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DOI: 10.1111/j.1610-0387.2010.07327.x Akademie 361 © The Authors • Journal compilation © Blackwell Verlag GmbH, Berlin • JDDG • 1610-0379/2010/0805 JDDG | 5 ˙ 2010 (Band 8) English online version on Wiley InterScience JDDG; 2010 8:361–374 Eingereicht: 6.9.2009 | Angenommen: 29.10.2009 Zusammenfassung Artefakte sind selbstinduzierte Hautveränderungen und umfassen das absicht- liche Erzeugen oder Vortäuschen körperlicher oder psychischer Symptome an sich selbst oder anderen Bezugspersonen. In der Dermatologie findet man häu- fig mechanische Verletzungen durch Drücken, Reiben, Abschnürung, Beißen, Schneiden, Stechen, Verbrennen oder selbstbeigebrachte Infektionen mit Wundheilungsstörungen, Abszesse, Verbrühungen, Verstümmelungen, Verät- zungen und weitere toxische Schädigungen der Haut. Die aktuelle Einteilung unterscheidet 4 Gruppen: 1. Artefakte im engeren Sinne als unbewusste disso- ziative Selbstverletzung; 2. Paraartefakte: Störungen der Impulskontrolle oftmals mit Manipulation einer vorbestehenden spezifischen Dermatose (halb- bewusste – zugegebene – Selbstverletzungen), 3. Simulation: bewusst vorgetäuschte Verletzungen und Erkrankungen zwecks Vorteilserlangung, 4. Sonderformen wie das Gardner-Diamond-Syndrom, Münchhausen-Syndrom und Münchhausen-by-Proxy-Syndrom. Diese Einteilung ist hilfreich zum Verständnis der unterschiedlichen pathoge- nethischen Mechanismen sowie der jeweiligen Psychodynamik und Prognose und erfordert unterschiedliche Therapiekonzeptionen. Summary Facticious Disorders are self inflicted skin lesions and includes the creation of physical or psychiatric symptoms in oneself or other reference persons. In der- matology frequently, there are mechanical injuries by pressures, friction, occlu- sion, biting, cutting, stabbing, thermal burns or self-inflicted infections with wound-healing impairment, abscesses, mutilations or damages by acids and other toxic to the skin. The current classification differentiates between four groups: 1. Dermatitis artefacta syndrome in the narrower sense as uncon- scious/dissociated self-injury, 2. Dermatitis paraartefacta syndrome: Disorders of impulse control, often as manipulation of an existing specific dermatosis (often semi-conscious, admitted – self-injury), 3. Malingering: consciously simu- lated injuries and diseases to obtain material gain, 4. special forms, such as the Gardner Diamond Syndrome, Münchhausen Syndrome and Münchhausen- by-Proxy Syndrome. This categorization is helpful in understanding the different pathogenic mech- anisms and the psychodynamics involved, as well as in developing various therapeutic avenues and determining the prognosis. Facharztwissen Redaktion Prof. Dr. Jan C. Simon, Leipzig Keywords factitious disorders self-inflicted lesions trichotillomania impairment of impulse control malingering Münchhausen syndrome Psychodermatology Schlüsselwörter Artefakte Selbstverletzungen Trichotillomanie Störung der Impulskontrolle Simulation Münchhausen-Syndrom Psychodermatologie Artefakte in der Dermatologie Facticious disorders in dermatology Wolfgang Harth 1 , Klaus-Michael Taube 2 , Uwe Gieler 3 (1) Klinik für Dermatologie und Allergologie, Vivantes Klinikum Berlin Spandau (2) Klinik für Dermatologie, Universität Halle (3) Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie der Justus-Liebig-Universität Gießen

Artefakte in der Dermatologie

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Page 1: Artefakte in der Dermatologie

DOI: 10.1111/j.1610-0387.2010.07327.x Akademie 361

© The Authors • Journal compilation © Blackwell Verlag GmbH, Berlin • JDDG • 1610-0379/2010/0805 JDDG | 5˙2010 (Band 8)

English online version on Wiley InterScience

JDDG; 2010 • 8:361–374 Eingereicht: 6.9.2009 | Angenommen: 29.10.2009

ZusammenfassungArtefakte sind selbstinduzierte Hautveränderungen und umfassen das absicht-liche Erzeugen oder Vortäuschen körperlicher oder psychischer Symptome ansich selbst oder anderen Bezugspersonen. In der Dermatologie findet man häu-fig mechanische Verletzungen durch Drücken, Reiben, Abschnürung, Beißen,Schneiden, Stechen, Verbrennen oder selbstbeigebrachte Infektionen mitWundheilungsstörungen, Abszesse, Verbrühungen, Verstümmelungen, Verät-zungen und weitere toxische Schädigungen der Haut. Die aktuelle Einteilungunterscheidet 4 Gruppen: 1. Artefakte im engeren Sinne als unbewusste disso-ziative Selbstverletzung; 2. Paraartefakte: Störungen der Impulskontrolle oftmals mit Manipulation einer vorbestehenden spezifischen Dermatose (halb-bewusste – zugegebene – Selbstverletzungen), 3. Simulation: bewusst vorgetäuschte Verletzungen und Erkrankungen zwecks Vorteilserlangung, 4. Sonderformen wie das Gardner-Diamond-Syndrom, Münchhausen-Syndromund Münchhausen-by-Proxy-Syndrom.Diese Einteilung ist hilfreich zum Verständnis der unterschiedlichen pathoge-nethischen Mechanismen sowie der jeweiligen Psychodynamik und Prognoseund erfordert unterschiedliche Therapiekonzeptionen.

SummaryFacticious Disorders are self inflicted skin lesions and includes the creation ofphysical or psychiatric symptoms in oneself or other reference persons. In der-matology frequently, there are mechanical injuries by pressures, friction, occlu-sion, biting, cutting, stabbing, thermal burns or self-inflicted infections withwound-healing impairment, abscesses, mutilations or damages by acids andother toxic to the skin. The current classification differentiates between fourgroups: 1. Dermatitis artefacta syndrome in the narrower sense as uncon-scious/dissociated self-injury, 2. Dermatitis paraartefacta syndrome: Disordersof impulse control, often as manipulation of an existing specific dermatosis(often semi-conscious, admitted – self-injury), 3. Malingering: consciously simu-lated injuries and diseases to obtain material gain, 4. special forms, such as theGardner Diamond Syndrome, Münchhausen Syndrome and Münchhausen- by-Proxy Syndrome.This categorization is helpful in understanding the different pathogenic mech-anisms and the psychodynamics involved, as well as in developing varioustherapeutic avenues and determining the prognosis.

Facharztwissen

RedaktionProf. Dr. Jan C. Simon,

Leipzig

Keywords• factitious disorders• self-inflicted lesions• trichotillomania• impairment of impulse control• malingering• Münchhausen syndrome• Psychodermatology

Schlüsselwörter• Artefakte• Selbstverletzungen• Trichotillomanie• Störung der Impulskontrolle• Simulation• Münchhausen-Syndrom• Psychodermatologie

Artefakte in der Dermatologie

Facticious disorders in dermatology

Wolfgang Harth1, Klaus-Michael Taube2, Uwe Gieler3

(1) Klinik für Dermatologie und Allergologie, Vivantes Klinikum Berlin Spandau(2) Klinik für Dermatologie, Universität Halle(3) Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie der Justus-Liebig-Universität Gießen

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EinleitungDie differenzielle Betrachtung und Klassifikation der Artefakte, hat zum besserenVerständnis und Entwicklung erfolgreicher Behandlungsstrategien beigetragen[1].Artefakte sind das absichtliche Erzeugen oder Vortäuschen körperlicher oder psy-chischer Symptome an sich selbst oder anderen Bezugspersonen. Als artifizielleStörungen (ICD-10: F 68.1, L98.1) werden selbstschädigende Handlungen – imEnglischen „factitious disorders“ (DSM-IV (300.16/ 300.19) – definiert, die un-mittelbar oder mittelbar zu einer objektivierbaren klinisch relevanten Schädigungdes Organismus führen, ohne dass hiermit eine direkte Intention zur Selbsttötungverbunden ist.Die Häufigkeit von Artefakten wird auf 0,05–0,4 % in der Bevölkerung geschätzt.Obwohl Artefakte in allen klinisch-medizinischen Disziplinen zu finden sind, ist inder Dermatologie die Prävalenz offenbar am höchsten. Eine Umfrage bei Ärzten ver-schiedener Fachrichtungen zeigte in der Dermatologie eine geschätzte durchschnittli-che Häufigkeit von 2 % aller Patienten in Hautkliniken. Selbstverletzendes Verhaltenfindet sich 3–8-mal häufiger bei Frauen; mit Ausnahme der Simulationen, die beiMännern häufiger anzutreffen sind. Simulationen sind oftmals im Rahmen von Be-gutachtungen oder dem Wunsch einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung festzustel-len ebenso bei Versicherungsbetrug.Die Genese der Artefakte ist sehr variabel und auf mechanische Verletzungen oderselbstbeigebrachte Infektionen oder toxische Schädigungen der Haut zurückzuführen(Tabelle 1). Hämostaseologische Symptome können durch Stauen von Extremitäten,Erzeugen von Petechien und durch zusätzliche heimliche Einnahme von Pharmakasowie Heparininjektionen auftreten. Die aktuelle Einteilung unterscheidet dreiGruppen und weitere Sonderformen (Tabelle 2, Abbildung 1–3).

Artefakte im engeren SinneDas klinische Erscheinungsbild der Artefakte oder auch Dermatitis factitia (ICD-10F 68.1, unbeabsichtigt L98.1) hängt von der Selbstmanipulation ab. Prinzipiell kanndie Morphologie der Artefakte alle Dermatosen imitieren. „Typisch ist dabei das Untypische“, das heißt klinische Bilder mit untypischer Loka-lisation, Morphologie, Histologie oder unklar rezidivierenden Therapieverläufen.Der Nachweis von körperfremden Materialien, toxischen Substanzen und infektiö-sem Material sollte versucht werden. Folgenschwer ist die Delegation der körperschä-digenden Handlung an den Arzt, wenn vorgetäuschte Beschwerden invasive oderschädigende medizinische Behandlungsmaßnahmen nach sich ziehen (Münchhau-sen/Münchhausen-by-Proxy-Syndrom, Operationssucht).

Psychische SymptomatikArtefakte im engeren Sinne als unbewusste Selbstverletzung können auf dem Bodeneiner schweren emotionalen Störung in der Biografie entstehen, sind dann als

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Tabelle 2: Einteilung Artefakte.Tabelle 1: Genese Artefakte.

Mechanisch • Drücken, Reiben, Stauen, Beißen,

Schneiden, Stechen, hämostaseologische Genese, Verstümmelungen

Toxische Schädigungen • Säuren, Laugen, thermisch (Verbrennun-

gen, Verbrühungen) Selbstbeigebrachte Infektionen • Wundheilungsstörungen, AbszesseMedikamente • heimliche Einnahme von Pharmaka • Injektionen: Heparin, Insulin

Artefakte• im engeren Sinne als unbewusste SelbstverletzungParaartefakte• Störungen der Impulskontrolle oftmals als Manipulation

einer vorbestehenden spezifischen Dermatose• oftmals halbbewusste, zugegebene Selbstverletzungen, auch

Skin-picking-Syndrom genanntSimulation• bewusst vorgetäuschte Verletzungen und Erkrankungen

zwecks VorteilserlangungSonderformen• Gardner-Diamond-Syndrom• Münchhausen-Syndrom• Münchhausen-by-Proxy-Syndrom

Abbildung 1: Ausgedehnte narbige Artefakte imGesicht.

Die Genese der Artefakte ist sehr varia-bel und auf mechanische Verletzun-gen oder selbstbeigebrachte Infektio-nen oder toxische Schädigungen derHaut zurückzuführen.

Die Häufigkeit von Artefakten wirdauf 0,05–0,4 % in der Bevölkerung geschätzt.

„Typisch ist dabei das Untypische.“

Abbildung 2: Instrumentarium zur Selbstmani-pulation.

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Abbildung 3: Ausgedehnte narbige Artefakte imBereich des Gesichtes.

Reaktivierung v on in der Kindheit erlittenen Verletzungen/Traumatisierungen zuverstehen und enthalten eine nonverbale Appellfunktion. Die schädigende Handlung geschieht meist im Verborgenen, oft in dissoziativen Zu-ständen mit Amnesien, ohne dass der Vorgang dem Patienten anschließend erinner-lich oder emotional nachvollziehbar sein muss.Die sogenannte „hollow history“ [2] wird charakteristischer Weise häufig bei derAnamneseerhebung von Patienten mit Artefakten gefunden. Dabei handelt es sichum die Tatsache, dass unklare vage Angaben zur Entstehung der Erkrankung gemachtwerden, die plötzlich wie von selbst ohne Vorzeichen oder Symptome aufgetretenseien. Typischerweise sind die Patienten selbst erstaunt über die aufgetretenen Haut-veränderungen und nicht fähig, klare Angaben und Details zu deren Erstauftretenoder Erscheinen und Entwicklungsverlauf anzugeben. Die Anamnese bleibt unklar.Die Patienten sind während der Erzählung der Krankengeschichte auffallend wenigemotional beteiligt, als wenn sie nicht selbst betroffen wären, wenn die Einzelheitender oftmals entstellenden Artefakte geschildert werden. Auch aus ärztlicher Sicht zuerwartende Schmerzen durch die vorhandenen Läsionen werden oftmals nicht ange-geben. Die Familie hingegen ist häufig wütend und anklagend und bezeichnet die be-handelnden Ärzte als inkompetent. Bei den Patienten mit Artefakten besteht ein heterogenes psychopathologisches Spek-trum. Häufig sind schwere Persönlichkeitsstörungen (vorwiegend emotional instabilePersönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ (ICD-10: F 60.31) oder auch narzissti-sche, histrionische und dissoziale sowie abhängige Persönlichkeitsstörungen (Tabelle 3,Abbildung 4). Mehr als zwei Drittel der Patienten geben traumatisierende Erlebnisse wie sexuelleund körperliche Misshandlungen und Deprivationssituationen in der Anamnese an.Leichtere Formen von artifiziellen Störungen kommen als Adoleszenzkonflikte vorund auch bei Missbrauch von Alkohol, Medikamenten und Drogen. Auch offen selbstbeschädigende Verhaltensweisen kommen vor. Diese werdenauch als offene oder bewusste Artefakte bezeichnet und können einen appellativenCharakter haben. Sie können als Hintergrund den Wunsch eines sekundärenKrankheitsgewinns haben, oder auch fließende Übergänge zu den Paraartefaktenaufzeigen.

Differenzialdiagnose der Gruppe artifizieller DermatosenZum Zeitpunkt der selbstschädigenden Handlungen können manifeste psychotischeErkrankungen im Vordergrund stehen, in deren Rahmen die Selbstverletzungen begleitend auftreten. Hierzu gehören: Schizophrenien, wahnhafte Störungen einsch-ließlich Dermatozoenwahn (Abbildung 5), affektive Störungen und kindlicher Autismus sowie psychische Verhaltensstörungen durch Intoxikationen, psychotropeSubstanzen, bei hirnorganischem Psychosyndrom, Anfallsleiden, sexuellen Handlun-gen und in suizidaler Absicht.Bei allen Formen von Dermatozoenwahn (Befallswahn) werden sekundär selbst zuge-fügte Hautschäden bei bis zu zwei Drittel der Patienten beobachtet. Die vermeintli-chen Parasiten sollen durch Manipulationen entfernt werden, wobei durch eineSelbstschädigung Artefakte erzeugt werden.Selbstverletzendes Verhalten kann als Begleiterscheinung anderer organischer Erkran-kungen auftreten: z. B. Lesch-Nyhan-Syndrom, Cornelia-de-Lange-Syndrom, Rett-Syndrom, chronische Enzephalitis, Neurolues, Temporallappenepilepsie, Neuroakan-tozytose und hirnorganische Störungen (Oligophrenie, demenzielle Syndrome).

ParaartefakteHäufiger und mit breiter klinischer Variabilität finden sich im Bereich der Dermato-logie sogenannte Paraartefakte, auch Skin-picking-Syndrom genannt. Das Haupt-merkmal von Paraartefakten ist die Störung der Impulskontrolle (ICD-10 F 63.8)und damit das Versagen, dem Impulstrieb oder der Versuchung zu widerstehen, einewiederholte Handlung ohne vernünftige Motivation auszuführen, die für die Personselbst oder für andere schädlich ist (Tabelle 4). Bei Nachfrage können die Patienteneine Manipulation häufig zugeben, so dass eine halbbewusste Störung vorliegt. Ur-sächlich können psychische Anspannungssituationen oder nicht bewältigte Konflikteund ein nicht beherrschbarer Drang zur Selbstmanipulation vorliegen.

Zum Zeitpunkt der selbstschädigen-den Handlungen können manifestepsychotische Erkrankungen im Vor-dergrund stehen.

Bei den Patienten mit Artefakten be-steht ein heterogenes psychopatho-logisches Spektrum.

Mehr als zwei Drittel der Patienten ge-ben traumatisierende Erlebnisse wiesexuelle und körperliche Misshand-lungen und Deprivationssituationenin der Anamnese an.

Bei allen Formen von Dermatozoen-wahn (Befallswahn) werden sekundärselbst zugefügte Hautschäden bei biszu zwei Drittel der Patienten beob-achtet.

Das Hauptmerkmal von Paraartefak-ten ist die Störung der Impulskontrolle.

Bei Nachfrage können die Patienteneine Manipulation häufig zugeben, so dass eine halbbewusste Störungvorliegt.

Page 4: Artefakte in der Dermatologie

Oftmals wird auch eine minimale Primäreffloreszenz exzessiv manipuliert, welcheserst dadurch zu einem ausgeprägt schweren Befund führt. Typischerweise finden sich die im Folgenden beschriebenen klinischen Bilder (Tabelle 5).

Skin-picking-Syndrom Beim Skin-picking-Syndrom, früher auch als neurotische Exkoriationen (ICD-10: F68.1, L98.1, F63.9) bezeichnet, handelt es sich um Paraartefakte mit einer Störungder Impulskontrolle. Die klinischen Befunde umfassen Exkoriationen, Erosionenund Krusten sowie atrophisch abheilende Narben und Hyperpigmentierungen, wiesie durch wiederholtes ausgeprägtes Kratzen entstehen (Abbildung 6). Die Lokalisa-tion ist vorwiegend im Bereich der Arme und Unterschenkel. Ein Skin-picking-Syn-drom kann aber auch im Gesicht auftreten, wird dann aber aus historischen Gründenmeist noch Acne excoriée genannt.Psychisch ist diese Störung der Impulskontrolle durch eine wiederholte UnfähigkeitKratzimpulsen zu widerstehen charakterisiert. Dabei erfolgt oftmals eine konflikthafte

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Tabelle 3: Häufige psychischeStörungen bei Artefakten.

• frühe Persönlichkeitsstörungen- emotional instabile

Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ

- narzisstischePersönlichkeitsstörung

- histrionischePersönlichkeitsstörung

- dissoziale Persönlichkeitsstörung- abhängige Persönlichkeitsstörung

• depressive Störungen• Angststörungen• Zwangsstörungen• posttraumatische

Belastungsstörungen

Abbildung 4: Borderline-Störung, 26-jährige Patientin.

Abbildung 5: Differenzialdiagnose Dermatozoenwahn. Artefakte die sekundär bei Wahn durch Ent-fernung vermeintlicher Parasiten erzeugt wurden.

Beim Skin-picking-Syndrom, früherauch als neurotische Exkoriationenbezeichnet, handelt es sich um Paraar-tefakte mit einer Störung der Impuls-kontrolle.

Page 5: Artefakte in der Dermatologie

Spannungsabfuhr der Patienten über die Haut. Als Komorbiditäten finden sichgehäuft depressive und Angststörungen. Differenzialdiagnostisch zur Störung der Im-pulskontrolle können Zwangsstörungen vorliegen.

Acne excoriée Eine Sonderform des Skin-picking-Syndroms ist die Acne excoriée (ICD-10: F68.1L70.5), die durch ihre Lokalisation im Gesicht gekennzeichnet ist. Bei der klas-sischen Acne excoriée bestehen in der Regel anfänglich minimale Akneeffloreszenzen,die typischerweise durch ausgedehntes Quetschen, Drücken, meist mit den Fingernä-geln manipuliert werden. Durch die Manipulation entstehen dann Exkoriationen,Erosionen oder auch Ulzerationen, die unter sternförmigen Narbenbildungen undPigmentierungsstörungen abheilen können. Die Patienten können oftmals dem Im-puls zum Quetschen und Drücken nicht widerstehen, aber die Manipulation thema-tisieren. Insbesondere die Situation vor dem Spiegel stellt ein typisches Verhaltensmu-ster dar, das sinnvollerweise bereits bei der Anamnese erfragt werden sollte.

Morsicatio buccarum Morsicatio buccarum (ICD-10: F68.1, K13.1) sind weißliche strangförmigeMundschleimhautverdickungen oder auch Schwielen im Bereich des Zahnschlus-ses. Die Schleimhautveränderungen können durch ständiges Einsaugen undKauen auf der Mundschleimhaut entstehen und müssen differenzialdiagnostischgegenüber Lichen ruber der Mundschleimhaut und Präkanzerosen/Leukoplakienabgegrenzt werden.

Cheilitis factitiaDie Cheilitis factitia (ICD-10: F68.1, K13.0) ist ein Leckekzem. Die Grundlage der Pathogenese ist eine chronisch kumulativ toxische Schädigung der Haut durcheine mechanische Belastung und Speichel einschließlich irritativer Nassbelastung(Abbildung 7). Dies führt letztendlich zu ekzematösen Hautveränderungen. EinePrädisposition zur sekundären Impetigenisierung ist damit gegeben. Die Automani-pulation betrifft meist umschriebene, über das Lippenrot hinausgehende scharf begrenzte Areale. Auch beim Einsaugen und Belecken mit der Zunge können die Automanipulationen symmetrisch angeordnet sein. Bei der Cheilitis artefacta kommtzusätzlich ein traumatisierendes Lippenkauen hinzu.

Pseudo-Knuckle-PadsPseudo-Knuckle-Pads (ICD-10: F 68.1, M72.1) entstehen durch Reiben, Massie-ren, Kauen, Saugen, meist im Bereich der Fingerknöchel und sind klinisch durchverdickte polsterartige raue, leicht schuppende Hauteffloreszenzen gekennzeich-net. Weiterhin kann eine geistige Retardierung im Vordergrund der Pathogenesestehen.

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Tabelle 4: Diagnostischen Krite-rien von Paraartefakten (DSM IV).

Tabelle 5: Paraartefakte in derDermatologie.

Diagnostischen Kriterien von Pa-raartefakten (DSM IV) umfassen:• wiederholte Unfähigkeit,

Impulsen zu widerstehen • zunehmendes Spannungsgefühl

vor der Handlung • Vergnügen, Befriedigung oder

Gefühl der Entspannungwährend der Handlung

• keine ursächliche Beziehung zuanderen somatischen oderpsychiatrischen Erkrankungen,

• die Störung bedeutet ein klinischsignifikantes Leiden

Haut und Schleimhaut• neurotische Exkoriationen

(Skin-picking-Syndrom) • Acne excoriée• Pseudo-Knuckle-Pads• Morsicatio buccarum• Cheilitis factitia

Hautanhangsgebilde• Onychophagie, Onychotilloma-

nie, Onychotemnomanie• Trichotillomanie, Trichotemnoma-

nie, Trichoteiromanie

Eine Sonderform des Skin-picking-Syn-droms ist die Acne excoriée, die durchihre Lokalisation im Gesicht gekenn-zeichnet ist.

Morsicatio buccarum sind weißlichestrangförmige Mundschleimhautver-dickungen oder auch Schwielen imBereich des Zahnschlusses.

Abbildung 6: Skin-picking-Syndrom (Acne ex-coriée) mit Manipulation besonders unter Stress.

Die Cheilitis factitia ist ein Leckekzem.

Abbildung 7: Störung der Impulskontrolle:Leckekzem.

Pseudo-Knuckle-Pads entstehen durchReiben, Massieren, Kauen, Saugen,meist im Bereich der Fingerknöchel.

Page 6: Artefakte in der Dermatologie

Die echten Fingerknöchelpolster kommen nur bei Genodermatosen vor und entstehenohne mechanische Traumatisierung und sind durch eine zellreiche Fibrose charakterisiert. Aufklärende Gespräche bei den Pseudo-Knuckle-Pads mit den besorgtenEltern im Sinne einer Psychoedukation, anschließende Beobachtung und vermehrteAufmerksamkeit können den Mechanismus aufdecken und nach Unterlassung mit un-terstützenden Hautpflegemaßnahmen als Ersatzhandlung eine Abheilung einleiten.

Onychophagie, Onychotillomanie und OnychotemnomanieOnychophagieDie Onychophagie (ICD-10: F68.1, F98.8) ist das Nagelbeißen oder Nagelkauenmeist mit Verschlucken der Nagelanteile. Auch eine Kombination mit Daumenlut-schen ist häufig. Durch die ständige Traumatisierung mit Verkürzung der distalenNagelplatte können Entzündungen bakterieller oder viraler Genese, Blutungen undFehlbildungen auftreten oder getriggert werden. Die Onychophagie tritt meistens imRahmen ungelöster Konflikte oder Anspannungssituationen auf und wird besondersin der Kindheit und Adoleszenz beobachtet.Die Häufigkeit wird mit bis zu 45 % bei Heranwachsenden angegeben, so dass sicherlich nicht jeder Patient mit Onychophagie eine schwere Persönlichkeitsstörungaufzeigt oder die dringende Notwendigkeit einer Psychotherapie indiziert ist. ZentralerKausalitätsfaktor ist der fehlerhafte Umgang mit Stress und Anspannungssituationen.

OnychotillomanieBei der Onychotillomanie wird die ständige Manipulation, „Knibbeln“, und Entfer-nung von dem Hautanhangsgebilde Nagel oder auch eine Traumatisierung im Be-reich des Paronychiums als Auslöser für selbstinduzierte Nagelerkrankungen gesehen.Dies kann von der Onychodystrophie bis hin zu schweren Paronychien reichen.

OnychotemnomanieDas zu kurze Abschneiden der Nägel führt zu Traumatisierungen im Bereich der Na-gelplatte oder Nagelpfalz.

Trichotillomanie, Trichotemnomanie und TrichoteiromanieTrichotillomanieDer Trichotillomanie (ICD-10: F63.3, F68.1) liegt ein Ausreißen der Haare zu-grunde, wobei das wiederholte Ausreißen des eigenen Haares mit deutlichem Haar-ausfall verbunden ist (Abbildung 8). Klinisch findet sich ein typischer dreiphasigerZonenaufbau mit:

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Die Onychophagie ist das Nagel-beißen oder Nagelkauen meist mitVerschlucken der Nagelanteile.

Abbildung 8: Paraartefakte: 22-jährige Studentin mit Trichotillomanie und Anpassungsstörung untereiner psychosozialen Belastungssituation im Examen. Deutlich erkennbar ist der Dreizonenaufbau.

Der Trichotillomanie liegt ein Aus-reißen der Haare zugrunde.

Page 7: Artefakte in der Dermatologie

• Zone 1: lange Haare (regelrechte, nicht betroffene normale Haare, normalerHaarschnitt)

• Zone 2: fehlende Haare (frische Alopezie durch das Ausreißen)• Zone 3: nachwachsende Haare (kürzer und unregelmäßiger als das normale

Haarkleid) Ursächlich ist der dreizonige Aufbau damit zu erklären, dass die normal gesundenlangen Haare (Zone 1) zum Zupfen gut gegriffen werden können und dann ausgerissen werden. Im Bereich der ausgerissenen Haare entsteht die haarlose Zone2, wobei sich vereinzelt Hämorrhagien im Bereich der frischen Zupfherde findenlassen. Daneben zeigen die älteren Areale bereits ein erneutes Haarwachstum auf(Zone 3). Die nachwachsenden Haare sind kürzer und können somit anfänglichnicht gut zum Zupfen ergriffen werden, womit sich die Zone 3 mit ihren kürzerenHaaren erklären lässt. Liegt klinisch ein solcher dreizoniger Aufbau vor, besteht an der Diagnose Trichotil-lomanie kein Zweifel (Tabelle 6).Sollte differenzialdiagnostisch eine Alopecia areata in Betracht gezogen werden,kann das Trichogramm weiterführen, da sich bei der Alopecia areata in den be-fallenen Arealen vermehrt Telogenhaare finden, während die Telogenhaare beider Trichotillomanie überwiegend herausgezogen wurden und sich deshalb einnahezu reines Anagenmuster findet. Sehr selten kommt es nach dem Heraus-reißen der Haare zu einem Verschlucken, welches einen Trichobezoar mit Ileus-Symptomatik auslösen kann. Hier sind jedoch nur Einzelfälle in der Literaturbeschrieben.Einer Trichotillomanie liegt psychopathologisch eine Störung der Impulskontrollezugrunde. Die Patienten drehen und spielen oftmals auch aufgrund erhöhter Ängst-lichkeit oder in Belastungssituationen mit verstärkter Konzentration an den Haaren.Differenzialdiagnostisch sind Zwangsstörungen zu diskutieren, auch das Haaraus-reißen als Stereotypie (ICD-10: F98.4) muss abgegrenzt werden, wobei es sich umeine psychiatrische Erkrankung mit Hautbezug handelt in Form von wiederholtenHandlungen, die der konkreten Umweltsituation nicht entsprechen und nicht imZusammenhang mit ihr stehen.

TrichotemnomanieDie Trichotemnomanie ist die seltene Form der Haarschädigung, wobei die Haarevorsätzlich selbst abgeschnitten werden [3].

TrichoteiromanieBei dieser Variante des selbst zugefügten Haarverlustes handelt es sich um eine physi-kalische Schädigung der Haare durch Scheuern und Kratzen am Capillitium, wodurch es zur mehr oder minder starken Pseudoalopezie kommt (Abbildung 9). Beider Trichoteiromanie (griech.: teiro, ich kratze) finden sich makroskopisch weißlicheHaarspitzen mit ausgefranst imponierenden Haarenden, welche lichtmikroskopischpinselartigen Haarabbrüchen (Trichoptilose) entsprechen.

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Einer Trichotillomanie liegt psychopa-thologisch eine Störung der Impuls-kontrolle zugrunde.

Die Trichotemnomanie ist die selteneForm der Haarschädigung wobei dieHaare vorsätzlich selbst abgeschnit-ten werden.

Bei der Trichoteiromanie finden sich ma-kroskopisch weißliche Haarspitzen mitausgefranst imponierenden Haarenden.

Tabelle 6: Trichotillomanie, Trichotemnomanie, Trichoteiromanie [3].

Trichotillomanie Trichotemnomanie Trichoteiromanie

Schädigungsmuster Ausreißen der HaareAbschneiden derHaare

Abbrechen der Haare durch Scheuern undKratzen

Klinischer Befundtypischer dreiphasiger Aufbaumit langen, fehlenden undnachwachsenden Haaren

Pseudoalopezie mit rasiert erscheinendenHaarstoppeln

Pseudoalopezie mit abgebrochenen Haarennormaler Dichte, Haarstoppeln mit weiß-lich erscheinenden, ausgefransten Enden

Trichogramm Telogenrate vermindertnormales Haarwurzel-muster

dystrophes Haarwurzelmuster, teilweiseverringerter Telogenanteil

Page 8: Artefakte in der Dermatologie

SimulationenSimulationen (ICD-10: Z76.5) sind definiert als ein absichtlich und bewusstes Erzeugen und Hervorrufen von körperlichen oder auch psychischen Symptomen(Abbildung 10). Auch bei den Simulationen stehen mechanische Verletzungen durchDrücken, Reiben, Schneiden, Verbrennen oder selbstbeigebrachte Infektionen mitWundheilungsstörungen, Verbrühungen, Verstümmelungen, Verätzungen und wei-tere toxische Schädigungen der Haut im Vordergrund.Ein weiterer Schwerpunkt in der Dermatologie stellen Simulationen im Rahmen derBegutachtung von Berufskrankheiten und Berentungsverfahren dar. Hinzu kommenManipulationen von Epikutantestungen im Rahmen von Begutachtungsverfahren so-wie Vortäuschung von schweren Symptomen zwecks Erlangung von Arbeitsunfähig-keitsbescheinigungen. Bei vorsätzlicher Provokation von Kontaktallergien ist meist dasauslösende Allergen dem Patient bekannt, wird aber dem Arzt verschwiegen.

Psychische SymptomatikSimulationen sind bewusste absichtliche Automanipulationen der Patienten zwecksErlangung eines offensichtlichen materiellen Vorteils durch die Erkrankung oder ei-nes anderen sozialen Vorteils wie beispielsweise eines sekundären Krankheitsgewinnsmit Zuwendung und Versorgung in der Familie. Der Arzt wird dabei mit kriminellerAbsicht betrogen und getäuscht.Zur psychosozialen Motivation von Simulationen gehören die Vermeidung von Straf-verfolgung, die Erlangung von Betäubungsmitteln, die Vermeidung des Militärdien-stes oder die Erlangung von finanziellen Vorteilen. Dieser Vorteil kann in hohen Renten- oder Krankenhaustagegeldzahlungen sowie in der Auszahlung von Rei-serücktrittversicherungen bestehen. Absichtliche und bewusste Simulationen sindpsychotherapeutischen Maßnahmen kaum zugänglich, da hierfür keine Patienten-motivation besteht. In der Regel ist ein psychotherapeutischer Zugang erst möglichwenn laufende Gerichtsverfahren abgeschlossen sind.

SonderformenGardner-Diamond-SyndromDas Gardner-Diamond-Syndrom (ICD-10: F 68.1) ist gekennzeichnet durch schub-haft auftretende schmerzhafte blaue Maculae, vielfältige körperliche Beschwerdenund eine charakteristische psychische Symptomatik [4]. Synonyme umfassen:schmerzhaftes Eckchymosen-Syndrom, psychogene Purpura, Syndrom der blauenFlecken, Painful-bruising-Syndrom. Anfänglich wurde von den Erstbeschreiberndurch Injektion autologer Erythrozyten die Annahme eines Autoimmunprozesses im

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Abbildung 9: Trichoteiromanie: aufgetriebene weißliche Terminalhaarenden durch mechanischscheuernde Traumatisierung.

Simulationen sind definiert als ein ab-sichtlich und bewusstes Erzeugenund Hervorrufen von körperlichenoder auch psychischen Symptomen.

Simulationen sind bewusste absichtli-che Automanipulationen der Patien-ten zwecks Erlangung eines offen-sichtlichen materiellen Vorteils durchdie Erkrankung.

Abbildung 10: Simulation: 44-jähriger Bauar-beiter mit Hautläsionen durch ständiges absicht-liches Eintauchen der Hände in flüssigen Betonohne Schutzmassnahmen. Zahlreiche Arbeitsun-fähigkeitszeiten von verschiedenen Ärzten undBerufsunfähigkeitsbegehren.

Das Gardner-Diamond-Syndrom istgekennzeichnet durch schubhaft auf-tretende schmerzhafte blaue Maculae.

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Sinne eines autoerythrozytären Sensibilisierungssyndroms postuliert. Aktuell wirdam ehesten eine artifizielle Genese diskutiert.Als Prodromi treten zunächst Jucken, Spannungsgefühl oder brennende Schmerzen,meist im Bereich der Extremitäten, am häufigsten im Bereich der Beine, auf. Ansch-ließend zeigen sich ödematöse Erytheme mit Ekchymosen mit Abheilung innerhalbvon 1–2 Wochen. Charakteristischerweise ist der Verlauf in Schüben auftretend undohne Residuen abheilend.Als Allgemeinsymptomatik bestehen Anfälle von Abdominalschmerzen, Übelkeit,Erbrechen, Diarrhöen, Gewichtsverlust, Kopfschmerzattacken, Sehstörungen,Parästhesien und andere neurologische Symptome sowie Hämaturie, Hämatemesis,Metrorrhagien und Amenorrhoe. Betroffen sind fast ausnahmslos Frauen.Die Persönlichkeitsstruktur der Patienten weist klassische Züge der dissoziativenStörungen einschließlich Konversionsstörungen, Masochismus, Depressivität,Ängstlichkeit und Hemmung von Gefühlsäußerungen (Aggressionshemmung)auf.

Münchhausen-Syndrom Das Münchhausen-Syndrom (ICD10: F68.1) ist gekennzeichnet durch die Trias:Krankenhauswandern, Pseudologia phantastica und Selbstverletzung [5]. Namen-sträger des Syndroms, über das hier berichtet wird, ist Freiherr Karl FriedrichHieronymus von Münchhausen (1720–1797), der allgemein als Lügenbaron bekannt ist. Im ursprünglichen Sinn bedeutet die Erkrankung eine Vortäuschungakuter Krankheiten mit demonstrativen dramatischen Beschwerdeschilderungen undfalschen Angaben zur Anamnese. Charakteristisch sind eine Vielzahl von Kranken-hausaufenthalten und operative Eingriffe, zum Teil mit sichtbaren multiplen Narben.Häufig liegt eine Manie oder eine schwere Persönlichkeitsstörung wie die antisozialePersönlichkeit- oder Borderline-Störung zu Grunde.

Münchhausen-by-Proxy-Syndrom Bei dem Münchhausen-by-Proxy-Syndrom (ICD-10: F74.8) werden meist Kindervon ihren Bezugspersonen verletzt, um einen Kontakt mit medizinischen Behand-lern herzustellen [6]. Damit handelt es sich bei dem Münchhausen-by-Proxy-Syn-drom um eine spezielle Form des Missbrauchs von Kindern. Erstmalig 1977 wur-den zwei Fälle vom Münchhausen-by-Proxy-Syndrom von einem englischenKinderarzt publiziert. Die Namensgebung erfolgte, weil die Mutter systematischden Arzt mit frei erfundenen Geschichten über die Krankheiten täuschte, abernicht den eigenen Körper, sondern gleichsam in Vertretung (by proxy) den Körperdes Kindes missbrauchte.

Therapie der ArtefakteBei der Therapie der Artefakte müssen einerseits klare Grenzen bei den Simulationenaufgezeigt und die Erlangung von erstrebten Vorteilen verhindert werden, anderer-seits kann eine zu frühe Konfrontation bei Patienten mit unbewusster artifizieller Ge-nese zum Abbruch der Arzt-Patienten-Beziehung führen, und sogar in einem Suizidoder Suizidversuch enden [7] (Tabelle 7). Eine Übersicht über die diagnostischen undtherapeutischen Wege ist in der Abbildung 11 dargestellt.

Artefakte im engeren SinneAm Anfang der Therapie steht der vorsichtige (nicht anklagende) Aufbau einer therapeutischen Beziehung. Die Lokaltherapie zur Wundheilung sollte mit blanderBehandlung der artifiziell induzierten Läsionen erfolgen, zum Beispiel bei Exkoriatio-nen der Unterschenkel mit Zinkleimverbänden. Bei den Artefaktkrankheiten im engeren Sinne können die Patienten die unbewus-sten Selbstmanipulationen nicht wahrnehmen und thematisieren, da die Selbstmani-pulation oft mit einer dissoziativen Amnesie einhergeht und dem Patienten dieHandlung nicht bewusst ist (Abbildung 12). Eine vorzeitige Konfrontation ärztlicherseits und die Bloßstellung durch kriminalistische Überführung ist kontrain-diziert, und führt oft zum Abbruch der Arzt-Patienten-Beziehung, erneuten autoag-gressiven Handlungen bis hin zu suizidalen Impulsen oder bedingt eine Ärzte-Odyssee.Eine Psychotherapie ist meist indiziert. Bewährt haben sich psychodynamische

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Das Münchhausen-Syndrom (ICD10:F68.1) ist gekennzeichnet durch dieTrias: Krankenhauswandern, Pseudo-logia phantastica und Selbstverlet-zung.

Bei dem Münchhausen-by-Proxy- Syndrom werden meist Kinder vonihren Bezugspersonen verletzt. Eshandelt sich um eine spezielle Formdes Missbrauchs von Kindern.

Am Anfang der Therapie steht der vor-sichtige (nicht anklagende) Aufbau ei-ner therapeutischen Beziehung.

Eine vorzeitige Konfrontation ärztli-cherseits und die Bloßstellung durchkriminalistische Überführung ist kon-traindiziert, und führt oft zum Ab-bruch der Arzt-Patienten-Beziehung,erneuten autoaggressiven Handlun-gen bis hin zu suizidalen Impulsenoder bedingt eine Ärzte-Odyssee.

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Therapieansätze zur Stabilisierung der Persönlichkeit, die in der Regel eine stationäreLangzeittherapie darstellen. Der behandelnde Arzt sollte den Patienten so lange in der Therapie begleiten, bis erfür eine spezifische Therapie beispielsweise ambulant oder in einer psychosomati-schen Klinik oder auch zur medikamentösen Psychopharmakotherapie motiviertwerden kann. Eine Konfrontation des Patienten mit der Notwendigkeit einer psychiatrischen oder psychotherapeutischen Therapie sollte erst nach dem Aufbau ei-ner stabilen Vertrauensbeziehung zwischen Arzt und Patient erfolgen.

ParaartefakteDie Prognose bei Paraartefakten ist insgesamt besser, da hier eine „halbbewusste“Störung vorliegt. Vorrangig sind verhaltenstherapeutische Maßnahmen zur Impuls-kontrolle einschließlich Methoden zur Verbesserung des Selbstmanagements mitFörderung der Selbstbeobachtung, kognitiven Umstrukturierung und Entspan-nungsverfahren. So kann bereits ein aufklärendes Gespräch (Psychoedukation) der erste Schritt einerBewusstmachung des Mechanismus sein, und Grundstein zur Wiedererlangung derImpulskontrolle darstellen. Besonders bei der Trichotillomanie im Kindesalter ist einaufklärendes Gespräch mit den Eltern oft erfolgreich. Die anschließende Eigen- oder

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Tabelle 7: Therapie.

Therapie Artefakte Paraartefakte Simulationen

psychosomatische Grundversorgung (Beschwerdetagebuch) +++ +++ +

Psychoedukation +++ +++ +

Verhaltenstherapie + +++ –

tiefenpsychologisch/analytische Psychotherapie +++ + –

Psychopharmaka ++ + –

Konfrontation – – – +/– +++

+++ sehr häufige Indikation, ++ häufige Indikation, + seltene Indikation, +/– fragliche Indikation, – möglicherweise Kontra-indikation, – – – absolute Kontraindikation

Abbildung 11: Algorithmus Artefakte.

Bei der Trichotillomanie im Kindesal-ter ist ein aufklärendes Gespräch mitden Eltern oft erfolgreich.

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Abbildung 12: Zeichnung des Schlitzens einer Artefaktpatientin.

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Fremdbeobachtung und Kontrolle der Handlung im Sinne einer kognitiven Umstrukturierung kann oftmals eine Heilung erzielen. Reicht dies nicht, so kanndurch Führen eines Tagebuches (Zupftagebuch bei Trichotillomanie) oder Manipulationstagebuches eine bessere Analyse und Kontrolle ermöglicht werden.Dabei sollte außer dem Datum, dem Zeitpunkt und der Dauer der Manipulatio-nen auch Ort, Situation und emotionale Situation sowie Besonderheiten ver-merkt werden.Maßnahmen zur Spannungsabfuhr und Ersetzen des Haarezupfens oder Skin-Pickings durch andere motorische Handlungen wie Ball kneten können erfolgreichsein ebenso wie das Erlernen von Entspannungsmaßnahmen (Abbildung 13). Beilangjährigem Verlauf, hochgradiger Konditionierung der Handlungen oder zusätzlichschweren Persönlichkeitsstörungen ist ggf. auch eine stationäre Psychotherapie sowieder Einsatz von Neuroleptika indiziert. Grundlage des therapeutischen Zugangs stellt jedoch immer die einfühlend verste-hende Interaktion mit dem Patienten dar, damit dieser sich in seinen psychischenKonflikten verstanden und angenommen fühlt.

SimulationenAufgrund der fehlenden Therapiemotivation sind Simulationen psychotherapeu-tisch nicht oder kaum behandelbar. An erster Stelle steht die Strukturierung derArzt- Patienten-Beziehung mit klaren, oftmals allein somatischen Vorgaben undGrenzsetzungen (Konfrontation), auch in Kooperation mit den Kostenträgern.Besondere Beachtung sollte aber auch depressiven oder suizidalen Tendenzen geschenkt werden, die bei psychisch auffälligen Patienten mit Simulationen im Vor-dergrund stehen können.

Psychopharmakotherapie der ArtefaktePsychopharmaka haben sich zur Begleitung und der Führung sowie zur Stabilisie-rung der meist massiven Affekte bewährt und müssen mit entsprechender Fach-kenntnis oder Kooperation eingesetzt werden. Eine Therapie mit niedrig-potentenNeuroleptika zur Linderung von Spannungszuständen oder Antidepressiva zur Linderung begleitender psychopathologischer Symptome wie z. B. depressiverStörungen und Zwangssymptome kann sinnvoll sein [8]. Bei Paraartefakten wie beispielsweise der Trichotillomanie kann unter dem Aspekt einer Störung der Impulskontrolle eine Therapie mit SSRI (selektive Serotonin-Wiederaufnahmehem-mer) wie Sertralin, Paroxetin, Citalopram oder Fluoxetin indiziert sein [9]. Bei unbewussten Artefakten sind niedrig-potente Neuroleptika meist wirksamer undsollten bevorzugt werden.

ZusammenfassungSelbstmanipulationen der Patienten gehören in der gesamten Medizin zu einer dergrößten diagnostischen und therapeutischen Herausforderungen. Die Prognosehängt von der Schwere der artifiziellen Symptomatik ab und ist bei leichten For-men gut, aber bei schweren Formen, auch bei entsprechendem Behandlungsange-bot, mäßig bis schlecht sowie bei der Sonderform „Münchhausen-Syndrom“schlecht bis desolat.Besteht eine akute Gefahr für den Patienten mit Selbst- oder auch Fremdgefährdungund gleichzeitig fehlender Behandlungsmotivation, kann ein juristischer Modus inAbsprache mit dem Psychiater sowie unter Einbezug der Gerichte zwecks Unterbrin-gung in einer psychiatrischen Klinik notwendig werden.Wichtig ist frühzeitig an artifizielle Störungen zu denken und entsprechend der dia-gnostischen Kriterien unverzüglich eine Therapieeinleitung vorzunehmen. Aufgrundder geringen Datenlage sollten in diesem Bereich zukünftig vermehrte Forschungsan-strengungen aufgenommen werden. <<<

InteressenkonfliktKeiner.

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Aufgrund der fehlenden Therapiemo-tivation sind Simulationen psycho-therapeutisch nicht oder kaum be-handelbar. An erster Stelle steht dieStrukturierung der Arzt-Patienten- Beziehung mit klaren, oftmals alleinsomatischen Vorgaben und Grenzset-zungen (Konfrontation).

Eine Therapie mit niedrig-potentenNeuroleptika zur Linderung vonSpannungszuständen oder mit Ant-idepressiva zur Linderung begleiten-der psychopathologischer Symptomekann sinnvoll sein.

Abbildung 13: Spannungsabfuhr mittels Ball.

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Korrespondenzanschrift

Prof. Dr. med. Wolfgang HarthKlinik für Dermatologie und AllergologieVivantes Klinikum SpandauNeue Bergstraße 6D-13585 BerlinTel.: +49-30-130-13-1551Fax: +49-30-130-13-1554E-Mail: [email protected]

Literatur1 Gieler U, Effendy I, Stangier U. Kutane Artefakte: Möglichkeiten der Behandlung und

ihre Grenzen. Z Hautkr 1987; 62: 882–90.2 Van Moffaert M. The Spectrum of dermatological self mutilation and self destruction

including dermatitis artefacta and neurotic excoriations. In: Koo J, Lee CS: Psycho-cutaneous medicine. New York, Basel: Dekker Verlag, 2003.

3 Reich S, Trueb RM. Trichoteiromanie. J Dtsch Dermatol Ges 2003;1: 22–8.4 Behrendt C, Goos M, Thiel H, Hengge UR. Painful-Bruising-Syndrom. Hautarzt

2001; 52: 634–7.5 Oostendorp I, Rakoski J. Münchausen-Syndrom. Artefakte in der Dermatologie.

Hautarzt 1993; 44: 86–90.6 Thomas K. Munchausen syndrome by proxy: identification and diagnosis. J Pediatr

Nurs 2003; 18: 174–80. 7 Koblenzer CS. Dermatitis artefacta. Clinical features and approaches to treatment. Am

J Clin Dermatol 2000; 1: 47–55. 8 Harth W, Seikowski K, Gieler U, Niemeier V, Hillert A. Psychopharmakologische Be-

handlung dermatologischer Patienten – wenn reden allein nicht hilft. J Dtsch Derma-tol Ges 2007; 5: 1101–6.

9 Wichel RM, Jones JS, Stanley B, Molcho A, Stanley M. Clinical characteristics oftrichotillomania and response to fluoxetine. Journal of Clinical Psychiatry 1992; 53:304–8.

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1. Woran erkennt man einenArtefakt-Patienten in der Praxis?a) Unfähigkeit, die Hauterkrankung

zu erklärenb) detaillierte Anamnesec) subjektiv starke Beschwerdend) soziales Umfeld unterstützt die

ärztlichen Bemühungene) hohe emotionale Beteiligung

2. Bei welcher Hautkrankheitkönnen psychosomatische Aspektevernachlässigt werden?a) malignes Melanom Stadium IVb) Paraartefaktec) Alopecia areatad) Psoriasis vulgarise) keine der genannten Erkrankungen

3. Mögliche Therapiewege bei Arte-faktpatienten sind:a) keine Psychotherapieb) psychosomatische

Grundversorgungc) Selbsthilfed) ambulante Psychotherapiee) alle sind möglich

4. Welche der folgenden Störungs-bilder gehört primär nicht zu denArtefakten?a) Simulation

b) Dermatozoenwahnc) Paraartefakted) Münchhausen by Proxye) Trichoteiromanie

5. Welche der folgenden Erkrankun-gen gehört zu den ArtefaktErkrankungen?a) Acne excoriéeb) systemischer Lupus erythematodes

(SLE)c) körperdysmorphe Störungd) Neurodermitise) Urticaria factitia

6. Das Münchhausen-Syndrom istgekennzeichnet durch: a) seltene Form der Vaskulitisb) seltene Form der Neurodermitisc) seltene Haardystrophied) Krankenhauswandern,

Vortäuschen von Symptomen undPseudologia phantastica

e) Krankenhauswandern,Vortäuschen von Symptomen undIntroversion

7. Die artifizielle Störung kannfolgende Körperbeschwerden bein-halten:a) Onychophagieb) Trichoteiromanie

c) Trichotemnomanied) Simulationene) alle sind möglich

8. Zu den selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI)gehört nicht: a) Sertralinb) Metoprololc) Fluoxetind) Citaloprame) Paroxetin

9. Mögliche Indikationen für einePsychotherapie bei Hautpatientensind:a) Aids-Phobieb) Depressionc) Artefakte d) Anpassungsstörunge) alle sind möglich

10. Die Therapie der Artefakte ist:a) alleinige blande Lokaltherapieb) alleinige Konfrontationc) immer tiefenpsychologische

Therapied) möglicherweise

verhaltenstherapeutische Konzeptee) immer Psychopharmaka (niedrig-

potente Neuroleptika)

Fragen zur Zertifizierung durch die DDA

Liebe Leserinnen und Leser,der Einsendeschluss an die DDA für diese Ausgabe ist der 18. Juni 2010.Die richtige Lösung zum Thema „HIV – aktueller Stand der Therapie“ in Heft 1 (Januar 2010) ist: 1b, 2c, 3d, 4e, 5a, 6c, 7b, 8e, 9a, 10d.Bitte verwenden Sie für Ihre Einsendung das aktuelle Formblatt auf der folgenden Seite oder aber geben Sie Ihre Lösung onlineunter http://jddg.akademie-dda.de ein.