Aus den maßstäben Heft 7 „Die Unveränderlichen“ (2006) Brigitte Röthlein Metrologens Lieblinge Maß nehmen in vier Stationen Zum Vorbild nimmt der Mensch sich gerne selbst. Aber manche von ihnen, namentlich die Metrologen, schwenken auf etwas Dauerhafteres um – auf Naturkonstanten. (Stichwort: Naturkonstanten) Mehr entdecken: Der QR-Code führt Sie zur Webseite dieser maßstäbe-Ausgabe. Das wissenschaftsjournalistische Magazin der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt

Aus den maßstäben - Physikalisch-Technische Bundesanstalt · Einheit wurde zunächst von den Eigenschaften unseres Planeten abgeleitet: die Sekunde, deren Länge sich aus den Rhythmen

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  • Aus den maßstäben Heft 7 „Die Unveränderlichen“ (2006)

    Brigitte Röthlein

    Metrologens LieblingeMaß nehmen in vier Stationen

    Zum Vorbild nimmt der Mensch sich gerne selbst. Aber manche von ihnen, namentlich die Metrologen, schwenken auf etwas Dauerhafteres um – auf Naturkonstanten.

    (Stichwort: Naturkonstanten)Mehr entdecken: Der QR-Code führt Sie zur Webseite dieser maßstäbe-Ausgabe.

    Das wissenschaftsjournalistische Magazin der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt

  • 1 Metrologens Lieblinge Aus den maßstäben Heft 7 „Die Unveränderlichen“ (2006)maßstäbe10

    MetrologensLieblinge

    „Wissenschaft: Einem ist sie die hohe, die himmlischeGöttin, dem andern eine tüchtige Kuh, die ihn mitButter versorgt“, schrieb einst Friedrich Schiller. Dasgilt heute noch wie damals, und für beide Aufgabenbenötigt sie eine wichtige Fähigkeit: Sie muss denMenschen Sicherheit geben. Einerseits die göttlicheSicherheit, unveränderlich und zuverlässig zu funktio-nieren, unter allen Umständen und unabhängig von Ortund Zeit. Andererseits eine praktische Sicherheit imAlltag, die es erst möglich macht, ihre Gesetze anzu-wenden und in geldwerten Nutzen umzusetzen, etwabeim Bau von Maschinen oder beim Messen bestimmterGrößen.

    Kein Wunder, dass die Geschichte der Naturwissen-schaften, insbesondere der Physik, einhergeht mit derunablässigen Suche nach Fixpunkten, die solcheSicherheit garantieren. Von Anfang an haben dieForscher nach un-veränderli-chen

    Konstanten gesucht. Keine leichte Aufgabe, zeichnetsich doch gerade die Natur durch ihre Vielfalt aus.Sanfte Hügel, schroffe Berge, wallende Wolken, to-sende Brandung kennzeichnen die Landschaft. Menschund Tier sind unverwechselbar anhand ihrer Physiogno-mie. Selbst Zwillinge gleichen sich nur wie „ein Ei demanderen“, also nicht hundertprozentig. In der Natur, wiesie sich unseren Augen darbietet, gibt es nichts Exak-tes – keine Würfel, keine Schrauben, keine rechtenWinkel, keine Treppen, keine Räder. Natur erscheintimmer zufällig hingeworfen, willkürlich, malerisch. Sogut wie alles, was uns technisch, regelmäßig, abgezir-kelt erscheint, ist von Menschenhand gemacht: Lego-steine, Plattenbauten, Dachziegel, Automotoren, Uhren.DIN-Normen stammen aus Menschenhand, nicht ausder Natur.

    Wo also sollte man ansetzen bei der Suche nach Kon-stanz? Logischerweise zunächst einmal beim Men-

    schen selbst. Längenmaße orientier-ten sich früher an den Abmes-

    sungen des Körpers:Fuß, Elle, Finger-

    breit, Schrittusw.; Flä-

    chenga-

    Foto: Sheila Terry/SPL/Agentur Focus

    Zum Vorbild nimmt der Mensch sich gerneselbst. Aber manche von ihnen, namentlichdie Metrologen, schwenken auf etwasDauerhafteres um – auf Naturkonstanten.

  • 2 Metrologens Lieblinge Aus den maßstäben Heft 7 „Die Unveränderlichen“ (2006)

    benbei-spiels-weise an,was man imLauf eines Tageslandwirtschaftlich bear-beiten konnte, etwa ein„Tagwerk“. Leider waren dieseMaße sehr ungenau, denn Menschen sindunterschiedlich groß und leistungsfähig. Mit demAufschwung des Handels auch über Dorf- und Landes-grenzen hinweg begann man deshalb mit ersten, zag-haften Versuchen, ein Maßsystem zu definieren, dasüberall gleich ist. Trotzdem gab es noch 1870 im Deut-schen Reich hunderte verschiedene Längen- und Flä-chenmaße – und entsprechend viele Irrtümer, Betrüge-reien, Missverständnisse und Umrechnungsprobleme.

    Die Franzosen waren da fortschrittlicher, vielleicht hatteauch die Französische Revolution den Boden bereitetfür derartige Neuerungen, und so erstaunt es nicht, dassdie nachhaltige Reform der Längenmaße von Parisausging: Als Standard sollte ab 1791 nicht mehr derMensch, sondern etwas viel Universelleres dienen: dieErde selbst nämlich. Charles Maurice de Talleyrand,damals Mitglied der französischen Nationalversamm-lung, begründete die Wahl so: „… das einzige Mittel ist,eine Einheit zu wählen, die nichts Willkürliches nochetwas der Lage irgendeines Volkes auf der WeltkugelSpezifisches enthält“, und so „billigt die Nationalver-sammlung die Größe des Viertels des Erdmeridians alsBasis des neuen Maßsystems.“ Sein Standard, dasMeter, wurde nun also definiert als der zehnmillionsteTeil eines Viertels des Erdumfangs, der durch die Polegeht und auf dem Äquator senkrecht steht. Mit derMeterkonvention von 1875 begann das Meter seinen

    inter-nationalen

    Siegeszug – zusammen mit dem Kilogramm, das direktdavon abgeleitet war, als die Masse eines Würfels derKantenlänge ein Dezimeter von reinem, destilliertemWasser bei vier Grad Celsius. Und noch eine weitereEinheit wurde zunächst von den Eigenschaften unseresPlaneten abgeleitet: die Sekunde, deren Länge sich ausden Rhythmen der Erde ergab.

    Doch Ende des 19. Jahrhunderts begannen einige Wis-senschaftler zu zweifeln, ob die Eigenschaften der Erdewirklich die nötige Sicherheit boten als Grundlage fürein universelles Maßsystem. 1870 forderte der britischeGelehrte James Clerk Maxwell, „die Einheiten derLänge, Zeit und Masse nicht in der Bewegung oderder Masse unseres Planeten zu suchen, vielmehr in derWellenlänge, Frequenz und Masse der unvergänglichen,unveränderlichen und vollkommen gleichartigen Mo-leküle“, womit man im damaligen Sprachgebrauch dieAtome meinte.

    Maxwell hatte sich schon lange mit der Untersuchungvon Gasatomen befasst und war sehr von der Tatsachebeeindruckt, dass sich alle Wasserstoffatome völliggleichen. Maxwell erkannte, dass die Ununterscheid-barkeit, das völlig Fehlen von Individualität etwas war,was die Atome von der lebenden Natur unterscheidet.

    Foto: Nasa/SPL/Agentur Focus

  • 3 Metrologens Lieblinge Aus den maßstäben Heft 7 „Die Unveränderlichen“ (2006)

    SeineForderung wurde er-füllt: 1927 wählte man die rote Emissionslinie desCadmiums als ersten atomaren Längenstandard, späterorientierte man sich am Schwingungsverhalten desEdelgases Krypton.

    Angesichts der Vielfalt in der Natur war es ein revolu-tionärer Gedanke, daran zu glauben, dass alles auseinheitlichen Bausteinen besteht, aus Bausteinen, diesich durch nichts unterscheiden, immer gleich groß,gleich schwer, gleich geladen sind. Und die sich auchimmer gleich verhalten: Da gibt es keinen Ermessens-spielraum, keine Abweichungen. Das Ganze lässt sichtatsächlich mit Zahlen beschreiben: mit Konstanten derNatur, beständig, unveränderlich, über Jahrtausendestabil, auf dem Mond oder Mars ebenso wie bei uns.

    Diese Zahlen mussten aber erst einmal entdeckt werden,und je tiefer die Physiker in die Geheimnisse der Natureindrangen, desto mehr solcher Konstanten fanden sie.Gleichzeitig wurden diese aber auch immer abstrakterund einem unmittelbaren Verständnis weniger zugäng-lich.

    Zunächst ging es aber noch ganz anschaulich zu: DerPhysiker Hermann von Helmholtz, ein Mann vongroßem Einfluss und Ansehen, der oft sogar scherzhaft„der Kanzler der deutschen Physik“ genannt wurde,postulierte 1881, dass es eine kleinste unteilbareelektrische Ladung geben müsse. Er hatte dies ausseinen Elektrolyse-Versuchen geschlossen. George

    Johnstone Stoney,ein Ire, machte

    ähnliche Experimente,fand die gleichen Ergebnisse

    und schlug auch sofort einenNamen für diese Elementarladung

    vor: Er nannte sie 1891 „electron“. Deramerikanische Physiker Robert A. Millikan

    konnte mit seinem berühmten Öltröpfchen-Experi-ment 1911 die Annahme bestätigen und ihren Wertbestimmen.

    Stoney, ein origineller und kreativer Kopf, der bis inshohe Alter wissenschaftliche Abhandlungen veröffent-lichte, war es auch, der zum ersten Mal in geradezuhellsichtiger Weise die Möglichkeit durchdachte, alleMaßeinheiten auf fundamentalen physikalischen Kon-stanten aufzubauen. Als Grundlage wählte er die Gra-vitationskonstante G, die 1666 von Newton postuliertund 1798 von Henry Cavendish gemessen worden war,die Lichtgeschwindigkeit c und natürlich e, die für ihnso wichtige Elementarladung. „Wir haben guten Grundzu der Annahme, dass wir mit c, G und e drei aus einerReihe systematischer Einheiten haben, die in einembesonderen Sinn Natureinheiten sind und in engerBeziehung zu den Vorgängen stehen, die im gewaltigenLaboratorium ablaufen, welches die Natur darstellt …“,schrieb er 1883. Aus reinen Dimensionsbetrachtungenentwickelte er aus diesem Trio von Konstanten Einhei-ten für Masse, Länge und Zeit, kam dabei aber aufextrem kleine Werte, die für eine praktische Anwendungnicht geeignet waren; seine Längeneinheit beispielswei-se betrug 10–34 Zentimeter. Damals fielen seine brillan-ten Überlegungen wieder dem Vergessen anheim, erstheute kann man erkennen, wie genial sie waren. Beträgtdoch die Planck-Länge, auf der die moderne Physikmanche ihrer Theorien aufbaut, etwa 10–33 Zentimeter.Neuerdings gehen beispielsweise einige Theoretiker derQuantengravitation davon aus, dass diese Längeneinheitdie Quantelung des Raums charakterisiert.

    Gra

    fiken

    (2)

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    b/P

    TB

  • 4 Metrologens Lieblinge Aus den maßstäben Heft 7 „Die Unveränderlichen“ (2006)

    Nach Stoney dauerte es fast 20 Jahre, bis der deutscheForscher Max Planck die Idee von Naturkonstanten alsFundamentalsystem wieder aufgriff. Aus seinen Arbei-ten zur Strahlung schwarzer Körper hatte er das nachihm benannte Wirkungsquantum h abgeleitet, das dieBeziehung zwischen Wellenlänge und Energie einesLichtquants charakterisiert. Damit hatte er eine weitereuniverselle Konstante beigesteuert. Planck hatte dasZiel, Einheiten zu schaffen, die nicht mehr auf mensch-liche Belange bezogen waren. In seinen Vorlesungen1906/07 erklärte er dies näher: „Demgegenüber dürftees nicht ohne Interesse sein, … Einheiten für Länge,Masse, Zeit und Temperatur aufzustellen, welcheunabhängig von speziellen Körpern oder Substanzenihre Bedeutung für alle Zeiten und für alle,auch außerirdische und außer-menschliche Kulturen notwen-dig behalten …können.“Seine Grundeinheitensind zwar bis heuteanerkannt, aberauch sie sindextrem kleinund spielendeshalb imAlltags-lebenkeineRolle.

    SowohlbeiStoneyals auchbei Planckspielt dieLichtge-schwindigkeiteine wichtigeRolle. Dass sieeine Naturkon-stante ist, überrasch-te und irritierte die Ge-meinde der Naturwissen-schaftler Ende des 19. Jahrhun-derts. 1887 hatten die amerikani-schen Forscher Albert Michelson undEdward Morley in einem der wichtigsten Experimenteder gesamten Wissenschaftsgeschichte gezeigt, dass dieLichtgeschwindigkeit im Vakuum von der Erdbewegungnicht beeinflusst wird. So verwirrend dieses Ergebniswar, konnte doch in einer Unzahl von Versuchen be-stätigt werden: Licht bewegt sich stur immer mit der-selben Geschwindigkeit c. Auch der österreichischeQuantenphysiker Anton Zeilinger staunt noch heute:„So wie bei der Naturkonstanten h ist es auch bei derLichtgeschwindigkeit nicht möglich, ihren genauenWert, ihre genaue Größe aus irgendeiner Theorieabzuleiten. Soviel wir heute wissen, ist sie einfachnaturgegeben.“

    Albert Einsteins Spezielle Relativitätstheorie war dieReaktion auf diese Erkenntnis. Wenn c sich nichtändert, muss etwas anderes variabel sein. Dass diesZeit und Raum sind, war für den gesunden Menschen-verstand schwer zu begreifen, und ein direkter Beweisetwa für die Veränderung der Zeit war jahrzehntelangnicht möglich. Erst im Jahr 1947 entdeckte man, dassMyonen – Elementarteilchen, die im Ruhezustand nur2,2 Mikrosekunden lang leben, bevor sie zerfallen – inder Höhenstrahlung um ein Vielfaches länger existierenals in Ruhe. Diese Beobachtung war ein Beleg, dass dieZeit in schnell bewegten Systemen langsamer abläuft.

    All dies gilt heute als gesichert. Darüber hinaus hat dieWissenschaft inzwischen noch weitere

    Naturkonstanten entdeckt, beispiels-weise die Feinstrukturkon-

    stante, das magnetischeFlussquant, die Jo-

    sephson-Konstanteund die von-Klit-

    zing-Konstante,die allesamt auf

    inneratomarenoder quan-tenmecha-nischenVorgängenberuhen.Aber dieForschungbleibtnichtstehen.

    Und sierüttelt

    erneut anden Grund-

    festen derPhysik, etwa an

    der Konstanz derLichtgeschwindig-

    keit. Vor allem dieGravitationsforscher ent-

    wickeln Theorien, gemäßdenen sich die Lichtgeschwindigkeit

    seit dem Urknall geändert haben könnte –wenig nur, aber vielleicht messbar. So stehen wir heuteerneut vor der Erkenntnis, dass es mit einer absolutenSicherheit gar nicht so weit her ist: Vielleicht belegenBeobachtungen im Weltall oder an den großen Teilchen-beschleunigern in den kommenden Jahren, dass eineunserer wichtigsten Konstanten gar nicht konstant ist.

    BRIGITTE RÖTHLEIN

    Bilder (S. 10 bis S. 13):Maß nehmen in vier Stationen:Mensch – Erde – Atom – Naturkonstanten