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Auf dem roten Teppich sample

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LOKI SCHMIDT

Auf dem roten Teppichund fest auf der Erde

Im Gespräch mit Dieter Buhl

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1. Auflage 2010

Copyright © 2010 by

Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg

www.hoca.de

Satz: Dörlemann Satz, Lemförde

Gesetzt aus der New Aster

Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg

Printed in Germany

ISBN 978-3-455-50175-9

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Inhalt

Vorwort von Helmut Schmidt 7

Aufstieg aus Hammerbrook 13

»Bürgerlich bin ich nie gewesen« 23

Erstmals im Rampenlicht 31

Harte Arbeit auf dem Bonner Parkett 46

Einem Kanzler zur Seite 66

Wer packt dem Kanzler die Koffer? 113

Sind Frauen die besseren Diplomaten? 145

»Mit Knicksen konnte ich nicht dienen« 156

Wechselbäder im Weißen Haus 168

Große Politik am Neubergerweg 187

Vom Umgang mit Kunst und Künstlern 196

Rückblick auf ein reiches Leben 215

Dank 223

Bildnachweis 224

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Vorwort von Helmut Schmidt

Bei uns zu Hause hängt ein kleines Foto an einer Wand, dasaus dem Juni 1929 stammt, ein Kindergeburtstag: mein Bru-der Wolfgang und ich, ein Nachbarssohn, zwei Schulkame-raden – und Loki als einziges Mädchen. Wir gingen damalsin die gleiche Sexta der Hamburger Lichtwarkschule, beidezehn Jahre alt. Es gab Kakao und Kuchen und danach einegroße Schüssel voller Kirschen, die wir sechs Kinder um dieWette aufgegessen haben. Am Ende hat Loki gewonnen,denn sie hatte die meisten Kirschkerne auf ihrem Teller. Aberes gab ein Nachspiel, das mich für die nächsten achtzigJahre geprägt hat.Loki hatte nämlich ihre Baskenmütze bei uns liegenlassen,und meine Mutter hat mir gesagt, ich solle ihr die Mützenach Hause bringen. Das habe ich auch getan, zu Fuß etwaeine Dreiviertelstunde hin und wieder zurück. Aber die Ärm-lichkeit der kleinen Zweizimmerwohnung im Hinterhof inder Baustraße, dunkel, doch voller Kinder und Erwachsener,hat bei mir einen Schock ausgelöst. Ich erinnere noch wieheute meine spontane Reaktion: Das ist ungerecht, es mussmehr Gerechtigkeit geben in der Welt! Ich habe damals dasSchlagwort »soziale Gerechtigkeit« noch nicht gekannt, esist mir erst später zugewachsen. Und im Laufe von Jahr-zehnten hat sich dann dieser Begriff zunehmend mit klaremInhalt gefüllt.Allerdings war der andere Teil des Nachspiels für mich noch

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wichtiger. Denn während der anschließenden sieben Jahregemeinsamer Schulzeit hat sich zwischen Loki und mir einezuverlässige Freundschaft entwickelt. Zu Beginn des Russ-landkrieges wurde daraus eine tiefe Liebe – und ein Jahrspäter haben wir geheiratet. Seitdem sind wir nun schonneunundsechzig Jahre ein Ehepaar. Dass wir immer zusam-mengeblieben sind, ist entscheidend Lokis Verdienst. Die ge-meinsame Erziehung zum selbständigen Arbeiten, zur Liebezur Musik, zur Malerei und zur Natur hat gewiss auch dazubeigetragen.Lokis Eltern habe ich wohl mit vierzehn oder fünfzehn durcheine Reihe von Besuchen des Näheren kennengelernt. Meinspäterer Schwiegervater Hermann Glaser war als Elektrikerauf einer Werft bis in die Zeit der Kriegsrüstung über langeJahre unfreiwillig arbeitslos, meine spätere Schwiegermut-ter Gertrud ging nähen. Es blieben immer sehr ärmliche Ver-hältnisse, erst recht nach der Ausbombung und nach demKriege in einer ehemaligen Gartenbude. Die Glasers konntennatürlich das Schulgeld für Loki nicht aufbringen, und des-halb sollte sie die Schule verlassen; ein vernünftiger Nazi-Schulleiter hat damals dafür gesorgt, dass ihre Eltern keinSchulgeld bezahlen mussten.Hermann Glaser war ein für die Arbeiter-Bildungsbewe-gung typischer Facharbeiter, ein Mann voller Wissensdurstund Neugier. Was er in Abendkursen auf der Volkshoch-schule lernte, hat er anderntags seiner ältesten Tochter bei-gebracht. Wenn er hätte studieren können, so wäre er wohl –ebenso wie mein eigener Vater und mein Bruder – ein guterLehrer geworden. Er tendierte quasi selbstverständlich poli-tisch nach links; natürlich war er, ebenso wie mein eigenerVater, gegen die Nazis. Unser beider Eltern haben Loki undmich davor bewahrt, ideologisch auf die Nazis hereinzu-fallen.

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Aus finanziellen Gründen konnte Loki nicht etwa Biologieoder Botanik studieren, was ihr Wunsch gewesen war; siemusste sich auf ein Studium mit dem Berufsziel der Lehre-rin an Volks- und Realschulen beschränken. Und ich konntemich nicht auf den erstrebten Architektenberuf vorbereiten,weil ich als Wehrpflichtiger ab 1937 acht Jahre lang Soldatwurde. So haben Nazizeit und Krieg all unsere jugendlichenPläne zunichtegemacht.Nach dem Kriegsende im Mai 1945 war alles ganz anders.Alles war auf eine andere Weise ebenso schwierig, wie esschon in der Nazizeit gewesen war – mit einer entscheiden-den Ausnahme: Die Ängste vor schwerer Verwundung, vorsowjetischer Gefangenschaft und vor der Gestapo waren ver-schwunden. Deshalb waren wir jetzt ganz unverzagt. Wirwaren ja davongekommen, wir waren ja zu zweit, wir wür-den schon irgendwie durchkommen.Loki war schon seit 1940 Lehrerin und verdiente, wenn auchnicht viel. Ich dagegen begann, Volkswirtschaft zu studieren,weil dieses Fach den geringsten Zeitaufwand versprach. Erst1949 – inzwischen gut dreißig Jahre alt – verdiente ich zumersten Mal ein Gehalt. Es wurde auch Zeit, denn inzwischenhatten wir eine kleine Tochter und hofften auf ein weiteresKind. Wir wohnten zwar mit drei anderen Familien in einerVierzimmerwohnung, vier Frauen in der gemeinsamen Kü-che – aber wir waren glücklich.Damals haben weder Loki noch ich uns gedanklich einebesondere Lebenslaufbahn oder eine Karriere vorgestellt.Unser Leben ist dann aber – völlig ungeplant und unbeab-sichtigt – ganz anders verlaufen. Als ich zwanzig Jahre späterBundesminister der Verteidigung geworden war, lernte ichbald, dass ich meine Frau in Bonn als Gastgeberin brauchte.Weil aber die hamburgische Schulbehörde Loki höchstensein halbes Jahr ohne Gehalt beurlauben wollte, hat sie ihren

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geliebten Beruf als Lehrerin aufgegeben. Daraus hat sichdann unerwartet eine für sie und auch für mich völlig neuePhase ihres Lebens ergeben. Von diesem neuen Lebens-abschnitt handelt dieses Buch.Wenn sie es hätten miterleben können, so hätten LokisEltern – und meine auch! – gestaunt darüber, wie selbstver-ständlich und wie selbstsicher Loki mit ausländischen Minis-tern und Regierungs- oder Staatschefs umgegangen ist, seies als Gastgeberin, als Gast oder als Gesprächspartnerin. Siewar eine wohlerzogene Dame mit Herz und mit politischemVerstand. Dass sie zu einer solchen Rolle imstande war, habeich zum ersten Mal ahnen können, als wir 1944 mit einerReihe hoher Berufsoffiziere und adliger Generäle zu tun hat-ten. Ich habe es damals durchaus positiv registriert, aber ge-wundert hat es mich nicht.Als Loki mehr als ein Vierteljahrhundert später in Bonn ar-beitete, hat sie von mir kaum jemals eine Hilfe bekommen –weil sie nämlich gar keine Hilfe brauchte. Dabei wären einigetechnische Hilfen durchaus angebracht gewesen. Aber wederder Bundeshaushalt noch der Stellenplan hat zur Kenntnisgenommen, dass die Ehefrau eines Regierungschefs für ihrevielfältigen Aufgaben jedenfalls ein eigenes Büro braucht,das Termine verabredet, Telefongespräche herstellt und der-gleichen. Lediglich ein eigener Kraftfahrer stand ihr zu. Undeine eigene Küche hat sie sich selbst in einer ehemaligen Be-senkammer im Kanzlerbungalow eingerichtet.Zumeist haben wir uns nur morgens beim Frühstück undzum zweiten Mal spätabends kurz vor dem Schlafengehengesehen und gesprochen. Und fast niemals ist das Wochen-ende von Pflichten frei geblieben; lediglich der Sommer-urlaub am Brahmsee war immer wieder eine Oase im Getüm-mel. Der Brahmsee war auch der Ort, an dem es zu langenund ausführlichen Gesprächen kam.

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Auf den Feldern der Naturkunde habe ich fast alles von ihrgelernt. Auf den Feldern der Musik und der Kunst hatten wirvon Kindheit an dieselben Vorlieben. In politischen Fragenwaren wir meistens der gleichen oder nahezu der gleichenMeinung; jedenfalls haben wir uns nie darüber gestritten.Loki ist oft »Volkes Stimme« für mich gewesen.Sie war bisweilen auch die einfühlsame Krankenschwester,wenn ich einem unserer vielen gemeinsamen politischenFreunde oder einem Mitarbeiter oder einem Ministerkolle-gen zu heftig in die Parade gefahren war. Sie konnte gut aus-gleichen. So ist sie auch manchen meiner parteipolitischenGegner gewiss sehr viel einfühlsamer begegnet als ich. Insolchen Fällen habe ich dann mitunter am Abend eine kriti-sche Bemerkung zu hören bekommen, und das war gut so.Nach großen Reden oder Parlamentsdebatten habe ich Lokimanchmal um Kritik gebeten, die hat sie dann auch geäu-ßert – zumeist habe ich ihr zugestimmt. Aber insgesamt istdergleichen ziemlich selten gewesen; denn unsere politi-schen Grundlinien waren ja die gleichen. Mein Ton aller-dings ist für Lokis Ohren manchmal zu scharf gewesen.Im Rückblick auf die dreizehn Jahre meiner Zugehörigkeitzu mehreren Bundesregierungen muss ich bekennen: Lokiist in diesen Jahren eine unverzichtbare Hilfe für mich gewe-sen – und für manch anderen auch. Wenn ich ein außenste-hender Autor wäre, müsste ich meinen Respekt vor ihrerLeistung zum Ausdruck bringen. Da ich jedoch persönlichbetroffen bin, will ich hier stattdessen nur »Danke!« sagen.Dank von ganzem Herzen!Jedoch das Wort Respekt will ich auch gebrauchen. MeinRespekt gilt vornehmlich der forscherischen Arbeit, die Lokiin höherem Alter als Botanikerin in drei Erdteilen geleistethat. Sie ist nie als Ehefrau des Bundeskanzlers unterwegs ge-wesen oder später des Bundeskanzlers außer Dienst; sondern

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immer als Privatperson, immer auch privat bezahlt, oft imZelt mit anderen Forschern zusammen, von Peru oder Brasi-lien bis nach Borneo und von Afrika bis in die Antarktis. Da-bei hat sie sogar Pflanzen und einen Skorpion entdeckt, diebisher der Wissenschaft nicht bekannt gewesen sind – Res-pekt! Als ihr die sowjetische Akademie der Wissenschaftenfür ihre botanische Forschungsarbeit im Kaukasus einenDoktortitel ehrenhalber verlieh, da bin ich sehr stolz aufmeine Frau gewesen. Ich bin immer noch stolz auf dieseTochter eines Werftarbeiters, mit der ich seit fast sieben Jahr-zehnten verheiratet bin.

Hamburg, im April 2010

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Aufstieg aus Hammerbrook

Haben Sie als Ehefrau des Bundeskanzlers bei Besuchen inder Welt der großen Politik manchmal gedacht: Mensch, hierstehe ich, die Hannelore aus der Schleusenstraße in Ham-burg-Hammerbrook, und kann mich nur wundern?

Doch, aber nur ganz selten, denn meistens hatte ich bei offi-ziellen Auslandsreisen und bei Begegnungen mit Staatsmän-nern oder Monarchen gar nicht die Zeit zum Reflektieren.Da musste ich mich auf die Menschen und auf das Protokollkonzentrieren. Aber im Buckingham Palace in London zumBeispiel, da habe ich einen solchen sentimentalen Anflugerlebt. Man kommt durch einen langen Saal oder einen sehrweiten Flur, wo die Wände links und rechts mit Bildern ge-pflastert sind, hauptsächlich natürlich mit Ahnenporträts.Die Queen begleitete Helmut und mich zu ihren Empfangs-räumen. Da habe ich durchaus gedacht: Schade, dass deineEltern dich hier nicht langmarschieren sehen, die hättenbestimmt gestaunt und sich gefreut, dass ihre Tochter an derSeite der Königin des Vereinigten Königreichs von Großbri-tannien und Nordirland durch deren Palast geht.

Wann war es das erste Mal, dass Sie bei einem offiziellen Be-such ein solches Gefühl hatten und an Ihr früheres beschei-denes Zuhause oder an Ihre Eltern dachten?

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Ich glaube, das ist mir in dieser Form nur dieses eine Malso gegangen, bei anderen Gelegenheiten vielleicht noch malganz flüchtig. Als Norddeutsche neige ich nun auch nichtso übermäßig zu sentimentalen Anflügen. – In diesem Zu-sammenhang fällt mir etwas Rührendes ein. Helmut war alsAbgeordneter des Bundestags wiedergewählt und 1969 zumVerteidigungsminister der ersten sozial-liberalen Koalitionernannt worden, als mein Vater einen Unfall hatte. Er saßschon seit einiger Zeit im Rollstuhl und ist aus irgendeinemGrund damit umgekippt. Meine Mutter konnte ihn nicht auf-sammeln, sie war ja nun auch schon alt. Es ist also irgend-jemand gekommen, um ihn aufzuheben.

Wie alt war Ihr Vater damals?

Er war siebenundsiebzig. Der Unfall ereignete sich in ihremkleinen Haus in Neugraben. Er musste dann ins Kranken-haus, weil er sich am Bein verletzt hatte. Während der Be-handlung hat mein Vater dem Arzt ins Ohr geflüstert: »Ichbin der Schwiegervater vom neuen Verteidigungsminister.«Normalerweise legte mein Vater keinen Wert auf so etwas,und angeben tat er schon gar nicht. Helmut als Verteidi-gungsminister muss ihm jedoch sehr imponiert haben,wenngleich mein Vater und meine Mutter mindestens sonüchtern waren wie ich. Leider hat mein Vater nicht mehrerlebt, dass Helmut Bundeskanzler wurde. Meine Mutter hatsich darüber noch freuen können, auch wenn es sie nichtvom Stuhl gerissen hat; sie war damals allerdings schon sehrkrank. Helmuts Vater hat die Kanzlerschaft seines Sohnesnoch erlebt, doch der hielt sich ebenfalls sehr zurück mit Ge-fühlsäußerungen.

Stolz auf ein Familienmitglied, und sei es ein angeheiratetes,das es zu etwas gebracht hat, ist doch etwas ganz Natürliches.

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Bei meinen Eltern und meinem Schwiegervater war dasauch nicht anders, nur zeigten sie ihren Stolz nicht. Geradeweil es so ungewöhnlich für ihn war, höre ich noch, wie meinVater mir zaghaft gestand, wie er bei seinem behandelndenArzt mit Helmut als Verteidigungsminister angegeben hatte.Da habe ich zum ersten Mal gemerkt, dass mein Vater stolzauf seinen Schwiegersohn war. Bis dahin war der Schwieger-sohn ja mein ehemaliger Klassenkamerad und nichts ande-res gewesen. So hatte er ihn kennengelernt, und so war esauch nach unserer Heirat geblieben.

Wie war das Verhältnis zu Ihren Eltern, als Ihr Mann indie Politik gegangen war und Sie viele zusätzliche Pflichtenhatten?

Mit den Eltern undTochter Susanne, 1951

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Ich habe meine Eltern natürlich, sooft ich konnte und es beiihnen ging, besucht. Wir lebten noch nicht in Bonn. Aberdass mein Vater plötzlich des neuen Amtes wegen stolz aufseinen Schwiegersohn war, darüber wundere ich mich bisheute.

Sie sind aber auch ein Mensch, dem Äußerlichkeiten – alsoÄmter, Paläste, Reichtum, Titel – nicht so sehr imponierenkönnen.

Das kann man so sagen. Das habe ich wahrscheinlich vonmeinen Eltern übernommen, denen Äußerlichkeiten nichtsonderlich imponierten. Was mich an äußeren Erscheinun-gen beeindruckt hat und immer wieder beeindruckt, sindarchitektonisch schöne oder interessante Bauten. Aber ichglaube, das Architektonische ist das, was an erster Stellesteht, und nicht die Pracht. Das Interesse an Architektur teileich ja auch mit Helmut.

Sie haben nie bei Begegnungen mit den politischen Größendieser Welt oder bei schwierigeren protokollarischen Aufga-ben Komplexe gehabt?

Ich meine, dass mein Selbstbewusstsein nicht so wahnsin-nig ausgeprägt war, aber ein einigermaßen gesundes Selbst-vertrauen hatte ich schon; habe ich natürlich bereits in derSchule entwickelt, weil ich als Großgewachsene immer dieMädchen verteidigen musste. Das spielt ganz sicher eineRolle. In meiner frühen Schulzeit musste ich mich immergegen die Jungs durchsetzen. Und Zehn- bis Zwölfjährigebehaupten sich weniger mit dem Kopf als mit den Fäusten.Das ist mir, nachträglich gesehen, sehr deutlich geworden.

Aber diese andere Welt der Politik hat Sie nicht verändert, Ih-nen auch keinen Schock versetzt oder Sie nervös gemacht …

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Nervös hat mich das natürlich gemacht. Man wollte sich jaanständig – im Rahmen – benehmen. Man wollte sich pas-send benehmen und sich nicht blamieren. Das verlangteschon so viel Disziplin, dass man durchaus etwas irritiertsein konnte.

Wo Sie sich bewegt haben, vor allen Dingen bei Auslandsrei-sen, als Minister- oder Kanzlerfrau, das war zwar eine andereWelt – prächtiger, komfortabler –, aber letzten Endes war sieauch nur von Menschen bevölkert.

Das habe ich sehr schnell gemerkt, und deshalb hat michdiese Umgebung auch nicht allzu sehr beunruhigt. Aber, wiegesagt, konzentriert war ich trotzdem. Und zumindest in denAnfangsjahren meiner Bonner Zeit auch ein wenig nervös,das gebe ich gern zu.

Von den Wohnbezirken Ihrer Kindheit und Jugend haben Siejedenfalls einen weiten Weg bis in die große, weite Welt zu-rückgelegt. Welches der Viertel, in denen Sie aufwuchsen, warprägend für Sie: die Schleusenstraße in Hamburg-Hammer-brook oder die Baustraße in Hamburg-Borgfelde?

Weder das eine noch das andere. Prägend waren für michnicht die Wohnviertel oder die Umgebung dort, prägend fürmich war die große Familie. Das war der ganze Clan.

Der wohnte da?

Meine Großeltern haben eine Wohnung mit sieben Zimmernin einem Altbau gemietet, und drei ihrer vier erwachsenenTöchter – zwei davon verheiratet – sind eingezogen. EineTochter hat einen Beamten geheiratet; sie haben gleich eineWohnung bekommen. Aber drei Töchter und eine Pflege-tochter wohnten zusammen mit meinen Großeltern.

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Dann sind Sie auch gar nicht mit so vielen anderen Men-schen, Nachbarn oder Freunden, in Berührung gekommen?

Doch, mit Freunden der Familie bin ich da schon als kleinesKind in Berührung gekommen, denn vor allem meine Groß-mutter und ihre drei Töchter feierten ja dauernd.

Wie würden Sie die äußere Umgebung beschreiben, in der Sieaufwuchsen?

In der Ecke von Hammerbrook, wo wir wohnten, gab es kei-nen Baum, keinen Strauch, ja nicht einmal einen Grashalm.Wenn wir mal etwas Grünes erleben wollten, bin ich mitmeiner Großmutter an den Hafen gegangen, wo wir von wei-tem den Hügel über den Landungsbrücken sehen konnten.Aber irgendetwas Pflanzliches gab es in unserer Gegend nicht.

Fühlten sich die Bewohner dieses Viertels als Proletariat?

Mit den Bewohnern des Viertels hatte ich überhaupt nichtszu tun, damals war ich auch noch zu klein. Ich kann mir al-lerdings nicht vorstellen, dass sich die Menschen dort alsProletariat verstanden, dafür waren die Häuser, in denen siewohnten, einfach zu bürgerlich. Überlegen Sie mal, dieseRiesenwohnung, in der meine Großeltern mit drei erwachse-nen Töchtern nebst Ehemännern gewohnt haben, und mitden ersten Enkelkindern – die entsprach von ihren Dimen-sionen her durchaus bürgerlichen Maßstäben.

Aber so ein Bewusstsein, dass Sie alle einer gleichen Klasseangehören, das gab es nicht …

Ich glaube nicht, dass meine Großeltern und ihre erwachse-nen Kinder so etwas empfanden, und viel Umgang mit denNachbarn oder den Leuten in der Umgebung hatten sieohnehin nicht – von irgendeinem Klassenbewusstsein ganz

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zu schweigen; die waren mit sich selbst beschäftigt und ganzzufrieden mit ihrem Leben. Klassenbewusstsein oder garKlassenkampf stand bei ihnen nicht auf dem Programm.

Wie erklären Sie sich, dass Ihre Eltern Sie auf eine Reform-schule geschickt haben? Sie wollten das Beste für Sie …

Das war für meine Eltern das einzig vernünftige Schulsys-tem, wo die Schüler schon ein wenig zur Selbständigkeit er-zogen wurden, wo Eltern und Kinder zusammen arbeitetenund wo es ein Schulheim an der Ostsee gab, das in dieserZeit – also nach dem Ersten Weltkrieg – von den oft arbeits-losen Vätern aufgebaut worden war.

Das pädagogische Konzept …

… war das, was meinen Eltern entgegenkam. Sie waren ge-genüber Erziehungsfragen sehr aufgeschlossen, was ich beieinem Arbeiterehepaar für durchaus bemerkenswert halte.

Sie wollten ihre Kinder weit weg von der Schule alten Stils,mit Gehorsam und Stillsitzen, sehen.

Sie fanden es vor allem gut, wenn Kinder selbständig arbei-teten.

Das gab es auch schon in der Grundschule?

In gewisser Weise ja. Dort wurde sehr viel gebastelt. Das hörtsich zu verspielt an …

Heute würde man sagen, die Kinder sollten »kreativ« sein.

Es wurde sehr viel mit der Hand gemacht. Wir brauchtennicht artig auf unseren Bänken zu sitzen, um der Lehrerinzuzuhören.

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Hatten Sie damals schon Träume davon, was Sie einmal wer-den wollten?

Ich glaube, da hatte ich schon den Traum, dass ich Naturfor-scher werden wollte. Ich wusste allerdings nicht genau, wasman darunter zu verstehen hat. Aber zur Natur habe ichmich schon sehr früh hingezogen gefühlt.

Hatten Sie denn irgendeine Ahnung, dass Sie möglicherweiseetwas erreichen könnten, was Ihren Eltern – Ihr Vater warElektriker auf einer Werft, Ihre Mutter gelernte Schneiderin –nicht vergönnt war?

Das Gefühl, dass ich etwas erreichen könnte, was meine El-tern nicht schaffen konnten, hatte ich nicht. Aber mit zwölfJahren war das Ziel, Naturforscher zu werden, bei mir schonsehr ausgeprägt. Zu Hause jedoch vermisste ich nichts. Beiuns ging es oft fröhlich zu. Es wurde viel gesungen, auch mitFreunden meiner Eltern. Alles, was nur irgend ging, wurdeselbst gemacht.Meine Eltern hatten einmal an der Volkshochschule ein Se-mester lang Architektur belegt, und mein Vater, der sehr anArchitektur interessiert war, ist mit mir durch die Stadt ge-gangen und hat mir alles erklärt. Ich glaube, mit zwölf etwakonnte ich schon so ungefähr sagen, in welcher Zeit ein Hausoder eine Kirche gebaut worden war.Meine Eltern gehörten zu einer Arbeiterklasse, die es so heutenicht mehr gibt. Sie waren sehr an ihrer persönlichen Weiter-bildung interessiert und gingen, wenn es irgendwie möglichwar oder besonders interessante Kurse angeboten wurden,zur Volkshochschule. Obwohl sie arm waren, hatten sie keineAngst vor der Zukunft, sondern waren meist frohen Mutes.

Die Lichtwarkschule hat all das, was bei Ihnen in der Grund-schule angelegt war, noch weiter gefördert.

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Wobei ich, nachträglich gesehen, sagen muss, dass unsereGrundschullehrerin, mit der meine Eltern später befreundetwaren, trotz aller Reformansätze verhältnismäßig konserva-tiv war. Aber das kann man immer erst später beurteilen.

Haben Sie in der Lichtwarkschule dann Kinder aus ganz an-deren sozialen Verhältnissen kennengelernt?

Auch, doch nicht nur. Es waren viele Kinder aus ärmlichenVerhältnissen da. Ich schätze, dass in Helmuts und meinenersten Jahren in der Lichtwarkschule ungefähr die HälfteHandwerker- und Arbeiterkinder und die andere Hälfte Aka-demikerkinder waren. Und, um es ganz offen zu sagen: DieHerkunft und häuslichen Verhältnisse interessierten unsKinder doch sowieso nicht.

Heute wäre das etwas anders, weil die Kinder von wohlha-benderen Eltern beispielsweise anders gekleidet wären.

In meiner Volksschulzeit kamen viele Mütter nachmittags indie Schule und änderten abgelegte Kleider, die man dort ge-sammelt hatte, sodass auch die ärmsten Kinder noch anstän-dig gekleidet in die Schule gehen konnten. Ich kann michnicht erinnern, jemals einen Unterschied in der Kleidungfestgestellt zu haben. Auch in der Lichtwarkschule hat das inden ersten Jahren keine Rolle gespielt. Das Einzige: EinigeJungs hatten eine Klassenmütze – an der konnte man sehen,in welche Klasse sie gingen. Sie kostete jedoch Geld, undviele konnten sie sich nicht leisten.

Nicht nur für Kleidung, auch darüber hinaus war bei Ihnenzu Hause das Geld immer knapp. Später, als Lehrerin, hattenSie dann Ihr eigenes Einkommen. Haben Sie mehr verdientals Ihr Vater?

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Nein. Ich weiß ja noch, was ich verdient habe. 126,23 Mark.Als Anfängerin. Pro Monat.

Da wohnten Sie noch zu Hause?

Woanders konnte ich gar nicht wohnen. Meine Eltern beka-men jeden Monat von meinem Gehalt hundert Mark. – Nein,das ist nicht ganz richtig, ich brauchte ja eine Monatskarteund außerdem ein bisschen Taschengeld, zum Beispiel fürZigaretten. Ich gab also etwas weniger als hundert Mark zuHause ab.

Als Sie schließlich Lehrerin und einigermaßen etabliert wa-ren, haben sich bei Ihnen da irgendwelche Karrierewünscheeingestellt? Haben Sie sich gewünscht, einmal Konrektorinoder Rektorin zu werden?

Über meine spätere »Karriere« habe ich mir keine Gedankengemacht. Wir waren vielleicht auch nicht so karrierebewusst,wie es heute manche Menschen sind. Allerdings war tief inmir immer das Bedürfnis oder die Sehnsucht: Wenn du malkannst, dann möchtest du in der Welt rumreisen und Natur-forscher werden. Da hatte ich aber noch nichts von Alexan-der von Humboldt erfahren. Als ich das erste Mal ein Buchvon ihm oder über ihn gelesen habe, war er natürlich meinHeld, der genau das getan hatte, was mir vage als Lebenszielvorschwebte: durch die Welt fahren und dabei neue Erkennt-nisse über die Natur gewinnen.