsbe-zogenen Objekte erinnern, ist durch mehrereandere Studien bestätigt (z. B. Bauer, Herts-gaard & Dow, 1994; Fivush, 1994; Newcom-be, Drummey & Lie, 1995; McDonough &Mandler, 1994).

Die Arbeit von Mandler und McDonough(1995) ist von besonderem Interesse, da Er-eignisse unterschiedlichen Typs verwendetwurden: Bei einem Ereignistyp waren die Teil-ereignisse kausal geordnet (z. B. eine Rasselkonstruieren durch «Einwurf eines Knopfs in

eine Plastikschachtel» und «Schütteln derSchachtel»); bei einem zweiten Ereignistypwaren die Teilereignisse beliebig zusammen-gestellt, da deren Abfolge für die Erzeugungdes Effekts nicht konstitutiv war (z. B. einenTeddybär anziehen durch «Aufsetzen einesHutes» und «Anziehen eines Armbandes»).Dabei zeigte sich, daß die elf Monate altenKinder in einer Gedächtnisprüfung nach dreiMonaten die kausal geordneten Handlungendeutlich besser als die beliebigen Handlungenreproduzierten, während sich in der unmit-telbaren Gedächtnisprüfung kein derartigerUnterschied gezeigt hatte. Die Autorinnensehen darin eine Evidenz dafür, daß KinderKausalwissen beim Behalten nutzen (vgl.auch Mandler, 1990b).

Rose und Ruff (1989) konnten modalitäts-unabhängige Gedächtniseinträge bei nochJüngeren belegen. Sie benutzten dazu eineeinfachere Gedächtnisaufgabe: Die Kinderlernten einen Gegenstand in einer Modalitätkennen, während andere Informationskanäleausgeschaltet wurden (z. B. einen Holzwürfelgreifen, jedoch nicht sehen können). Danachbekamen sie Bilder von zwei Objekten vorge-legt, wobei eines das Objekt zeigte, das dieKinder haptisch kennengelernt hatten. Be-reits ab dem sechsten und achten Lebensmo-nat treten deutliche Präferenzen des kindli-chen Interesses auf, in der Weise, daß sie vondiesem Zeitraum an systematisch bevorzugtdas neue Objekt betrachten. Dies wird alsIndiz dafür gewertet, daß die Kinder die Ob-jekte, die sie lediglich haptisch kennenge-lernt hatten, auch visuell «erkennen» undsich der neuen Information zuwenden.

Die Befunde dieser aktuellen Untersu-chungsprogramme werden als Beleg dafür ge-wertet, daß Kinder bereits vor dem ersten Le-bensjahr Gedächtniseinträge erwerben, diemodalitätsunabhängig und dauerhaft sind.Die Kinder können auch nach längeren Be-haltensintervallen auf die erworbene Infor-mation in unterschiedlicher Weise zugreifen.

Es wird kontrovers darüber diskutiert, vonwelcher Art die Gedächtniseinträge in diesemAlter sind und ob in dieser Zeit tatsächlichdie Anfänge des deklarativen Gedächtnisseszu lokalisieren sind (z. B. Nelson, 1994; Mc-Donough & Mandler, 1994). Eine derart kriti-sche Diskussion liegt deswegen nahe, weil

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diesen frühen «deklarativen Gedächtnislei-stungen» allesamt das zentrale Merkmalfehlt, das bei älteren Kindern und Erwachse-nen als wichtigster Beleg für deklaratives Ge-dächtnis benutzt wird, nämlich sprachlichenCharakter zu haben. Kritiker fragen beispiels-weise danach, ob aufgeschobene Nachah-mungen lediglich ein Indiz dafür sind, daßBewegungsabläufe eingeprägt wurden. Wenndies so wäre, würden die aufgeschobenenNachahmungen der Kleinkinder ein Indika-tor für prozedurales und nicht für deklarati-ves Gedächtnis sein. McDonough und Mand-ler (1994) weisen diese Kritik mit dem Argu-ment zurück, daß es keinerlei Hinweise dafürgibt, daß Kleinkinder prozedurale Informati-on in einem Lerndurchgang erwerben kön-nen und darüber hinaus noch durch bloßeBeobachtung. Konditionierungsstudien mitSäuglingen zeigen nämlich, daß sie vieleDurchgänge für den Erwerb von Fertigkeitenbenötigen (z. B. Rovee-Collier, 1990).

Ferner setzt sich Jean Mandler mit demEinwand auseinander, daß aufgeschobeneNachahmungen lediglich Hinweise auf Bah-nungseffekte darstellen, die etwa durch diewiederholte Präsentation ein- und desselbenObjekts automatisch erzeugt werden (Nelson,1994). Wie weiter oben dargestellt, basierenBahnungseffekte auf Prozessen des implizitenGedächtnisses. Um diesen Einwand zu prü-fen, führten McDonough, Mandler, McKeeund Squire (1995) eine Studie mit Amnesti-kern durch. Dabei zeigte sich, daß Amnesti-ker zur aufgeschobenen Nachahmung vonHandlungen nach vierundzwanzig Stundenebensowenig wie zu deren explizitem Erin-nern fähig waren. Dabei ist bekannt, daß Am-nestiker Defizite im deklarativen Gedächtnishaben, während das nicht-deklarative Ge-dächtnis weitgehend intakt sein sollte. Ausdiesem Ergebnis wird geschlossen, daß dieaufgeschobene Nachahmung wesentlich aufdas deklarative Gedächtnis zugreift.

Schließlich wird kritisch danach gefragt,ob die aufgeschobene Nachahmung die Ver-fügbarkeit episodischer Information anzeigtoder ob es sich dabei um Gedächtniseinträgehandelt, die vornehmlich im semantischenGedächtnis verankert sind. Dies ist im we-sentlichen die Frage danach, ob die Kinderum das erste Lebensjahr Informationen dar-

über erworben haben, daß sie selbst die ent-sprechenden Handlungen früher gesehenund erlebt haben, oder ob sie Wissen darübererworben haben, daß man mit bestimmtenObjekten bestimmte Handlungen ausführenkann; eine Antwort hierauf kann derzeitnoch nicht gegeben werden.

Im Zusammenhang mit der Analyse desdeklarativen Gedächtnisses von jungen Kin-dern wurde auch das Phänomen der kindli-chen Amnesie neu betrachtet. Als kindlicheAmnesie bezeichnet man die Unfähigkeit Er-wachsener, Erlebnisse zu erinnern, die sich inden ersten zwei bis drei Lebensjahren ereig-neten. Dieses Phänomen wurde von Freudentdeckt und später zunächst von Waldfogel(1948) systematisch untersucht.

Zunächst stehen die aktuellen Befundezum Gedächtnis von Säuglingen im Wider-spruch zu physiologischen Erklärungen fürdas Phänomen der kindlichen Amnesie, diebesagen, daß neuroanatomische Strukturendes Gehirns noch nicht weit genug ausgebil-det sind, als daß in den ersten Lebensjahrendauerhafte Gedächtniseinträge vorgenom-men werden könnten (z. B. Nadel & Zola-Morgan, 1984). Diese These ist nicht mehrhaltbar. Es existieren allerdings eine Reiheweiterer möglicher Erklärungen für diesesPhänomen. Eine erste, aktuell diskutierte Er-klärung für die kindliche Amnesie besagt, daßdieses Phänomen das Resultat der fehlendenÜbereinstimmung von Lern- und Abrufpro-zessen darstellt (z. B. Fivush & Hamond,1990). Dabei wird unterstellt, daß Kinder ihreersten Erlebnisse im Gedächtnis in sehr spezi-fischer Weise speichern und organisieren unddaß spätere Versuche, auf diese frühen Ge-dächtniseinträge zuzugreifen, deswegenscheitern, weil die Fragen nicht geeignet sind,diese spezifischen Gedächtniseinträge zu akti-vieren. In diesem Zusammenhang wird auchdarüber diskutiert, ob diese frühen Gedächt-niseinträge sprachlich zugänglich sind, da siein nicht-sprachlicher Form mental verankertwurden. Eine andere Erklärung für das Phä-nomen der kindlichen Amnesie, die derzeitdiskutiert wird, behauptet, daß Säuglingeerste Erlebnisse vergleichsweise allgemein,schematisch speichern, bevor sie selbstbezo-gene, autobiographische Information damitverknüpfen (Nelson, 1990). Aus dieser Sicht-

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weise wird angenommen, daß die kleinenKinder zunächst Kenntnisse darüber erwer-ben, wie Ereignisse typischerweise ablaufen(z. B. das Frühstück), bevor sie auf der Basisdieser schematischen Betrachtung der Weltspezifischere Informationen speichern, bei-spielsweise diejenige, daß sie einmal beimFrühstück den Kakaobecher zu Boden warfenund dieses schlimme Konsequenzen hatte.Eine weitere Erklärung für die kindliche Am-nesie ist, daß zwar frühzeitig auch spezifischeErfahrungen und Erlebnisse im Gedächtnisgespeichert werden, daß diese spezifische In-formation jedoch bald wieder vergessen wird,da noch keine Lernaktivitäten ausgebildetsind, die die dauerhafte Verankerung dieserInformation im LZG begünstigen (z. B.Rehearsal-Prozesse; vgl. auch Punkt 5; Herts-gaard & Matthews, 1993). Schließlich wirddie These diskutiert (Perner & Ruffman,1995), daß die kindliche Amnesie das Resul-tat des fehlenden Bewußtseins junger Kinderüber die Quelle von Information sein könnte(autonoetische Gedächtniskomponente). Au-tonoetisches Bewußtsein wird dabei überTests erfaßt, in denen die Kinder ausdrückensollen, wie man sich Information beschaffenkann (z. B. «Was muß man tun, um zu erfah-ren, ob ein Würfel, der in einer Holzkisteliegt, schwarz oder weiß ist. Muß man hin-eingreifen oder hineinschauen?»). Entspre-chende Bewußtseinsindikatoren finden sicherst im Alter von drei bis fünf Jahren. Ausdieser theoretischen Perspektive betrachtet,sind frühe deklarative Gedächtnisleistungen,wie sie beispielsweise in dem Forschungspro-gramm zur aufgeschobenen Nachahmung be-schrieben werden, eher Hinweise für Einträgeim semantischen Gedächtnis und kein Indizdafür, daß Kinder Wissen über den Selbstbe-zug dieser Ereignisse haben. Zu dieser Fragemüssen weitere Forschungsergebnisse abge-wartet werden.

4. Die Kapazität des GedächtnissesIn vielen Gedächtnismodellen wird ange-nommen, daß das menschliche Gedächtniseine grundlegende Beschränkung hinsicht-lich der Menge der Information aufweist, die

direkt verfügbar gehalten und bearbeitet wer-den kann. Diese sogenannte Kapazität desGedächtnisses, deren Funktion für das Ge-dächtnis gelegentlich mit der Funktion derHardware für den Computer verglichen wird,sollte sich bei der Bearbeitung ganz unter-schiedlicher Materialien in gleicher Weisemanifestieren. In vielen Untersuchungenwird diese basale Gedächtnisressource mit derKapazität des Kurzzeitgedächtnisses gleichge-setzt (vgl. 2.1).

Eine alternative Auffassung darüber, was Gedächtnis-kapazität sein könnte, findet sich in Untersuchungen,die von dem Arbeitsgedächtnismodell (Baddeley,1990) ausgehen. In diesen Untersuchungen wird dieKapazität des Arbeitsgedächtnisses als basale Gedächt-niskapazität angesehen. Die Kapazität des Arbeitsge-dächtnisses umfaßt die kurzzeitige Speicherung vonInformation und die simultane Verarbeitung zusätzli-cher Information (vgl. Daneman & Carpenter, 1980;Hitch & Towse, 1995). Im folgenden soll die traditio-nelle Konzeptualisierung von Gedächtniskapazität zu-grunde gelegt werden, weil in Studien mit Erwachse-nen gehäuft auf diese Konzeptualisierung zurückge-griffen wird.

Der Umfang der Gedächtniskapazität wirdüber die Zahl unverbundener Einzelelementegemessen, die bei schneller Präsentation be-halten (weniger als eine Sekunde pro Ele-ment) und in einem unmittelbaren, freien Er-innerungstest in der korrekten Reihenfolgeerinnert werden können. Dabei werden Zif-fern, Buchstaben oder auch Wörter zur Be-stimmung der Gedächtniskapazität herange-zogen. Häufig wird der Subtest «Zahlennach-sprechen» aus dem HAWIE (Wechsler, 1961)zur Messung herangezogen. Diese Kapazitätdes Kurzzeitgedächtnisses, die auch Gedächt-nisspanne genannt wird, liegt bei Erwachse-nen im Bereich von 7+/–2 Chunks (Miller,1956; vgl. auch Punkt 2.1).

Eine der zentralen Thesen entwicklungs-psychologischer Forschung ist, daß die Ge-dächtniskapazität mit dem Lebensalter vari-iert und daß diese Veränderung eine wesentli-che Ursache für die altersabhängig unter-schiedliche Leistungsfähigkeit des episodi-schen Gedächtnisses darstellt (Kapazitätshypo-these). In der entwicklungspsychologischenGedächtnisforschung bei Kindern wird dabeihäufig behauptet, daß der Anstieg der Ge-dächtniskapazität im Kindesalter reifungsbe-dingt (vgl. z. B. Case, 1995) erfolgt.

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4.1 Die Entwicklung der Gedächtniskapazität im Kindesalter

Abbildung 3 zeigt die Entwicklung der Gedächt-niskapazität zwischen dem zweiten Lebens-jahr und dem Erwachsenenalter für drei un-terschiedliche Materialien. Aus der Abbildungist ersichtlich, daß die Gedächtniskapazitätzwischen dem zweiten Lebensjahr und demErwachsenenalter langsam ansteigt, bis im Er-wachsenenalter schließlich ein mittleres Ni-veau von sieben Einheiten erreicht ist. DerVerlauf der Entwicklung ist dabei material-übergreifend ähnlich.

Im allgemeinen wird diese altersabhängigeVergrößerung der Gedächtniskapazität im Kin-desalter als eine wichtige Bedingung der Ver-besserung von Lern- und Gedächtnisleistun-gen angesehen, wie sie in der Entwicklungs-kurve des Gedächtnisses dargestellt sind.

In jüngster Zeit ist allerdings eine heftigeDiskussion darüber entbrannt, welcheSchlußfolgerungen für das Konzept «Ge-dächtniskapazität» aus den in Abbildung 3ebenfalls dargestellten materialabhängigenUnterschieden zu ziehen sind.

Es zeigt sich darin nämlich, daß die Ge-dächtniskapazität von einer Reihe von Fakto-ren beeinflußt wird, die in verschiedenen Al-tersbereichen unterschiedlich bedeutsamsind (z. B. die Verwendung von Lern- und Ab-rufstrategien; die Rolle der Vertrautheit desLernmaterials; altersabhängig unterschiedli-

che Vergessensprozesse im KZG; vgl. z. B.Kail, 1990, 1995). Je vielfältiger allerdings dieHinweise dafür sind, daß die unterstellte ba-sale Gedächtniskapazität durch andere Fakto-ren beeinflußt ist, um so mehr Zweifel sindangebracht, daß es sich bei der Gedächtniska-pazität tatsächlich um ein grundlegendesund stabiles Merkmal des Gedächtnissystemshandelt. Manche Kritiker fordern deswegen,das Kurzzeitgedächtnis als eigenständige Ge-dächtniseinheit aufzugeben und als Teil desLangzeitgedächtnisses aufzufassen (vgl.Dempster, 1985).

Weniger radikal sind die Konsequenzen,die andere Forscher aus dieser Befundlage zie-hen. Sie versuchen, diejenigen Komponentenzu erfassen, die sich zusätzlich zur Gedächt-niskapazität in den genannten Aufgaben ma-nifestieren (z. B. Lern- und Gedächtnisstrate-gien), diese separat ins Kalkül zu ziehen, umdadurch doch noch eine basale Ressource derInformationsverarbeitung identifizieren zukönnen. Die Bestimmung des Einflusses die-ser zusätzlichen Faktoren erfolgt teilweisemittels statistischer Analysen (z. B. Partialkor-relation; Pfadanalysen), teilweise aber auchüber Trainingsstudien (z. B. Optimierung ver-änderlicher Komponenten mittels Training;vgl. Case, 1995). Gleichzeitig werden von denForschern dieser Richtung theoretische Mo-delle konstruiert, die das Zusammenspiel derangenommenen basalen Gedächtniskapazitätund der anderen Einflußfaktoren zu unter-

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Abbildung 3: Die Entwicklungder Gedächtnisspanne imVerlauf des Kindesalters (nachDempster, 1981)

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schiedlichen Zeitpunkten des Lebens spezifi-zieren. Es gibt bereits solche Modelle (z. B.Case, Kurland & Goldberg, 1982; Kail, 1995),die allerdings der weiteren Bestätigung bedür-fen.

4.2 Die Entwicklung der Gedächtniskapazität im Erwachse-nenalter und im höheren Alter

In Abbildung 4 ist die Gedächtniskapazität undihre Entwicklung im Verlauf des Erwachse-nenalters dargestellt, wobei die Ziffernspannesowie die Wortspanne als Indikatoren ver-wendet wurden. Bezüglich der Ziffernspannezeigt sich keinerlei Unterschied zwischen jün-geren und älteren Menschen. Ältere schnei-den allerdings schlechter ab, wenn die Ge-dächtniskapazität mit Hilfe von Wörtern ge-messen wird. Dieser Befund wird in der Ent-wicklungspsychologie des Erwachsenenaltersals Hinweis darauf angesehen, daß die Lei-stungseinbuße beim absichtlichen Lernenund Erinnern im Erwachsenenalter, wie sie inder allgemeinen Entwicklungskurve des Ge-dächtnisses zum Ausdruck kommt, nicht ent-scheidend durch Veränderungen der Ge-dächtniskapazität determiniert ist.

Manche Forscher gehen davon aus, daßsich nicht die Kapazität des Gedächtnisses,sondern andere basale Ressourcen der Infor-mationsverarbeitung verändern, die die Ge-dächtnisleistung beeinflussen. Die Ressourcen-theorie, die derzeit in dieser Altersspanne ammeisten Beachtung gefunden hat, wurde vonSalthouse (1988, 1991, 1994, 1995) ent-wickelt. In einer Reihe neuerer Arbeiten stellter die Geschwindigkeit der Informationsver-arbeitung, die sich im Verlauf des Erwachse-nenalters deutlich verschlechtert, als einesolche basale Ressource der Informationsver-arbeitung vor. Salthouse zeigt für ganz unter-schiedliche kognitive Aufgaben, daß die Lei-stungsunterschiede zwischen unterschiedli-chen Altersgruppen deutlich kleiner werden,wenn die Geschwindigkeit der Informations-verarbeitung (mittels statistischer Methoden)kontrolliert wird. Dies gilt auch für Gedächt-nisaufgaben. Die Bedeutung der Geschwin-digkeit der Informationsverarbeitung für dieErklärung von Leistungsunterschieden zwi-

schen jüngeren und älteren Erwachsenennimmt dabei mit abnehmender Komplexitätder Aufgaben ab. Für die Bewältigung vonAufgaben zur Gedächtnisspanne, die wenigkomplex sind, ist deren Einfluß eher klein.

5. Lern- und Erinnerungs-strategien und GedächtnisStrategien sind bewußtseinsfähige, absicht-lich verwendete und kontrollierbare kogniti-ve Aktivitäten, die von den Lernenden zurOptimierung der Lern- und Gedächtnislei-stungen eingesetzt werden (Naus & Ornstein,1983; Pressley, Forrest-Pressley, Elliott-Faust &Miller, 1985). Strategien können zu allenZeitpunkten der Informationsverarbeitungeingesetzt werden, beim Enkodieren, Speichernund Abrufen. Die wichtigsten Lern- und Erin-nerungsstrategien sind das Wiederholen desLernmaterials in der Erwerbsphase (Rehear-sal), die Organisation des Lernmaterials nach se-mantischen Klassen, die Elaboration des Lern-materials sowie die Benutzung von Gedächtnis-hilfen beim Abruf. Durch die Fokussierung aufstrategierelevante Lern- und Gedächtnisauf-gaben ist die Entwicklung der Strategiever-wendung im Verlauf des Kindes- wie Erwach-senenalters besonders gut untersucht. Eine

531Gedächtnisentwicklung im Verlauf der Lebensspanne

Abbildung 4: Die Entwicklung der Gedächtnisspanneim Verlauf des Erwachsenenalters (nach Kausler,1994)

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grundlegende These in der entwicklungspsy-chologischen Gedächtnisforschung ist, daßsich die Güte strategischer Lern- und Ge-dächtnisleistungen deswegen im Verlauf desLebens verändert, weil sich die Lern- und Ge-dächtnisstrategien sowie ihre Nutzung verän-dern (Strategiehypothese).

5.1 Die Entwicklung des strate-gischen Lernens und Erinnerns im Verlauf des Kindesalters

Wellman (1988) zeigt in seiner Überblicksar-beit, daß die absichtliche Strategieverwen-dung beim Lernen und Erinnern bereits vordem zweiten Lebensjahr beobachtbar ist. Sieist jedoch an eine Reihe von Bedingungen ge-knüpft und tritt noch wenig konsistent auf.Frühe Strategieverwendung findet sich aus-schließlich bei sehr einfachen Aufgabenstel-lungen sowie dann, wenn die Aufgabe ver-traut ist.

DeLoache, Cassidy und Brown (1985)konnten in einem alltagsnahen Versteckspieldie Nutzung erinnerungsdienlicher Strategienbei sehr jungen Kindern beobachten. DieKinder im Alter zwischen 18 bis 24 Monatensollten sich das Versteck eines attraktiven Ge-genstands einprägen (z. B. eines Stofftiers, dasunter einem Kissen versteckt war), um diesenspäter wieder finden zu können. In dem Be-haltensintervall von drei bis vier Minutenschauten die Kinder immer wieder zu demVersteck hin, deuteten in die Richtung desVerstecks oder nannten den Namen des Tiers.Entsprechende kindliche Aktivitäten wurdenin der Kontrollbedingung, in der das Tier fürdas Kind zu sehen war, viel seltener regi-striert.

In der Studie von Wellman, Ritter und Fla-vell (1975) wurde ebenfalls ein Versteckspielbenutzt. Die Untersuchungsteilnehmer soll-ten sich diejenige von drei gleich aussehen-den Tassen einprägen, unter der ein Gegen-stand versteckt worden war, um diesen späterwiederzufinden. Zweijährige zeigten in dieserAufgabe, vermutlich aufgrund der geringenDistinktheit des Verstecks, keinerlei strategi-sches Lern- und Erinnerungsverhalten. Indiesem schwierigeren Versteckspiel konntestrategisches Verhalten erst bei Dreijährigen

in ähnlichem Ausmaß identifiziert werden,wie es DeLoache et al. (1985) bereits bei ein-einhalbjährigen Kindern gefunden hatte.Wenn die Aufgabe noch schwieriger war,etwa wenn eine größere Zahl von Tassen ver-wendet wurde, fand sich spontane Strategie-verwendung erst bei Schulkindern. Ritter(1978) verwendete sechs Tassen, die aufeinem drehbaren Untersatz angeordnetwaren, als potentielles Versteck. Es wurdenmögliche Hilfen bereitgelegt, mit deren Hilfedie Kinder das Versteck markieren konnten,so daß sie es auch nach dem Drehvorgangwiederfinden konnten. Während des Dreh-vorgangs sollten die Kinder ihre Augenschließen. Drei-, fünf- und achtjährige Kindernahmen an dem Experiment teil. Lediglichdie Schulkinder verwendeten die Erinne-rungshilfen spontan, jüngere Kinder allen-falls dann, wenn sie explizit darauf hingewie-sen wurden. Dies zeigt, daß bei dieser schwie-rigen Aufgabe eine Strategienutzung erst imSchulalter nachweisbar ist.

Das in der Studie von Ritter (1978) beob-achtete Phänomen, daß Kinder Strategienspontan nicht verwenden, obwohl sie dieseStrategie in ihrem Repertoire haben und nacheiner entsprechenden Aufforderung durchden Vl auch erfolgreich benutzen können,wird seit Flavell (1970) als Produktionsdefizitbezeichnet. Der Entwicklungsetappe des Pro-duktionsdefizits geht die Entwicklungsetappedes Mediationsdefizits voraus, innerhalb dererden Kindern eine Strategie zwar per Instrukti-on vermittelt werden kann, ohne daß dieStrategieverwendung jedoch die Gedächtnis-leistung verbessert (Reese, 1962). Undschließlich ist in jüngster Zeit in entwick-lungspsychologischen Studien im Kindesalterauch das Wirksamkeitsdefizit (Miller & Seier,1994) beschrieben worden, ein Phänomen,das beim Lernen und Erinnern älterer Men-schen seit längerer Zeit diskutiert wird (vgl.Knopf, 1987). Es bezeichnet den Sachverhalt,daß die Lern- und Gedächtnisstrategien kei-nen förderlichen Effekt haben, obwohl diesespontan produziert und verwendet werden.

Die drei Entwicklungsetappen treten nichtzu feststehenden Zeitpunkten im Leben auf.Es ließ sich lediglich zeigen, daß sich die er-folgreiche Verwendung der Lern- und Ge-dächtnisstrategien allmählich entwickelt,

532 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

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und dabei typischerweise die Etappen Media-tionsdefizit, Produktionsdefizit und Wirksam-keitsdefizit nacheinander durchlaufen wer-den. Dieses typische Entwicklungsmuster de-monstriert, daß neben der Kenntnis einerStrategie zusätzliche Bedingungen realisiertsein müssen, um die Strategie erfolgreich be-nutzen zu können. Innerhalb der Metage-dächtnisforschung ist vorgeschlagen worden,daß neben der Strategiekenntnis gedächtnis-bezogenes Wissen vonnöten ist, um die Stra-tegie erfolgreich zum Einsatz bringen zu kön-nen (vgl. Punkt 7). Siegler (1991) rekonstru-iert die Anfänge des strategischen Lernensund Erinnerns mit Hilfe eines Kosten-Nut-zen-Modells. Aus seiner Sichtweise verursachtdie Verwendung einer Lern- und Erinne-rungsstrategie jungen Kindern hohe Kosten,die zum einen mit der Unvertrautheit derStrategie, zum anderen mit den strukturellenBeschränkungen des kognitiven Systems zutun haben (z. B. geringere Kapazität des Kurz-zeitgedächtnisses). Dabei ist die Strategiever-wendung für die Kinder häufig von geringemNutzen. Strategisches Lernen und Erinnernim Kindesalter kann befördert werden, indementweder die Kosten für die Strategieverwen-dung herabgesetzt werden (z. B. einfachesMaterial, das die Verwendung einer Strategieleicht macht) oder der Nutzen der Strategie-verwendung besonders attraktiv und augen-

fällig gemacht wird (z. B. Honorierung jedeserinnerten Items; vgl. Kunzinger & Wittryol,1984).

5.2 Die Entwicklung desstrategischen Lernens und Erinnerns im Erwachsenenalter undhöheren Alter

Es gibt eine Vielzahl von Belegen dafür, daßstrategisches Lernen und Erinnern im Ver-lauf des Erwachsenenalters schlechter wird.Dies ist in Abbildung 5, die auf der Basis derBefunde von Hultsch (1975) erstellt wurde,für das Lernen und Erinnern von kategori-sierbaren Wörtern dargestellt.

Abbildung 5 zeigt, daß sich die freien Erin-nerungsleistungen für dieses Material imVerlauf des Erwachsenenalters deutlich ver-schlechtern, daß jedoch auch die Zahl erin-nerter Kategorien im Alter abnimmt.

Die Gründe für diese Leistungseinbußensind Gegenstand einer Reihe theoretischerÜberlegungen und empirischer Analysen.Zum einen wurde die Hypothese aufgestellt,daß ältere Menschen die Wörter wenigerstark in Kategorien organisieren, als dies diejüngeren tun. Diese Hypothese erschien ins-besondere für kategorial organisierbares Ma-terial plausibel, da es Hinweise dafür gibt,

533Gedächtnisentwicklung im Verlauf der Lebensspanne

Abbildung 5: Das Lernen undErinnern von kategorisierbarenWörtern sowie von Kategoriena-men durch jüngere und ältereErwachsene (nach Hultsch,1975)

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daß sich im Alter die Organisationsprinzipienvon Wörtern verändern, da ältere Menschenbei spontanen Kategorienbildungen eherschema- und handlungsbezogene Organisa-tionen von Nomina vornehmen und keinekategorialen Organisationen, wie dies jüngereErwachsene tun (vgl. Arbuckle, Gold & An-ders, 1986). Wenn ältere Menschen die Wör-ter Tisch, Schreibtisch, Bett, Kellner, Lehrer,Krankenschwester sortieren sollen, dannlegen sie bevorzugt Tisch und Kellner,Schreibtisch und Lehrer zusammen, sie bil-den also handlungsbezogene Einheiten.

Eine andere Hypothese besagt, daß die äl-teren Menschen zwar das Lernmaterial ingleicher Weise wie jüngere Menschen organi-sieren, die verwendeten Klassen jedoch weni-ger gut als jüngere nutzen können, um ihreErinnerungsleistung zu optimieren (Wirksam-keitsdefizit; vgl. Knopf, 1987; Rankin, Karol& Tuten, 1984). Dieses Defizit kann darin be-gründet sein, daß die Älteren beim Erinnernganze Kategorien vergessen. In dieser Weisekann auch der in Abbildung 5 dargestellte Be-fund interpretiert werden, wonach mit zu-nehmendem Alter immer weniger Kategorie-namen erinnert werden. In diesem Zusam-menhang wird auch darüber diskutiert, obdas Vergessen ganzer Kategorien beim Erin-nern aufgrund von Interferenzen währenddes Erinnerns geschieht oder aufgrundschlechterer Enkodiervorgänge bei älterenMenschen.

Alterseffekte beim absichtlichen, strate-gieintensiven Lernen und Erinnern findensich auch bei anderen Materialien und Aufga-benstellungen. So sind ältere Menschen jün-geren beim Lernen und Erinnern von schwerorganisierbaren Wörtern unterlegen. Diesverweist darauf, daß die Defizite Älterer kei-neswegs nur dann auftreten, wenn verfügba-re Kategorien als Lernhilfen benutzt werdenkönnen, sondern auch dann, wenn Lernstra-tegien spontan erzeugt werden sollen (z. B.Rehearsal; die subjektive Organisation einerStruktur, die die Wörter verbindet). In diesemZusammenhang ist eine Studie von Mäntyläund Bäckman (1990) aufschlußreich, in derdie Untersuchungsteilnehmer zu jedem Worteiner zu erlernenden Liste spontan drei Merk-male generieren sollten, die die einzelnenObjekte kennzeichnen (z. B. Apfel ... Frucht,

eßbar, rot). Drei Wochen später wurden füreinen Teil der Wörter die früher generiertenMerkmale als Abrufhilfen vorgegeben. Fürden anderen Teil der Wörter sollten erneutMerkmale generiert werden. Dabei stelltesich zweierlei heraus: Die älteren Erwachse-nen erinnerten auch mit ihren eigenen Hil-festellungen weniger Wörter als die jünge-ren. Zudem fand sich bei den Älteren einegrößere Instabilität der bei den beiden Mes-sungen generierten Merkmale als bei denjüngeren. Dies wird als Beleg dafür angese-hen, daß die Informationsverarbeitung äl-terer Menschen instabiler ist als die jünge-rer. Mäntylä und Bäckman (1990) gehendavon aus, daß die höhere Instabilität derInformationsverarbeitung im Alter ihre ge-ringere Effektivität bedingt.

Eine aktuelle These, die von Craik (1994)vorgeschlagen wurde, geht von der Beobach-tung aus, daß Defizite beim Lernen und Erin-nern älterer Menschen im Vergleich zu jünge-ren um so dramatischer ausfallen, je mehr dieAufgaben selbst-initiierte, strategische Infor-mationsverarbeitung verlangen. So haben Al-terseffekte des Gedächtnisses dann einen ver-gleichsweise begrenzten Umfang, wenn dasLernen und Erinnern durch Vorgabe vonLern- und Erinnerungshilfen (z. B. Nennungvon Lernstrategien; unterstützte Gedächtnis-tests) erleichtert wird. Hingegen finden sichsehr deutliche Unterschiede zwischen jünge-ren und älteren Menschen, wenn solche Stra-tegien und Hilfestellungen selbst erzeugt wer-den müssen. Craik (1994) schlägt deswegenvor, die nachlassende Fähigkeit zur selbstiniti-ierten, strategischen Informationsverarbeitung alszentrales Charakteristikum des Alterns desGedächtnisses anzusehen.

6. Wissen und GedächtnisBei der Analyse des strategischen Lernensund Erinnerns fanden sich sowohl in allge-meinpsychologischen als auch in entwick-lungspsychologischen Studien viele Belegedafür, daß das Wissen der Lernenden einewesentliche Bedingung für den Erwerb neuerInformation ist (vgl. Mandl & Spada, 1988).Die Bedeutung des Wissens für das Gedächt-nis wurde dabei mit Hilfe zweier verschiede-

534 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

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ner Wissenstypen untersucht und einheitlichbelegt: (a) mit Hilfe des allgemeinen Wissensüber die Welt (Weltwissen); (b) mit Hilfe desWissens über spezifische Domänen oder In-haltsbereiche (bereichsspezifisches Wissen; z. B.Wissen über Sport, Spiele, Politik etc.).

Es wurden unterschiedliche Mechanismenentdeckt, durch die vorhandenes Wissen denErwerb neuer Information fördert (vgl. Gru-ber & Ziegler, 1996). So wurden beispielswei-se spezifische Lern- und Erinnerungsstrategi-en identifiziert, die durch Wissen erzeugtwerden: Wenn sich Schachexperten Schach-stellungen einprägen sollen, dann sind sieAnfängern gegenüber deswegen im Vorteil,weil sie auf dem Brett Konstellationen erken-nen, die auf bestimmte Spielzüge zurückzu-führen sind (z. B. Rochade; bestimmte Eröff-nungen). Dadurch verfügen die Schachspie-ler über spezifische Strategien, das Material indieser Gedächtnisaufgabe zu strukturieren,die Anfängern fehlen.

Zweifellos wird sowohl das allgemeineWissen über die Welt wie auch Wissen überspezifische Inhaltsbereiche im Verlauf desKindesalters erst allmählich erworben (vgl.Weinert & Waldmann, 1988). Kleine Kinderwerden deswegen auch als universelle Novi-zen bezeichnet (Brown & DeLoache, 1978).Defizite in Lern- und Erinnerungsleistungenjüngerer Kinder sind als Resultate von Wis-sensdefiziten angesehen worden. Einige Au-toren vertreten dabei die sogenannte Wissens-hypothese, die besagt, daß die allmählicheEntwicklung des Wissens im Kindesalter diezentrale Bedingung für die langsame Verbes-serung der Leistungsfähigkeit des Gedächtnis-ses im Kindesalter ist (Chi, 1985; Chi & Ceci,1987; Ornstein & Naus, 1985).

Einen Beleg für die Bedeutung von Welt-wissen für den Erwerb neuer Information lie-fert beispielsweise eine Studie von Bjorklundund Buchanan (1989). Dritt-, Fünft- undSiebtklässler wurden trainiert, beim Lernenvon Wörtern kategoriale Organisationsstrate-gien zu verwenden. In der anschließendenTestbedingung bekamen die Kinder Wortseri-en vorgelegt, die entweder für die Kategorietypische Items (z. B. die Tiere Katze, Pferd,Hund) oder atypische Items (z. B. Eichhörn-chen, Giraffe, Hirsch) umfaßten. Während eskeine altersabhängigen Unterschiede bei der

Organisation der typischen Items gab, zeig-ten die älteren Kinder bei den atypischenWörtern weit bessere Organisationsstruktu-ren als die jüngeren Kinder. Dies wird als Hin-weis darauf angesehen, daß sich mit zuneh-mendem Alter der Zugriff auf die atypischenItems verbessert und daß eine ausreichendeWissensbasis eine wichtige Bedingung für ef-fektives Lernen darstellt.

In der klassischen Untersuchung von Chi(1978) sollten zehnjährige Kinder, die überSchachkenntnisse verfügten, Schachstellun-gen rekonstruieren, die sie für kurze Zeit ge-zeigt bekommen hatten. Sie bewältigten dieseGedächtnisaufgabe besser als Erwachsene, diekeine Schachkenntnisse hatten. Dabei hattendiese Kinder keineswegs generell ein gutesGedächtnis. In einer Kontrollaufgabe, in dersie Zahlenfolgen zu erlernen und frei zu erin-nern hatten, einer wissensfernen Gedächtnis-aufgabe also, schnitten sie weit schlechter alsdie Erwachsenen ab. In Nachfolgestudien istdie Bedeutung bereichsspezifischen Wissensfür weiteres Lernen und Erinnern vielfach be-stätigt worden, wobei ein breites Spektrumvon Wissensbereichen berücksichtigt wurde(Gruber & Ziegler, 1996; Lindberg, 1980).

Die Resultate im Erwachsenenalter undhöheren Alter sind vergleichbar. Knopf (1987)zeigte beispielsweise, daß die Fähigkeit, sichpolitische Texte über eine Thematik anzueig-nen, zu der keine Vorkenntnisse verfügbarsind, zwischen dem 50. und 70. Lebensjahrzunehmend nachläßt. Wenn allerdings be-reichsspezifisches Wissen zu der in den Textenbehandelten Thematik vorhanden ist, ver-schwindet der Alterseffekt vollkommen: ÄltereExperten in dem in Frage stehenden Bereicherreichen vergleichbare freie Erinnerungslei-stungen wie jüngere Experten.

Förderliche Effekte des Wissens für den Er-werb neuen Wissens durch ältere Menschenist für eine Vielzahl von Inhaltsbereichen ineiner größeren Zahl von Untersuchungen be-stätigt, wobei der Wissenseffekt nicht immerso groß ist, daß der Effekt des Alters elimi-niert wird (für einen Überblick s. Charness &Bosman, 1990; Gold, 1995; Knopf, Preußler& Kolodzij, 1990). Wissenseffekte manifestie-ren sich dabei in aller Regel lediglich beim Er-werb neuer Materialien, die sich direkt aufdas Wissen beziehen lassen.

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In jüngster Zeit haben Knopf, Preußler und Stefanek(1995) allerdings einen Hinweis dafür gefunden, daßförderliche Wissenseffekte von größerer Generalitätauftreten können: Sie zeigten in einer Studie mit jün-geren und älteren Skatexperten und -anfängern, daßSkatexperten altersunabhängig stets bessere Leistun-gen als Anfänger erreichen, wenn sie umschriebeneMengen von Items nach einmaliger Präsentation erin-nern sollen. Diese förderliche Wirkung von Expertisefür die Kapazität des KZGs trat nun nicht nur dannauf, wenn skatbezogenes Material einzuprägen war(Symbole des Kartenspiels), sondern auch bei anderen,wissensfernen Materialien (z. B. Ziffernabfolge). DieKapazität des KZGs verbessert sich also als Funktionder Expertise (vgl. Punkt 4).

Daß diese globale Verbesserung des KZGs tatsäch-lich ein Effekt der Skatexpertise ist, wurde durch einezusätzlich durchgeführte Trainingsstudie nachgewie-sen. In dieser wurden ältere Menschen im Skatspielunterrichtet und die Entwicklung des Gedächtnissesstudiert. Als Effekt des Trainings waren nicht nur eineVerbesserung von Skatwissen und -kenntnissen nach-weisbar, sondern es fand sich auch eine Verbesserungder Kapazität des KZGs.

Nachdem zahlreiche förderliche Effekte desWissens für das Lernen und Erinnern ältererMenschen nachgewiesen worden waren,wurde die Frage aufgeworfen, ob die in derForschung beschriebenen Alterseinbußen desGedächtnisses möglicherweise dadurch über-schätzt werden, daß vornehmlich mit sprach-lichem Material und wissensfernen Aufga-benstellungen gearbeitet wird. Deswegenwurden in den letzten Jahren vermehrtalltagsbezogene Aufgabenstellungen und all-tagsnahe Lernmaterialien verwendet. In ei-nem derartigen Forschungsprogramm wurdebeispielsweise danach gefragt, wie gut ältereMenschen einfache Handlungen erlernenund erinnern, wie sie im Alltag typischerwei-se zu behalten sind (z. B. «das Fensterschließen», «das Bügeleisen abstellen»;Knopf, in Vorb.). In diesen Studien zeigtesich, daß ausgeführte Handlungen besser er-lernt und erinnert werden als vergleichbaresMaterial, das sprachlich zu erlernen war.Diese förderliche Wirkung der Ausführung imUnterschied zum verbalen Lernen, der soge-nannte Handlungseffekt, trat bei jüngeren undälteren Menschen in gleichem Umfang auf.Allerdings fanden sich keinerlei Hinweisedafür, daß ältere Menschen alltagsbezogeneHandlungen ebensogut wie jüngere erlernenund erinnern. Altersdefizite des Gedächtnis-ses wurden beim Lernen und Erinnern ausge-

führter Handlungen ebenso festgestellt, wiesie beim sprachlichen Lernen und Erinnerndieses Materials auftraten. Dies zeigt, daß dieBedingungen, unter denen Wissen das Ler-nen und Erinnern im Alter befördert, sehrspezifisch sind.

Der Nachweis der Bedeutung von Wissenfür Lernen und Gedächtnis ist allerdings füreine Reihe anderer Fragen bedeutungsvoll: Ei-nerseits kann man intraindividuelle Variatio-nen sowie interindividuelle Unterschiede derLeistungsfähigkeit des Gedächtnisses mit un-terschiedlichem Wissen der Menschen er-klären. Andererseits läßt sich so erklären, wieein hohes Leistungsvermögen des Gedächt-nisses auch im Alter aufrecht erhalten werdenkann (vgl. z. B. Shimamura, Berry, Mangels,Rusting & Jurica, 1995).

Dem ist aber entgegenzuhalten, daß es zuEinbußen des Lernens und Erinnerns im Alterkommt, obwohl in diesem Lebensabschnittzweifellos besonders viel und reichhaltigesWissen verfügbar ist. Dies verweist darauf,daß die Leistungsgüte des Gedächtnisses kei-neswegs nur durch Wissen bestimmt wird,sondern durch eine Reihe weiterer Faktoren,die sich in aller Regel im Verlauf des Lebensweniger günstig entwickeln. Alterseinbußenin Lern- und Gedächtnisleistungen zeigensich deswegen um so stärker, je wissensfernerbzw. neuartiger das Material ist, das erworbenwerden soll. Wissen kann die Defizite des Ge-dächtnisses im Alter teilweise, aber nicht voll-ständig kompensieren.

7. Metagedächtnis und Gedächtnis

Bei der Analyse der Entwicklung des strategi-schen Lernens und Erinnerns im Kindesalterwurde, wie bereits beschrieben, das soge-nannte Produktionsdefizit gefunden (vgl.Punkt 5). Das Produktionsdefizit bezeichneteine Etappe in der kindlichen Entwicklung,in der Lernstrategien verfügbar sind, ohnedaß diese spontan verwendet werden. Flavell(1971) geht davon aus, daß die Überwindungdieser Entwicklungsetappe erst erfolgt, wennWissen über Lernen und Gedächtnis verfüg-

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bar ist. Dieses gedächtnisbezogene Wissenwird als Metagedächtnis bezeichnet.

Im allgemeinen werden zwei Teilaspektegedächtnisbezogenen Wissens unterschieden:Deklaratives Metagedächtnis bezeichnet dasverbalisierbare Wissen über Lernen und Ge-dächtnis. Dieses wird häufig zusätzlich in dieAspekte Person-, Aufgaben- und Strategiewis-sen unterteilt (Flavell & Wellman, 1977). DasPersonwissen bezeichnet dabei die Kenntnis-se hinsichtlich der Güte des eigenen Ge-dächtnisses sowie der anderer Personen; dasAufgabenwissen bezeichnet die Kenntnisseüber die Merkmale unterschiedlicher Lern-und Gedächtnisaufgaben; unter Strategiewis-sen wird das deklarative Wissen über Lern-und Erinnerungsstrategien verstanden. DiesesWissen wird mittels Befragung erfaßt (vgl.Hasselhorn, 1995).

Im Unterschied dazu bezeichnet prozedura-les Metagedächtnis die Nutzung von gedächt-nisbezogenem Wissen bei der Bewältigungvon Lern- und Gedächtnisaufgaben. Es wirddabei angenommen, daß das prozedurale Me-tagedächtnis die Bearbeitung von Lern- undGedächtnisaufgaben steuert (gedächtnisbezo-genes Selbstregulationssystem). Die Güte desprozeduralen Metagedächtnisses wird mitHilfe von Indikatoren erfaßt, die bei der Bear-beitung von Gedächtnisaufgaben eingesetztwerden. Beispiele für solche Indikatoren sindprospektive Einschätzungen der Menge derInformation, die bei einer konkreten Aufgabeerlernt werden kann, oder retrospektive Beur-teilungen des Umfangs des Erlernten oder derGüte des Erlernten.

Bei der Konstruktion des Konzepts Meta-gedächtnis ging man davon aus, daß deklara-tives und exekutives Metagedächtnis ver-gleichsweise eng miteinander verknüpft sindund daß strategisches Lernen und Erinnernum so besser ausfallen, je besser das Metage-dächtnis ist (Metagedächtnishypothese).

7.1 Die Entwicklung des Metagedächtnisses im Kindesalter

Die bekannteste Studie zur Entwicklung desdeklarativen Metagedächtnisses im Kindesal-ter wurde von Kreutzer, Leonard und Flavell(1975) durchgeführt. Kindergartenkinder

sowie Schüler im ersten, dritten und fünftenSchuljahr wurden über unterschiedlicheAspekte des Gedächtnisses befragt. Es zeigtesich, daß das gedächtnisbezogene Wissen imVerlauf der Entwicklung umfänglicher undrealistischer wurde. Zunehmend mehr wur-den die Grenzen der Leistungsfähigkeit deseigenen Gedächtnisses erkannt. So glaubenca. 30 % der Kindergartenkinder, daß sie nie-mals etwas vergessen, bei den Fünftkläßlernist kein Kind so optimistisch. Im gleichenZeitraum wird zudem Wissen erworben bei-spielsweise über die Rolle der Lernzeit für dasLernen, der Bedeutung des Wiederholens imUnterschied zum Neulernen oder der Funkti-on von strategischem Lernen (z. B. Kategori-sieren) für den Lernerfolg. Dieser allgemeineEntwicklungstrend, wonach Kindergartenkin-der nur ein sehr vorläufiges, meist zu optimi-stisches Wissen über das Gedächtnis und dieBedingungen des Lernens haben, und diesesWissen im Verlauf der Grundschulzeit reali-stischer wird, wurde in zahlreichen Untersu-chungen bestätigt. Dies wurde für alle dreiAspekte des gedächtnisbezogenen Wissensgezeigt. Grundschulkinder erwerben außer-dem auch Wissen über das Zusammenwirkender einzelnen gedächtnisrelevanten Kompo-nenten (z. B. daß der Lernaufwand erhöhtwerden muß, wenn das Lernmaterial um-fänglicher wird; vgl. Justice, 1986; Wellman,1978, 1983; für einen Überblick s. Schneider& Pressley, 1989).

Der Entwicklungsverlauf des exekutivenMetagedächtnisses im Kindesalter gleicht demdes deklarativen. Jüngere Kinder überschauenihren Lern- und Erinnerungsprozeß schlech-ter als ältere: So geben Kinder im Vorschulal-ter und den ersten Schuljahren typischerweisefalsche Prognosen hinsichtlich ihrer eigenenLeistungen ab, sie verschätzen sich deutlichbezüglich der Zeit, die sie benötigen, um sichein bestimmtes Material anzueignen, und sieerkennen Unterschiede in der Schwierigkeitvon Lernmaterialien kaum (z. B. ordenbareversus nicht-ordenbare Wortliste). Entspre-chende Kenntnisse erwerben sie erst im Ver-lauf des Grundschulalters oder sogar nochspäter. Auch dieser Entwicklungstrend ist inzahlreichen Studien belegt worden (z. B.Hasselhorn, 1995; Schneider & Pressley, 1989;für einen Überblick Wellman, 1983).

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In zwei von Schneider (1985; Schneider &Pressley, 1989) durchgeführten Metaanalysenwurde die Enge des Zusammenhangs zwi-schen Metagedächtnis und Gedächtnis ermit-telt. In die zweite, größere Analyse wurdenmehr als 60 Studien einbezogen, die insge-samt mehr als 7000 Personen umfaßten. Inbeiden Analysen ergab sich eine mittlere Kor-relation von r = .41 zwischen dem jeweiligenMetagedächtnismaß und der Leistungsfähig-keit des Gedächtnisses. Zwar wird dieses Zu-sammenhangsmuster im allgemeinen alsHinweis darauf gewertet, daß die Entwick-lung von Metagedächtnis eine Bedingung derEntwicklung des strategischen Lernens undErinnerns ist, doch kann die alternative Hy-pothese auf der Basis der vorliegenden Studi-en nicht ausgeschlossen werden, daß sichbeide Aspekte des Gedächtnisses parallel ent-wickeln, ohne daß sie kausal miteinanderverknüpft sind.

7.2 Die Entwicklung des Metagedächtnisses im Erwachse-nenalter und im höheren Alter

Die Metagedächtnisforschung hat sich auchmit Erwachsenen und älteren Menschen be-faßt. Dabei wurde ein etwas breiterer Unter-suchungsansatz verfolgt, als er in der Kinder-forschung dargestellt wurde. Bei der Analysedes gedächtnisbezogenen Wissens von jünge-ren und älteren Erwachsenen interessierteman sich zum einen ebenfalls dafür, inwie-weit korrektes, gedächtnisbezogenes Wissenvorhanden ist. Zum anderen interessierteman sich aber auch dafür, ob stabile, gedächt-nisbezogene Überzeugungen existieren, diemöglicherweise nicht korrekt sind (z. B.«Mein Gedächtnis wird von Tag zu Tagschlechter.»), aber dennoch die Art des Ler-nens und Erinnerns determinieren können(für einen Überblick s. Cavanaugh & Green,1990; Hertzog, Dixon & Hultsch, 1990; Love-lace, 1990).

In den vorliegenden Studien zeigte sich,daß das deklarative gedächtnisbezogene Stra-tegie- und Aufgabenwissen altersübergreifendvergleichsweise stabil ist. Ältere Menschenwissen demnach ebenso gut wie jüngere dar-

über Bescheid, was Gedächtnisaufgabenleicht oder schwer macht und welche Strate-gien nützlich sind, um Lern- und Gedächt-nisaufgaben zu bewältigen. Einer Verände-rung als Folge des Alterns unterliegt hingegendas personenbezogene Wissen: Mit zuneh-mendem Alter wird immer häufiger die Über-zeugung berichtet, daß die Kontrolle über daseigene Leistungsvermögen verloren geht unddaß das Gedächtnis zunehmend schlechterwird. Nach Lovelace (1990) drückt diese al-terskorrelierte Veränderung des Personwis-sens eher die Übernahme eines Altersstereo-typs aus, als daß dieses Überzeugungswissenauf der Beobachtung der individuellen Lei-stungsfähigkeit beruht. Dafür, daß sich indiesem pessimistischen Überzeugungswisseneher eine Übernahme des Altersstereotypswiderspiegelt, spricht nach Lovelace zumeinen die Tatsache, daß die überwiegendeZahl älterer Menschen ein derart ungünstigesBild vom eigenen Gedächtnis hat, obwohl esauch einzelne ältere Menschen mit einerguten Gedächtnisleistung gibt. Zum andereninterpretiert Lovelace (1990) den Befund, daßder korrelative Zusammenhang zwischen dertatsächlichen Leistungsfähigkeit des Gedächt-nisses und dem deklarativen Überzeugungs-wissen über die eigene Leistungsfähigkeit inaller Regel schwach ist, als Hinweis für dieÜbernahme des Altersstereotyps.

Die Schlußfolgerung von Lovelace (1990)über die Entstehung der pessimistischenÜberzeugung zum eigenen Leistungsvermö-gen ist freilich nicht zwingend, da auch dieZusammenhänge zwischen den anderenAspekten des deklarativen gedächtnisbezoge-nen Wissens (Strategie- und Aufgabenwissen)und der Leistungsfähigkeit des Gedächtnissesim Erwachsenenalter und Alter durchwegsniedrig ausfallen (vgl. z. B. Knopf, 1987).Diese Befundkonstellation läßt sich alterna-tiv auch als Indiz dafür werten, daß die Meta-gedächtnishypothese nicht genügend Bestäti-gung erfährt.

Die Befundlage zur Entwicklung des exe-kutiven Metagedächtnisses im Verlauf des Er-wachsenenalters und höheren Alters istäußerst widersprüchlich und unklar. Es gibtsowohl Belege dafür, daß ältere Menschensehr viel Einsicht in ihren Lernprozeß haben(z. B. Knopf, 1987; Lachman, Lachman &

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Thronesbery, 1979), wie es umgekehrt auchHinweise dafür gibt, daß ältere Menschenden individuellen Lernprozeß offenbar nichtgut überschauen (Knopf, 1987; Lovelace &Marsh, 1985). Zusätzlich fallen die Korrelatio-nen zwischen den verschiedenen Indikatorendes exekutiven Metagedächtnisses unterein-ander auf jeder Altersstufe niedrig aus, wasdarauf hinweist, daß es sich dabei um keinhomogenes Konstrukt handelt (Knopf, 1987).Auch die Korrelationen zwischen den Indika-toren des exekutiven Metagedächtnisses undden Gedächtnisleistungen sind in aller Regelniedrig.

In jüngster Zeit versucht vor allem die Ar-beitsgruppe um Hertzog, Dixon und Hultschdas Konzept Metagedächtnis theoretisch neuzu fassen, wobei sie auf die Maße des exeku-tiven Metagedächtnisess abstellen (z. B.Hertzog, Dixon & Hultsch 1990; Hertzog &Dixon, 1994). Sie nehmen dabei an, daß ein-zelne Indikatoren des exekutiven Metage-dächtnisses eher Ausdruck allgemeiner ge-dächtnisbezogener Überzeugungen sind,während andere eher ein Indiz für individuel-le Lernerfahrungen darstellen. So wird bei-spielsweise angenommen, daß Indikatorendes exekutiven Metagedächtnisses, die zufrühen Zeitpunkten einer Aufgabenbearbei-tung erfaßt werden (z. B. Prognose des eige-nen Leistungsvermögens), eher allgemeinesÜberzeugungswissen erfassen. Andere Maßedes exekutiven Metagedächtnisses, vor allemsolche, die zu späteren Zeitpunkten der Auf-gabenbearbeitung erfaßt werden (z. B. retro-spektive Beurteilung der eigenen Gedächtnis-leistung), greifen eher auf spezifische Infor-mationen zu, die bei der Bearbeitung dieserAufgabe erzeugt wurden. Dieses theoretischeModell sieht außerdem andere Determinan-ten der Güte des exekutiven Metagedächtnis-ses vor (z. B. Vertrautheit der Aufgabe; Zahlder Bearbeitungsdurchgänge bei einer Aufga-be). Die Bedeutung des Metagedächtnisses fürdas Gedächtnis wird bei dieser theoretischenNeufassung des Metagedächtnismodells zu-sätzlich eingeschränkt, da eingeräumt wird,daß das gedächtnisbezogene Selbstregulati-onssystem lediglich eine Determinante der Lei-stungsfähigkeit des Gedächtnisses darstellt.Damit ist es nicht geeignet, die altersabhän-gig unterschiedliche Leistungsfähigkeit des

Gedächtnisses vollständig zu erklären. Diesesspezifischere Metagedächtnismodell ist zwi-schenzeitlich durch erste empirische Datenunterstützt worden (Hertzog, Saylor, Fleece &Dixon, 1994).

8. Die Entwicklung des im-pliziten Gedächtnisses imVerlauf der Lebensspanne

Unter Punkt 3 war dargestellt worden, daßnicht-deklarative Gedächtnisleistungen be-reits bei Neugeborenen nachweisbar sind. Imfolgenden soll die lebenslange Entwicklungeines spezifischen Ausschnitts des nicht-de-klarativen Gedächtnisses, nämlich impliziterGedächtnisleistungen, dargestellt werden.

Wie bereits ausgeführt wurde, verstehtman unter impliziten GedächtniseffektenVerhaltensänderungen, die auf eine früherePräsentation eines Materials zurückgeführtwerden können. Dabei hat die frühere Be-schäftigung mit dem Material keineswegs dasZiel, sich dieses Material einzuprägen. Solcheimpliziten oder indirekten Bahnungseffektesind auch dann nachweisbar, wenn gar keinWissen darüber vorliegt, daß das Materialfrüher bereits präsentiert wurde (vgl. z. B. Stu-dien an Amnestikern). Es wird davon ausge-gangen, daß derartige Bahnungseffekte vor-nehmlich auf der Verarbeitung perzeptuellerInformation basieren. Dies ist beispielsweisedaran erkennbar, daß Bahnungseffekte an dieBedingung geknüpft sind, daß die oberfläch-lichen, perzeptiven Merkmale des Materialsbei der ersten und zweiten Präsentation iden-tisch sind (z. B. gleiche Schriftart bei Wör-tern).

In entwicklungspsychologischen Studienwerden implizite Gedächtnisleistungen häu-fig mit Hilfe von Bildmaterial untersucht. Bil-der wurden verwendet, um eine möglichstgroße Altersspanne mit dem gleichen Materi-al untersuchen zu können. Häufig werdendabei vertraute Objekte benutzt (z. B. Pferd,Baum, Sonne vgl. Perrig & Perrig, 1993). Die-ses Bildmaterial wird den Untersuchungsteil-nehmern im allgemeinen im Rahmen eines«Priming-Paradigmas» präsentiert.

539Gedächtnisentwicklung im Verlauf der Lebensspanne

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In Phase I des Experiments, der Erwerbsphase, wirdden Versuchsteilnehmern nacheinander eine Serie vonBildern für jeweils wenige Sekunden etwa auf einemBildschirm präsentiert. Die Untersuchungsteilnehmerwerden dabei instruiert, die Bilder zu betrachten. InPhase II des Experiments, der Testphase, wird die im-plizite Gedächtnisleistung gemessen. Dies kann bei-spielsweise dadurch geschehen, daß die zuvor gezeig-ten Bilder am PC zunächst nur fragmentarisch und all-mählich immer vollständiger präsentiert werden. DieVervollständigung eines Bildfragments wird solangevorgenommen, bis das Objekt richtig benannt wird.Ein Beleg für einen Bahnungseffekt wäre gegeben,wenn Versuchsteilnehmer, die an Phase I des Experi-ments teilgenommen haben, die Objekte schneller er-kennen als Personen einer Kontollgruppe, die die Ob-jekte zuvor nicht gezeigt bekamen.

Mitchell (1993) gibt einen Überblick über dielebenslange Entwicklung des impliziten Ge-dächtnisses und stützt sich dabei aus-schließlich auf Untersuchungen, in denenmit bildlichem Material gearbeitet wurde. Diejüngsten Teilnehmer in den von Mitchell zu-sammengefaßten Studien waren drei Jahrealt, die ältesten 71 Jahre. In der Mehrzahl derArbeiten wird zusätzlich zum impliziten auchdas explizite, deklarative Gedächtnis erfaßt.Dies geschieht häufig dadurch, daß in derTestphase zusätzlich zu den Bildern, die inder Erwerbsphase gezeigt wurden, neue,zuvor nicht gezeigte Bilder präsentiert wer-den. Die Untersuchungsteilnehmer sollennun einerseits im impliziten Gedächtnistestauf der Basis der Bildfragmente alle Bilder er-kennen, wobei der Bahnungseffekt nur fürdie wiederholt präsentierten Bilder erwartetwird. Dieser sollte sich in besonders gutenund schnellen Identifikationsleistungen ma-nifestieren (Identifikation als Indikator fürimplizites Gedächtnis). Andererseits sollendie Untersuchungsteilnehmer im Anschlußan die Identifikation jedes Bildes sagen, ob siedieses Bild zuvor präsentiert bekommen hat-ten oder nicht (Wiedererkennen als Indikatorfür explizites Gedächtnis). Mitchell (1993)zeigt in seinem Überblick, daß sich in den ex-pliziten Gedächtnistests, wie es aufgrund derLiteratur erwartet werden muß, durchgängigbedeutsame Unterschiede zwischen den Al-tersgruppen finden: Jüngere Erwachsene er-reichen bessere explizite Gedächtnisleistun-gen als Kinder und als ältere Erwachsene. ImUnterschied dazu gibt es in den implizitenGedächtnistests kaum Hinweise auf Altersver-

änderungen: Implizite Gedächtnisleistungenvon kleinen Kindern sind mit denen jüngererErwachsener weitgehend vergleichbar. Zu-dem erreichen ältere Erwachsene vergleichba-re implizite Gedächtnisleistungen wie jünge-re Erwachsene.

Zum gleichen Ergebnis wie Mitchell (1993)kommt auch Graf (1990) sowie Parkin (1993),die in ihren Übersichtsarbeiten auch Studienberücksichtigen, in denen sprachliches Mate-rial benutzt wurde. Naito und Komatsu(1993) bestätigen den zentralen Befund derAltersunabhängigkeit impliziter und der Al-tersvariabilität expliziter Gedächtnisleistun-gen für das Kindesalter, Light und LaVoie(1993) für das Erwachsenenalter und dashöhere Alter.

Es herrscht also große Einheitlichkeit zwi-schen unterschiedlichen Arbeitsgruppen da-hingehend, daß implizite Gedächtnisleistun-gen lebensaltersübergreifend weitgehend un-verändert bleiben, während explizite, dekla-rative Gedächtnisleistungen starke alterskor-relierte Veränderungen aufweisen.

Die Analyse impliziter Gedächtnisleistun-gen ist nicht nur deswegen interessant, weilsie das Gedächtnis von einer bisher unbe-kannten Seite beleuchten. Es gibt zumindestein weiteres Argument, das das Studium die-ses Gedächtnisaspekts besonders wichtigmacht. Die vorliegenden Untersuchungenzeigen nämlich, daß das implizite Gedächtnisnicht nur recht stabil ist, sofern der Alterns-prozeß normal verläuft, und die kognitiveLeistungsfähigkeit durch keine schwerwie-genden neurologischen Veränderungen be-einträchtigt wird (normales Altern). Es istsogar dann der Fall, wenn pathologische Be-einträchtigungen auftreten (pathologisches Al-tern). Dies ist in Abbildung 6 dargestellt. Abbil-dung 6 zeigt die Entwicklung expliziter undimpliziter Gedächtnisleistungen bei Erwach-senen, wenn normales Altern oder pathologi-sches Altern vorliegen. Beide Gedächtnis-systeme reagieren auf die verschiedenartigenAlternsverläufe vollkommen unterschiedlich:Während implizite Gedächtnisleistungenweder im Verlauf des normalen Alterns nochdurch pathologische Alternsvorgänge bedeut-sam beeinträchtigt werden, erfahren expliziteGedächtnisleistungen deutliche Einbußen.Die Leistungseinbuße des deklarativen Ge-

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dächtnisses, die sich bei normalem Altern imAlltag typischerweise in Vergeßlichkeitäußert, über die ältere Menschen häufig be-richten, ist bei pathologischem Altern umvieles gravierender. Die Tatsache jedoch, daßdas implizite Gedächtnis auch derart schwer-wiegende Alternskrankheiten (vergleichswei-se) unbeschadet übersteht, könnte ein Hin-weis dafür sein, wie diesen Patienten, zumin-dest in der ersten Phase der Erkrankung, ge-holfen werden könnte.

9. Gedächtnisentwicklungim Verlauf derLebensspanne – ein Fazit

Diese Übersicht über die aktuelle entwick-lungspsychologische Gedächtnisforschunghat gezeigt, daß sich unterschiedliche Aspek-te des Gedächtnisses im Verlauf des Lebens inganz unterschiedlicher Weise entwickeln.Eine starke Altersabhängigkeit des Gedächt-nisses findet sich für explizite Gedächtnislei-stungen: Klein- und Schulkinder erreichen ty-pischerweise keine vergleichbar guten Ge-dächtnisleistungen wie jüngere Erwachsene,ältere Erwachsene ebenfalls nicht. Im Unter-

schied dazu sind implizite Gedächtnisleistun-gen weitgehend altersunabhängig.

Dabei wird angenommen, daß impliziteGedächtnisleistungen auf einem eher basalenGedächtnissystem beruhen, welches frühzei-tig entwickelt ist. Seine Effektivität wirdkaum von Veränderungen betroffen, wie sieim Verlauf des normalen Alterns auftreten;ferner bleibt seine Funktionstüchtigkeit beipathologischem Altern vergleichsweise guterhalten. Seine Funktion besteht in wesentli-chen Teilen darin, Reize zu registrieren undeinfache Reiz-Reaktions-Verbindungen aufzu-bauen und zu speichern. Die für dieses Sy-stem wesentlichen Informationen scheinenperzeptiven Charakter zu haben. Die Infor-mationsverarbeitung in diesem System er-folgt automatisch.

Das deklarative Gedächtnis, dessen Funkti-on es ist, Informationen zu speichern, auf diebewußt zugegriffen werden soll, ist starkenAltersveränderungen unterworfen. SeineFunktionstüchtigkeit wird zudem determi-niert durch eine Reihe kognitiver Systemeund Funktionen, die selbst altersabhängigsind: Deklarative Gedächtnisleistungen sindabhängig vom Umfang und der Nutzung desWelt- oder bereichsspezifischen Wissens, vonder Verfügbarkeit und Nutzung von Lern-

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Abbildung 6: Die Entwicklungimpliziter und expliziterGedächtnisleistungen beinormalem und pathologischemAlternsverlauf (nach Mitchell,1993)

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und Erinnerungsstrategien, vom Wissen überLernen und Gedächtnis und der Nutzung die-ses gedächtnisbezogenen Wissens (Metage-dächtnis), und vermutlich ist es auch von ba-salen, gedächtnisbezogenen Ressourcen ab-hängig. Es ist sogar anzunehmen, daß einBündel weiterer kognitiver Determinanten(z. B. Intelligenz) deklarative Gedächtnislei-stungen determiniert. Diese zusätzlichen De-terminanten deklarativer Gedächtnisleistun-gen erreichen insbesondere dann eine großeBedeutung, wenn die skizzierten zentralenDeterminanten für die Bewältigung einerAufgabe nicht bereit stehen (z. B. fehlendesbereichsspezifisches Wissen; fehlende Lern-strategie).

Aus dieser Charakteristik deklarativer Lern-und Gedächtnisleistungen läßt sich auch ab-leiten, daß das Leistungsniveau dieses Ge-dächtnisbereichs niemals festliegt. Deklarati-ve Gedächtnisleistungen sind Ausdruck desalltäglichen Lernens, und sie variieren alsFunktion von Lernen und den daraus resul-tierenden Lernergebnissen. Deklarative Ge-dächtnisleistungen lassen sich ferner lebens-lang auch durch systematische Instruktionund Trainingsprogramme steigern (Knopf,1993). Gedächtnis ist damit ebenso Ergebniswie Bedingung von Lernen.

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545Gedächtnisentwicklung im Verlauf der Lebensspanne

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Inhaltsverzeichnis1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 548

2. Verschiedene Perspektiven der Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5492.1 Kognitionspsychologische Perspektive . . . . 5492.2 Die motivationale Perspektive . . . . . . . . . . . 551

2.2.1 Die Beziehung zwischen Intelligenz und Neugier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551

2.2.2 Kompetenzmotivation . . . . . . . . . . . . 5512.3 Die biologische Perspektive . . . . . . . . . . . . . 552

2.3.1 Evolutionärer Ursprung von Exploration und Spiel . . . . . . . . . . . . 552

2.3.2 Bio-psychologische Prozesse bei Exploration und Spiel . . . . . . . . . . . . 553

2.4 Die Perspektive der Bindungstheorie . . . . . . 5542.4.1 Der Zusammenhang von Bindung

und Exploration . . . . . . . . . . . . . . . . . 5542.4.2 Längerfristige Konsequenzen der

Bindungssicherheit auf das Explorationsverhalten . . . . . . . . . . . . 555

3. Die Untersuchung des Explorationsverhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5553.1 Von ersten explorativen Handlungen zu

komplexem Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5553.2 Symbolisches Spiel und Sprachentwicklung 5563.3 Beziehung und Explorationsmodalitäten . . 5563.4 Strategien und Prozesse der Exploration . . . 5573.5 Entwicklung von Interessen . . . . . . . . . . . . 5583.6 Exploration in späteren Lebensabschnitten 558

4. Angewandte Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5594.1 Exploratorisches Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . 5594.2 Computerspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5594.3 Spieltherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5594.4 Spielen als Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560

5. Perspektiven zukünftiger Forschung . . . . . . . 560

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560

547

Kapitel V. 4:

Die Entwicklung von Spiel- undExplorationsverhaltenAxel Schölmerich, Bochum

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1. Einleitung«Animals learn (in evolutionary time) in a similarmanner. As do Brook’s mobots. His machines learn tomove through a complicated world by building a hier-archy of behaviors, somewhat in this order:

Avoid contact with objectsWander aimlessly Explore the world Build an internal mapNotice changes in the environmentFormulate travel plansAnticipate and modify plans accordingly»

K. Kelly (1994), Out of control. The new biological techno-logy. Reading, MA: Addison Wesley Publishing Co.

548 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

halten sind Aktivitäten der Jugendphase. Ent-sprechend ist auch das Spielverhalten (aller-dings weniger das Explorationsverhalten) zueinem traditionellen Thema der Entwick-lungspsychologie geworden.

Spiel und Exploration sind unter zahlrei-chen unterschiedlichen Perspektiven betrach-tet worden. In der verhaltensbiologischen Li-teratur wird als Hauptfunktion das Einübenvon Verhaltensmustern für den «späterenErnstfall» in den Vordergrund gestellt. In derkognitiven Psychologie tritt die Veränderungkognitiver Strukturen als Resultat von Explo-ration und Spiel hervor, was je nach zeitli-cher Perspektive als Lernen oder als Entwick-lung bezeichnet wird. Die Motivationspsy-chologie bemüht sich um allgemeine Er-klärungen für das Auftreten spielerischerHandlungen und explorativer Episoden. DieAngewandte Psychologie wie auch die Klini-sche Psychologie sucht nach Möglichkeiten,die natürlichen Verhaltenstendenzen vonMenschen bestimmten äußeren Zwecken zurVerfügung zu stellen, zum Beispiel der beruf-lichen Fortbildung oder der therapeutischenArbeit. Die Differentielle Psychologie schließ-lich versucht zu erklären, wie die Unterschie-de zwischen einzelnen Individuen in bezugauf ihre Spiel- und Explorationsneigung zu-stande kommen. Ich werde einige dieser Per-spektiven im folgenden kurz diskutieren unddie hauptsächlichen Theorien und Begriffeskizzieren, wobei ich mich in diesem Beitragauf Explorationsverhalten und Objektspielkonzentrieren und dabei zahlreiche andereexplorative und spielerische Betätigungen desMenschen oder auch anderer Spezies außeracht lasse. Insbesondere soziale Spielverhal-tensweisen, die in der Analyse von Eltern-Kind-Interaktionen eine besondere Rolle spie-len, werden hier nicht behandelt (s. vor allemMacDonald, 1993; oder Panksepp, 1993, be-sonders zur entwicklungspsychologischen Be-deutung des «rough-and-tumble-plays» zwi-schen Gleichaltrigen).

Eine einheitliche Definition von Explorati-on und Spielverhalten ist schwierig, unter an-derem wegen der verschiedenen konzeptuel-len Bezüge. Allerdings spielen die folgendenParameter unter jeder Perspektive eine wich-tige Rolle: Eine der psychologisch bedeutsa-men Funktionen von Spiel- und Explorati-

David (sieben Monate alt) befindet sich in einem fahr-baren Stühlchen, und er kann sich damit auf dem glat-ten Boden relativ gezielt selbständig bewegen. Seinerechte Hand berührt die Wand des Zimmers, und manmeint zu sehen, wie er die Struktur der leicht rauhenOberfläche erkundet. Beim weiteren Vorwärtsfahrenkommt er an die Tür zur Veranda, das Glas der Tür istsehr kalt. Er arbeitet sich weiter vor, bis jenseits derTür die Wand wieder beginnt. Zu diesem Zeitpunktscheint ihm der Unterschied der glatten kalten Glas-fläche und der wärmeren Wand deutlich zu werden.Er fährt mehrfach vor und zurück, wobei seine Handununterbrochen den Kontakt mit der Wand hält, erstreicht mehrfach über die Wand, den Rahmen unddie Glasscheibe. Diese Episode dauert etwa 180 Sekun-den. Danach zieht die Katze, die durch das Zimmerläuft, seine Aufmerksamkeit auf sich.

Die spontane Neigung von Kindern ebensowie von Jungtieren, sich in spielerischerWeise mit ihrer Umgebung auseinanderzuset-zen und Unbekanntes zu erkunden, fasziniertden Beobachter auf ganz eigene Weise. So-wohl spielerisches als auch exploratives Ver-

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549Die Entwicklung von Spiel- und Explorationsverhalten

onsverhalten ist der Informationserwerb. DasExplorieren dient also der Beantwortung derFrage «Was ist das für ein Objekt?», es wirdInformation über das Objekt beziehungswei-se seine Eigenschaften erworben. Im Spielver-halten steht dagegen die Frage «Was kann ichmit dem Objekt tun?» im Vordergrund, dasObjekt wird also in vorhandene Handlungs-schemata assimiliert, zum Teil grade unterAbstraktion von konkreten Objekteigenschaf-ten. Dies kann durch eine emotionale Selbst-regulation motiviert sein. Weiterhin tretendie hier zusammengefaßten Verhaltenswei-sen spontan auf, d. h., sie dienen keinemaußerhalb der Sache selbst liegendem Zweck,sie sind intrinsisch motiviert. Die emotionaleGrundstimmung bei solchen Aktivitäten istpositiv bis neutral. Schließlich beinhaltendiese Aktivitäten irgendeine Form der Interak-tion mit der Umwelt, meist in Form sogenann-ter «Verhaltens-Ereignis-Kontingenzen», d. h.,die Person tut etwas, das in der Umgebung zuVeränderungen führt, die dann beobachtetwerden können. In der psychologischen Lite-ratur steht Spielverhalten stärker unter derKontrolle des Individuums, wohingegen Ex-plorationsverhalten eher durch spezifischeUmweltkonstellationen ausgelöst wird (etwaBerlynes’ (1960) «kollative Variablen», dieUnbekanntheit bzw. Neuheit indizieren).

2. Verschiedene Per-spektiven der Betrachtung

2.1 KognitionspsychologischePerspektive

Die traditionelle Betrachtung von Spiel- undExplorationsverhalten innerhalb der Ent-wicklungspsychologie befaßt sich mit im wei-testen Sinne kognitiven Voraussetzungenund Konsequenzen dieser Verhaltensweisen.Grundlegend ist hier die Diskrepanzhypothese,die Kagan (1972) – aufbauend auf Piaget –formuliert hat. Dabei wird angenommen, daßdas Ausmaß an Aufmerksamkeit, das einemObjekt zuteil wird, von der Diskrepanz diesesObjektes zu den vorhandenen Schemata desBetrachters abhängt. Dabei löst mittlere Dis-krepanz höchste Aufmerksamkeit (hier: spezi-

fische, also auf ein bestimmtes Objekt gerich-tete Exploration) aus, niedrige Diskrepanzhingegen Suche nach anderen Reizen (auchals diversive Exploration bezeichnet); eine zuhohe Diskrepanz führt zu verschiedenen For-men der Vermeidung. Der Zusammenhangzwischen Diskrepanz und Aufmerksamkeit istalso durch eine sogenannte «umgekehrte U-Funktion» gekennzeichnet (siehe Abbildung 1).

Ähnliche Vorstellungen sind schon früherbeispielsweise von Hunt (1965) dargestelltworden. Dember und Earl (1957) haben ange-nommen, daß die Veränderung kognitiverStrukturen eine Funktion der Diskrepanz ist.Damit gehen sie deutlich über den Ansatz derSteuerung der Aufmerksamkeit hinaus. Einesolche Definition hat offensichtlich erhebli-che Implikationen für das Lernen und denErwerb sowohl von Faktenkenntnissen alsauch von prozeduralem Wissen.

In den aktuellen kognitiven Entwicklungs-theorien spielt Explorationsverhalten (nichtaber Spiel!) die Rolle eines Mechanismus derEntwicklung. In der Informationsverarbei-tungstheorie (Klahr & Wallace, 1976) werdenVerbindungen zwischen einer die Umweltsi-tuation beschreibenden «Wenn»-Bedingungmit als Handlungsplan verwendbaren«Dann»-Anweisung als Produktionen bezeich-net. Die Produktionen entstehen im Laufeder Entwicklung aus Erfahrung. Hinter demErfahrungsbegriff steht ein Verhaltenssystem,das ständig spontan Aktivität generiert, umdie Basis für die probabilistische Identifikati-

Abbildung 1: Umgekehrte U-Funktion von Aufmerksamkeit und Diskrepanz

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on effektiver Produktionen herauszufinden.Klahr und Wallace nehmen an, daß es einekurzfristige Speicherung der zurückliegendenUmweltbedingungen und Handlungen gibt,die in Phasen relativer Ruhe des Systems ana-lysiert und verarbeitet werden. Die daraufaufgebaute Entwicklungstheorie soll hiernicht weiter dargestellt werden, es sei nur an-gemerkt, daß dabei die Konflikte, die bei Aus-lösung unterschiedlicher Handlungstenden-zen auftreten, eine wesentliche Rolle spielen.Diese Theorie bietet keine überzeugende Be-schreibung des Explorationsverhaltens, dennbei der Konfrontation mit unbekannten Ob-jekten sind qua definitionem keine Produk-tionen (also auf vergangener Erfahrung mitentsprechenden Objekten beruhende Hand-lungspläne) aktiviert, und damit kann hierauch keine neue Erfahrung zustande kom-men. Die Annahme einer Anzahl von spezifi-schen und dauerhaft funktionierenden ange-borenen Produktionen zum Umgang mit un-bekannten Objekten erscheint ebenfalls pro-blematisch.

Case (1985) nimmt dagegen an, daß Ex-plorationsverhalten einen der drei Grundpro-zesse zur Assemblierung kognitiver Strukturendarstellt (neben Imitationsverhalten und in-terpersonaler Regulation). Bei Case ist auchdas Problem der unspezifischen Umweltbe-dingung der «Neuheit» durch die Annahmegelöst, daß bei Fehlen eines Handlungsplanes(«executive control structure») andere vor-handene Handlungsschemata sozusagen «derReihe nach» und ohne Rücksicht auf spezifi-sche Objekteigenschaften angewendet wer-den. Case bezieht sich bei der Formulierungdieser Annahme ausdrücklich auf die Beob-achtung von Kindern. Hier findet sich eineinteressante Parallele zu Lorenz (1978), derbeschrieben hat, wie ein junger Kolkrabe in Konfrontation mit einem unbekanntenObjekt sein gesamtes Verhaltensrepertoiredurchprobierte.

Die kognitive Forschungstradition war ins-besondere in den siebziger Jahren stark ander Untersuchung explorativen Verhaltensinteressiert, wobei McCall (1974, S.77) aller-dings einschränkend anmerkt: «... Explorati-on war im wesentlichen eine Untersuchungder einfachen sensorisch-perzeptuellen Rück-kopplungseigenschaften von Objekten»

[Übersetzung des Autors]. Aus dieser Phaseder Forschung liegt eine Reihe empirischerEinzelarbeiten vor, die hier aber nicht zu dis-kutieren sind.

In einer von der klassischen kognitions-psychologischen Perspektive abgesetzten,aber mit dieser in engem Zusammenhang ste-henden Sichtweise betrachtet man explorati-ves Verhalten von seiner Funktion her. Bru-ner (1968) ordnet Exploration und Spiel demStreben nach Kompetenz und Herstellungvon Bedeutung zu, wodurch diese Verhaltens-weisen in enger Beziehung zum Symbolge-brauch und dem Beginn von Kognitionen imengeren Sinne stehen (s. auch weiter unten).E. Gibson (1988, hier zitiert nach dem Nach-druck 1995) stellt eine Beziehung zwischenden «affordances» der Umgebung (s. auch Ley-endecker, 1997) und dem Explorationsverhal-ten her:

«Die Natur hat den Säugling nicht mit derFähigkeit ausgestattet, diese Dinge [af-fordances, Anmerkung des Autors] direktwahrzunehmen, Babys verbringen fastdas ganze erste Jahr damit, die affordan-ces in der Welt um sie herum zu ent-decken. .... Zweitens, das Lernen vonaffordances beinhaltet exploratorischeAktivitäten» (p. xxv, [Übersetzung des Au-tors]).

In dieser Perspektive werden die Wahrneh-mung und die menschliche Handlung als in-tegraler Bestandteil kognitiver Prozesse miteinbezogen.

Natürlich ergibt sich aus der kognitions-psychologischen Perspektive auch die Emp-fehlung, die Verwendung von Spielzeugenhinsichtlich ihres die kognitive Entwicklungfördernden Potentials zu betrachten (Chase,1992). Dieses Argument wird häufig mit demHinweis auf die Bedeutung von Stimulationfür die Gehirnentwicklung vorgebracht. Essollte allerdings nicht übersehen werden, daßdie hier relevanten Phänomene ziemlich ro-bust sein müssen – schließlich hat die Evolu-tion der kognitiven Fähigkeiten ohne die Be-teiligung der Spielzeugindustrie stattgefun-den, und aus kulturvergleichenden Untersu-chungen wissen wir, daß Kinder mit allemspielen können, was ihre Umgebung für sie

550 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

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bereithält. Objektspiel kommt in allen bis-lang untersuchten Kulturen vor, wie in Zeit-verteilungsanalysen (Leyendecker, Lamb &Schölmerich, im Druck; Leyendecker, Lamb,Schölmerich & Miranda Fricke, 1997) des All-tagslebens von Säuglingen gezeigt werdenkonnte.

Auf das komplexe Zusammenspiel vonNeugier, Angst und kognitiver Entwicklungweisen Trudewind, Mackowiak und Schnei-der (im Druck) hin. Sie fassen eine Reihe eige-ner Untersuchungen zusammen, die im Kernbestätigen, daß Neugier der kognitiven Ent-wicklung eher förderlich ist, allerdings inkomplexen Wechselwirkungen mit spezifi-schen Objektbedingungen und der individu-ellen Ausprägung der Ängstlichkeit betrach-ten werden muß. Der Zusammenhang vonSpiel- und Explorationsverhalten mit der ko-gnitiven Entwicklung ist in mehreren Zusam-menfassungen, die sich als weiterführendeLektüre eignen (Bornstein & O’Reilly, 1993;Tamis-LeMonda & Bornstein, 1996; Wohlwill& Heft, 1987), ausgeführt worden.

2.2 Die motivationale Perspektive

Henderson (1994) hat vorgeschlagen, den Be-griff «experience-producing tendencies» als breiteKategorie für die motivationale Grundlagevon Exploration und Spielverhalten zu be-nutzen. Er stützt sich dabei auf Hayes, der be-reits 1962 in einem Aufsatz mit dem Titel«Genes, Drives, and Intellect» vorgeschlagenhat, daß interindividuelle Differenzen in in-tellektueller Leistungsfähigkeit weniger direktdurch (genetische) Intelligenz-Faktoren be-einflußt sind, als vielmehr durch (genetisch)determinierte «motivational biases». Hayeshatte den Begriff der «experience-producingdrives» benutzt.

2.2.1 Die Beziehung zwischen Intelligenzund Neugier

Die Annahme über die Wirkung interindivi-dueller Differenzen in der Tendenz, sich Sti-mulation oder «experiences» zu verschaffen,führt zu einem einleuchtenden Rückkopp-lungsmechanismus: Exploration führt zu Ler-

nen, das höhere intellektuelle Kompetenz zurFolge hat, die wiederum die Tendenz zur Pro-duktion von Erfahrung verstärkt. Leider gibtes auch hier keinen direkten empirischenBeleg für die Richtigkeit dieser Annahme. InHendersons eigener Arbeit finden sich prak-tisch keine signifikanten Korrelationen zwi-schen Intelligenz und Neugier. Der Autorweist darauf hin, daß dieses Null-Resultatmöglicherweise auf einen Fehler im Designder Studie zurückgeführt werden kann, da so-wohl Neugier als auch Intelligenz zum glei-chen Zeitpunkt gemessen wurden und daherdie zentrale Aussage der Theorie überhauptnicht getestet werden konnte. Offensichtlichbraucht man Zeit- bzw. Entwicklungsgradien-ten, um eine solche Aussage machen zu kön-nen. Einen frühen Hinweis auf diesen Zusam-menhang geben Kagan und seine Mitarbeiter(1958). Sie stellten aufgrund von Daten der«Fels-Longitudinal-Study» fest, daß die Kindermit dem größten Intelligenzzuwachs zu 38%Neugierthemen im «Thematischen Apperzep-tions-Test» (TAT) benennen, wohingegen dieTeilnehmer mit relativ abnehmenden IQ-Werten nur zu 10% solche Konzeptebemühen. Wegen der zahlreichen methodi-schen Probleme kann diese Studie aber nichtals ein Test der hier interessierenden Hypo-these interpretiert werden. Bornstein und Sig-man (1986) haben in einem Review von 18empirischen Untersuchungen einen Zusam-menhang von «novelty preference» und spä-terem IQ sichern können (wobei primär «in-fant habituation» im Vordergrund stand).Diese Sichtweise stimmt gut mit der Beto-nung motivationaler Komponenten bei derEntstehung individueller Differenzen in intel-lektueller Kompetenz überein (Weinert &Schneider, 1995).

2.2.2 Kompetenzmotivation

Die Kompetenzmotivation (Messer, 1993) be-schreibt den Antrieb in bezug auf Verhaltens-weisen, die nicht in einem konsumatorischenZusammenhang eingebaut sind, d. h. beidenen keine Endhandlung stattfindet, dieden Antrieb befriedigt, wie das bei Hungeroder Sexualität der Fall ist. Das Konzept derKompetenzmotivation baut auf der Effek-

551Die Entwicklung von Spiel- und Explorationsverhalten

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tanzmotivation von White (1959) auf; ähnli-che Konzepte sind auch in der Populärlitera-tur anzutreffen, z. B. das Flow-Erlebnis (Csiks-zentmihayli, 1979). J. Heckhausen (1993) be-schreibt die Entwicklung von der anfängli-chen Bewußtheit von Verhaltens-Ereignis-Kontingenzen zur Kompetenzmotivation.Zunächst strebt jeder Organismus nachprimärer Kontrolle, direkte Verhaltens-Ereig-nis-Kontingenzen werden als lustvoll erlebt.Darüber hinaus aber – und das mag spezifischfür den Menschen sein – gibt es einen selbst-evaluativen Prozeß, der das Ergebnis einer ei-genen Handlung bewertet und dabei eigeneReferenzstandards entstehen läßt. Wegen derin der frühen Kindheit sehr ungünstigen Pro-portion gelungener zu mißlungenen Versu-chen ist es unvermeidlich, einen Schutzme-chanismus für die Verarbeitung negativerEvaluationen anzunehmen. Das im Vergleichzum ersten Auftreten von Stolz auf die eigeneLeistung um etwa ein Jahr spätere Auftretenvon Scham bei Mißerfolg ist ein Beispiel fürdie Neutralisierung der negativen Konse-quenzen von selbst-evaluativen Prozessen.Unklar ist gegenwärtig, welche Rolle die so-ziale Verstärkung dabei spielt. Das Konzeptder sekundären Kontrolle könnte einen sol-chen Mechanismus abbilden.

2.3 Die biologische Perspektive

Unter der biologische Perspektiven sind zweiAspekte zu diskutieren. Erstens soll der evolu-tionäre Ursprung von Explorations- undSpielverhaltensweisen im Sinne einer ultima-ten Begründung beschrieben werden, undzweitens sollen die zur Organisation des Ver-haltens notwendigen biologischen bzw. phy-siologischen Voraussetzungen dargestellt wer-den. Diese sind natürlich ebenfalls durchevolutionäre Prozesse entstanden. BeideAspekte können hier nur ausschnitthaft prä-sentiert werden.

2.3.1 Evolutionärer Ursprung von Exploration und Spiel

Im Zentrum dieser Betrachtung steht der Ad-aptationswert von Explorations- und Spiel-

verhalten. Beide Verhaltensweisen ermögli-chen es, durch Interaktion mit der physi-schen und sozialen Umwelt Erfahrungen zumachen und dabei sich an spezifische Anfor-derungen, die die jeweilige Umgebung stellt,anzupassen. Damit wird – verglichen miteiner auf Reflexen bzw. Instinkten basieren-den Verhaltensorganisation – eine größereFlexibilität hinsichtlich der von einer Speziesals Lebensraum nutzbaren klimatischen undgeographischen Bedingungen erreicht. Dertypische Entwicklungsverlauf, nämlich dasVorherrschen spielerischen und explorativenVerhaltens in Kindheit und Jugend, paßt gutzu dieser Grundannahme.

Der biologische Sinn liegt auch in derEinübung komplexer Verhaltensmuster. Alsgutes Beispiel kann man Fangversuche beijungen Katzen anführen. Dabei handelt essich um eine perzeptuell-motorische Koordi-nation, die bei der Anwendung im Ernstfallunter sehr unterschiedlichen Umgebungsbe-dingungen zum Einsatz kommt und daherauf Training angewiesen ist. Der Biologe Has-senstein (1980, S. 64f.) definiert:

«Nach der dargestellten Auffassung istder Spielbereich – als ein sinnreiches Sy-stem aus unterschiedlichen Einzelfunk-tionen – auf folgendes zugeschnitten: dieLebewesen, ohne sie zu gefährden, einHöchstmaß an Erfahrungen machen zulassen, und dabei die allgemeine Ge-schicklichkeit zu vervollkommnen unddurch ‘Training’ auf ihrem Stand zu hal-ten. Die vier Verhaltensweisen Erkunden,Neugierde, Spielen und Nachahmen er-füllen diesen biologischen Sinn geradedadurch am besten, daß sie zum Teil aufOffenheit und damit auf mögliche Anwen-dung jedes einzelnen Informationsge-winns ausgerichtet sind.»

Die Offenheit erlaubt es also, spezifische Orts-kenntnisse zu entwickeln und sich je nachökologischer Situation auf unterschiedlicheNahrungsquellen zu spezialisieren. Dies setztindividuelles Lernen voraus, welches in spon-taner Aktivität der Jungtiere eine hervorragen-de Voraussetzung findet (s. dazu Lorenz, 1978).

Ähnlich kann man hinsichtlich der Funk-tion von Spiel und Exploration im Rahmen

552 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

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der Einbettung des Individuums in eine so-ziale Organisation argumentieren. Spieleri-sches Verhalten kann dazu dienen, die Regu-lationsmechanismen einer sozialen Organisa-tion zu erlernen und zu erproben. Bei vielenArten ist der Rangplatz, den ein Tier in einerGruppe einnimmt, von bestimmten Fähigkei-ten, Geschicklichkeit oder Körperkraft abhän-gig. Diese müssen geschult und erprobt wer-den. Gleichzeitig lernen die Jungtiere durchsolche Verhaltensweisen die anderen Grup-penmitglieder kennen, und es entstehen so-ziale Bindungen.

2.3.2 Bio-psychologische Prozesse beiExploration und Spiel

Verhalten selbst kann eigentlich kein Resultatevolutionärer Prozesse sein, sondern nur die-jenige psycho-physiologischen Struktur, dieeine bestimmte Verhaltensorganisation er-möglicht. Bei Exploration und Spiel handeltes sich dabei um Strukturen, die Aufmerk-samkeit, Annäherung vs. Vermeidung undandere emotionale Prozesse steuern. Schonseit langem ist die besondere Rolle vonAmygdala und Hippokampus für die Verar-beitung von Neuheits- und Habituationspro-zesse bekannt (s. Birbaumer & Schmidt, 1996,S. 461 ff.). Sokolov (1963) hat besonders diebio-psychologischen Begleitprozesse der Ori-entierungsreaktion beschrieben und dabeiwichtige Grundlagen unserer heutigen Sicht-weise der Verarbeitung von Neuheit gelegt.

Ein gutes Beispiel für die evolutionäre Be-trachtung von Strukturen, die bestimmte Ver-haltensweisen ermöglichen, gibt Porges(1996) mit dem im Verlauf der Evolution erstbei den Säugetieren entwickelten «smartvagus». Der Vagus ist der primäre Nerv des pa-rasympathischen Nervensystems. Nach Por-ges (1996) hat das vegetative Nervensystemin der Evolution drei Stufen durchlaufen,wobei auch auf den höheren Stufen die phy-logenetisch älteren Funktionen erhalten blei-ben. Auf der ersten Entwicklungsstufe (primi-tive Wirbeltiere) reagiert das System bei Be-drohung oder Konfrontation mit Unbekann-tem mit Verringerung des metabolischenUmsatzes, also Verlangsamung des Herzschla-

ges und der Atmung – in der Verhaltensorga-nisation fallen der hier anzutreffende Tot-stell-Reflex und das arttypische «darting andfreezing», also ein Wechsel von ruckartigenBewegungen und plötzlichem Innehaltenauf. Dadurch können primitive Wirbeltiereihre metabolischen Ressourcen schützen. Aufder zweiten Stufe (Vögel und Reptilien) gibtes ein spinales sympathisches Nervensystem,das diese Lebewesen bei Bedrohung zu Er-höhung des metabolischen Umsatzes be-fähigt und Flucht- und Angriffsverhaltenmöglich macht. Eine wesentliche Funktiondes vegetativen Systems besteht hier darin,die Funktionsweise der phylogenetisch älte-ren Struktur zu hemmen. Der «smart vagus»schließlich findet sich nur bei Säugetieren.Seine Funktion besteht darin, dem Organis-mus kurzfristige Zuwendung zur und Abwen-dung von der Umgebung zu ermöglichen,ohne den negativen Konsequenzen ständigüberschießender sympathischer Aktivationausgesetzt zu sein – damit ist die psycholo-gisch bedeutsame Dimension von Annähe-rung und Vermeidung angesprochen. Reali-siert wird diese Funktion durch ein myelini-siertes Nervensystem, das es erlaubt, kurzfri-stige Regulationen der Herzaktivität durchzu-führen. Erst mit einem solchen System ist esbiologisch sinnvoll, sich durch Neuheit derUmgebung zu exploratorischen Aktivitätenverleiten zu lassen. Eine weitere und bislangnoch wenig erforschte Funktion des nervusvagus hat mit der Regulation emotionalenAusdrucks und damit mit einer wesentlichenGrundlage von komplexem sozialem Verhal-ten zu tun (s. auch Schölmerich, 1997). Por-ges legt Wert auf die Feststellung, daß die dreibeschriebenen Systeme alle nebeneinanderexistieren. Befinden wir uns psychologischim Regelbereich des «smart vagus», dann wer-den Explorationsverhalten, willentliche Kon-zentration oder spielerische Ablenkung mög-lich. Bei stärkeren Reizen (z. B. einer massivenSchreckreaktion im Gefolge eines Beinahe-Unfalls) spüren wir die sympathische Aktiva-tion mit der überschießenden Kreislaufreakti-on. Bei weiterer Steigerung der Bedrohungund Verlust von metabolischen Ressourcenschließlich kann es zu einer extremen Ver-langsamung des Herzschlages kommen, dieallerdings bei Säugetieren – anders als bei den

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primitiven Wirbeltieren – fatale Folgen habenkann.

Kritisch bleibt angesichts der Konzepte ausder biologischen Perspektive anzumerken,daß hier typischerweise nicht zwischen Spielund Exploration unterschieden wird. DieseKritik ist ausführlicher bei Panksepp (1993)und Wohlwill (1984) ausgeführt.

2.4 Die Perspektive der Bindungstheorie

In der Bindungstheorie (Ainsworth & Bell,1970; s. auch Kap. IV.1) wird Explorationsver-halten an prominenter Stelle genannt, näm-lich im Zusammenhang mit der «Bindungs-Explorations-Balance». Kurz gesagt postuliertdie Bindungstheorie, daß es nur bei relativerBefriedigung der (grundlegenderen) Bin-dungsbedürfnisse zu Explorationsverhaltenkommt. Wird das Bindungssystem eines Kin-des aktiviert (z. B. durch Zunahme der Entfer-nung zur Mutter), so wird angenommen, daßdas Kind sein Explorieren (bzw. Spielen) ein-stellt, bis die Nähe wieder hinreichend ist.Ebenfalls aus der Bindungstheorie stammtder Begriff der «sicheren Basis» für die Erkun-dung der Welt. Die Mutter gilt als die sichereBasis, zu der das Kind im natürlichen Verhal-tensfluß in gewissen Zeitabständen zurück-kehrt, um sich der Gegenwart und Verfügbar-keit der Mutter zu versichern. Die zunächstplausible theoretische Position, aus der hierargumentiert wird, verliert deutlich an Klar-heit, wenn man sich vergegenwärtigt, daßdas Explorationsverhalten innerhalb dieserTheorie einen recht unklaren Status hat. Ei-nerseits wird in den Untersuchungen zur Bin-dungsqualität recht undifferenziert alles Ver-halten, das nicht zum Bindungssystem ge-rechnet werden kann, als Exploration be-zeichnet. Andererseits wird unter Explorationnur solches Verhalten verstanden, das direktmit der Erkundung der Umgebung in Bezie-hung gesetzt werden kann, also in irgendei-ner Weise dem oben eingeführten Informati-onserwerb dient. Schließlich widerspricht dieBeobachtung, daß unsicher-vermeidend ge-bundene Kinder das Spielen mit Objekteneinsetzen könnten, um das eigene Verhalten

bei Trennung von der Mutter zu organisieren,dem oben dargestellten Grundpostulat derBindungs-Explorations-Balance. Hier wirddann angenommen, daß das Kind geradewegen der gleichzeitigen Aktivierung des Bin-dungssystems (die sich aber nach den spezifi-schen Interaktionserfahrungen des Kindesnicht adäquat äußern kann) in dieser Situati-on Objektspiel zeigt. Das Weiterspielen inden Episoden der Fremde-Situation, in denendie Mutter nicht verfügbar ist, und die starkeOrientierung auf Spielobjekte in den Wieder-vereinigungsphasen gelten als Indikatoreneiner unsicher-vermeidenden Bindungsqua-lität.

Leider gib es aus den zahlreichen Untersu-chungen zur Bindungsentwicklung kaum em-pirische Befunde, die genauere Auskunft überdie zweite Seite der Bindungs-Explorations-Balance geben (sieht man von den frühen Ar-beiten von Rheingold und Eckerman (1969)ab, deren Verdienst es war, das Augenmerkauf die Exploration der gesamten Umgebunganstelle einzelner Objekte gelenkt zu haben).Das Hauptinteresse der Bindungstheoretikerlag eindeutig auf der Untersuchung des Bin-dungssystems, weil dem BindungssystemVorrang vor dem Explorationssystem einge-räumt wurde (Bowlby, 1971). Bischof (1975)kritisiert diese Auffassung und schlägt vor,Exploration und Bindung als zwei wider-sprüchliche Reaktionstendenzen zu konzipie-ren.

2.4.1 Der Zusammenhang von Bindung undExploration

Die empirischen Daten zur Beziehung vonBindungsverhalten und Explorationsneigunginnerhalb einer Situation entsprechen denaus der Bindungstheorie abgeleiteten Annah-men. Sorce und Emde (1981) fanden eineneindeutigen Zusammenhang zwischen emo-tionaler Verfügbarkeit der Mutter und explo-rativem Verhalten bei 15 Monate alten Klein-kindern. Ebenfalls im gleichen Alter, aller-dings in zwei unterschiedlichen Situationen,bestimmten Belsky, Garduque und Hrncir(1984) das Niveau des kindlichen Spiels unddie Bindungssicherheit und fanden einen po-sitiven Zusammenhang:

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«... Säuglinge, deren Bindung an die El-tern eine sichere Basis für die Explorati-on bietet, sind besser fähig, sich der Um-welt zuzuwenden, daher sind sie nichtnur in der Lage, sich mit elaborierter ko-gnitiver Exploration zu befassen, son-dern können auch ihre kognitiven Fähig-keiten spontan im freien Spiel realisie-ren» (S. 415 ]Übersetzung des Autors]).

2.4.2 Längerfristige Konsequenzen derBindungssicherheit auf das Explorationsverhalten

Insbesondere die entwicklungspsychologischinteressante Frage nach den längerfristigenKonsequenzen der Bindungssicherheit für dasspäter gemessene Spiel- und Explorationsver-halten kann derzeit nicht klar beantwortetwerden. Es liegt hierzu nur wenig – und dazuwidersprüchliche – empirische Evidenz vor.Matas, Arend und Sroufe (1978) berichtenvon einem engen Zusammenhang zwischenBindungssicherheit und späterer Kompetenzim Spielverhalten und bei der Lösung vonProblemen, wobei die sicher gebundenenKinder die höchste Kompetenz zeigen. Dem-gegenüber stellt Main (1973) fest, daß sie kei-nen Zusammenhang zwischen Bindungssi-cherheit im Alter der Kinder von einem Jahrund Dauer symbolischer Spielhandlungen imAlter von zwei Jahren nachweisen konnte.Positive Beziehungen über einen größerenZeitraum (fünf Jahre) wurden dagegen vonWartner, Grossmann, Fremmer-Bombik undSuess (1994) beschrieben – allerdings war dieBeziehung zwischen Bindungssicherheit undder Qualität des Spiels mit fünf Jahren nur fürMädchen signifikant (Suess, Grossmann &Sroufe, 1992). Nach wie vor ergibt sich imRahmen bindungstheoretischer Betrachtun-gen eine deutliche Kluft zwischen weitrei-chenden theoretischen Annahmen (z. B.Caruso, 1989; s. auch Grossmann, 1986) undder empirischen Datenlage. Der Befund vonvan den Boom (1994), die in einer sorgfältigkontrollierten Interventionsstudie sowohleine Verbesserung des Explorationsverhaltensals auch der Bindungsqualität bei irritierba-ren Säuglingen nachgewiesen hat, deutet aufeine Kopplung beider Systeme hin. Diese Un-

tersuchung spricht allerdings gegen eine di-rekte kausale Interpretation der Qualität der(jetzigen) Bindung auf das (spätere) Explorati-onsverhalten. Vielmehr erscheint es nahelie-gend, daß sowohl Bindungs- als auch Explo-rationsqualität gemeinsam von anderen Va-riablen abhängen.

3. Die Untersuchung desExplorationsverhaltens

Jede der oben geschilderten Perspektiven bie-tet interessante Ansätze und spezifische Fra-gen. Um eine Integration anzustreben, mußallerdings die Entwicklungsperspektive syste-matisch angewendet werden. Explorationund Spiel können viele verschiedene Erschei-nungsformen aufweisen. Im folgenden wer-den zunächst einige Ansätze vorgestellt, dieExploration und Spiel in ihrer Entwicklungbeschreiben.

3.1 Von ersten explorativen Handlungen zu komplexem Spiel

Die Entwicklung des Spielverhaltens von Kin-dern ist als ein geordneter Ablauf verschiede-ner Phasen beschrieben worden. Eine detail-lierte Ordnung für die frühe Kindheit mit ins-gesamt zwölf Stufen stammt von Belsky undMost (1981, S. 623). Die Entwicklung verläuftdemnach von einfachen explorativen Verhal-tensweisen (z. B. «mouthing», einfache Mani-pulation, funktionale Manipulation) zu kom-plexen symbolischen Spielelementen (z. B.Substitution, d. h. Verwendung eines Objektsin einem sachfremden Zusammenhang, alsoetwa eine Puppe füttern, wobei ein Stöckchenals Babyflasche benutzt wird). Die höchstenStufen sind noch zusätzlich sequentiell ange-ordnet (also etwa in einen durch eine Schach-tel symbolisierten Rennwagen durch das Zim-mer fahren, an einer imaginären Tankstelleauftanken und schließlich bei der Weiterfahrteinen Zusammenstoß mit einem anderenWagen produzieren). Obwohl diese Stufen-folge eigentlich als Entwicklungsreihe for-muliert ist, wird sie häufig zur Messung derQualität der Exploration innerhalb einer

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Altersgruppe benutzt. Dabei wird dann bei-spielsweise das höchste gezeigte Niveau oderetwa der Zeitanteil, der mit Spielen auf undüber einem angegebenen Niveau verbrachtwurde, als ein Entwicklungsindikator verwen-det (Belsky, Goode & Most, 1980). Es ist hiernatürlich nicht an eine echte Entwicklungs-sequenz gedacht, insbesondere verschwindendie niedrigen Formen im Verlauf der weiterenEntwicklung nicht (lediglich das «mouthing»wird unter Normalbedingungen eher seltenbeobachtet).

3.2 Symbolisches Spiel und Sprach-entwicklung

Insbesondere die komplexen Spielformensind für entwicklungspsychologische Theo-riebildungen von besonderem Interesse.Komplexes Spiel setzt voraus, daß das KindObjekte und Verhaltenselemente von ihrerkonkreten Gegebenheit lösen kann, was aufeine interne und flexible Repräsentation sol-cher Objekte und Verhaltenselemente ver-weist. McCune (1995) hat in einer längs-schnittlichen Studie zeigen können, daß ein-zelne Niveaus des repräsentationalen Spielsmit dem jeweiligen Niveau der Sprachent-wicklung in systematischer Weise verknüpftauftreten. Sie faßt zusammen:

«Längsschnittlich beobachtete Kinderzeigten die Sprachübergänge zur selbenZeit oder später als die Transformationenim repräsentationalen Spiel, und diestrotz individueller Differenzen in der Ent-wicklungsrate von Sprache und Spielver-halten, was die Verfügbarkeit der zugrun-deliegenden Fähigkeit zur Repräsentati-on zum Zeitpunkt der Sprachtransforma-tion bedeutet» (S. 204 [Übersetzung desAutors]).

Mit anderen Worten: wenn es Zeitunterschie-de im Auftreten von Fähigkeiten im Spiel undder Sprache gibt, dann kommt die entspre-chende Repräsentationsleistung zuerst imSpielverhalten vor und dann in der Sprache.Dieser Befund betont die Bedeutung desSpielverhaltens für die kognitive Entwick-lung, auch wenn McCune hier sehr vorsich-

tig ist und als Schlußfolgerung anbietet, daßSpiel und Sprache gemeinsam von der Ent-wicklung repräsentationaler Kapazitäten ab-hängen. Diese Position ist mit der traditionel-len Position der Sprachentwicklungstheoriewie sie in Grimms (1995, S. 713) Frage «Wieist es möglich, daß Kinder die komplexe Auf-gabe des Spracherwerbs in einem Alter lösen,in dem sie zu vergleichbar komplexen Lei-stungen in anderen kognitiven Bereichennoch nicht in der Lage sind?» zum Ausdruckkommt, kaum zu vereinbaren.

Hoppe-Graff (1993) setzt die Emergenz desSymbolspiels in der frühen Kindheit in Bezie-hung mit sozialen Konstruktionsprozessen.Dabei nimmt er an, daß symbolische Spiel-handlungen von Kindern zuerst in Interak-tionen mit Erwachsenen auftreten, und erstdanach auch individuell verfügbar werden.In einer Längsschnittstudie weisen Hoppe-Graff und Engel (1996) nach, daß vor allemdie imitativen Interaktionen einen statistischnachweisbaren Effekt auf das Auftreten vonSymbolkompetenzen in solitären Spielsitua-tionen haben. Damit ist im Gegensatz zu derAnnahme von McCune (1995) die symboli-sche Repräsentation nicht in der allgemeinenkognitiven Kompetenz verankert, sondern ineinem sozialen Ko-Konstruktionsprozess. In-wieweit diese Zusammenhänge über die kon-kret untersuchten Verhaltensweisen hinausgenerelle Gültigkeit haben, muß die zukünfti-ge Forschung zeigen.

3.3 Beziehung und Explorationsmodalitäten

Ansätze, die dem Bindungsparadigma nichtverhaftet sind, jedoch die Art der frühen Ver-haltensregulationen auch als bedeutsam fürdie spätere Verhaltensentwicklung betrach-ten, legen ebenfalls eine Beziehung zwischenfrühen Interaktionserfahrungen und späte-rem Explorationsverhalten nahe. Keller undihre Mitarbeiter (Keller, 1992; Keller & Boigs,1989; Keller, Schölmerich, Miranda & Gauda,1987) haben die Entwicklung des Explorati-onsverhaltens längsschnittlich verfolgt.Dabei unterschieden sie im Rückgriff aufKreitler und Kreitler (1986) und andere Auto-ren verschiedene Explorationsmodalitäten,

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wie visuelle, auditive, taktile, manipulativeund verbale oder epistemische Exploration.Eine wesentliche Kategorisierung des Explo-rationsverhaltens scheint durch die Parame-ter der Nähe bzw. des Kontaktes zum Objektbestimmt zu werden. Distale Exploration be-zeichnet dabei Aktivitäten, die mit Hilfe derFernsinne erlauben, das Objekt zu explorie-ren; ohne direkten physischen Kontakt mitdem Objekt werden visuell, auditiv oder epi-stemisch Informationen aufgenommen. Pro-ximale Exploration besteht aus manipulativenund taktilen Handlungen. Es leuchtet ein,daß die Dimension der Annäherung und Ver-meidung (s. auch o. die biologische Perspekti-ve) sich insbesondere auf die proximale Ex-ploration bezieht; von daher sind Zusam-menhänge zwischen frühen Interaktionser-fahrungen und der Exploration nur im proxi-malen Bereich zu erwarten. Im Verlauf dervon der Geburt bis zum Alter von neun Jah-ren reichenden Untersuchung ergaben sichnur geringe korrelative Beziehungen zwi-schen den einzelnen Explorationsmodalitä-ten, was die Betrachtung sowohl innerhalbder einzelnen Beobachtungssituationen alsauch im Entwicklungsverlauf anbelangt. Die-ser Befund ist aber aufgrund der unterschied-lichen Bedeutung der Verhaltensweisen aufdem Hintergrund unterschiedlicher Entwick-lungsaufgaben auf den einzelnen Altersstufennicht überraschend. Zu verschiedenen Zeit-punkten finden sich deutliche negative Kor-relationen zwischen visueller und manipula-tiver Exploration, was aber durch die sich ge-genseitig ausschließende Definition solcherVerhaltensweisen hinreichend erklärt ist. Ins-gesamt widersprechen die Ergebnisse der Un-tersuchung allerdings in gewisser Weise derVorstellung eines über Situationen hinwegstabilen Explorationsmotivs. Inwieweit dieseBefunde durch die im Längsschnitt notwen-dige Verwendung unterschiedlicher Objektezu verschiedenen Untersuchungszeitpunktenmitbedingt wurden, kann mangels empiri-scher Belege derzeit nicht entschieden wer-den. Für künftige Untersuchungen wäre eswünschenswert, Versuchspläne zu entwerfen,bei denen die Explorationsobjekte nicht nurfür ein Untersuchungsalter angeboten wer-den können. Für eine der Hypothesen, dieoben in Erweiterung der bindungstheoreti-

schen Annahmen diskutiert worden ist, fan-den Keller und Mitarbeiter allerdings eineempirische Bestätigung, die gleichzeitig fürdie Explorationsforschung von großer Bedeu-tung ist. Betrachtet man nämlich die Zusam-menhänge zwischen Beziehungsqualität (hiergemessen mit Hilfe des Ausmaßes des Blick-kontakts zwischen Mutter und Kind im Altervon drei Monaten) und Exploration, dannzeigt sich ein positiver Zusammenhang zwi-schen Beziehungsqualität und manipulativerExploration im Alter von zwei Jahren, nichtaber zwischen Bindungsqualität und distalenExplorationsmodalitäten.

3.4 Strategien und Prozesse derExploration

Schon in der Kindheit ist die Messung vonExploration und Spiel schwierig, was mit derOffenheit und Breite des theoretischen Kon-zepts zu tun hat. Diese Schwierigkeiten neh-men im weiteren Verlauf der Entwicklung zu.Während es in der Kindheit im wesentlichenum die Stimulation des entsprechenden Ver-haltens und die Bestimmung von Intensitätund Dauer geht, was wegen der indivi-duell unterschiedlichen Informationsverar-beitungsgeschwindigkeit schon zweifelhaftgenug ist, kommen mit dem weiteren Ent-wicklungsverlauf noch die unterschiedlichenInteressen, soziale Normen, inspektive Explo-ration und allgemein Vorgänge, die dem Be-obachter verborgen bleiben, hinzu. Aus die-sem und einigen anderen Gründen ist dieUntersuchung von Explorations- und Spiel-verhalten hinsichtlich Funktion, Erschei-nungsform oder Entwicklungsrelevanz insge-samt noch sehr lückenhaft. Für die weitereForschung mag es interessant sein, sich auchauf komplexere Aspekte des Explorationsver-haltens einzulassen. Dazu gehört sicher dieUntersuchung von Explorationsstrategien, dieKinder in unterschiedlichen Situationen an-wenden. Voraussetzung solcher Analysen istdie Untersuchung des Explorationsprozesses inseiner zeitlichen Erstreckung. EntsprechendeMethoden sind von Schölmerich (1994) ent-wickelt worden. Mit der Prozeßanalyse war esmöglich, die Aufnahme von Information inden Vordergrund zu stellen und damit über

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die in der Literatur verbreiteten Zeitvertei-lungsanalysen hinauszugehen. Es stellt sichnämlich die Frage, ob als explorativ klassifi-ziertes Verhalten tatsächlich einen Informati-onsaufnahmevorgang impliziert oder ob essich bei dem gezeigten Verhalten lediglichum eine Wiederholung bereits aufgetretenerMuster handelt. Dieser Aspekt ist im Explora-tionsverhalten von zentraler, weil definitori-scher Bedeutung (s. o.). Bei der bislang vor-herrschenden Messung der zeitlichen Dauerder Beschäftigung mit einem unbekanntenObjekt ist es denkbar, daß die «schnellen Ex-plorierer», also solche Kinder, die die Unter-suchung eines Objektes in kurzer Zeit be-werkstelligen, als wenig explorativ eingestuftwerden. Solche Fehlklassifikationen könnenebenfalls vermieden werden, wenn die Explo-rationsneigung anhand ihres Resultates über-prüft wird (beispielsweise anhand eines Testsüber das durch die Exploration erworbeneWissen). Allerdings bringt dieses Verfahreneigene methodische Schwierigkeiten mit sich.

3.5 Entwicklung von Interessen

Insbesondere Krapp (1994) hat zur Explorati-onsforschung kritisch angemerkt, daß zu vielProzeß und zu wenig Inhalt untersuchtwürde, es bei Exploration aber immer um dieExploration von etwas Bestimmtem gehe. ImEntwicklungsverlauf erscheinen zunehmendbestimmte Themen, auf die sich spontanesexploratorisches Verhalten richtet oder umdie spielerische Tätigkeiten organisiert wer-den. Wie Renninger (1989) zeigt, beginnt dieEntwicklung spezifischer und relativ stabilerInteressen schon im Vorschulalter. Die weite-re Differenzierung der Interessen (Krapp,1994; Renninger, 1989) kann als die adäquateEntwicklungsaufgabe für Jugendliche undjunge Erwachsene definiert werden. Es liegenverschiedene Modelle zur konzeptionellenEinordnung von Interessen vor. Day (1981)hat ein dreidimensionales Modell vorgeschla-gen, um Neugierverhalten in der differentiel-len Perspektive einzuordnen: die bevorzugteStimulationsart, den bevorzugten Explorations-stil und das spezifische Interesse. Die Entwick-lung von Interesse wird von Fink (1994) an-hand von drei Modellen dargestellt. Erstens

beschreibt Fink das Wachstumsmodell, dasdurch eine im Verlauf der Entwicklung zu-nehmende Differenzierung und Intensivie-rung gekennzeichnet ist. Zweitens schlägt erein Kanalisierungsmodell vor, bei dem die In-tensivierung einzelner Interessensdomänenauf Kosten anderer Alternativen vonstattengeht, und drittens ein Überlappungsmodell, beidem ein Wechsel der Interessensdomäne auf-grund einzelner Ankerelemente, die in bei-den Interessensbereichen vorkommen, voll-zogen wird. Man kann annehmen, daß invielen Interessensbereichen ein Vorwissennotwendig ist, um diese Interessen weiterzu-entwickeln, und daß dem Explorationsver-halten beim Entstehen dieses Vorwissens einebesondere Rolle zukommt. Gleichzeitig bie-ten dann entwickelte Interessengebiete Anrei-ze, sich mit bestimmten Inhalten weiterzube-schäftigen; auf diese Weise können sie sicher-lich die Motivation zur Informationssuchebeeinflussen. Eine Integration dieser Ansätzemit wissenspsychologischen Konzeptenkönnte hier sehr fruchtbar sein.

3.6 Exploration in späteren Lebensabschnitten

Die späteren Lebensabschnitte sind in bezugauf Explorationsverhalten bisher nicht syste-matisch untersucht worden. Eine Untersu-chung von Kleinman und Brodzinsky (1978)beschäftigt sich mit haptischer Explorationbei jungen Erwachsenen, Personen im mittle-ren Lebensabschnitt und älteren Menschenund findet abnehmende Leistungen in einerObjekt-Identifikations-Aufgabe bei den älte-ren Menschen. Es ist aber sehr zweifelhaft, in-wieweit diese Studie im Sinne der Lebens-spannen-Entwicklung interpretierbar ist,denn die Leistungsunterschiede könnendurch eine ganze Reihe unterschiedlicherFaktoren erklärt werden. Insbesondere derAnsatz der Entwicklungsaufgaben erscheintin dieser Untersuchung noch nicht hinrei-chend reflektiert, es ist geradezu grotesk, beialten Menschen nach den gleichen Verhal-tensweisen zu suchen, die im Jugendalteroder der Kindheit eine Rolle spielen. In einerneueren Studie fanden Daffner, Scinto, Wein-traub und Guinessey (1994) keine Unter-

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schiede zwischen Erwachsenen im mittlerenAlter und solchen im hohen Alter in einerReihe von visuellen Explorationsaufgaben,die man als weniger altersspezifisch ansehenkann. Sie ziehen die Schlußfolgerung: «curio-sity may not decline substantially with age»(S. 368). Vermutlich ist dieser Befund moda-litätenspezifisch zu interpretieren, es liegenaber leider zu anderen Modalitäten keine ver-gleichbaren Befunde vor.

4. Angewandte AspekteDie Angewandte Psychologie hat ein erhebli-ches Interesse an der Untersuchung des Spiel-und Explorationsverhaltens. Bezüglich desExplorationsverhaltens sind es insbesonderedie informationsvermittelnden Funktionen, diediesen Verhaltensbereich für Anwendungeninteressant machen. Das Interesse am Spiel-verhalten besteht eher aus einem therapeuti-schen oder beratungszentrierten Interesse zurKonfliktregulation. Falls es stimmt, daß deroptimale Abstand zwischen subjektivem In-formationsstand und den Anforderungen derUmgebung (wie auch immer im einzelnendefiniert) dazu führt, daß Interesse und Auf-merksamkeit sozusagen aus eigenem Antriebfortbestehen, dann ist dieser Ansatz für daslebenslange Lernen natürlich von zentralerBedeutung. In der Klinischen Psychologiewird besonders das Spiel als therapeutischeMaßnahme verstanden.

4.1 Exploratorisches Lernen

Carroll und Mack (1983) hatten bei der Beob-achtung von naiven Nutzern von Computer-systemen festgestellt, daß diese einen chaoti-schen, durch Versuch und Irrtum gekenn-zeichneten Umgang mit dieser hoch komple-xen Umgebung bevorzugten. Der erste Kon-takt von hoch trainierten Experten miteinem neuen Softwareprodukt ist ebenfallsdurch eine relativ fehlerreiche Explorations-phase gekennzeichnet. Daraus ergab sich dasKonzept des «exploratorischen Lernens» (Car-roll & Mack 1983; Greif, 1989, 1994; Greif &Keller, 1990). Es geht von einem «minimali-

stischen Design» aus, um die Komplexität derSituation auf das (im Sinne der Diskrepanz-hypothese) optimale Maß zu bringen. Greifbetont, daß die dynamische Anpassung desKomplexitätsgrades an den Fähigkeitsstanddes Benutzers das eigentliche Geheimnis dessignifikant besseren Erfolges solcher Trai-ningssessions sei. Bei dem von Carroll ur-sprünglich vorgeschlagenen minimalisti-schen Design tritt insbesondere bei Proban-den mit gewissen Vorkenntnissen schnellLangeweile auf.

4.2 Computerspiele

Die heute im Umlauf befindlichen Compu-terspiele provozieren Explorationsverhaltenin hohem Maße. Falls das nicht sogar der Ge-genstand dieser Spiele ist (wie bei den «ad-venture-games», bei denen man Ortskenntniserwerben und «Hinweise» sammeln muß, umdie letzte Spielstufe zu erreichen), setzt schonder Umgang mit den Kontrollknöpfen eineFingerfertigkeit voraus, die nur durch persi-stierende Exploration erworben werdenkann. Die Faszination, die unbestreitbar vondieser Art Spiel ausgeht, liegt inzwischen si-cher nicht mehr in der Neuheit des Mediumsbegründet. Vielmehr sind hier einfach diePrinzipien der Komplexitätsanpassung anden Spieler verwirklicht, und die kleinenLernfortschritte ergeben hinreichend Motiva-tion zur Fortsetzung des Spiels. Die Fehler, dieein Spieler oder ein Benutzer in diesen kom-plexen Systemen macht, sind «gute Fehler»im Sinne Köhlers.

4.3 Spieltherapie

In der Klinischen Psychologie ist das Interessean Spielverhalten besonders mit der psycho-analytischen Tradition verknüpft. Das Spielwird als therapeutischer Prozeß eingesetzt,um z. B. psychisch bedeutsame Ereignisse dar-zustellen und die entsprechenden Affekteauszuleben und zu verarbeiten. Zunächst wardie Spieltherapie in psychoanalytischer Tradi-tion entwickelt worden, um einen therapeu-tischen Zugang zu den weniger zur Selbstre-flexion und Verbalisierung fähigen Kindern

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zu gewinnen. Inzwischen finden solche Tech-niken auch für andere Populationen Verwen-dung, wobei sich allerdings vieles in derGrauzone esoterischer Weltsichten ansiedelt.

4.4 Spielen als Arbeit

Ein Heft der amerikanischen populärwissen-schaftlichen Zeitschrift «Psychology today»(Juni 1995) widmet dem Thema «Spielen» dieTitelgeschichte. In diesem Beitrag werden dieFunktionen von spielerischem Umgang mitder Wirklichkeit als Gegenmittel zur streßer-zeugenden Arbeitswelt hervorgehoben. Einerder Untertitel dieses Artikels lautet: «Wirhaben sogar schon begonnen, unser Spiel zurVerrichtung von Arbeit zu benutzen, indemwir es als Mittel zu anderen Zwecken einset-zen – Streßabbau, Therapie, Fitneß undSelbstverwirklichung» [Übersetzung des Au-tors]. Diese Feststellung zeigt das Dilemmader Zukunft des Spiels, nicht nur in der Kind-heit, sondern auch im Erwachsenenleben:Die zunehmende Erforschung der psychi-schen Prozesse machen diese auch der Ver-wertung verfügbar, und solche Verwertbarkeithat zumindest die Tendenz, dem eigentlichenGegenstand mit seiner Natur auch die Un-schuld zu rauben.

5. Perspektiven zukünftiger ForschungEine der wichtigsten Aufgaben zukünftigerForschung im Bereich von Spiel- und Explo-rationsverhalten ist sicher die Integration derBefunde, die unter Verwendung der verschie-denen Sichtweisen entstanden sind. Dieseschwierige Aufgabe bietet wegen der Fort-schritte in einzelnen Gebieten ein erhebli-ches Potential. Die zunehmende Bedeutungvon Informationen in der Gesellschaft legt esnahe, sich über die Möglichkeiten zur effekti-ven Filterung «interessanter» Information ausder Flut des Angebots Gedanken zu machen.Hier könnte ein besseres Verständnis desspontanen Informationsaufnahmeverhaltensdes Menschen wesentliche Anregungengeben, vielleicht auch die Forschungen zur

Herausbildung von Interessen im Entwick-lungsverlauf. Eine gewisse Annäherung zwi-schen Forschern, die sich mit den bio-psy-chologischen Grundlagen von Aufmerksam-keit und Orientierung beschäftigen, und sol-chen Arbeitsgruppen, die an der Computersi-mulation kognitiver Prozesse arbeiten, ist be-reits zu konstatieren (s. z. B. den Sammelbandvon Levine & Leven, 1992, darin besondersPribham, 1992), und insbesondere bei denletzteren besteht ein erhebliches Interesse anFragen der Motivation, der emotionalen Re-gulierung und der Zielorientierung sponta-nen Verhaltens. Die bislang unter bindungs-theoretischer Perspektive betriebene For-schung hat relativ wenig für die Explorations-forschung verwertbares empirisches Materialhervorgebracht; möglicherweise war das bis-herige Paradigma, das sich an dem Schlag-wort von der Bindungs-Explorations-Balanceorientiert hat, zu simplifizierend. Es könntefruchtbar sein, hier sowohl die Entwicklungemotionaler Regulation einschließlich ihrerbio-psychologischen Organisation als auchdie Entwicklung von motivationalen Fakto-ren in die theoretischen Modelle mit einzu-beziehen.

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562 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

Page 121: 5-8

Inhaltsverzeichnis1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564

2. Die Evolution der Geschlechtlichkeit . . . . . 566

3. Die Evolution von Geschlechtsunterschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . 5663.1 Die Rolle der geschlechtlichen Selektion . . . 5673.2 Partnerwahlpräferenzen: Männer wollen die

Erstbeste, Frauen den Besten zuerst . . . . . . 5683.2.1 Die Quadratur des Mannes oder:

Weibliche Partnerwahl . . . . . . . . . . . 5703.2.2 Der Mythos des keuschen Weibchens 572

3.3 Risikobereitschaft, Krankheitsanfälligkeit und Lebenserwartung . . . . . . . . . . . . . . . . . 5733.3.1 Männliche Gewaltbereitschaft als Aus-

druck innergeschlechtlicher Konkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575

3.4 Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5783.4.1 Räumliches Orientierungsvermögen . 5783.4.2 Räumliches Erinnerungsvermögen . . 5793.4.3 Individuelle Lernerfahrung und

räumliches Wahrnehmen . . . . . . . . . 579

3.5 Sozio-kommunikative Fähigkeiten . . . . . . . 5803.5.1 Fürsorgeverhalten . . . . . . . . . . . . . . . 5803.5.2 Die Affinität für positiv gefärbte

emotionale Beziehungen . . . . . . . . . 581

4. Die Individualentwicklung von Geschlechtsunterschieden . . . . . . . . . . . . . . . . 5824.1 Gene und Umwelt: die epigenetische Sicht 582

4.1.1 Die Rolle der Androgene und die Entwicklung der Geschlechtsidentität 583

4.2 Gibt es ein Auto-Gen? oder: geschlechtstypische Spielpräferenzen . . . . . 585

4.3 Nochmals statt «entweder-oder» «sowohl-alsauch» oder: Fortpflanzungssystem und geschlechtstypische Sozialisation . . . . . . . . 588

5. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 590

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592

563

Kapitel V. 5:

Geschlechtliche Selektionund IndividualentwicklungAthanasios Chasiotis, Osnabrück & Eckart Voland, Gießen

Page 122: 5-8

1. EinleitungEiner der wesentlichsten Aspekte dessen, wasuns als Menschen ausmacht, ist unsere Ge-schlechtlichkeit. Sie ermöglicht uns eine un-mittelbare Kategorisierung der menschlichenNatur: Diese biologisch vorgegebene Auftei-lung in «männlich» und «weiblich» legte esseit den Anfängen menschlicher Kultur nahe,sie kulturell zu modifizieren. Die Ausformungbiologisch vorgegebener Geschlechtsunter-schiede durch die Kultur erschwert jedochzwangsläufig ihre angemessene Erforschung.Statt dessen liefert sie einer irreführenden Il-lusion der Alternativen immer wieder neueNahrung, nämlich entweder die geschlechtli-che «Biologie als Schicksal» zu akzeptierenoder Geschlechtlichkeit nur als «soziale Kon-struktion» und damit ausschließlich als Pro-dukt der Umwelt ansehen zu müssen.

Die Geschichte der psychologischen Ge-schlechtsunterschiedsforschung läßt sichdementsprechend als Hin- und Herpendelnzwischen den beiden Extrempositionen«Natur» und «Kultur» darstellen. Nach denVerirrungen der psychologischen Schädelleh-re («Phrenologie») um die Jahrhundertwen-de, die nahelegten, daß die Frauen «naturge-geben» den Männern geistig unterlegenseien, weil ihr Gehirn weniger wiegen oderein geringeres Volumen haben würde, nahmim Laufe der Jahre die vernichtende Kritik ansolcherlei «biologistischer» Methodik und In-terpretation zu (s. kurzen historischenÜberblick in Hyde, 1990). Damit einher gingauch die Umorientierung hin zu eher sozio-genetischen Theorien, die Geschlechtsunter-schiede als rein gesellschaftlich bedingt dar-zustellen versuchten.

In teilweise ausdrücklich emanzipatori-scher Absicht dominiert seit den späten sech-ziger Jahren die Annahme, daß alle psycholo-gisch relevanten Geschlechtsunterschiedeentweder marginal oder kulturbedingt seien(s. Keller, 1979, S. 12: «In den siebziger Jahren(...) bemühen sich (die Forscher) nachzuwei-sen, daß es keine substantiellen, angeborenenGeschlechtsunterschiede gibt» [Hervorhe-bung der Autoren]). Die eindimensionale Be-schreibung männlicher und weiblicher Eigen-schaften, bei der die einzelnen Individuendem jeweiligen «männlichen» oder «weibli-

chen» Pol zugeordnet worden waren, wurdedurch eine «orthogonale» Sicht der Ge-schlechter als unabhängige bzw. sich ergän-zende Größen ersetzt. Als gesellschaftlichesIdeal wird inzwischen von einer ganzenReihe von Autoren und Autorinnen das Kon-zept der «androgynen» Persönlichkeit pro-pagiert, das sowohl «weibliche» als auch«männliche» Züge, gewissermaßen das Bestebeider Welten, in sich vereinigen soll (s. Bem,1985), dessen empirischer Nachweis sich je-doch als schwierig erweist. Evolutionsbiologi-sche Überlegungen hingegen werden auchgegenwärtig kaum in Betracht gezogen, weilsie für die angestrebte soziale Gleichstellungder Frauen als hinderlich angesehen werden.Und gemäß der altbekannten Mißdeutung,wonach «Biologie» einfach alles, was nichtvariiert, wäre, und alles, was im Laufe des Le-bens Änderungen unterworfen ist, nicht-bio-logisch, wird die «biologische» Bedingtheitvon Geschlechtsunterschieden immer nochmit ihrer «Unveränderlichkeit» gleichgesetzt.

Ironischerweise – und im Gegensatz zurirrtümlicherweise als «große Schwester» derPsychologie angesehenen klassischen Physik– dreht sich in der Biologie alles um Vielfalt,Varianz und Wandel (s. Kap. II.3): Die Evolu-tion der zwei «biologischen» Geschlechterselbst ist ein Beispiel dafür (s. 2.).

Bei der Erörterung von geschlechtlichenUnterschieden kann die Abgrenzung von ge-schlechtsspezifischen und geschlechtstypi-schen Aspekten (Degenhardt & Trautner,1979) zwar hilfreich, aber auch mißver-ständlich sein: Geschlechtsspezifische Unter-schiede sind qualitativer Natur, d. h., sie be-treffen die körperbaulichen, funktionalenund verhaltensmäßigen Eigenschaften, dieausschließlich bei einem Geschlecht vorzu-finden sind: Nur Frauen haben eine Gebär-mutter, können Kinder gebären und stillen,nur Männer hingegen haben einen Penisund können Kinder zeugen. Geschlechtsty-pische Unterschiede sind hingegen nurquantitativer Natur, d. h., sie betreffen nichtdie Art, sondern den Umfang der Merkmals-ausprägung. Hier wären alle Unterschiede zunennen, in denen sich die Geschlechter instatistisch bedeutsamer Weise voneinanderunterscheiden: So sind beispielsweise hin-sichtlich der Körpergröße, aber auch hin-

564 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

Page 123: 5-8

sichtlich der sexuellen Orientierung nur ge-schlechtstypische statistische Mittelwertsun-terschiede festzustellen: Nicht alle Männersind größer als alle Frauen, und nicht alleFrauen beziehungsweise Männer fühlen sichsexuell von Angehörigen des anderen Ge-schlechts angezogen. Dabei sollte der Denk-fehler vermieden werden, nur qualitativeoder unveränderliche Geschlechtsunter-schiede als biologisch bedingt und quantita-tive oder variable Geschlechtsunterschiedeals ausschließlich umweltbedingt anzuse-hen. Zudem kann es auch irreführend sein,darauf hinzuweisen, daß das Ausmaß derUnterschiede zwischen den Geschlechternim Vergleich zu den auftretenden Unter-schieden zwischen verschiedenen Individu-en innerhalb der Geschlechter oft eher ge-ring ist: Schließlich sind auch bei der Kör-pergröße im Mittel die interindividuellenUnterschiede innerhalb eines Geschlechtsgrößer als der Unterschied zwischen den Ge-schlechtern.

Trotz einer häufig wohlfeilen zeitgeistori-entierten Fehlinterpretation der biologischenPerspektive wird innerhalb der neueren psy-chologischen Erforschung der Geschlechtsva-riable gelegentlich die Frage aufgeworfen,warum in der Psychologie Geschlechtsunter-schiede eher als geringfügig angesehen wer-den, im Alltag aber allgegenwärtig zu seinscheinen. Zum einen liegt das sicherlich ander fehlenden entwicklungspsychologischenTheorie zur Geschlechterdifferenz. DieserMangel drückt sich beispielsweise darin aus,daß sehr weit definierte Merkmalsbereichewie «Intelligenz» und «räumliche Wahrneh-mung» auf Geschlechtsunterschiede hin un-tersucht werden, ohne das Alter zu berück-sichtigen. Meist wird die Antwort jedoch mitder sozialen Akzentuierung «eigentlich» ge-ringer Unterschiede in Verbindung gebracht(Trautner, 1991). Genauso gut möglich ist je-doch, daß vorhandene Unterschiede durchgesellschaftliche Maßnahmen verringert wer-den, also unter anderen gesellschaftlichen Be-dingungen (noch) größer sind (Low, 1989),oder daß biologisch angelegte Unterschiedegerade bei Gleichbehandlung (unfreiwillig)vergrößert werden (Bischof-Köhler, 1992).Das sind sozialisationstheoretische Möglich-keiten, denen bei einer einseitigen, biologie-

fernen Perspektive kaum die ihnen gebühren-de Beachtung zuteil wird.

Obwohl die Geschlechter weniger das un-terscheidet, was sie tun können, als vielmehrdas, was sie tatsächlich tun, werden in der Psy-chologie oft nur mögliche Unterschiede inden Fähigkeiten und nicht in der Motivationder Geschlechter erforscht. Offenkundige,verhaltensmäßige Geschlechtsunterschiedescheinen dagegen in der Biologie eher einerempirischen Erforschung zu unterliegen: In-nerhalb der Biologie ist statt der nur schein-bar mit weniger Annahmen ableitbaren Null-hypothese nichtvorhandener Geschlechtsun-terschiede die Position selbstverständlich,daß männliche und weibliche Lebeweseneher als zwei verschiedenen Arten zugehörigaufzufassen wären, die zu einer (zeitweiligen)Symbiose gezwungen sind, um sich fort-zupflanzen (Trivers, 1985). Wie auch einigePsychologen inzwischen nahelegen, wäre es,diesen biologischen Erkenntnissen Rechnungtragend, möglicherweise sinnvoller, von derAnnahme auszugehen, daß psychische Ge-schlechtsunterschiede vor allem im motiva-tionalen Bereich vorhanden und funktionellbedeutsam sind.

Somit ergibt sich die delikate Ausgangsla-ge, daß vorhandene Geschlechtsunterschiedezwar weder (im Sinne des statistischen Feh-lers des «Verpassers») negiert oder herunter-gespielt, jedoch auch nicht (im Sinne eines«falschen Alarms») übertrieben werden soll-ten. Hier kann die Evolutionsbiologie, wiewir sehen werden, Hilfestellung leisten. Dabeiist zu beachten, daß das Aufzeigen von Ge-schlechtsunterschieden keinerlei Bewertungder Geschlechter beinhaltet. Die Ideologiean-fälligkeit der Geschlechterforschung läßt sichdabei unserer Ansicht nach auch daraufzurückführen, daß es bisher keine einheitli-che Theorie der Geschlechtsunterschiedegibt.

Entgegen den Befürchtungen einiger ober-flächlicher Kritiker ist die moderne Evoluti-onsbiologie, wie jede andere empirische Wis-senschaft auch, prinzipiell ideologieunabhän-gig. So lassen sich evolutionäre Überlegungenohne weiteres auch für ein feministisch ge-speistes Erkenntnisinteresse anstellen (Gowaty,1992; Hrdy, 1993): Beispielsweise weist Smuts(1995) darauf hin, daß es sowohl bei der Evo-

565Geschlechtliche Selektion und Individualentwicklung

Page 124: 5-8

lutionstheorie als auch bei den feministi-schen Theorien um den Zusammenhang vonMacht und Sexualität geht, nur daß die Evo-lutionstheorie zusätzlich zu der (feministi-schen) Frage, wie Männer Macht über Frauenausüben, auch für die grundsätzlicheren Fra-gen Erklärungsansätze liefert, warum Männerdermaßen machtorientiert und so auf dieKontrolle der weiblichen Sexualität bedachtsind.

Ein weiterer Aspekt wird wichtig: Wenndas evolutionäre Endprodukt nicht das er-wachsene, fortpflanzungsfähige Individuumist, sondern der gesamte Lebenslauf als Aus-druck stammesgeschichtlicher Anpassung an-zusehen ist (s. Kap. II.3), bedeutet das imHinblick auf die Geschlechtsunterschiedsfor-schung nicht, daß mit dem Geschlecht ein-hergehende Unterschiede von Geburt an vor-handen sein oder im Laufe des Lebens kon-stant bleiben müssen. Die Frage besteht auchnicht primär darin, ob diese Unterschiedeevolutionsbiologischen Annahmen entspre-chen, sondern vielmehr welchen: Es muß evo-lutionäre Gründe dafür geben, wenn sich dieIndividualentwicklungen der Geschlechterauf diese und keine andere Art voneinanderunterscheiden – in den Worten von Gaulin(1995, S. 1222): «When we are studying theontogenetic basis of sex differences, we arestudying evolved developmental programs.»

2. Die Evolution der Geschlechtlichkeit

Die in der Evolutionsbiologie vielleicht inter-essanteste, aber gleichzeitig noch nicht end-gültig geklärte Frage läßt sich in angelsächsi-scher Prägnanz so formulieren: «Why sex?».Der biologische Zweck allen Lebens ist letzt-lich Fortpflanzung. Die Fortpflanzung kann,wie sich an vielen Einzellern und einigenPflanzen beobachten läßt, auch durch unge-schlechtliche Zweiteilung erfolgen. Die ge-schlechtliche Fortpflanzung ist aber nicht nurmit den sonst vermeidbaren «Kosten» wiePartnerwahl und sexueller Betätigung ver-bunden, sondern auch mit den Kosten,männliche Nachkommen erzeugen zu müs-

sen. Sich ungeschlechtlich vermehrende «Ur-Weibchen» haben alle Gene mit ihren «Töch-tern» gemeinsam, sich sexuell vermehrendenicht: In jedes Kind wird nur die Hälfte deseigenen Erbgutes kopiert. GeschlechtlicheFortpflanzung ist damit zunächst nur halb soeffizient wie die ungeschlechtliche («Parthe-nogenese») und scheint die natürliche Selek-tion zu unterlaufen. Somit ist es erklärungs-bedürftig, warum es überhaupt Männchengibt (Daly & Wilson, 1983).

Im wesentlichen werden derzeit zwei Hy-pothesen diskutiert, denen gemeinsam ist,daß der Vorteil der Sexualität in der durch diesexuelle Vermehrung erreichten genetischenVielfalt gesehen wird (Vogel & Sommer,1994; Paul & Voland, im Druck). Dieser Vor-teil könnte einmal entstehen, weil genetischverschiedenartige Nachkommen strukturellunterschiedliche Lebensräume besiedeln kön-nen, so daß Eltern, die genetisch unterschied-liche Nachkommen erzeugen, gewissermaßenmehr Lose in der Trommel haben, aus der dienatürliche Selektion nur wenige «Gewinner»zieht. Oder aber – von den Fachleuten derzeitals etwas erklärungsfähiger eingeschätzt – diesexuelle Rekombination des Erbguts könntesich als entscheidender evolutiver Vorteil imWettrennen mit der Evolution von Pathoge-nen erwiesen haben, deren Existenz voneinem erfolgreichen Knacken des Gencodesvon Wirtsorganismen abhängt. Eine stetigeNeumischung des genetischen Materials stelltdie Pathogene vor immer neue Aufgaben underhöht so die Überlebenschancen der Wirts-organismen (s. auch Kap. II.5).

3. Die Evolution von Geschlechtsunterschieden

Warum gibt es gerade zwei, und warum zweiunterschiedliche Geschlechter? Eine stetige Re-kombination des Erbmaterials könnte ja auchmit nur einem Geschlecht gelingen. Gegendie eingeschlechtliche Vermehrung, d. h. dervon zwei Elternindividuen mit gleich großenKeimzellen («Isogameten»), spricht der gravie-rende Nachteil, der mit einem Dilemma dereingeschlechtlichen Vermehrung einhergeht:Jedes Lebewesen kann die erfolgreiche Fort-

566 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

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pflanzung seiner Gene entweder über einegroße Anzahl von Keimzellen, also quantita-tiv, oder über ihre gute, die Überlebensfähig-keit steigernde Grundausstattung, also quali-tativ, zu erreichen versuchen. Da bei der Er-zeugung von Keimzellen die «Entscheidung»für eine der beiden Alternativen notwendi-gerweise auf Kosten der anderen gehen mußund deshalb beide Alternativen nicht gleich-zeitig von ein und demselben Individuumverfolgt werden können und es keine andere,dritte Alternative gibt, kann es nur zwei Ge-schlechter geben. Die evolvierte «Entschei-dung» für die erstgenannte Alternative führtezu einer allmählichen Verkleinerung derKeimzellen auf Kosten ihres Nährstoffgehal-tes und damit zur Evolution von «Ur-Samen-zellen» (Proto-Spermien). Die zweite Alterna-tive führte zur Entstehung von größeren,wertvolleren «Ur-Eizellen» (Proto-Ova).

Da die Vereinigung zweier nährstoffreicher«Ur-Eier» am vorteilhaftesten, die von klei-nen «Ur-Samen» am nachteiligsten war, über-lebten im Laufe der Jahrmillionen nur jeneUr-Samenzellen, die besonders schnell ihrZiel, nämlich eine Ur-Eizelle zu befruchten,erreichten. Die Ur-Eizellen hingegen wurdendurch die immer rasantere Verfolgungsjagddurch die Spermien immer unbeweglicher. Sowaren die evolutionären Weichen gestellt fürdie auch bei uns Menschen als Säugetiere er-folgende Befruchtung der Eier innerhalb desEier-produzierenden Lebewesens: Das eine,sogenannte weibliche Geschlecht produzierteine relativ kleine Anzahl großer, nährstoff-reicher und relativ unbeweglicher Eizellen,das andere, sogenannte männliche Ge-schlecht spezialisiert sich auf die Produktionvieler kleiner, nährstoffarmer und enorm be-weglicher Samenzellen (vgl. Wickler & Seibt,1990).

So läßt sich dieses naturgeschichtlicheSzenario von der Entstehung der ersten, sichzweigeschlechtlich («anisogam») fortpflan-zenden Lebewesen vor ungefähr einer Milliar-de Jahre bis hin zum modernen Menschender Gegenwart bruchlos nachvollziehen.Damit wird klar, daß die anatomischen undmorphologischen Geschlechtsunterschiededer Menschen nur das offensichtlichste, abernicht das einzige Resultat der Evolution dersexuellen Vermehrung sein werden. Da die

Geschlechter genetisch unterschiedlich sind,haben sie zwangsläufig nicht völlig deckungs-gleiche Interessen und somit auch unter-schiedliche Verhaltensneigungen. Dies ist so-wohl die Grundlage der (taktischen) Koopera-tionbereitschaft als auch die des immer-währenden «Krieges» der Geschlechter.

3.1 Die Rolle der geschlechtlichenSelektion

Ursprünglich ging Darwin (1859) bei der For-mulierung seiner Evolutionstheorie davonaus, daß der formgebende Hauptmechanis-mus im Evolutionsgeschehen die natürlicheSelektion ist, welche die einzelnen, genetischeinzigartigen Varianten (Individuen) danachausliest, wie erfolgreich sie sich fortpflanzen(s. Kap. II.3). Später postulierte Darwin (1871)einen zweiten selektiven Prozeß, den der ge-schlechtlichen Selektion. Während die verzer-renden und verfälschenden Interpretationendes natürlichen Selektionsprinzips über einhalbes Jahrhundert lang den von Darwin ein-geleiteten Fortschritt in der Biologie verhin-derten (Mayr, 1984), wurde das Prinzip dergeschlechtlichen Selektion sogar fast ein Jahr-hundert lang praktisch ignoriert. Inzwischensind sich führende Evolutionsbiologen und-biologinnen darin einig, daß die sexuelle Se-lektion für die darwinische Theorie der Evo-lution mindestens genauso wichtig wie dienatürliche Selektion, wenn nicht sogar wich-tiger als diese ist (Cronin, 1991).

Es ist nicht uninteressant, daß möglicher-weise der Hauptgrund für die jahrzehntelan-ge Vernachlässigung der zweiten genialenIdee von Darwin darin bestand, daß er demweiblichen Geschlecht eine starke, wenn nichtgar die ausschlaggebende Rolle im ge-schlechtlichen Selektionsprozeß zugewiesenhatte: So bringt der bekannte Evolutionstheo-retiker John Maynard Smith selbst den zeit-geistlichen Umschwung in der Bewertung dergeschlechtlichen Selektion mit dem Aufkom-men der Frauenbewegung in Verbindung(Maynard Smith, 1991).

Die dem natürlichen Selektionsdruck unter-liegenden Eigenschaften umfassen die eherdas unmittelbare Überleben betreffendenMerkmale wie die Anpassungsfähigkeit an die

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begrenzenden Faktoren der ökologischen Ni-sche mit ihrem charakteristischen Nahrungs-angebot, Feinddruck und ihrem Vermögen,den Nachwuchs zu reproduktiv erfolgreichenIndividuen heranwachsen zu lassen. Die ge-schlechtliche Selektion hingegen betrifft alleFähigkeiten eines Individuums, in Konkur-renz zu seinen gleichgeschlechtlichen Mitbe-werbern/Mitbewerberinnen geeignete Ge-schlechtspartner/Geschlechtspartnerinnen zufinden, zu umwerben und für sich zu gewin-nen und gegebenenfalls ihn oder sie auchnach der Paarung zur mehr oder wenigerlangfristigen Zusammenarbeit bei der Auf-zucht der Nachkommen zu bewegen.

3.2 Partnerwahlpräferenzen: Männer wollen die Erstbeste, Frauen den Besten zuerst

Einer der wesentlichsten durch selektive Vor-gänge entstandenen Geschlechtsunterschiedebetrifft den Aufwand in die Aufzucht desNachwuchses. Zum sogenannten «parental in-vestment» (Trivers, 1972) gehört jegliche elter-liche Anstrengung in bezug auf einzelneNachkommen, die den Fortpflanzungserfolgpotentiell steigert und gleichzeitig alternati-ve elterliche Investitionsmöglichkeiten redu-ziert. Die Höhe des nachgeburtlichen parenta-len Investments variiert dabei in der Naturnicht immer mit dem Geschlecht, bei denSäugetieren ist diese jedoch beim Weibchenin der Regel höher (zur Diskussion der Aus-nahmen s. Daly & Wilson, 1983; Voland,1993). Während der Aufwand weiblicher Säu-getiere (maternales Investment), angefangenbei der Herstellung der nährstoffreicherenEier über die Schwangerschaft bis hin zumStillen, enorm ist, könnten sich männlicheSäugetiere prinzipiell mit der wenig kostenin-tensiven Produktion von Spermien sowie derBegattung als paternales Investment begnügen.Die männliche Strategie ist somit in der Regeleher quantitativ, da wenig in viele Nachkom-men investiert wird, die weibliche Reproduk-tionsstrategie eher qualitativ zu nennen, daviel in weniger Nachkommen gesteckt wird.Und da bekanntlich Menschen zoologischauch zu den Säugetieren gehören, gelten diedaraus ableitbaren Annahmen auch für sie:

1. Diese betreffen zum einen die väterliche Un-sicherheit: Da kein Mann sich seiner Vater-schaft absolut sicher sein kann, wird vonihm ein hohes Ausmaß an sexueller Eifer-sucht und Überwachungsmotivation ange-nommen.

2. Zum anderen legen sie die Vermutungeiner überdurchschnittlich männlichen Nei-gung zum Partnerwechsel nahe, da Männerdurch Paarung mit verschiedenen Frauenihre Fortpflanzung mehr steigern können,als Frauen dies durch Verpaarung mitmehreren Männern vermögen.

3. Zudem ist prinzipiell die reproduktive Vari-anz beim Mann größer, d. h., daß einMann nicht nur um ein Vielfaches mehrNachwuchs haben, sondern auch viel eherungewollt kinderlos bleiben kann als eineFrau. Deshalb wirken sich günstige Kon-textbedingungen vorteilhafter, schlechteKontextbedingungen ungünstiger auf denmännlichen als auf den weiblichen Repro-duktionserfolg aus.

Eine Vielzahl kulturvergleichender Untersu-chungsergebnisse sprechen für die Gültigkeitdieser Annahmen auch für Menschen (aus-führlicher Voland, 1993; Buss, 1994).

Vaterschaftsunsicherheit: Der sexuelle Betrugihrer Partnerinnen ist für Männer viel gravie-render als die damit zusammenhängende Un-ehrlichkeit – bei den Frauen ist es eher umge-kehrt: Überall auf der Welt bilden männlicheBesitzansprüche in Verbindung mit Mut-maßungen über weibliche sexuelle Untreuedas bei weitem häufigste Motiv für innerehe-liche Gewalt gegen Frauen. So gehen unge-fähr die Hälfte aller Morde an Frauen durchMänner auf Eifersucht zurück (Daly & Wilson,1988).

Bei zunehmender Häufigkeit des Partner-wechsels von Weibchen, mit der eine Ver-minderung der Vaterschaftswahrscheinlich-keit einhergeht, ist zudem evolutionsbiolo-gisch zu erwarten, daß sich ab einem gewis-sen Grad sexueller Freizügigkeit die männli-che Investmentbereitschaft auf die Kinder derSchwestern verlagern sollte, da hier wegenzumindest gemeinsamer mütterlicher Ab-stammung der Grad genetischer Verwandt-schaft nie auf Null sinken kann – im Gegen-satz zu den Kindern der «eigenen» Frau.

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Genau dieser Zusammenhang konnte ineiner umfangreichen Untersuchung an 288Kulturen eindrucksvoll nachgewiesen werden(Flinn, 1981). Interessanterweise unterschei-det auch die deutsche Sprache zwischen demOnkel und dem Oheim, zu dem als Mutter-bruder ein besonderes Vertrauensverhältnisentsteht.

Männliche Neigung zum Partnerwechsel (aus-führlicher s. Buss, 1994): Männer haben ge-nerell weniger Vorbehalte als Frauen, unver-bindliche, anonyme sexuelle Beziehungeneinzugehen. So gaben in einer Untersuchungan über 3400 US-Amerikanern aus dem Jahre1992 nur knapp jeder fünfte (19,5%) Mann,aber fast jede dritte (31,5%) Frau an, abihrem 18. Lebensjahr nur einen Sexualpart-ner gehabt zu haben; umgekehrt berichtetejeder dritte (32,9%) Mann, aber nur knappjede zehnte (9,2%) Frau von über zehn bishe-rigen Sexualpartnern. Zu ähnlichen Ergebnis-sen kommen Untersuchungen an nochgrößeren Stichproben aus Großbritannienund Frankreich (Liesen, 1995). Diese höheremännliche Neigung ist dabei nicht nur unab-hängig davon, ob die Männer eine feste Be-ziehung haben, sondern auch davon, ob siein dieser Beziehung glücklich sind: Einer Un-tersuchung zufolge hielten nur 33% untreuerFrauen ihre Ehe für glücklich, während 56%der untreuen Männer dieser Meinung waren.Männer sind dabei nicht besonders wähle-risch, da sie bei unverbindlichen Beziehun-gen wesentlich weniger Wert auf qualitativePersönlichkeitsmerkmale wie beispielsweisedie Intelligenz ihrer Partnerinnen legen (Ken-rick, Sadalla, Groth & Trost, 1990). Sie gebenzudem an, im Laufe ihres Lebens mehr Se-xualpartner haben zu wollen, haben mehr se-xuelle Phantasien, bei denen Vielzahl undAbwechslung eine starke Rolle spielen, undneigen dazu, die von Frauen als sexuelle Belä-stigung eingestuften Verhaltensweisen ande-rer sogar als angenehm einzuschätzen (Studd& Gattiker, 1991).

Zusätzlich sind in diesem Zusammenhangdie großen Geschlechtsunterschiede zwi-schen männlicher und weiblicher Homose-xualität aufschlußreich, da hier das Sexual-verhalten sozusagen «in Reinkultur,» alsoohne die durch das Zusammenleben mit demanderen Geschlecht erforderlichen Kompro-

misse sichtbar wird. Die entsprechenden Be-funde zeigen, daß männliche Homosexuelleviel eher anonymen Gelegenheitssex betrei-ben als Lesbierinnen. So waren in einer Un-tersuchung 94% aller männlichen Homo-sexuellen mit mehr als 15 Partnern bekannt,während dies nur auf 15% der Lesbierinnenzutrifft; in einer anderen Untersuchunggaben fast 50% der männlichen Homosexu-ellen an, sogar über 500 Sexualpartner gehabtzu haben (für die USA s. Buss, 1994; für dieBRD s. Peukert, 1996). So schlußfolgert Sy-mons (1979, S. 300), daß

«heterosexuelle Männer mit gleicherWahrscheinlichkeit wie die homosexuel-len sehr häufig mit fremden Personen se-xuell verkehren, an anonymen Orgien inöffentlichen Bädern teilnehmen, in öf-fentlichen Toiletten zu fünfminütiger Fel-latio einkehren würden, wenn die Frauenan solchem Treiben interessiert wären.Doch die Frauen sind nicht interessiert.»(zit. n. Buss, 1994, S. 109).

Reproduktionsvarianz: Da die Eheschließungkulturvergleichend und historisch als institu-tionalisierte Erlaubnis, Kinder zu bekommen,angesehen werden kann, ist erwähnenswert,daß es weltweit mehr Männer gibt, die un-freiwillig ein Leben lang unverheiratet undkinderlos bleiben als Frauen. Zum einen kanndas bei Männern an unzulänglichen ökono-mischen Ressourcen oder niedriger Stellungin der sozialen Hierarchie liegen, zum ande-ren daran, daß in Kulturen, die erlauben, daßein (in der Regel sozial hochstehender) Mannmit mehreren Frauen verheiratet sein darf,diese Monopolisierung mehrerer Frauendurch einen Mann mehrere andere zwangs-läufig leer ausgehen läßt. Bei den polygynenXavante-Indianern (Brasilien) beispielsweiseist deshalb die Varianz im Reproduktionser-folg von Männern dreifach größer als vonFrauen. Während nur knapp ein halbes Pro-zent der Frauen kinderlos war, blieben 6%der Männer kinderlos; die größte Anzahl lagbei den Männern bei 23 Kindern, bei denFrauen bei acht Kindern (Daly & Wilson,1983). Wie eine repräsentative Stichprobealler Wahlberechtigten Venezuelas des Jahres1988 ergab, sind dort ähnliche Verteilungen

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nicht nur bei den Yanomami-Indianern, son-dern auch bei der gesamten Bevölkerung zufinden (s. Jaffe, Urribarri, Chacon, Diaz, Tor-res & Herzog, 1993). Auch in den heutigenUSA ist im Alter von 29 fast jeder zweite(43%), im Alter von 34 Jahren noch jedervierte Mann (25%) nie verheiratet gewesen,aber nur jede vierte Frau (29%) im Alter von29 und nur jede sechste Frau (16%) im Altervon 34 Jahren (Buss, 1994).

Die für die Frauen geringere Reprodukti-onsvarianz und ihr damit einhergehendeshöheres parentales Investment sowie die po-tentiellen Auswirkungen väterlicher Unsi-cherheit fassen Wickler und Seibt (1990, S.166) recht lapidar folgendermaßen zusam-men: «In allen menschlichen Kulturen tragenMütter die Hauptlast der Schwangerschaft,Säuglings- und Kinderpflege. Ein Teil dernachgeburtlichen Pflege wird ihnen zuweilenvon anderen Frauen abgenommen.» DieseVerallgemeinerung trifft trotz des jahrelangenHeraufbeschwörens der «neuen Väter» immernoch auch auf die modernen Industriestaatenzu: Vgl. Olbrichs & Brüderls (1995, S. 420)fast euphemistische Beschreibung der immernoch traditionellen Rollenaufteilung jungerElternpaare in der BRD: «Ein Einstellungs-wandel hat zwar auch bei den Männernschon eingesetzt, er ist jedoch nur ausgespro-chen zögerlich handlungsleitend.»

3.2.1 Die Quadratur des Mannes oder:Weibliche Partnerwahl

Da die Frauen potentiell die Hauptlast der pa-rentalen Investition tragen, hat es sich für siein der Evolution als zweckmäßig herausge-stellt, bei der Wahl der Väter ihrer Kinder be-sonders wählerisch zu sein und dabei jenemännlichen Merkmale im Auge zu haben,die ihrem persönlichen Reproduktionserfolgbesonders dienlich sind. Hier geht es also umdie bereits von Freud (s. Jones, 1962, S. 493)resigniert aufgeworfene Frage: «Was will dasWeib?». Aus evolutionsbiologischer Sichtkommen dafür zwei Antworten in Frage,nämlich Ressourcen, die vorteilhaft für dasReproduktionsgeschäft genutzt werden kön-nen, und «gute Gene». Es sollte inzwischenklar geworden sein, daß diese beiden Antwor-

ten auf die Ebene der ultimaten Zweckursa-chen menschlicher Verhaltenssteuerung zie-len. Die Antworten auf der Ebene der proxi-maten psychologischen Partnerwahlpräferen-zen würden freilich ganz anders aussehen.

Väterliche Ressourcen: In einer großangeleg-ten kulturvergleichenden Studie von Buss(1989) an 10047 Personen aus 37 Kulturenvon 33 Staaten auf sechs Kontinenten undfünf Inseln wurden für Frauen und Männerjeweils eindeutige, kulturunabhängige Ehe-partnerpräferenzen festgestellt. Schon alleindiese einzelne Studie vermag es, die pauscha-le Sicht, nach der Partnerwahlkriterien kul-turabhängig sind, als unhaltbar zurückzuwei-sen. Obwohl die festgestellten Unterschiedezwischen den Kulturen in dieser Studie im-mens waren, ist es um so erstaunlicher, daßdurchweg – unabhängig vom Modernisie-rungsgrad, der Analphabetenrate oder demBruttosozialprodukt, der Religion oder derSprachgemeinschaft, bei Zulus in Südafrikagenauso wie bei Niederländern – Männereher als Frauen (in allen Kulturen) junge, (in34 Kulturen) attraktive und (in 23 Kulturen)sexuell eher unerfahrene Partner/Partnerin-nen präferieren – Frauen dagegen eher alsMänner (in 36 Kulturen) Partner/Partnerin-nen mit guten finanziellen Aussichten und(in 29 der Kulturen) ehrgeizige und fleißigePartner/Partnerinnen. Diese inzwischenmehrfach gestützten Ergebnisse zeigen deut-lich, daß praktisch überall auf der Welt Män-ner bei der Partnerwahl eher auf reproduktive,Frauen eher auf soziale Erfolgsmerkmale ach-ten: «Männer suchen Frauen, die Kinder ver-heißen, während Frauen Männer suchen, diederen Erziehung und Versorgung garantierenkönnen» (Vogel & Sommer, 1994, S. 26).

Diese Präferenzen spiegeln auch die Befun-de wider, daß das Ausmaß, mit dem Frauensexuelle Belästigung als solche empfinden,auch vom Status des männlichen Täters ab-zuhängen scheint (Studd & Gattiker, 1991).Außerdem entsprechen die jeweils ge-schlechtstypischen Täuschungsbemühungenbei der Partnersuche ebenfalls diesen Präfe-renzen (Tooke & Camire, 1991): WährendMänner mit ihrem vermeintlich hohen sozia-len Status, ihren finanziellen Möglichkeitenund ihrer Bindungsbereitschaft übertreiben(Statussymbole, großes Interesse vortäu-

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schen), versuchen Frauen, sich jünger und se-xuell desinteressierter zu geben, als sie mögli-cherweise sind (Schminken, «Sprödigkeit»).

Somit spielen bei den Partnerpräferenzender Männer äußere Attraktivitätsmerkmalewie Gesundheit und Jugendlichkeit im allge-meinen eine größere Rolle, weil sie als repro-duktive Erfolgsmerkmale angesehen werden.Männer scheinen sich bei dieser überwiegendvisuellen Ästhetik weniger auf das Körperge-wicht oder die -größe, sondern vielmehr aufdas Verhältnis der Taille zur Hüfte zu konzen-trieren: Während Attribute wie glatte Hautund geschmeidiger Gang von beiden Ge-schlechtern präferiert werden, legen die Män-ner eine Vorliebe für eine im Verhältnis zurTaille breitere Hüfte an den Tag. Die kurvigenFormen der im Verhältnis zur Taille ausladen-den Hüften werden durch entsprechende ge-schlechtsspezifische, während der Pubertätausgebildete Fettpolster noch verstärkt. IhreAttraktivität liegt dabei möglicherweise darin,daß das durchschnittliche, von Männern be-vorzugte Taillen-Hüft-Verhältnis von 0.7 so-wohl mit Gesundheit als auch mit einer er-höhten Fruchtbarkeit in Verbindung ge-bracht wird (Singh & Luis, 1995). Wird diesesVerhältnis zugrunde gelegt, scheint ein Groß-teil der augenscheinlichen kulturellen undhistorischen Varianz in den Schönheitsnor-men bezüglich der Körperform zu verschwin-den (Sütterlin, 1994).

«Gute Gene»: Trotz dieser ersten Annähe-rung an die evolvierten weiblichen Präferen-zen kann das aber nicht alles sein: Was ist mitdem mittellosen Herzensbrecher, dem char-manten Nichtsnutz, dem frau sich eventuellhinzugeben bereit ist? Neben dem des «pater-nal investments» muß es also bei der weibli-chen Partnerwahl noch ein Kriterium geben,das für diese «romantischen» Paarungen ent-scheidend ist.

Für Frauen erscheinen Männer zwar auchaufgrund äußerer Verhaltens- und Körper-merkmale attraktiv, aber nicht primär, weilsie Fruchtbarkeit und Fortpflanzungserfolgverheißen, sondern weil sie Lebenstüchtig-keit, Gesundheit und Stärke und damit eine«gute» genetische Ausstattung signalisieren(s. Voland, 1993). Frauen präferieren dement-sprechend neben einem muskulösen Körperauch Stärke signalisierende breite Schultern,

d. h. eine im Verhältnis zur Taille breiteSchulterpartie. Evolutionär scheinen «guteGene» aber am ehesten im Zusammenhangmit der Robustheit des Immunsystems ge-genüber Pathogenen zu stehen: In einer sorg-fältig kontrollierten Untersuchung gelangWedekind, Seebeck, Bettens und Paepke(1995) unlängst der Nachweis, daß Frauen beider Partnerwahl auf geruchlicher Basis Män-ner zu präferieren scheinen, deren Immunsy-stemkomponente MHC sich genetisch vonihnen unterscheidet. Bei einer Paarung kämees somit zu einer erhöhten Überlebensfähig-keit potentieller Nachkommen, da durch diesexuelle Rekombination die Pathogenresi-stenz des Immunsystems höher sein würde (s. 2.). Dieses Ergebnis läßt die Einschätzungvon Olbricht und Brüderl (1995, S. 404) alsvoreilig erscheinen, daß nicht nachzuweisensei, ob bei der menschlichen Partnerwahl dasErkennen genetischer Verwandtschaft eineRolle spiele.

Aus dem Zusammenspiel dieser beiden Kri-terien resultieren nun für beide Geschlechtersehr schwer auf befriedigende Weise zu lösen-de Dilemmata bei der Partnerwahl:

Das Dilemma der Frauen: Frauen könnenauf «gute Gene» oder auf Ressourcen setzen.Das Problem besteht darin, daß sich beidePräferenzen nur selten unter einen Hut brin-gen lassen, was reproduktionsstrategischeEntscheidungen erzwingt. Die optimale Lö-sung für Frauen, nämlich eine Ehe mit demväterlichen Investor, der die äußerlichen Be-dingungen für eine erfolgreiche Reprodukti-on garantiert, und die Fortpflanzung miteinem «gute Gene» signalisierenden romanti-schen Verführer, was die genetischen Bedin-gungen für eine erfolgreiche Reproduktionverbessert, konfligiert freilich mit den männ-lichen Interessen und birgt die bekannten Ri-siken, von denen die Weltliteratur so ein-drucksvoll zu berichten weiß (s. 3.2.2).

Das Dilemma der Männer: Da beide aufge-führten weiblichen Entscheidungen etwas fürsich haben und situations- bzw. personab-hängig vorteilhaft sein könnten, ergibt sichwie so oft in der Evolution ein Kompromiß,der die widerstreitenden Kräfte der Selektionin ein prekäres Gleichgewicht münden läßtund der einer «Quadratur des Mannes»gleicht: Der aus diesen im Laufe der Stam-

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mesgeschichte konstant aufgetretenen, wi-derstreitenden weiblichen Präferenzen resul-tierte moderne Mann ist hin und her geris-sen zwischen dem, was er als kunstvoller Ver-führer, und dem, was er als treusorgenderVater der pflegebedürftigsten Nachkommendes gesamten Tierreichs leisten könnte;schließlich wissen die Frauen, auf die es ihmankommt, beide Tendenzen zu schätzen.

Mit der höheren ökonomischen Unabhän-gigkeit vieler Frauen in den modernen Indu-striestaaten geht möglicherweise auch eineUmorientierung der weiblichen Präferenzenhin zu Männern mit «good genes» einher, dafür einen immer größeren Anteil der Frauendie Männer nicht mehr für die Sicherstellungvon Ressourcen benötigt werden. Interessan-terweise bleiben aber selbst bei ökonomischrelativ unabhängigen, sozial hochrangigenFrauen grundsätzlich die gleichen evolviertenPräferenzen bestehen (Wiedermann & Allgeier, 1992): Auch unter den um die Zur-schaustellung «guter Gene» konkurrierendenMänner würden diese Frauen also diejenigenauswählen, die nicht nur schön, sondernwenn möglich auch gut betucht bzw. sozialhochrangig sind, und heizen damit die Kon-kurrenz nach sozialem Erfolg und Schönheitbei den Männern noch mehr an.

Bei Männern ist unter Umständen der um-gekehrte Weg zu beobachten, da die Unter-schiede zu den Frauen in den Präferenzenvon Persönlichkeitseigenschaften wie Intelli-genz und Verantwortungsbewußtsein mit derErnsthaftigkeit der (Heirats-)Absichten ab-nehmen. Je ernster die Absichten der Männersind, desto eher sind sie geneigt, qualitativeKriterien bei ihrer Partnerwahl zu berücksich-tigen (Kenrick et al., 1990): Während Frauenalso grundsätzlich wählerisch sind, sind Män-ner eher wählerisch darin, wann sie wähle-risch sein sollten (Wright, 1996).

Um so bemerkenswerter bleibt, daß dievon Buss (1989) beschriebenen Unterschiedeselbst bei ernsthaften Absichten grundsätz-lich bestehenbleiben. Obwohl sicherlichauch die männlichen Präferenzen weiblicheEigenschaften evolutionär mit bedingthaben, kann von einer entsprechend starkausgeprägten «Quadratur der Frau» nicht dieRede sein. Männer konnten es sich in derRegel stammesgeschichtlich nicht leisten,

wählerisch zu sein, also in dem Maße be-stimmte ideale Vorstellungen und hohe Stan-dards an ihre Partnerinnen anzulegen wie dieFrauen, da sie wegen ihrer höheren Repro-duktionsvarianz das weniger «wertvolle» Ge-schlecht darstellen. Während kaum eine Fraupartner- bzw. kinderlos zu bleiben brauchte,wenn sie es nicht wollte, mußten Männerimmer damit rechnen, ungewollt völlig leerauszugehen.

3.2.2 Der Mythos des keuschen Weibchens

Die eindeutigsten empirischen Belege dersoeben ausgeführten, intraindividuell wider-streitenden Verhaltenstendenzen der Ge-schlechter sind nicht zuletzt die hohen Sei-tensprungraten von Männern und Frauen infesten Beziehungen: Während einer ehervorsichtigen Schätzung in den USA zufolgemindestens ein Drittel der Männer undmindestens ein Fünftel der Frauen im Laufeihrer Eheleben untreu werden (Buss, 1994),gehen andere Studien bei beiden Geschlech-tern von einer wesentlich höheren Rateaußerehelicher Affären aus. Obwohl nichtin demselben Ausmaß, haben unzweifelhaftbeide Geschlechter die Neigung zum Fremd-gehen.

Die Motivation für diese Form der Sexua-lität variiert jedoch nicht nur mit dem Ge-schlecht, sondern evolutionären Erwartun-gen gemäß auch mit dem Alter: Männergeben eine mit dem Alter stetig anwachsen-de, größere Anzahl von Seitensprüngen mitmehr Partnerinnen an (von 20% zwischen 16bis 35 Jahren, 26% zwischen 36 und 40 Jah-ren und 30–35% zwischen 41 und 50 Jah-ren). Frauen scheinen in ihren jungen Jahren,in denen sie wegen ihrer Attraktivität undFruchtbarkeit (d. h. wegen ihres hohen Repro-duktionswertes) für Männer besonders «wert-voll» sind, am treuesten zu sein (6–9% Sei-tensprünge im Alter von 16 bis 25 Jahren), dasie von ihren Gatten schärfer kontrolliert undmit gravierenderen Sanktionen zu rechnenhätten. Im Laufe der Jahre nimmt diese Vor-sicht (und wahrscheinlich auch die Kontrolleseitens des Gatten) zunächst ab und ihre Un-treue zu (17% zwischen 31 und 40 Jahren).Nach ihren fruchtbaren Jahren, also nach der

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Menopause, nimmt die Rate interessanterwei-se wieder ab (Buss, 1994).

Bluttests im Rahmen von Untersuchungenaus verschiedenen Kulturen, die meistensunter einer anderen Fragestellung standen,weisen darauf hin, daß ungefähr 4% allerKinder nicht von dem unwissenden, legiti-men Vater stammen, mit dem die Mutter zu-sammenlebt (Stichprobenangaben schwan-ken zwischen 1,4% und 30%; Überblick undDiskussion der Angaben: Baker & Bellis,1995). Zudem scheinen diese Seitensprüngebevorzugt mit Männern vollzogen zu werden,deren gesellschaftlicher Status höher ist alsder des Gatten, und außerdem in den frucht-barsten Tagen des Monatszyklus initiiert zuwerden. In dieser Zeit treten dabei auch nochgehäuft «double matings» auf, d. h., daß dieFrauen innerhalb weniger Tage sowohl mitdem Ehemann als auch mit dem «Neben-buhler» schlafen, so daß von ihnen selbst dieVaterschaft nicht mehr sicher angegeben wer-den kann (Bellis & Baker, 1990; Baker &Bellis, 1995).

Die evolutionären Vorteile dieser «doublematings» haben mit einem der faszinierend-sten neueren Forschungsgebiete der moder-nen Evolutionsbiologie zu tun, nämlich derSpermakonkurrenz. Spermakonkurrenz be-zeichnet den im Tierreich weitverbreitetenund abgesicherten männlichen innerge-schlechtlichen Wettbewerb in der Phase zwi-schen Samenabgabe und Befruchtung (Inse-mination, s. Voland, 1993; Baker & Bellis,1995). Obige

«... Daten legen die Vermutung nahe, daßeinige Frauen Spermakonkurrenz gerade-zu provozieren, indem sie bevorzugt inder fruchtbaren Zyklusphase «doublematings» eingehen. Ein Vorteil dessenwäre dann gegeben, wenn eine unter-schiedliche Durchsetzungsfähigkeit derSpermien zu einem gewissen Teil auf erb-liche Unterschiede zurückginge. Dannnämlich würden Frauen, die Spermakon-kurrenz anheizen, ihren Söhnen in dieserHinsicht einen Wettbewerbsvorteil mitge-ben.» (Voland, 1993, S. 142).

3.3 Risikobereitschaft, Krankheits-anfälligkeit und Lebenserwartung

Die bisher dargestellten geschlechtstypischenUnterschiede bezüglich des Partnerwahl- undSexualverhaltens im Erwachsenenalter sindals adaptives Ergebnis einer sich bei Jungenund Mädchen teilweise unterscheidendenKindheit und Jugend anzusehen. So unter-scheidet sich schon die Kindheit der Ge-schlechter sowohl quantitativ als auch teil-weise qualitativ voneinander: Jungen zeigendurch ihre verlängerte Kindheit eine höhereVerhaltensplastizität; der körperliche undteilweise auch kognitive Reifungsvorsprungder Mädchen beträgt bei der Geburt bereitsvier bis sechs Wochen, die sexuelle Reifung(Pubertät) erfolgt bei den Mädchen gar zweibis drei Jahre früher als bei den Jungen (s.Gualtieri & Hicks, 1985).

Mit dem Reifungsvorsprung bei der Geburtgeht eine bereits pränatal eindeutig höhereÜberlebensfähigkeit des evolutionsbiologisch«wertvolleren» weiblichen Geschlechts ein-her (s. Birg, 1994; Gualtieri & Hicks, 1985):Das bei der Empfängnis noch ca. 120–170 :100 zugunsten des männlichen Geschlechtsbetragende Junge/Mädchen-Verhältnis redu-ziert sich zum Zeitpunkt der Geburt auf 105–115 : 100, ungefähr bei der Pubertät istes ausgeglichen, um dann mit dem Alter all-mählich auf weit unter 100 zu sinken (im 80.Lebensjahr auf 43–64 : 100). Männer habendemnach weltweit eine um mehrere Jahre ge-ringere Lebenserwartung als Frauen (z. B. fürdie BRD 1986/1988: Männer 75 Jahre, Frau-en: 81 Jahre). Weil dieser Geschlechtsunter-schied eine biologische Konstante darstellt,läßt sich an ihr auch die bevölkerungswissen-schaftliche Regel ableiten: Je geringer die Dif-ferenz zwischen den Geschlechtern in der Le-benserwartung einer Population ist, destogrößer ist die Benachteiligung der Frau (Birg,1994). Zudem sind die Jungen bei den perina-talen und kinderneurologischen Komplikati-ons- und Morbiditätsraten sowie bei denwichtigsten kinderpsychiatrischen und ent-wicklungspsychopathologischen Auffälligkei-ten überrepräsentiert: Jungen leiden vorallem mehr unter externalisierenden Persön-lichkeitsstörungen wie Aggressivität und anti-sozialem Verhalten als Mädchen. So beträgt

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auch z. B. das Verhältnis beim Stottern, beider Dyslexie und beim Autismus mindestens4:1, beim hyperkinetischen Verhaltenssyn-drom 3 : 1, bei Sprachstörungen und demDown-Syndrom ungefähr 2,5 : 1 «zugunsten»des männlichen Geschlechts (Gualtieri &Hicks, 1985; MacDonald, 1988). Währenddabei für die weniger zahlreichen, bei denMädchen häufiger auftretenden Krankheiten(ausgenommen die der geschlechtsspezifi-schen Organe) möglicherweise eher eine ge-netische Ursache angenommen wird, scheintdie Krankheitsanfälligkeit bei Jungen gene-tisch unabhängiger, d. h. stärker Umweltein-flüssen unterworfen zu sein (Gualtieri &Hicks, 1985). MacDonald (1988, S. 219)spricht in diesem Zusammenhang von denMännern als dem gegenüber Umwelteinflüs-sen genetisch schlechter abgeschirmten Ge-schlecht («less buffered sex»).

Aber auch durch sein risikoreicheres Ver-halten setzt sich das männliche Geschlechtgrößeren Gefahren aus. Jungen haben »... inallen Altersgruppen ein deutlich höheres Ver-letzungsrisiko als Mädchen. Je nach Unfallartliegt das Risiko in bis zu dreifacher Höhe,wobei die Diskrepanz (...) über das Alter hin-weg zunimmt.» (Lohaus, 1993, S. 125). DieMortalitätsraten aufgrund von Unfällen undKrankheiten bis zum 20. Lebensjahr zusam-mengenommen sind bei den Jungen mehr alsdoppelt so hoch (7,22% gegenüber 3,23% beiden Mädchen; Lohaus, 1993, S. 23 f.). Diehöhere männliche Verhaltensplastizitätdrückt sich jedoch nicht nur in der Kindheitvor allem in Risikobereitschaft und Neugieraus. Wenn Männer eher leer ausgehen kön-nen, ist es für sie vorteilhafter, nicht nurmehr zu riskieren, sondern sogar für risikobe-haftete Situationen Vorlieben zu entwickeln(s. Kap.II.3). Dies drückt sich in dem bekann-ten «umtriebigen» männlichen Verhaltenaus, eine Persönlichkeitseigenschaft, dieZuckerman (1979) mit «sensation seeking»bezeichnet hat und wiederholt eher beimmännlichen Geschlecht nachweisen konnte.Bischof (1985) hat eine ähnliche, mit demGeschlecht variierende und von ihm als «Un-ternehmungslust» bezeichnete Verhaltens-tendenz theoretisch abgeleitet und empir-isch zumindest für die Entwicklungsphasezwischen Pubertät und Adoleszenz nachwei-

sen können (Gubler, Paffrath & Bischof,1994):

Bei 32 Jugendlichen bzw. jungen Erwach-senen aus zwei Altersstufen (15 bis 16 bzw. 23bis 25 Jahren) ließen sich in einer Computer-simulation (neben Altersunterschieden) auf-schlußreiche Geschlechtsunterschiede bezüg-lich dieser Entwicklungsphase feststellen: Dieweiblichen Probanden waren insgesamt zwarweniger unternehmungslustig, indem sie sichvon einer Sicherheitsquelle nicht allzuweitentfernten, sie waren jedoch auch unabhän-giger als die männlichen Probanden. Diemännlichen Probanden hingegen entferntensich zwar weiter von einer Sicherheitsquelle,suchten aber auch öfter ihre Nähe. Gubler etal. (1994) apostrophierten dementsprechendden weiblichen Stil sozialer Motivation in derAdoleszenz als «vernünftig», den männlichenals «übermütig».

Die höhere Sterblichkeit männlicher Indi-viduen in allen Altersstufen aufgrund höhe-rer Krankheits- und Unfallanfälligkeit findetsich im übrigen nicht nur auch bei nicht-menschlichen Primaten, sondern auch beiallen anderen Säugetieren (Trivers, 1985).Diese Tatsachen führen ausschließlich «kul-tur»- oder sozialisationsbedingte Erklärungender höheren Sterblichkeit der Männer (auf-grund höherer beruflicher Belastung undStreß o.ä.) ad absurdum: «Es ist sehr schwer,sich hierfür eine Erklärung vorzustellen, beider biologische Faktoren überhaupt keineRolle spielen.» (Pool, 1995, S. 45). So spre-chen einige Indizien dafür, daß geschlechts-typische immunologische und endokrinolo-gische Unterschiede auch für die höhere Mor-biditäts- und Mortalitätsrate des männlichenGeschlechts verantwortlich sein könnten:Demnach würde das männliche HormonTestosteron nicht nur unternehmungslustigund, wie wir gleich sehen werden, aggressiv(s. 3.3.1), sondern auch krankheitsanfälligmachen (Gualtieri & Hicks, 1985). Damitwäre das weibliche Geschlecht nicht nurwegen seiner niedrigeren Bereitschaft, Kon-flikte auf aggressive Art und Weise auszutra-gen, überlebensfähiger, vielmehr hätte dieweibliche Partnerwahl auch beim Menschendazu geführt, daß Frauen evolutionär Männermit Eigenschaften bevorzugt haben, die die-sen buchstäblich das Überleben erschweren

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(MacDonald, 1988, S. 213: «... the femaleschoose males with attributes that make themales less likely to survive ...»). Interpretie-ren läßt sich diese geringere Lebenserwartungauch mit dem Abgleichproblem zwischen derdurch Testosteron gewährleisteten, im folgen-den darzustellenden innergeschlechtlichenKonkurrenzfähigkeit der Männer und ihrerdurch das selbe Testosteron beeinträchtigtenLanglebigkeit. Dieses Abgleichproblem istwahrscheinlich auf Pleiotropieeffekte zurück-zuführen. Pleiotropie ist die Steuerung derAusbildung mehrerer Merkmale durch nurein Gen. Der genetische «Haupteffekt» dermännlichen Hormone läge dabei in der Er-höhung der innergeschlechtlichen Konkur-renzfähigkeit, ginge aber durch mehreredamit zusammenhängende Faktoren auf Ko-sten der Langlebigkeit der Männer.

Die unmittelbaren Ursachen dieser erhöh-ten Vulnerabilität («Verletzlichkeit») desmännlichen Geschlechts sind somit sehr ver-schieden und zum Teil (noch) unbekannt, ul-timat erinnern sie uns jedoch an die negati-ven Konsequenzen der höheren Reprodukti-onsvarianz der Männer: Wenn günstige Be-dingungen sich vorteilhafter und schlechteBedingungen sich ungünstiger auf denmännlichen Reproduktionserfolg auswirkenund das entsprechende, reproduktiven Erfolgversprechende Verhalten wiederum von psy-chischen Mechanismen gelenkt wird, ist an-zunehmen, daß sich diese höhere Umweltab-hängigkeit des männlichen Reproduktions-verhaltens auch in entwicklungspsychologi-schen Geschlechtsunterschieden nieder-schlägt.

3.3.1 Männliche Gewaltbereitschaft alsAusdruck innergeschlechtlicher Konkurrenz

«Männer sind unbestritten das gewalttäti-gere Geschlecht und tragen die Verant-wortung für den größten Teil des sozialunannehmbaren, ungesetzlichen und ab-stoßenden Verhaltens, das es auf derWelt gibt» (Buss, 1994, S. 204).

Eines der die psychologische Geschlechtsun-terschiedsforschung dominierenden Themenist das von Unterschieden im aggressiven

Verhalten. Obwohl inzwischen selbst beson-ders kritische Metaanalysen bestehender Un-tersuchungen einen «moderaten» Unter-schied einräumen, werden bei der Erklärungsolcher Unterschiede vornehmlich kulturab-hängige Erziehungsmuster herangezogen(z. B. Rothmund, 1979, S. 92: «In unserer Kul-tur scheint Aggression jedenfalls keine pas-sende Variante weiblichen Verhaltens zusein» [Hervorhebung von den Autoren]). Diesist um so erstaunlicher angesichts der Tatsa-che, daß eine umfangreiche Metaanalysekeine konsistenten, vom Geschlecht des Kin-des abhängigen elterlichen Erziehungsprakti-ken bezüglich Aggression nachweisen konnte(Lytton & Romney, 1991; s. 4.1.1).

Wichtig bei der Untersuchung von Ge-schlechtsunterschieden im aggressiven Ver-halten ist dessen Operationalisierung: Da Tö-tungsdelikte als besonders extreme, aber un-verkennbare Resultate aggressiven Verhaltensangesehen werden können, untersuchtenDaly und Wilson (1988, 1990) u. a. Ge-schlechtsunterschiede mit Hilfe solche Delik-te beinhaltender kriminologischer Datensätzeaus 35 sowohl geographisch als auch histo-risch variierenden Stichproben (vom Englanddes 13. Jahrhunderts bis zum heutigen Kana-da). Dabei ergaben sich eindeutige Unter-schiede zwischen den Geschlechtern: In allenvon Daly und Wilson (1988) herangezogenenhistorischen und aktuellen Daten ist dieMordrate bei Männern mindestens neunmalhöher als bei Frauen. Da auch bei zwi-schengeschlechtlichen und innerfamiliärenKonflikten der Täter meistens männlichenGeschlechts ist, ergibt sich somit der Schluß:Nicht alle Männer sind Mörder, aber fast alleMörder sind Männer.

Dabei ist auch der Median des Alters inallen untersuchten interkulturellen Stichpro-ben fast identisch und beträgt ungefähr 25Jahre (Daly & Wilson, 1990). Besonders au-genfällig ist die Gruppe junger Männer auch,was Vergewaltigung sowie anderes delinquen-tes Verhalten (Diebstahl, Vandalismus) an-geht: In einer Studie waren 71% aller US-amerikanischen Vergewaltiger zwischen 15und 29 Jahren alt (Thornhill & Thornhill,1983). In einer anderen Untersuchung zurDelinquenz von US-amerikanischen Jugendli-chen im Alter zwischen zwölf und 17 Jahren

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ergab sich ein durchschnittliches Junge-Mädchen-Verhältnis von 3 : 1 (zwischen 1,5 : 1bei «Streitereien» und 6 : 1 bei «großer Dieb-stahl», s. Jensen & Eve, 1976). Auch die heuti-gen bundesrepublikanischen Verhältnisse erge-ben ein ähnliches Bild (s. Statistisches Bundes-amt, 1991). Schließlich beträgt auch der Anteilmännlicher Verurteilter in der BRD allgemein84% und ist mit dem in anderen Ländern ver-gleichbar (von den Driesch & Kawamura,1995). So läßt sich unsere kulturell und histo-risch unabhängige «kriminologische Konstan-te» noch weiter präzisieren: Die meisten Gewalt-verbrecher zu allen Zeiten und in allen Kulturensind ledige, junge Männer um die zwanzig.

Warum eher Männer, und warum eher le-dige Männer? Und was hat es mit dem Alterauf sich? Die Frage, wie dieses historisch undkulturell unabhängige, aber stark geschlechts-und altersabhängige Verhaltensmuster erklärtwerden könnte, ist schwerlich ohne Berück-sichtigung evolutionsbiologischer Annahmenzu beantworten: Das mehr investierende Ge-schlecht (beim Menschen das weibliche) be-grenzt die Fortpflanzung des weniger inve-stierenden Geschlechts (beim Menschen dasmännliche). Dadurch entsteht zwangsläufigeine innergeschlechtliche Konkurrenz – dienicht selten gewalttätig eskaliert – um die«wertvolle Ressource» des mehr investieren-den Geschlechts (Trivers, 1972).

Laut Terrie Moffitt (1993, S. 675) ist die Be-ziehung zwischen dem Alter und antisozia-lem Verhalten «mysteriös». Entwicklungspsy-chologisch kann die Altersspezifität eines Ver-haltens dazu dienen, eher normales von auf-fälligem Verhalten zu unterscheiden: So sindim Kindergartenalter Wutausbrüche oder ag-gressives Verhalten eher unauffällig, weil rela-tiv normal. Aber auch in der Adoleszenz gibtes kaum einen männlichen Jugendlichen, derzwischen dem 13. und 18. Lebensjahr nichtin der einen oder anderen Weise delinquen-tes Verhalten zeigt. Mit 28 Jahren jedoch zei-gen fast 85% von ihnen keinerlei delinquen-te Verhaltensweisen mehr (Moffitt, 1993).Diese historisch und kulturell sehr stabile Al-tersverteilung der Delinquenz gehört zu denam wenigsten verstandenen empirischen Be-funden innerhalb der Kriminologie: Wiesozeigen so viele männliche Adoleszenten nurvorübergehend delinquentes Verhalten?

Entwicklungspsychologisch liegt mit derPubertät einer der wichtigsten psychosozialenÜbergänge vor, nämlich der von der Kindheitzum Erwachsenenalter. Um diesen Übergangkoordiniert zu vollziehen, gibt es in vielenKulturen besondere Übergangsrituale. Diesefinden in den industrialisierten, modernenGesellschaften kaum mehr statt. Allein da-durch kann den jungen Heranwachsendender Übergang zum Erwachsenenstatus er-schwert werden. Zudem entsteht durch denbereits erwähnten Säkularisierungstrend einevon Moffitt (1993, S. 687) als «maturity gap»bezeichnete immer größere Kluft zwischendem biologischen und dem sozialen Alter. Dagleichzeitig auch die Ausbildungszeit sichverlängert hat, entsteht durch diese Kluft ein«Rollenvakuum» (Moffitt, 1993, S. 686) vonbis zu zehn Jahren. In dieses Vakuum stößtaufgrund fehlender Vorbilder die Gruppe derbereits delinquenten Gleichaltrigen, diedurch ihre devianten Verhaltensweisen genauden von allen angestrebten adulten Status be-reits erreicht zu haben scheinen. Die in derentwicklungspsychologischen Literatur dis-kutierte «Statushypothese» bei der Erklärungder Jugenddelinquenz (Hurrelmann & Engel,1991) trifft besonders auf die Jungen zu, dadiese vor allem um Status konkurrieren, weilMänner mit hohem Sozialstatus den Frauenattraktiver erscheinen. Während der mensch-lichen Kulturgeschichte ging für Männer miteiner hohen sozialen Stellung auch regel-mäßig ein höherer Reproduktionserfolg ein-her (Voland, 1990, 1996; Chasiotis, 1996).Dabei spielte wahrscheinlich eine hohemännliche Aggressionsbereitschaft als Mittelzum sozialen Aufstieg eine uns unliebsame,aber trotzdem nicht zu vernachlässigendeRolle (Daly & Wilson, 1988).

Daß die innergeschlechtliche weiblicheKonkurrenz sich nicht in gleicher Art in ag-gressivem Verhalten äußert, wird an den Op-fern der Tötungsdelikte deutlich: Wenn Frau-en töten, dann sind sie nicht nur durch-schnittlich mindestens zehn Jahre älter alsmännliche Täter (s. Campbell, 1995), auchsind die meisten ihrer Opfer entweder ihre(ehemaligen) Lebensgefährten – die sie nichtselten in Notwehr (!) umbringen – oder ihreeigenen Kinder (s. Kap. II.3). Mit anderenWorten töten fast nur Männer Menschen, die

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sie kaum (bzw. gar nicht) kennen, wobeiunter ihren Opfern viermal mehr Männer alsFrauen sind (Daly & Wilson, 1988, 1990). Be-trachten wir die Tötungsmotive bei deninnergeschlechtlichen Konflikten jungerMänner, so geht es – neben Eifersucht – meistum Fragen des sozialen Status, also der Stel-lung in der sozialen Hierarchie und damit derDominanz, die für Männer so wichtig sind,daß sie unter Umständen dafür zu töten be-reit sind.

Diese männliche Orientierung an sozialeHierarchien ist der evolutionsbiologischenVorgabe entsprechend auch entwicklungspsy-chologisch nachweisbar, da sie bei Jungen be-reits im Vorschulalter ausgeprägter als beiMädchen ist und während der Pubertät ihrenHöhepunkt erreicht. So konnte Savin-Wil-liams (1987) in seiner Untersuchung an zehnbis 17 Jahre alten Kindern im krassen Gegen-satz zu den Jungen innerhalb der Mädchenkaum eine soziale Hierarchie feststellen. BeiFrauen sind nicht nur in der Kindheit, son-dern über alle Lebensabschnitte hinweg eherenge gleichgeschlechtliche Freundschaften zubeobachten, während intime, freundschaftli-che Beziehungen bei den Männern spätestensmit dem Einsetzen der Pubertät (d. h. mitdem Beginn reproduktiver innergeschlechtli-cher Konkurrenz) seltener werden und sicheher auf die (Ehe-)Partnerin zu beschränkenscheinen (MacDonald, 1988; s. auch Kap.IV.1).

Laut Bischof-Köhler (1992) haben die Frau-en im übrigen heutzutage möglicherweiseauch deshalb Schwierigkeiten, in unserer mo-dernen, männerdominierten Arbeitswelt Fußzu fassen, weil sie durch die geschlechtlicheArbeitsteilung in unserer stammesgeschicht-lichen Vergangenheit wahrscheinlich bessereMöglichkeiten hatten, Anteil am sozialenLeben zu nehmen, ohne auf Kinder verzich-ten und ohne direkt mit Männern konkurrie-ren zu müssen. Auch von nichtmenschli-chen, weiblichen Menschenaffen ist bekannt,daß sie eine geringere soziale Hierarchisie-rung aufweisen, wobei sie sich sowohl wähle-rischer in ihren Freundschaften als auchnachtragender bei Konflikten zeigen (s. deWaal, 1991). Während Männer also evolu-tionär eher darauf eingestellt sind, sowohlstarkes Konkurrenzverhalten zu zeigen als

auch, wenn nötig, kooperativ zu sein undsich in männliche, soziale Hierarchien (zeit-weilig) einzugliedern, scheinen Frauen hinge-gen weniger bereit zu sein, sich offen kompe-titiv zu verhalten oder sich anderen Frauenunterzuordnen.

Diesen Ausführungen zufolge ist die hoheAggressionsbereitschaft als ein Indikator derhohen männlichen innergeschlechtlichenKonkurrenz anzusehen und folgerichtig inder Phase der späten Adoleszenz, also aufdem Höhepunkt männlicher Fruchtbarkeit,am intensivsten. Dementsprechend steigenauch die Geschlechtsunterschiede in der fürdie innergeschlechtliche, körperliche Ausein-andersetzung wichtigen Körpergröße als auchin der Muskelkraft (Greifen, Ziehen, Stoßen)zugunsten des männlichen Geschlechts di-rekt nach der Pubertät teilweise steil an (Oer-ter & Dreher, 1995). Und auch die altersab-hängige Jugenddelinquenz bei den Mädchenist zwar bis zu sechsmal niedriger als bei denheranwachsenden Jungen, dem Zusammen-hang mit dem Einsetzen der sexuellen Rei-fung entsprechend fällt der Anstieg aberebenfalls mit dem Zeitpunkt der sexuellenAusreifung zusammen und setzt somit etwazwei Jahre früher ein als bei den Jungen(Campbell, 1995).

Martin Daly und Margo Wilson (1990)sprechen in diesem Zusammenhang vom«young aggressive male syndrome», um die evo-lutionspsychologisch enge Verzahnung ag-gressiver und sexueller Motivation jungerMänner zu verdeutlichen. Auffällig ist dem-entsprechend auch, daß diese risikoreichenVerhaltensweisen genau in das Alter fallen, indem zum einen der individuelle Reproduk-tionswert (s. Kap. II.3) am höchsten ist undzum anderen die Suche nach Intimpartnernmotivational Vorrang hat. Gerade der bei dendelinquenten Altersgenossen oft zu beobach-tende Zugang zu Frauen motiviert deshalbviele der heranwachsenden Männer zurNachahmung. Die höhere Aggressionsbereit-schaft vor allem junger Männer läßt sichschließlich auch am kürzlich festgestelltenZusammenhang zwischen der Heftigkeit derkriegerischen Auseinandersetzungen unddem Anteil 15- bis 29jähriger Männer an dergesamten männlichen Bevölkerung einesLandes nachweisen, dem Daten aus 88 Län-

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dern im Zeitraum von 1980–1993 zugrundeliegen (Mesquida & Wiener, 1996). Den Auto-ren zufolge scheint der kritische Wert, der ausdiesen vorläufigen Analysen ableitbar ist undder kriegerische Konflikte möglicherweisevorherzusagen vermag, bei einem Anteil vonetwa 60 jüngeren Männern unter 30 je 100über 30 Jahre alten Männern zu sein. Dem-gemäß ist für Daly und Wilson (1990) im all-gemeinen schlichtweg die «befriedende» Wir-kung der Ehe auf die Männer Ursache für denstarken Rückgang delinquenter Verhaltens-weisen bis zum 30. Lebensjahr (s. 4.3).

3.4 Wahrnehmung

3.4.1 Räumliches Orientierungsvermögen

Auch die in der räumlichen Wahrnehmungnachgewiesenen Geschlechtsunterschiedelassen sich schlüssig auf ihre evolutionsbiolo-gische Funktion zurückführen. Im Laufe derausgedehnten Forschung auf diesem Gebiet,bei der die unterschiedlichsten Aufgabenstel-lungen im räumlichen Wahrnehmen durch-geführt wurden, ergab sich das Problem, zuerklären, warum die Unterschiede je nach Artder Wahrnehmungsaufgabe schwanken undsich sogar umkehren können: «Es zeigt sich,daß die Ergebnisse (...) mit der gewähltenOperationalisierung von räumlicher Vorstel-lungskraft variieren.» (Keller, 1979, S. 18).Dabei stellte sich heraus, daß das männlicheGeschlecht im räumlichen Vorstellungs- undOrientierungsvermögen, das weibliche imräumlichen Erinnerungsvermögen besser ist.Wie kann man/frau sich darauf einen Reimmachen?

Erwiesenermaßen ist im Tierreich das Fort-pflanzungssystem prädiktiv für das räumlicheOrientierungsvermögen (Gaulin, 1995): Poly-game Männchen haben ein größeres Revierals die Weibchen bzw. als monogame Männ-chen anderer, eng verwandter Spezies. DieGröße des Reviers variiert dabei, seiner ange-nommenen Funktion entsprechend, nämlichpaarungsbereite Weibchen aufzufinden, mitder Paarungssaison. Dieses größere Territori-um polygamer Männchen macht ein besseresOrientierungsvermögen notwendig. Dement-sprechend läßt sich nachweisen, daß bei po-

lygamen Arten die Männchen darin bessersind als die Weibchen, während bei monoga-men Arten dieser Unterschied nicht vorhan-den ist. Auch beim Menschen spiegeln sichdiese evolutionär postulierten Unterschiedeauf der unmittelbaren, d. h. endokrinologi-schen, hirnphysiologischen und entwick-lungspsychologischen Ebene wider:

Das Ausmaß männlicher Hormone istnicht nur bei allen (anderen) Tierarten, überdie Daten verfügbar sind, mit ausschlagge-bend für die Geschlechtsunterschiede imräumlichen Orientierungsvermögen. Auchbeim Menschen läßt sich eine kurvilineareFunktion zwischen Androgenspiegel undräumlichen Fähigkeiten nachweisen, wobeisich zwei kritische Perioden, eine pränatalund eine in der Pubertät, nachweisen lassen.Eine der wesentlichen Auswirkungen dermännlichen Hormone scheint dabei in derLateralisierung des Gehirns zu liegen (Gaulin& Hoffman, 1988). Die für die räumliche Ori-entierung wichtige Hirnregion des Hippo-campus ist bei Männchen polygamer Artenerheblich größer als bei Weibchen bzw. beiMännchen monogamer Arten. Zudem ist diedurch männliche Hormone gesteuerte Latera-lisation, d. h. die Spezialisierung der Hirnhälf-ten, bei den Männern ausgeprägter, was zueiner besseren Leistung der in der rechtenHirnhälfte lokalisierten Regionen führt, dieebenso wie der Hippocampus für das räumli-che Vorstellungsvermögen zuständig sind.Bezüglich der Studien zur Hirnlateralisationkommen Gaulin und Hoffman (1988, S. 135)zu dem bemerkenswerten Schluß, daß die Er-gebnisse der Hirnforschung deshalb so un-durchsichtig erschienen sind, weil die Latera-lisierung von Hirnfunktionen an einer Popu-lation untersucht wurde, während diese, wiesich allmählich herauszuschälen beginnt, ei-gentlich aus zwei verschiedenen Populationenbesteht, nämlich der männlichen und derweiblichen (s. auch Pool, 1995). Der ge-schlechtstypische Unterschied in der räumli-chen Wahrnehmungsfähigkeit wird abernicht nur hormonell beeinflußt, sondern istentsprechend den bereits aufgeführten Be-funden bezüglich der Aggressivitäts- und Risi-kobereitschaft ebenfalls im jungen Erwachse-nenalter, also auf dem Höhepunkt derFruchtbarkeit, am ausgeprägtesten.

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Der Geschlechtsunterschied beim räumli-chen Orientierungsvermögen kann bei unsMenschen somit auch als ein erstes Indiz füreine mögliche polygame stammesgeschichtli-che Vergangenheit angesehen werden (s.Vogel & Sommer, 1994). Hinzu kommt diebei unseren Vorfahren wahrscheinlich erfolg-te Arbeitsteilung, die nicht nur die räumlicheOrientierung, sondern auch das räumlicheVorstellungsvermögen mit den Anforderun-gen der Jagd in Verbindung bringt: Die jagen-den Männer mußten nicht nur das Wild auf-spüren und später den Weg zurückfinden,sondern auch gut werfen und beweglicheZiele treffen können, beides Fähigkeiten, indenen das männliche Geschlecht altersunab-hängig besser abschneidet (Pool, 1995).

3.4.2 Räumliches Erinnerungsvermögen

Mehrfach replizierte Befunde deuten daraufhin, daß Männer sich deshalb besser räum-lich orientieren, weil sie Entfernungen besserabschätzen und die Himmelsrichtungen ge-nauer angeben können; Frauen hingegen su-chen nach markanten Orientierungspunkten,wenn sie sich zurechtfinden wollen. Das giltsowohl bei Untersuchungen mit Computer-labyrinthen oder Landkarten als auch beiWegbeschreibungen (s. Pool, 1995). Wie Sil-verman und Eals (1992) in einer Reihe vonUntersuchungen feststellen konnten, schnei-den Frauen hingegen (zwischen 15% und70%) besser ab als Männer, wenn es darumgeht, bestimmte Gegenstände unter einergroßen Anzahl zu finden bzw. ihren vorheri-gen Standort zu erinnern. Nicht nur laut Sil-verman und Eals (1992) läßt sich das bessereräumliche Erinnerungsvermögen der Frauenals evolvierte Fähigkeit interpretieren: Dievon den Frauen in unserer Jäger- und Samm-ler-Vergangenheit gesammelte Nahrungmachte wahrscheinlich den Löwenanteil des-sen aus, was die Gruppe verzehrte (bis zu70%). Sich merken zu können, wie Pflanzenmit eßbaren Früchten, Wurzeln oder Nüssenzu den anderen Bäumen und Sträuchern an-geordnet sind, um sie leichter wiederzufin-den, ist angesichts dessen eine kaum zu un-terschätzende und von der natürlichen Selek-tion entsprechend begünstigte Fähigkeit.

3.4.3 Individuelle Lernerfahrung und räumliches Wahrnehmen

Wichtige Gründe für die Undurchsichtigkeitder Befunde in der Geschlechtsunterschieds-forschung zur räumlichen Wahrnehmungs-fähigkeit liegen neben der diffusen Operatio-nalisierung vor allem in der Theorielosigkeitder Untersuchungen. Gaulin und Hoffman(1988, S. 141) sprechen in diesem Zusam-menhang ironisch von der «spatial-ness» alsnebulösem gemeinsamen Nenner der Aufga-ben zur räumlichen Wahrnehmung.) Es gibtweder genaue Vorstellungen darüber, welcheArt von Lernerfahrungen für welche Art vonräumlicher Wahrnehmungsbefähigung zueiner zeitstabilen Verbesserung führen soll,noch wird die Möglichkeit «kritischer Peri-oden» in der Entwicklung räumlicher Wahr-nehmungsfähigkeiten eingeräumt (s. o.).

Ein wichtiger Bestandteil evolutionärer Ab-leitungen zu Geschlechtsunterschieden sindkulturvergleichende Forschungen. Aus sol-chen Untersuchungen ist bekannt, daß öko-logische Anforderungen wie die Eintönigkeitder Landschaft anderweitig bestehende Ge-schlechtsunterschiede nivellieren kann,wenn (wie bspw. in der Eiswüste bei denInuit) der Erwerb einer guten räumlichen Ori-entierung für beide Geschlechter überlebens-notwendig ist. Neben dieser Variablen läßtsich ein gemeinsamer Nenner für die Ent-wicklung räumlichen Wahrnehmens anneh-men, nämlich die Anzahl der Reisen bzw. diedabei zurückgelegten räumlichen Entfernun-gen. Laut Gaulin und Hoffman (1988) weisendie ihnen dazu vorliegenden kulturverglei-chenden Befunde darauf hin, daß sie durch-gängig beim männlichen Geschlecht höhersind. Dieser Unterschied kann angesichts derdargestellten interspezifischen Befunde ge-nauso gut ein Resultat und nicht die Ursachedes besseren männlichen Orientierungsver-mögens sein. Gaulin und Hoffman (1988)weisen auf die sparsamere Annahme hin, in-terspezifisch analoge Reproduktionsstrategiender Geschlechter als Ursache dieses größerenmännlichen Bewegungsraumes anzunehmen.Eine aus obigen evolutionären Überlegungenableitbare, aber empirisch noch nicht hinrei-chend belegte Annahme wäre, daß die Fähig-keit zum räumlichen Vorstellungsvermögen

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zwar bei beiden Geschlechtern durch Lerner-fahrungen verbessert werden kann, aber derSchwellenwert für räumliche Umweltreizebeim männlichen Geschlecht niedriger ist alsbeim weiblichen.

3.5 Sozio-kommunikative Fähigkeiten

In der Forschungsliteratur zu Geschlechtsun-terschieden bestehen neben den bereits erör-terten Unterschieden im räumlichen Wahr-nehmungsvermögen und in der Aggressions-neigung zwei der «klassischen» Befunde indem Nachweis besserer sprachlich-kommuni-kativer Fähigkeiten und in der ausgeprägtenTendenz zu «Fürsorgeverhalten» beim weibli-chen Geschlecht, d. h. beispielsweise in derhöheren Neigung heranwachsender Mäd-chen, sich mit kleineren Kindern zu beschäf-tigen.

3.5.1 Fürsorgeverhalten

Eine evolutionäre Perspektive an der höherenweiblichen Tendenz zu Fürsorgeverhaltenwird schon durch primatologische Vergleichenahegelegt, da auch bei den meisten nicht-menschlichen Primatenarten junge Weib-chen sich an älteren orientieren und eingrößeres Interesse für Neugeborene und Säug-linge zeigen (Pereira & Fairbanks, 1993).Auch beim Menschen lag in der umfangrei-chen kulturvergleichenden Untersuchungvon Whiting und Edwards (1988) mit z.T. re-analysierten Daten aus drei Jahrzehnten(1954–1975) an über 600 Kindern zwischeneinem und zwölf Jahren aus zwölf bis 16 ver-schiedenen agraischen bzw. urbanen Kultu-ren der durchgängigste Geschlechtsunter-schied in dem größeren Zeitanteil, den dieMädchen im Umgang mit Säuglingen ver-brachten:

Bei Kindern im Alter zwischen fünf undzehn Jahren war in keiner der Kulturen dieBeobachtungszeit, die die Mädchen mit (ver-wandten) Säuglingen verbrachten, niedrigerals die der Jungen, in zehn von zwölf Kultu-ren war sie (zwischen 6% und 10%) höher.Dieser höhere Zeitanteil im Umgang mit klei-

nen Kindern war dabei größtenteils unabhän-gig von der Sozialstruktur oder der väterli-chen Involviertheit, hing aber vor allem beitraditionellen Agrargesellschaften von der Ar-beitsbelastung der Mütter ab. Werden proso-ziale Verhaltensweisen zur Unterstützung derMutter gezählt, steigt die interkulturelle Vari-anz zwar (zwischen 5% der Zeit höher beiden Jungen und 21% der Zeit höher bei denMädchen), ist aber immer noch in zwei Drit-teln der Kulturen bei den Mädchen höher(Edwards, 1993). Selbst bei den !Kung-Buschleuten, bei denen die Hilfe derMädchen bei der Kinderaufzucht nicht einge-fordert wird, blieben die Mädchen nicht nurviel mehr in der Nähe des Dorfes als die Jun-gen (s. 3.4.3), sondern beschäftigten sichauch viel mehr von sich aus mit Säuglingenund Kleinkindern (Draper, 1975).

Die Funktionalität dieser Tendenz wird inder Untersuchung von Whiting und Edwards(1988) zumindest darin deutlich, daß diesesim Säuglingskontext eingeübte Fürsorgever-halten sich auch in vermehrten prosozialenVerhaltensweisen ihren gleichaltrigen Freun-den gegenüber zeigt.

Primatologische Studien legen sogar nahe,daß solche Gelegenheiten, das spätere Fürsor-geverhalten den eigenen Kindern gegenüberim Umgang mit den Säuglingen anderer Müt-ter einüben zu können («allomothering»), sichin einer höheren parentalen Kompetenz undletztlich in einem höheren Fortpflanzungser-folg der Weibchen niederschlägt (Pereira &Fairbanks, 1993).

Laut Edwards (1993) liegt die bisherige Un-terschätzung der entwicklungspsychologi-schen Bedeutsamkeit von Kind-Säugling-In-teraktionen u. a. an der ethnozentrischen(nordamerikanischen) Betonung universali-stischer im Gegensatz zu nepotistischen Nor-men prosozialen Verhaltens (s. Kap.II.3). Diemeisten Studien dazu erfolgten im Gegensatzzu naturalistischen Beobachtungen nicht mitverwandten bzw. bekannten Säuglingen innatürlicher Umgebung, sondern in gestellten(Labor-)Situationen mit den Kindern unbe-kannten Babys. In der entwicklungspsycholo-gischen Forschung der frühen Kindheitwurde zudem bisher betont, daß soziale Er-wartungen für das Ausmaß ausschlaggebendsind, mit dem sich Mädchen und Jungen um

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kleinere Kinder kümmern: Demzufolge wirdvon Jungen höchstens im Kindergartenalterund von Männern nur im mittleren undhöheren Erwachsenenalter (d. h. bei potenti-ellen (Groß-) Vätern) Fürsorgeverhalten klei-nen Kindern gegenüber erwartet, vonMädchen und Frauen jedoch ein Leben lang.Kulturvergleichende Ergebnisse legen jedochnahe, diese Argumentation vom Kopf auf dieFüße zu stellen: Weder das grundsätzliche In-teresse an kleinen Kindern noch Unterschie-de in der Kompetenz im Umgang mit ihnenunterscheidet Jungen von Mädchen primär,sondern die Orientierung an gleichge-schlechtlichen Interaktionspartnern («thecompany we keep hypothesis», Whiting &Edwards, 1988) und die weibliche Affinitätfür fürsorgliche, emotional positiv gefärbteInteraktionen (s. u.). Diese grundsätzlicheOrientierung an gleichgeschlechtliche (Spiel-)Partner setzt bekanntlich schon mit ungefährzwei Jahren ein und führt dazu, daßMädchen und Jungen fast unterschiedliche«Kulturen» errichten (s. auch Bigler, 1995, S.1083: «... such extreme preferences for one’sown group might be viewed as more proble-matic if they were based on race or ethnicity(rather than gender).»). Zusätzlich zu den be-kannten gleichgeschlechtlichen Spielpartner-präferenzen würde die Orientierung derMädchen in der Nähe von Müttern und Säug-lingen das Konzept der «Selbstsozialisation»auf fruchtbare Weise ergänzen (s. 4.1.1).

3.5.2 Die Affinität für positiv gefärbteemotionale Beziehungen

Auch außerhalb der Frauenbewegung hat dieAnnahme einer mehr relationalen und «für-sorglichen» Dimension moralischer Überle-gungen bei Frauen von Carol Gilligan (1984)einen hohen Bekanntheitsgrad erreicht, ob-wohl die sich an ihren Untersuchungenanschließenden Studien bisher keine eindeu-tigen Befunde ergeben haben. Ebenso po-pulär sind die Ausführungen der Kulturlin-guistin Deborah Tannen (1991), daß Frauenin Gesprächen eher beziehungs-, Männereher lösungsorientiert sind. Beide Autorinnenbetonen die größere Bedeutung, die Frauender (positiven) affektiven Tönung in ihren so-

zialen Beziehungen beimessen. Diese Bedeut-samkeit ist evolutionär in mehrfacher Hin-sicht eher für das weibliche Geschlecht anzu-nehmen (MacDonald, 1988):

Entsprechend den bereits abgeleiteten undempirisch nachgewiesenen reproduktions-strategischen Verhaltenstendenzen ist fürFrauen die affektive Tönung sexueller Bezie-hungen ausschlaggebender als für Männer,da die emotionale Involviertheit des Mannesals Indiz für die Ernsthaftigkeit seiner Absich-ten angesehen wird (MacDonald, 1988). Eineebenfalls auf das Partnerwahlverhalten bezo-gene Argumentation zur Erklärung der beson-deren weiblichen Fähigkeiten findet sichauch bei Tooke und Camire (1991), die dieweibliche Überlegenheit in dem Erkennennonverbaler Signale mit dem «mentalenWettrüsten» im Rahmen zwischengeschlecht-licher Täuschungsversuche bei der Partner-wahl in Verbindung bringen. Auch ihre Be-funde unterstreichen die u. a. von Mac-Donald (1988) geäußerte Vermutung, daß diehöhere Sensibilität der Frauen gegenübernonverbalen Gefühlsäußerungen sowie ihreAffinität gegenüber positiver Emotionalitätevolutionär entstanden ist, um sie für dasnötige, immense maternale Investment zumotivieren (s. auch Kap. II.3). Dementspre-chend sind auch in der klinischen Psycholo-gie bei affektiven Störungen wie die «histrio-nische» und «abhängige» Persönlichkeit Frau-en überrepräsentiert, während mehr Männerbei den «gefühlskalten» Soziopathen zu fin-den sind (Draper & Harpending, 1988).

Abschließend sei hier auf die evolutionäreIntegration «typisch weiblicher» Fähigkeitenvon Rossi (1987, S. 69) hingewiesen, die dieweibliche Tendenz zu Fürsorgeverhalten, diebessere periphere Wahrnehmung bei Frauen,die weiblichen Vorteile in der Feinmotoriksowie im sprachlichen und sozialen Bereichmit der höheren maternalen Investition inVerbindung bringt:

«When these gender differences areviewed in connection with caring for anonverbal, fragile infant, women have ahead start in reading an infant’s facialexpressions, smoothness of body moti-ons, ease in handling a tiny creature withtactile gentleness, and soothing through

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a high, soft, rhythmic use of the voice.By contrast, men, have greater tenden-cies to interact with an older child, withwhom rough-and-tumble physical play,physical coordination, and teaching ofobject manipulation is easier.» (a.a.O., S.69).

4. Die Individual-entwicklung von Geschlechtsunterschieden

4.1 Gene und Umwelt: die epigenetische Sicht

Aus entwicklungspsychologischer Sicht istdie Frage von hervorgehobenem Interesse,wie sich die stammesgeschichtlich entstande-nen Geschlechtsunterschiede ontogenetischin jeder Individualbiographie manifestieren.Dabei betrachtet die diesem Beitrag zugrun-deliegende Perspektive der epigenetischenEntwicklung die komplexe Wechselwirkungaller wichtigen Einflußgrößen auf die Ge-schlechtsentwicklung. Die Epigenese be-schreibt das aufeinander abgestimmte Wech-selspiel zwischen den innerorganismischengenetischen Anlagen des Menschen auf dereinen und der außerorganismischen ökologi-schen Bedingungen auf der anderen Seite (füreine differenziertere Sicht des Umweltbegriffss. Kap. II.3 und Kap. IV.1). Diese Sichtweisevermeidet die herkömmliche künstliche Auf-teilung dieser Einflüsse in «biologische» undnicht-«biologische», da Gene und Umweltimmer zusammen auf die individuelle Ent-wicklung einwirken. Es ist dabei im engerenSinne ebenso unmöglich zu sagen, ob Um-welt- oder genetische Faktoren für ein Verhal-ten ausschlaggebend sind, wie es unmöglichist zu bestimmen, ob die vertikale oder hori-zontale Seite «wichtiger» zur Konstruktioneines Vierecks ist (Symons, 1987).

Selbst die geschlechtsspezifische Ausprä-gung der körperlichen Merkmale wird beimMenschen nicht nur genetisch (durch daschromosomale Geschlecht: XX = weiblich; XY =männlich) bestimmt, sondern hängt bereitsvon der «Umwelt» der Geschlechtschromoso-

me ab: Die hauptsächliche Funktion des Y-Geschlechtschromosoms läßt sich am ehe-sten mit einem Kippschalter vergleichen, derdurch sein Umschalten etwa ab dem zweitenSchwangerschaftsmonat dafür sorgt, daß derweibliche Grundbauplan nicht beibehaltenwird, sondern den embryonalen Keimzellenden Anstoß gibt, aus den angelegten Keim-drüsen (Gonaden) Hoden zu entwickeln (go-nadales Geschlecht), die wiederum ein wahres«Gewitter» männlicher Hormone (Androge-ne) initiieren (hormonales Geschlecht). Diehormonelle «Umwelt» des Embryos wirdzwar auch über die für die Ausschüttung die-ser Sexualhormone zuständigen Gene mitbe-stimmt, ihre Ausprägung hängt aber auchvon den hormonellen Bedingungen in dermütterlichen Gebärmutter ab (Pool, 1995).Diese intrauterine Umwelt des Embryos wirdihrerseits vom allgemeinen Hormonhaushaltder Mutter mit beeinflußt, welcher wiederumvon außerorganismischen Einflüssen be-stimmt wird. Sowohl der Einfluß, den diedurch die äußeren Geschlechtsorgane erfol-gende Geschlechtsbestimmung (genitales oderHebammen-Geschlecht) hat, als auch welchesoziale Geschlechtsbeeinflussung außerhalbdes Individuums tatsächlich erfolgt (sozialesGeschlecht), hängen schließlich auch von un-serer genetischen Ausstattung ab: Zum einenüben Umweltreize nur artspezifisch einenhandlungsrelevanten Einfluß aus, zum ande-ren definiert sich in gewissem Sinne jede Per-son ihre für sie handlungsrelevanten Um-weltreize durch ihre individuellen Vorliebenselbst (s. Kap. II.3). So schließt sich der epige-netische Kreis: Die Gene bestimmen, welcheAspekte der Umwelt überhaupt verhaltens-wirksam werden können, und die Umweltbestimmt, wann welche Gene auf welcheWeise tatsächlich aktiv werden.

Dem epigenetischen Ansatz zufolge ist dieherkömmliche Zuordnung menschlicherMerkmale als entweder zur menschlichen«Natur» oder zur menschlichen «Kultur»gehörig dem Erkenntnisinteresse sogar hin-derlich. Wenn bei der Frage nach dem Ur-sprung von Geschlechtsunterschieden «biolo-gische» Einflüsse eingeräumt werden, sinddamit fast nur unmittelbare (z. B. hormonelle)Faktoren gemeint. Da die Wirkung solcher«biologischen» Nah-Ursachen ohne die Be-

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achtung ihres evolutionären Zwecks oft nichtangemessen beschreibbar ist, bleibt dieBerücksichtigung «biologischer Faktoren» nurein Mißverständnisse aufrechterhaltendesLippenbekenntnis. Die evolutionäre Perspek-tive einnehmend, lassen zahlreiche Kulturer-scheinungen ihre biologische Zweckdienlich-keit erkennen, so daß die «natürlichen» unddie «kulturellen» Komponenten des Mann-und Frauseins letztlich als zwei Seiten einund derselben Münze angesehen werdenkönnen.

Die epigenetische Perspektive ist völligkompatibel mit den immer einflußreicheren,dem Kontextualismus nahestehenden Theo-rien, die die «Selbstsozialisation» als neuesEntwicklungskonzept postulieren, bei der dieintra- und interindividuell variierende, akti-ve, selektive Wahrnehmung, Imitation undTeilnahme an bestimmen interaktionalenKontexten zur Entwicklung beitragen. Daßaber die Bedeutsamkeit der individuellen Le-bensumwelten nicht zu einer kontextualisti-schen Beliebigkeit der zu berücksichtigendenVariablen führt, verhindert der Rahmen evo-lutionsbiologischer Funktionalität.

Beispielhaft ist hier Edwards (1993) zunennen, die sich in ihrer Auflistung kontext-definierender Variablen zur Untersuchungvon Geschlechtsunterschieden in der kindli-chen Sozialisation zwanglos an die Lebens-laufstrategieforschung der modernen Prima-tologie anlehnt: Ihr bemerkenswerter verglei-chender Ansatz sieht dabei neben anderenbiologischen (Träger-)Variablen wie Spezies(Tierart), genetischer Verwandtschaftsgradund Alter auch die Geschlechtsvariable als so-zialisationsmitbedingenden (und nicht nur alssozialisationsbedingten) Faktor an.

4.1.1 Die Rolle der Androgene und die Entwicklung der Geschlechtsidentität

Viele Befunde sprechen dafür, daß das männ-liche «Verhaltenssyndrom» unabhängig vomchromosomalen Geschlecht mit dem männli-chen Hormonspiegel einhergeht: Je mehrAndrogenen Kinder in der kritischen Phaseder Geschlechtsdifferenzierung im Mutterleibausgesetzt worden waren, desto unterneh-

mungslustiger und aggressiver zeigten sie sichim späteren Leben. Ähnliche positive Zusam-menhänge vor allem zwischen biographi-schen Daten über aggressive Verhaltenswei-sen und dem Androgenspiegel finden sichauch bei Erwachsenen (Überblick in Christi-ansen, 1992; Pool, 1995).

Sehr schlüssige Indizien zur Bedeutsamkeithormoneller Einflüsse in kritischen Phasender Individualentwicklung stellen auch dieStudien zu den Auswirkungen verschiedener,sich im Laufe der epigenetischen Ge-schlechtsdifferenzierung auswirkender gene-tischer Defekte dar (Übersicht s. MacDonald,1988; Pool, 1995): So zeichnen sich die auf-grund des kongenitalen adrenogenitalen Syn-droms (AGS) im Mutterleib ungewöhnlichhohen Konzentrationen an «männlichem»Testosteron ausgesetzten sogenannten «Wild-fang»- oder AGS-Mädchen in der Kindheitvor allem durch ungestümes, burschikoses«jungenhaftes» Spielen sowie durch jungen-typische Spielzeugpräferenzen aus, obwohlsie von den Eltern als Mädchen angesehenund behandelt wurden. Als Teenager gebenAGS-Mädchen zudem an, eher eine berufli-che Laufbahn einschlagen zu wollen und we-niger fürsorglich und romantisch veranlagtzu sein. Dagegen werden chromosomale Jun-gen, die unter dem genetischen Defekt litten,im Embryonalstadium ausgeschüttete männ-liche Hormone nicht weiterverarbeiten zukönnen (5alpha-Reduktase-Mangel), in derRegel als Mädchen angesehen und großgezo-gen. Bei der mit der Pubertät jedoch einset-zenden Testosteronausschüttung bilden sichbei diesen «Mädchen» im allgemeinen diemännlichen Geschlechtsmerkmale wie Penisund Hodensack heraus. In einer Untersu-chung wird berichtet, daß von 18 dieser alsMädchen aufgewachsenen Jungen nur einersein wahres Geschlecht nicht akzeptierte undweiterhin als Frau weiterleben wollte (Impe-rato-McGinley, Peterson, Gautier & Sturla,1979).

Dieses Ergebnis allein führte bei einerReihe von Autoren zu einer Relativierung derBedeutsamkeit sozialisatorischer Faktoren beider Ausbildung der Geschlechtsidentität.Noch eindrucksvoller ist der Fall des einei-igen männlichen Zwillings, der durch einenUnfall im Alter von sieben Monaten seinen

583Geschlechtliche Selektion und Individualentwicklung

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Penis verlor und als Mädchen großgezogenwurde. Bereits vor der Pubertät hatte erSchwierigkeiten mit seiner weiblichen Rolle(s. Pool, 1995, S. 212: «... ein Psychiater kamdamals schon zu dem Schluß, daß er sichmöglicherweise nie als Frau wohl fühlenwerde.»). Mit 18 ließ er sich einer kosmeti-schen Operation unterziehen. Heute «lebt erals Mann mit weiblichen Geschlechtspart-nern» (Diamond, 1993, zit. n. Pool, 1995, S.212). Die Annahme, sozialisatorische Einflüs-se als primär für die Entwicklung der Ge-schlechtsidentität anzusehen, erscheint alleinaus diesen Befunden inzwischen mehr alsfraglich zu sein.

Welche Auswirkungen das soziale oder zu-geschriebene Geschlecht allein auf die psychi-sche Entwicklung hat, ist sehr schwer zusagen, da nicht nur die nach den äußerenMerkmalen erfolgende Bestimmung des geni-talen Geschlechts, sondern auch das hormo-nelle und chromosomale Geschlecht in derRegel mit dem sozialen Geschlecht identischist. Die aufschlußreichen «Experimente derNatur» lassen jedoch inzwischen recht ein-deutig den Schluß zu, daß dem Einfluß dermit dem chromosomalen, gonadalen oderhormonellen Geschlecht nicht übereinstim-menden sozialen Zuschreibung des Ge-schlechts biologische Grenzen gesetzt sind.

Mit der Entwicklung des Wissens um daseigene Selbst im zweiten und dritten Lebens-jahr entwickelt sich auch das subjektive Ge-schlecht, also das Wissen darüber, ob «Ich»ein Mädchen oder ein Junge ist. Diese subjek-tive Geschlechtsidentität führt zur Orientie-rung an vorgegebene Geschlechterrollen. Dasschließliche Wissen, daß das Geschlecht un-veränderlich beibehalten wird, also die Kon-stanz der Geschlechtszugehörigkeit, ent-wickelt sich ungefähr mit dem Beginn derGrundschule.

Wie die Geschlechtsrollenübernahme er-folgt, stellt immer noch eine nicht befriedi-gend beantwortete Frage dar. Am Anfang un-seres Jahrhunderts dominierte die Auffassungder Psychoanalyse, die von innerorganis-misch ausgelösten, triebbedingten Entwick-lungsprozessen ausgeht, welche wiederumzur Identifizierung mit dem gleichgeschlecht-lichen Elternteil führen sollen. Seit dendreißiger Jahren haben die klassischen Lern-

theoretiker jahrzehntelang die (absichtlichoder unabsichtlich erfolgende) Verstärkung,d. h. die Belohnung geschlechtsadäquatenund die Bestrafung geschlechtsinadäquatenVerhaltens als Erklärung herangezogen. Inden sechziger Jahren versuchte die sozialeLerntheorie, Elemente aus beiden Theorienzu übernehmen, um davon auszugehen, daßdas Kind sich am gesehenen Vorbild, also inder Regel am gleichgeschlechtlichen Eltern-teil, orientiert. Eindeutige empirische Belegegibt es jedoch für keine der drei Theorien,wobei die Psychoanalyse sogar gänzlich aufempirische Befunde verzichtet, da sie nur In-terpretationen der Erinnerungen von Erwach-senen vorweisen kann. Während die psycho-analytisch angenommenen Vorgänge der«ödipalen Phase» sich im vierten bis fünftenLebensjahr abspielen sollen, finden sich je-doch Rollenunterschiede schon bei Dreijähri-gen. Auch die lerntheoretische «Dressur» derKinder zu geschlechtsrollenkonformem Ver-halten ist kaum nachzuweisen, ebensowenigwie ein von der sozialen Lerntheorie postu-lierter Zusammenhang zwischen der Stärkeder Geschlechtsstereotypien der Eltern unddem gleichen Merkmal bei den Kindern fest-zustellen ist (Tschanz, Merz & Vogel, 1988).

Der inzwischen am häufigsten vertreteneAnsatz ist die kognitive Theorie von Law-rence Kohlberg, die davon ausgeht, daß dieÜbernahme der Geschlechterrollen als Ergeb-nis einer Reihe von Einsichten erfolgt, wobeidie Informationsquelle eher nebensächlichist. Kohlberg hat damit laut Oerter (1995, S.272) «... in geradezu genialer Weise eine Um-kehrung der bisherigen Auffassungen vorge-nommen», daß «nicht die Umwelt (...) dasKind (prägt), sondern das Kind (...) seine Ge-schlechtsrolle selbst in aktiver Auseinander-setzung mit der Umwelt» gestaltet.

Dieser Ansatz führt zwangsläufig zu derFrage, wieso Jungen und Mädchen danngrößtenteils gleiche Erfahrungen verschiedenverarbeiten. Entsprechend dem Wissen, dassich inzwischen über die Fähigkeiten des«kompetenten» Neugeborenen angesammelthat, gibt es Hinweise darauf, daß Säuglingebeispielsweise bei akustischen Reizenmenschliche Sprache und bei visuellen Rei-zen menschliche Gesichter bevorzugen unddamit von Geburt an bzw. schon in den er-

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sten Lebensmonaten erkennen können.Lewis und Weinraub (1978) konnten feststel-len, daß Jungen ab dem Alter von neun Mo-naten, Mädchen sogar im Alter von sechsMonaten Portraitfotos aufgrund des Ge-schlechts unterscheiden. Bereits Kleinkinderkönnen zudem nicht nur von Natur aus bio-logische Kategorien wie «Wachstum», «An-passung» und «Gleichgewicht» (Keil, 1992),sondern auch die biologische Kategorie «Ge-schlecht» bilden, da sie schon im zweiten Le-bensjahr in der Lage sind, typisch weiblichevon typisch männlichen Körperformen zuunterscheiden (Tschanz et al., 1988; Oerter,1995). Selbst namhafte Vertreter kognitivi-stisch-sozialisatorischer Theorien zur Ge-schlechtsidentitätsentwicklung wie SandraBem (1985, S. 602) räumen ein, daß die Kate-gorisierung nach dem Geschlecht Kinderndeshalb so leichtfällt, weil sie evolutionär na-hegelegt worden sein könnte: «Perhaps evo-lution has given sex a biologically based pri-ority over many other categories». Aus diesensowie aus den Befunden etwa zu den Spiel-zeug- und Spielpartnerpräferenzen fetal an-drogenisierter Mädchen läßt sich nicht nurlaut Tschanz et al. (1988, s. 707) schließen,daß «... anscheinend eine natürlich vorgege-bene Tendenz (besteht), das eigene Ge-schlecht zu bevorzugen ...», sondern auch,daß es für Kinder erkennbare, natürliche,d. h. kulturunabhängige Unterscheidungsmerk-male für «männlich» und «weiblich» gibt.

Wenn diese «Selbstsozialisation» als vonder kognitiven Reifung abhängig, d. h. kaumals ausschließlich kulturell bedingt angese-hen werden kann und damit die weltweitvorhandene, soziale Bedeutsamkeit der biolo-gischen und der subjektiven Dimension desGeschlechts eingeräumt wird, werden Un-klarheiten, wie die von Trautner (1994, S.177 f., s.a. S. 185) formulierten, vermieden,der in seinem Beitrag sowohl betont, «... daßin unserer Gesellschaft die Geschlechts-zugehörigkeit (...) zum Ausgangspunkt vongeschlechtsspezifischen Rollenerwartungengemacht wird ...», als auch, daß sich «... geschlechtsspezifische Erwartungen (...) in allen Kulturen ...» finden [Hervorhebung derAutoren].

Aber nicht nur ihre Bedeutsamkeit, son-dern auch die geschlechtstypischen Erwar-

tungen selbst sind, wie die Untersuchungvon Williams und Best (1982) nahelegt, allesandere als beliebig. Ihren Ergebnissen zufolgescheint es kulturübergreifende Geschlechts-stereotype zu geben, die den evolutionärenVorannahmen entsprechen: So werden inallen von ihnen untersuchten 25 KulturenMänner als aggressiv, stark und unterneh-mungslustig angesehen, Frauen hingegen alsfürsorglich und affiliativ. Solche geschlechts-typischen Erwartungen seitens der Elternsind fast die einzige Erziehungsvariable, diein der bereits erwähnten umfangreichen Me-taanalyse überwiegend nordamerikanischerBefunde aus den Jahren 1952 bis 1987 an ins-gesamt über 27000 Kindern einen signifikan-ten Einfluß auf das kindliche Verhalten ge-zeigt hat (Lytton & Romney, 1991). Lyttonund Romney (1991, S. 298) selbst gelangenangesichts der kaum nachgewiesenen soziali-satorischen Einflüsse auf die zwischenge-schlechtlichen Unterschiede zu dem bemer-kenswerten Schluß, daß sie «... angesichts dervorliegenden Befunde die Augen nicht vorder Möglichkeit verschließen können, daßbiologische Prädispositionen einen Teil derbestehenden Geschlechtsunterschiede er-klären können.» [Übersetzung der Autoren].

4.2 Gibt es ein Auto-Gen? oder: geschlechtstypische Spielpräferenzen

«Ich habe eine Freundin, die schwört, daßes ein Auto-Gen bei Jungen gibt.» (SheriBerenbaum, zit. in Pool, 1995, S. 132)

Wenn die in den vorigen Abschnitten darge-stellten Geschlechtsunterschiede überwie-gend evolutionsbiologischen Annahmen ent-sprechen, dann müßten sich umgekehrt evo-lutionsbiologische Überlegungen auch heran-ziehen lassen, um a) bereichsspezifische Ge-schlechtsunterschiede vorherzusagen und b)die mögliche sozialisatorische Varianz dieserbereichsspezifischen Geschlechtsunterschiedezu erklären. Statt dessen finden sich jedochin aktuellen Lehrbüchern immer noch solcheSätze: «Die frühen Interessen- und Hand-lungsunterschiede zwischen den Geschlech-

585Geschlechtliche Selektion und Individualentwicklung

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tern können kaum genetisch bedingt sein,denn der genetische Code ist Millionen Jahrealt und kann nichts wissen von Autos undKochtöpfen» (Oerter, 1995, S. 269). Wenn esso wäre, ist selbst die Geburt nicht genetischbedingt, wenn die Entbindung in einem mo-dernen Krankenhaus stattfindet. Da kein «ge-netischer Code» irgend etwas über die Gegen-wart oder Zukunft seines ihn beinhaltendenOrganismus wissen kann, würde dieses Zitatstreng genommen bedeuten, daß absurder-weise nichts genetisch bedingt sein kann: Dasureigene Prinzip der Evolution besteht jedochim wesentlichen darin, mit den sich in derVergangenheit bewährten genetischen Pro-grammen ihrer Vorfahren ausgestattete Lebe-wesen auf die gegenwärtige Welt loszulassen:«... the traits of existing organisms are simplythe (...) effects that led to maximal rates ofgene copying in the past.» (Gaulin, 1995, S.1213; s. a. Kap. II.3).

Um die Unhaltbarkeit solcher Argumenteauch empirisch zu untermauern, wird nundie Studie von Heide Sbrzesny (1976) aus-führlicher vorgestellt. Sbrzesny (1976) führtebei ihren dortigen Besuchen Anfang der sieb-ziger Jahre Untersuchungen zum Spielverhal-ten der !Ko-Buschleute durch, einem Wild-beutervolk, das zur damaligen Zeit noch einewahrscheinlich unseren stammesgeschichtli-chen Vorfahren ähnliche Lebensweise führte.Wichtig ist, daß

«... die Kinder (...) nicht bewußt von denErwachsenen in ein bestimmtes Rollen-bild gedrängt (werden); Kleinkinder wer-den ohne Unterschied des Geschlechtsvollkommen gleich (...) erzogen; Aggres-sion wird bei beiden Geschlechtern imfrühkindlichen Stadium erlaubt (...). Des-weiteren haben !Ko-Kinder freie Spiel-wahl ...» (Sbrzesny, 1976, S. 296).

Bei diesem Jäger- und Sammler-Volk liegt alsodie sozialisationstheoretische Variante derGleichbehandlung der Geschlechter vor (s.1.). Dennoch konnte Sbrzesny (1976) bei den43 Kindern dieser Gruppe von Buschleutenim Alter zwischen drei und 15 Jahren ge-schlechtstypische Verhaltensweisen feststel-len, die sich kaum von denen modernerGroßstadtkinder unterscheiden:

Segregation der Geschlechter: In der bereitserwähnten kulturvergleichenden Untersu-chung von Whiting und Edwards (1988) bil-deten die Kinder, wann immer es ihnen mög-lich war, gleichgeschlechtliche Spielgruppen.Während es sich jedoch bei der Untersu-chung von Whiting und Edwards (1988) umagraische bzw. urbane Kulturen handelte, dieder modernen Lebensweise kulturgeschicht-lich wesentlich näher standen als die !Ko-Buschleute, untersuchte Sbrzesny (1976) miteiniger Sicherheit das kindliche Spielverhal-ten unserer stammesgeschichtlichen Vorfah-ren:

An beiden Untersuchungszeitpunkten(April 1973 und Februar 1974) war die in denmodernen Gesellschaften bekannte Präferenzgleichgeschlechtlicher Spielgruppen eindeutig,d. h., der Anteil gemischtgeschlechtlicherSpielgruppen war sehr gering (zwischen10,30% (1974) und 14,28% (1973)). Die Se-gregation der Geschlechter in der Kindheit istsomit keinesfalls ein auf den westlichen Kul-turkreis beschränktes Phänomen und ent-spricht eher einem stammesgeschichtlichnachweisbaren geschlechtstypischen Interesse.

Spielpräferenzen: Tabelle 1 gibt zunächst dieSpielzeugwünsche der 750 US-amerikani-schen Kinder (Modalalter: sechs Jahre) wie-der, die 1978 Briefe mit ihren Spielzeugwün-schen an den Weihnachtsmann schicktenund im Postamt von Seattle auf dem Wegzum «Nordpol» abgefangen wurden (Richard-son & Simpson, 1982). Dabei stellte sichzunächst heraus, daß alle Kinder sehr ähnli-che Vorstellungen über geschlechtstypischesSpielzeug hatten: «These children, strangersto one another, (...) share the knowledge thatsome items are appropriate to one genderonly.» (Richardson & Simpson, 1982, S. 431).Von den 27 gefundenen Spielzeugkategorienwaren nur sechs geschlechtsneutral, elf Kate-gorien wurden signifikant häufiger von Jun-gen, zehn signifikant häufiger von Mädchengewünscht. Inhaltlich ließen sich 18 der 21geschlechtstypischen Kategorien der Dimen-sion «innen» (Haushalt, Familie, eher weib-lich) bzw. «außen» (Beruf, Mobilität, ehermännlich) zuordnen.

Die gefundenen geschlechtstypischen Prä-ferenzen wurden von den Autoren als soziali-sationsbedingt angesehen, d. h., sie sahen sie

586 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

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Geschlechter die gleichen Dinge, aber mitdeutlich nach Geschlechtern verschiedenerBevorzugung.» (Sbrzesny, 1976, S. 189).

Das sehr ähnliche, teilweise sogar identi-sche Muster hochselektiver Spiel- und Um-weltinteressen der Jungen und Mädchen der!Ko-Buschleute auf der einen und der Kin-der der naturalistischen US-amerikanischenStichprobe auf der anderen Seite spricht füreine biologische Disposition (Sbrzesny, 1976,S. 187):

«Die Bereitschaft, sich ohne Zwang mitder geschlechtsspezifischen Rolle zuidentifizieren, belegt eine bereits vorge-gebene Disposition. Sie wird vollends inder Auswertung der Kinderzeichnungendeutlich. Das Interesse an dem bis dahinin ihrer Kultur unbekanntem [techni-schen] Gerät, das die Jungen in so ausge-prägter Weise zeigen, ist ganz sichernicht vom Vorbild der Erwachsenen ge-prägt.»

Sbrzesnys (1976, S. 188) weitere Ausführun-gen können zudem als Vorwegnahme dermodernen Selbstsozialisations-Annahme an-gesehen werden:

«Sicher ahmen sie die Erwachsenen imSpiel nach, aber sie identifizieren sichaus eigenem Antrieb mit dem richtigenGeschlechtervorbild, ohne dazu irgend-wie gedrängt zu werden. Das größeretechnische Interesse der Jungen beruhtsicher nicht auf eigens darauf abzielendeUnterweisung.»

Obige Befunde lassen sich kaum so beschrei-ben, daß etwa die Kinder die Verhaltenswei-sen der gleichgeschlechtlichen Erwachsenennachahmen, weil sie ihnen ähnlicher wären.Zudem ist auch der Zusammenhang zwi-schen elterlichem Bekräftigungsverhaltenund Spielzeugpräferenz in der Literatur allesandere als eindeutig (Oerter, 1995). Vor allemwerden jedoch beim Zeichnen Präferenzengezeigt, die nachweislich von keinem er-wachsenen Modell vorgelebt wurden.

587Geschlechtliche Selektion und Individualentwicklung

Tabelle 1: Geschlechtstypische Spielzeugwünsche 750US-amerikanischer Kinder (aus Richardson & Simpson,1982)*

Männliche Items: Mädchen: Jungen:

Fahrzeuge, Autos, Lastwagen 8.2% 43.5%

Sportausrüstung 15.1% 25.1%

Technik (Baukasten, Uhren u.ä.) 15.6% 24.5%

Rennwagen 5.1% 23.4%

Militärspielzeug 0.8% 23.4%

Echte Fahrzeuge (Dreirad, Fahrrad,Motorrad) 9.7% 15.3%

Männliche Puppen (Soldaten u.ä.) 2.8% 10.0%

Science-Fiction-Spielzeug 0.3% 7.5%

Weibliche Items:

Weibliche Puppen (Barbie u.ä.) 27.4% 0.6%

Puppen (Babys) 23.4% 0.6%

Haushaltssachen 21.7% 1.7%

Puppenhaus 16.1% 1.9%

Puppenkleider 12.5 % 1.1%

Stofftiere 5.4 % 5.0%

* Mehrfachnennungen möglich, deshalb Summe > 100%

als Indiz dafür an, daß sich die Kinder an densozialen Rollenerwartungen orientieren:«Children’s toys are instrumental in the for-mation of gender differences when their phy-sical structure is supplemented by qualitiesrepresentative of the adult social order.»(Richardson & Simpson, 1982, S. 435).

Tabelle 2 gibt die Spielpräferenzen der !Ko-Kinder zu beiden Untersuchungszeitpunkten(1973 und 1974) wieder: Es wird deutlich,

«... daß die Mädchen Tanz- und Ballspie-le bevorzugen, während Jungen amhäufigsten mit (technischen) Experi-mentierspielen beschäftigt sind undsich im Gegensatz zu den Mädchen oftspielerisch balgen. Auch spielen dieMädchen (...) weniger Kampf- und Wett-eiferspiele als die Jungen.» (Sbrzesny,1976, S. 186).

Auch bei den Zeichnungen ergeben sich ge-schlechtstypische Unterschiede (s. Tabelle 2):«Wie die Aufstellung zeigt, zeichnen beide

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4.3 Nochmals statt «entweder-oder» «sowohl-als auch» oder: Fortpflanzungssystem und geschlechtstypische Sozialisation

Unmittelbar einsichtig scheint zu sein, daßwir alle eine exklusive Paarbeziehung anstre-ben. Das könnte zu dem Schluß verleiten, dielebenslange Einehe («Monogamie») als «na-turgegebenes» Ziel des Menschen anzusehen.Ebenso unmittelbar einsichtig ist uns jedoch,wie brüchig und unbeständig solche Paarbe-ziehungen sind: Wir suchen den Partner fürsLeben, um oft im nachhinein festzustellen,daß wir nur einen «Lebensabschnittsgefähr-ten» gefunden hatten. Dafür, daß der Menschüber alle Kulturen hinweg die lebenslange,exklusive Liebesbeziehung anzustrebenscheint, vermögen sie nur recht wenige zuverwirklichen. Nicht nur eine kulturübergrei-fende, sondern sogar eine stammesgeschicht-liche Konstante scheint auch deren Unbe-ständigkeit zu sein. Das in seiner Lebensformunseren Vorfahren wahrscheinlich sehr ähn-liche Wildbeuter-Volk der !Kung-Buschleuteweist eine ungefähr der Scheidungsrate mo-

derner Industrieländer entsprechende Tren-nungsrate von ca. 30%, andere Wildbeuter-gesellschaften weisen gar eine bis zu 50% auf(Wright, 1996). Zudem scheinen die meistengeschiedenen Ehen kulturunabhängig etwavier Jahre angedauert zu haben (Fisher, 1987).Dies entspricht nicht von ungefähr demdurch langes Stillen verursachten mittlerenGeburtenabstand der Buschleute: «Die Über-einstimmung könnte andeuten, daß dieDauer der menschlichen Ehe (...) ursprüng-lich auf eine «Brutzeit» angelegt war.»(Wickler & Seibt, 1990, S. 157).

Evolutionären Überlegungen zum Stellen-wert der geschlechtlichen Selektion zufolgespricht zwar «... fast alles gegen ein ursprüng-lich monogam angelegtes Fortpflanzungssy-stem ...» (Vogel & Sommer, 1994, S. 31), aberandere Indizien wiederum legen nahe, daßwahrscheinlich auch eine exklusive, polyga-me Haremsstruktur nicht unbedingt typischfür die menschliche Stammesgeschichte war:«Vielmehr wird ein fakultativ polyandrischesPaarungsverhalten – also «Mehr-Männchen»-Verhältnisse – das Sexualleben unserer weibli-chen Vorfahren geprägt haben und damit für

588 Ausgewählte Entwicklungsbereiche

Tabelle 2: Geschlechtstypisches Verhalten von 43 Kindern (drei bis 15 Jahre) der !Ko-Buschleute im April 1973und Februar 1974 (nach Sbrzesny, 1976)

Kinder (N = 43): Mädchen (N = 20): Jungen (N = 23):Erhebungszeitpunkt 1973 1974 1973 1974

Spiele:Tanzen 56.25% 42.86% 1.66% 3.03%Ballspiel mit Melonen 16.66% 35.71% 5.00% 0.00%Mutter-Kind-Spiele 12.50% 0.00% 0.00% 0.00%Seilspringen 0.00% 7.14% 0.00% 9.09%spielerisches Verfolgen 6.25% 0.00% 16.66% 21.21%Experimentierspiel mit Gegenständen 4.17% 7.14% 45.00% 39.39%Sandspiele 4.17% 0.00% 5.00% 0.00%Kampf- und Wettbewerbsspiele 0.00% 3.57% 15.00% 15.50%Kosmetik 0.00% 3.57% 0.00% 0.00%Sonstiges (Imitationsspiele, Klettern, u.a.) 0.00% 0.00% 11.66% 12.13%

Zeichnen:Blumen 23.7% 8.0%Haus, Hütte 23.6% 9.5%Frau 21.8% 3.5%Tiere 7.3% 29.76%Haushaltsgegenstände 6.0% 0.3%Mann 4.9% 15.4%Autos* 0.9% 11.8%Flugzeuge* 0.3% 7.7%Sonstiges (Mensch, Unterrichtsgegenstände* u.ä.) 11.5% 14.04%

* !Ko-Buschleuten durch den Besuch der ersten Fremden erst seit wenigen Jahren bekannt

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ein gewisses Maß an Spermakonkurrenz ge-sorgt haben.» (Voland, 1993, S. 141). So ergab– entsprechend den unter 3.2 aufgeführtenalters- und geschlechtsabhängigen sexuellenPaarungsmustern – auch die dort bereits er-wähnte repräsentative Stichprobe in Vene-zuela ein von den Autoren als kulturübergrei-fend angesehenes Muster, bei dem bei denFrauen ein großer Anteil eher jüngerer Frauenpolyandrisch sind, während die Männer imDurchschnitt monogam erscheinen, obwohlunter ihnen eine geringe Anzahl hochpoly-gyner, eher älterer Männer zu finden sind (s.Jaffe et al., 1993). In der Gesamtschau illu-striert der Mensch damit besser als jede ande-re Primatenart die konditionale und opportu-nistische Natur evolutionsbiologischer Fort-pflanzungssysteme: Während beim Mann diepolygame Neigung ausgeprägter zu seinscheint, bevorzugt die Frau möglicherweisekein bestimmtes Fortpflanzungssystem(Wright, 1996). Der «faule» Kompromiß liegtoft in der offiziellen Propagierung bzw. befri-steten Einhaltung der Monogamie bei gleich-zeitig unübersehbarer Tendenz beider Ge-schlechter, diese Paarungsnorm zu übertre-ten. Der Grund für die in modernen Gesell-schaften vorherrschende, sozial auferlegte,ökologisch nicht notwendige Monogamie istdabei laut Wright (1994, S. 100; deutsch1996, S. 166) angesichts der hohen Aggres-sionsneigung unverheirateter junger Männerrecht einleuchtend: «... leaving lots of menwithout wives is not only inegalitarian; it’sdangerous.» (s.a. Kap. II.3).

Diesen Überlegungen entsprechend müß-ten die von Lytton und Romney (1991) alsHinweis auf eine biologische Verhaltensdispo-sition der Geschlechter interpretierten Befun-de ihrer umfangreichen Metaanalyse, bei derkeine ausgeprägten geschlechtsbezogenen Er-ziehungspraktiken gefunden wurden, trotzihrer erörterten Plausibilität nur einen Teil derweltweit vorhandenen sozialisatorischen Be-dingungen abbilden, nämlich den der moder-nen, monogamen Industriestaaten. Trotz desUmfangs ihrer Untersuchung stammen diemeisten der von ihnen herangezogenen Stich-proben aus dem nordamerikanischen Raum.Die Frage ist, ob sich diese Ergebnisse replizie-ren ließen, wenn die kulturelle Heterogenitätder Stichproben wesentlich größer wäre.

Über den Tellerrand unserer monogamen,industrialisierten Gesellschaften hinaus-schauend, sichtete die Anthropologin BobbiLow (1989) vorhandene Daten zu geschlechts-typischen Sozialisationspraktiken aus 93größtenteils polygamen Kulturen, um dieevolutionäre Hypothese zu testen, daß die So-zialisationspraktiken von den jeweils vorherr-schenden Reproduktionsstrategien der Ge-schlechter abhängen. Die Ergebnisse bestätig-ten ihre Grundannahme recht eindrucksvoll:

Die für Mädchen und Jungen vorgefunde-nen unterschiedlichen elterlichen Sozialisa-tionspraktiken variierten zunächst erwar-tungsgemäß mit dem Alter, d. h., sie waren inder frühen Kindheit weniger ausgeprägt als inder späten. Über alle Kulturen hinweg wur-den Jungen eher dazu angehalten, aggressi-ver, tapferer und selbständiger zu sein als dieMädchen, welche hingegen verantwortlicher,fleißiger, gehorsamer und keuscher sein soll-ten als die Jungen. Diese Unterschiede warenvor allem auf das Ausmaß der Polygynie inGesellschaften ohne soziale Hierarchisierungzurückzuführen und lassen sich mit derhöheren männlichen Reproduktionsvarianzin solchen polygamen Kulturen und der da-hingehend erhöhten innergeschlechtlichenmännlichen Konkurrenz in Verbindung brin-gen. Des weiteren konnte Low (1989) nach-weisen, daß diese Geschlechtsunterschiedesich reduzieren, je mehr ökonomische oderpolitische Macht die Frauen innehaben, d. h.,in solchen Kulturen wurden die Töchter an-gehalten, weniger gehorsam und wenigerfleißig, dafür aber aggressiver und ehrgeizigerzu sein. Hier wären sozusagen als Teilmengeder Lowschen Befunde die Ergebnisse der Me-taanalyse von Lytton und Romney (1991)einzuordnen.

Bobbi Lows (1989) Ergebnisse lassen sichvor allem auch als Bestätigung der Annahmeansehen, daß kulturell unterschiedlich starkausgeprägte Geschlechtsunterschiede vomGrad innergeschlechtlicher männlicher Kon-kurrenz abhängen, ein in feministischenKreisen altbekannter, aber dort (noch) nichtevolutionär abgeleiteter Zusammenhang:Nach MacDonald (1988) ist es keinesfalls zu-fällig, daß die Frauenbewegung in den mo-dernen Gesellschaften entstanden ist, die sichvor allem in der sozialen Reduzierung männ-

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licher Konkurrenz um Frauen durch institu-tionalisierte und weltanschaulich abgesegne-te Monogamie auszeichnen. Wenn der Ge-schlechterkampf reduziert werden soll undmehr egalitäre Verhältnisse zwischen den Ge-schlechtern angestrebt werden sollen, ist evo-lutionär ableitbar, daß zur Reduzierung dermännlichen innergeschlechtlichen Konkur-renz familienpolitische Maßnahmen zur Auf-rechterhaltung der Monogamie und ein ge-ringes innergesellschaftliches sozioökonomi-sches Gefälle notwendig sind (s. auch Wright,1996). Die Propagierung «androgyner» Per-sönlichkeiten (s. 1.) als Ideal für beide Ge-schlechter erscheint vor diesem Hintergrundfast als naiv, da dabei allzu leicht übersehenwird, daß in einer «männerzentrierten», d. h.(ins «evolutionäre» übersetzt) sich durch einehohe innergeschlechtliche männliche Kon-kurrenz auszeichnende Gesellschaft Androgy-nität eher den Frauen nützlich ist als denMännern (s. Alfermann, 1992, S. 293: «An-drogynie (scheint) (...) mehr ein Ideal vonFrauen zu sein, weil es ihnen einen größerenGewinn verspricht.»

5. Ausblick«Die These, daß Männer und Frauen inallen Berufen und Beschäftigungen glei-chermaßen vertreten sein sollten, istschlicht lächerlich, wenn man bedenkt,welche Erkenntnisse uns über die ver-schiedenen Begabungsmuster zur Verfü-gung stehen.» (Doreen Kimura, zitiert n.Pool, 1995, S. 21).

Wie kaum mehr bekannt zu sein scheint,schnitten bei den ersten Versionen der Intel-ligenztests Anfang unseres Jahrhunderts füreine kurze Zeit die Mädchen besser ab als dieJungen. Die entsprechenden Testaufgabenwurden aber sehr schnell geändert, «damitman», wie Pool (1995, S. 39) ironisch be-merkt «sicher sein konnte, daß so etwas niewieder geschieht». Diese Vorgehensweisewird berechtigterweise als «sexistisch» ange-prangert: Hätten nämlich bei den ersten Testsdie Jungen besser abgeschnitten, wäre damalswahrscheinlich nichts geändert worden. Essollte aber bei aller Sorge, eine mögliche Ab-

wertung des weiblichen Geschlechts vermei-den zu wollen, nicht übersehen werden, daßdieser Vorfall wertneutral betrachtet auch il-lustriert, daß die Geschlechter sich mögli-cherweise auch in kognitiven Bereichen un-terscheiden könnten. Und wie gezeigt wurde,spricht auch einiges dafür, daß diese Unter-schiede nicht nur auf unterschiedliche Meß-instrumente, sondern auf Unterschiede derdiesen Instrumenten zugrundeliegendenKonstrukte zurückzuführen sind (Literatur-übersicht s. Pool, 1995):

Die «kleinen» geschlechtstypischen Unter-schiede kurz zusammenfassend, spielen hor-monelle Einflüsse bei ihrer Entwicklung vorallem in kritischen Phasen der Individual-entwicklung (wie Embryonalentwicklung,Pubertät und Menopause) nicht nur bei denphysischen (d. h. bei anatomischen, morpho-logischen bzw. physiologischen) Geschlechts-unterschieden, sondern mit ziemlicherSicherheit auch im psychischen (d. h. imkognitiven, motivationalen und damit auchverhaltensmäßigen) Bereich eine Rolle. UnterEinwirkung männlicher Hormone entwickeltsich eine stärkere Lateralisierung des Gehirns.Ein Großteil der folgenden psychischen undVerhaltensunterschiede der Geschlechter las-sen sich damit in Verbindung bringen: In derKindheit sind Mädchen möglicherweise be-reits seit dem Säuglingsalter stärker an ihremsozialen Umfeld interessiert, Jungen eher anGegenständen. Beide Geschlechter spielenam liebsten mit Geschlechtsgenossen, aberhaben unterschiedliche Spielpräferenzen und-stile: Jungen bevorzugen strukturierte undkompetitive, Mädchen eher weniger regelge-leitete und kooperative Spiele. Jungen raufenlieber und lassen sich leichter ablenken,Mädchen spielen konzentrierter. Vor allemnach der Pubertät sind erwachsene Männergrößer, stärker, risikobereiter und aggressiverals Frauen, während Frauen eher fürsorglichsind, gesünder und länger leben. Frauen kön-nen besser riechen, schmecken und hören,verfügen über ein besseres peripheres Sehen,können nonverbale Signale eher wahrneh-men, haben einen empfindlicheren Tastsinnund sind feinmotorisch geschickter. Die Män-ner sehen vor allem sich bewegende Objekteschärfer und sind besser im grobmotorischenBereich. Frauen sind bei sprachlichen Fertig-

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keiten und dem raschen Erkennen von Ein-zelheiten im Vorteil, während Männer beimräumlichen Vorstellungsvermögen und vorallem in damit zusammenhängenden Teilbe-reichen der Mathematik wie z. B. in der Geo-metrie besser abschneiden. Diese Geschlechts-unterschiede sind in der reproduktivenPhase, also nach der Pubertät und vor derMenopause der Frauen, am ausgeprägtesten.Im Alter scheinen sich die Geschlechter wie-der stärker anzugleichen: Frauen werden «re-soluter», Männer nachgiebiger.

Diese mit dem Geschlecht sich unterschei-denden Entwicklungsverläufe und Verhal-tenstendenzen sind dabei an hormonell-phy-siologisch-morphologische Vorgänge gekop-pelt und gleichzeitig zum großen Teil evoluti-onsbiologisch zweckmäßig. Die herkömmli-che Differenzierung der Geschlechtsvariable(z. B. Trautner, 1991) läßt sich so auffassen,daß das Geschlecht als unabhängige Perso-nenvariable («biologisches» Geschlecht) überdie individuelle Art der Aufnahme und Verar-beitung geschlechtsbezogener Informationen(«subjektives» Geschlecht) zu einer sozialenKategorisierung der Geschlechter («soziales»Geschlecht) führt, deren Ausformung vonden ersten beiden Dimensionen mit bedingtwird. Deshalb sind unseres Erachtens auchErziehungsziele kaum erreichbar und alles an-dere als «ideal», bei denen «individuelle Nei-gungen und Talente» schon, aber «das biolo-gische Geschlecht des Kindes kein Kriteriumsein» soll (Trautner, 1994, S. 189). Wie be-deutsam sind nun diese in ihrer Häufungnicht zu übersehenden Unterschiede?

Nur weil wir bis vor kurzem gar nichtsüber die stammesgeschichtlichen Wurzelndes «Spiels der Geschlechter» wußten, mag esmanchen immer noch so erscheinen, als seidas, was die Geschlechter miteinander trei-ben, «ein Spiel ohne Regeln» (Der Spiegel,1995, Nr. 43, S. 244) und damit ein Spiel mitpraktisch austauschbaren Rollen. Wie inzwi-schen hinreichend deutlich geworden seinmüßte, verneint eine biologische Sicht derGeschlechter diese Beliebigkeit und damitHinfälligkeit von Geschlechtsunterschieden,wie sie auch einige Sozialisations- und Kul-turtheorien postulieren. Weniger nahelie-gend, aber genauso eindeutig ableitbar ist je-doch, daß die Biologie auch eine bereichs-

und umweltunabhängige Definition von«männlich» und «weiblich» erschwert. Diebiologisch einleuchtende Kategorisierungverleitet nur allzu leicht dazu, sie zu verabso-lutieren. Umgekehrt verführt die Definitions-macht der Kultur auch dazu, potentiell vor-handene Unterschiede als «naturgegeben»abzusegnen, und zwar gerade weil alle mitdem Geschlecht variierenden Eigenschaftenvon der Umwelt mitbedingt werden. Wennman aber unter einer «biologischen» Sichtauf die Geschlechter versteht, daß «männ-lich» und «weiblich» feste, unveränderlicheGrößen darstellen, dann ist dies eher einephysikalistische als eine der Biologie entspre-chende Sicht (s. bspw. Gaulin, 1995, S. 1220:«... traits that we humans think of as mascu-line might well characterize females in spe-cies subject to a different sexual selection re-gime.»). Die evolutionsbiologische «Erfin-dung» der sexuellen Differenzierung stelltsomit zwar eine sowohl inter- als auch intra-spezifisch variable, aber trotzdem keineswegsbeliebige Vorgabe dar. Problematisch wird es– wie bereits eingangs angedeutet wurde –nur, wenn die «Gleichwertigkeit» der Ge-schlechter mit ihrer «Gleichheit» verwechseltwird: «... es gibt kein Naturgesetz und keinSozialgesetz, welches fordert, daß Frauen undMänner absolut gleich zu sein haben oder dasgleiche tun müssen, um gesellschaftlich, wirt-schaftlich und politisch gleichwertig zu sein.»(Rossi, zit. in Pool, 1995, S. 59).

Die evolutionäre Sicht auf das Geschlech-terverhältnis legt nahe, daß viele der uns ei-gentlich unangenehmen Verhaltensweisenim Geschlechterverhältnis geschlechtlich,also wechselseitig ausgelesen wurden. Män-ner haben die Verhaltensmerkmale der Frau-en sozusagen genauso gefördert, wie auchFrauen für viele – einschließlich der oft pro-blematischen – Verhaltenszüge der Männer«evolutionär mitverantwortlich» zu machenwären, weil sie dadurch Vorteile im evolu-tionären Wettbewerb hatten: In der Evoluti-on muß beispielsweise die Untreue des Ehe-partners von Männern und Frauen gleicher-maßen negativer bewertet worden sein als diedes Bruders oder Sohnes bzw. der Schwesteroder Tochter. Weil das genetische Eigeninter-esse im Zweifelsfall über geschlechtliche Soli-darität obsiegen müßte, ist auch zu erwarten,

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daß eine (bspw. von feministischer Seite) an-gestrebte innergeschlechtliche Solidaritätsehr schwierig bzw. unbeständig sein muß.

Nicht zu Unrecht kann an dieser Stelle ein-gewendet werden, daß diese auf evolutionä-rer Ebene erfolgende Argumentation nichtsüber die eventuell trotzdem vorhandene Un-terdrückung der Frauen auf der unmittelba-ren, aktuellen Wirkebene aussagt: Was habenbeispielsweise von Männern geschlageneFrauen davon, daß ihre weiblichen Vorfahrendiese unterdrückenden und leidbringendenmännlichen Eigenschaften ungewollt evolu-tionär bevorzugt haben? Umgekehrt gilt die-ser Einwand jedoch auch für das männlicheGeschlecht. Die Vorteile des «Patriarchats»für «die Männer» werden nämlich auch nurkurzsichtig auf alle Männer bezogen und aufder unmittelbaren Ebene angesiedelt: Washaben «die Männer» davon, wenn sie durchihre tendenziell frauenunterdrückenden Ei-genschaften wie ihre hohe, mit Eifersuchteinhergehende Aggressionsbereitschaft po-tentiell eher in der Lage wären, Frauen zukontrollieren, wenn sie dafür eher riskierenmüssen, möglicherweise leer auszugehen,trotzdem durchschnittlich fünf bis siebenJahre früher zu sterben, in jedem Altersab-schnitt einem höheren Sterberisiko ausgesetztzu sein und sowieso viel eher ein Opfer einesihrer gewalttätigen Geschlechtsgenossen zuwerden?

Festzuhalten bleibt also, daß eine nur aufder psychischen bzw. unmittelbaren Ebeneerfolgende Analyse des Geschlechterverhält-nisses zu kurz greift, weil sie eher die Nachtei-le des «Patriarchats» für die Frauen und eherdie Vorteile für die Männer beschreibt.Männliche «Verlierer», die gerade bei polygy-nen Fortpflanzungssystemen sogar die Mehr-zahl der Männer ausmachen, bleiben dabeiebenso unberücksichtigt wie weibliche«Gewinner» patriarchaler Sozialstrukturen(Smuts, 1995; Voland & Chasiotis, im Druck).Eine Entschuldigung freilich läßt sich evolu-tionär weder für das «unterdrückende» nochfür das «unterdrückte» Geschlecht ableiten.Beide Geschlechter zahlen ihren Preis für ihreVerhaltenstendenzen, die nur evolviert sind,weil sie letztlich dem «scheibchenweisen Selbst-mord» der Fortpflanzung dienen (s. Wickler &Seibt, 1990, S. 156).

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