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1 „Autismus – ja oder nein?“ – Fragen und Probleme der Diagnostik bei Autismus Dr. med. Ekkehart D. Englert Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie HELIOS Klinikum Erfurt 2 (c) Dr. med. Ekkehart D. Englert, Erfurt, April 2008 23. Septemb 3 (c) Dr. med. Ekkehart D. Englert, Erfurt, April 2008 23. Septemb 4 Diagnostik autistischer Störungen Leo Kanner (1896 – 1981) 1943: „Autistische Störungen des affektiven Kontakts“ Hans Asperger (1906 – 1980) 1944: „Die autistischen Psychopathen im Kindesalter“ (c) Dr. med. Ekkehart D. Englert, Erfurt, September 2010 5 ICD-10-Kategorien F84.0 Frühkindlicher Autismus (Kanner-Syndrom, Infantiler Autismus) F84.1 Atypischer Autismus (Autistische Störung) F84.10 Atypischer Autismus, atypisches Erkrankungsalter F84.11 Atypischer Autismus, atypische Symptomatik F84.12 Atypischer Autismus, atypisches Erkrankungsalter und atypische Symptomatik F84.5 Asperger-Syndrom (Autistische Psychopathie, Schizoide Störung des Kindesalters) F84 Tiefgreifende Entwicklungsstörungen (c) Dr. med. Ekkehart D. Englert, Erfurt, September 2010 6 www.leitlinien.net

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„Autismus – ja oder nein?“ –Fragen und Probleme der Diagnostik bei AutismusDr. med. Ekkehart D. Englert

Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie

HELIOS Klinikum Erfurt2(c) Dr. med. Ekkehart D. Englert, Erfurt, April 2008 23.

Septemb

3(c) Dr. med. Ekkehart D. Englert, Erfurt, April 2008 23. Septemb

4

Diagnostikautistischer Störungen

Leo Kanner (1896 – 1981)

1943: „Autistische Störungen

des affektiven Kontakts“

Hans Asperger (1906 – 1980)

1944: „Die autistischenPsychopathen imKindesalter“

(c) Dr. med. Ekkehart D. Englert, Erfurt, September 2010

5

ICD-10-Kategorien

F84.0 Frühkindlicher Autismus (Kanner-Syndrom,Infantiler Autismus)

F84.1 Atypischer Autismus (Autistische Störung)F84.10 Atypischer Autismus, atypisches ErkrankungsalterF84.11 Atypischer Autismus, atypische SymptomatikF84.12 Atypischer Autismus, atypisches Erkrankungsalter

und atypische Symptomatik

F84.5 Asperger-Syndrom (Autistische Psychopathie,Schizoide Störung desKindesalters)

F84 Tiefgreifende Entwicklungsstörungen

(c) Dr. med. Ekkehart D. Englert, Erfurt, September 2010 6

www.leitlinien.net

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Grundsätzliches…

• Es gibt keinen beweisenden Autismus-Test!

• Es ist eine klinische Diagnose – spezielle Fragebogen- und Testverfahren können dazu wichtige Anhaltspunkte liefern

• Symptome des Autismus können mit unterschiedlichem Schweregrad und in verschiedensten Kombinationen auftreten.

• Daher: neuere Begrifflichkeit: Autismus-Spektrum-Störungen

• Hypothese eines den autistischen Störungen zugrunde liegenden Kontinuums:

- „Frühkindlicher Autismus“ (Kanner) als schwerste Form und

- Asperger-Syndrom als leichtere Variante mit besseren intellektuellen Fähigkeiten und frühem Spracherwerb.

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Diagnostikautistischer Störungen

A Auffällige/beeinträchtigte Entwicklung bis einschließlich 36. Lebensmonat

B1 Qualitative Auffälligkeit der gegenseitigen sozialen Interaktion

B2 Qualitative Auffälligkeit der Kommunikation/Sprache

B3 Begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster

C Das klinische Bild kann nicht durch andere Erkrankungen erklärt werden.

Leitsymptome

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Diagnostikautistischer Störungen

B1 Qualitative Auffälligkeit der gegenseitigen sozialen Interaktion

• Unfähigkeit, soziale Interaktionen durch nicht-verbales Verhalten zu regulieren (Blickkontakt, soziales Lächeln, subtiles Minenspiel, mimischer Ausdruck von Gefühlen; interaktionsbegleitendes Minenspiel fehlt weitgehend),

• Unfähigkeit, Beziehung zu Gleichaltrigen aufzunehmen (ausgeprägter Mangel an Interesse an anderen Kindern, an Phantasiespielen mit Gleichaltrigen, fehlende Reaktion auf Annäherungsversuche anderer, Unfähigkeit, Freundschaft einzugehen),

Leitsymptome

(c) Dr. med. Ekkehart D. Englert, Erfurt, September 2010 10

Diagnostikautistischer Störungen

B1 Qualitative Auffälligkeit der gegenseitigen sozialen Interaktion

Leitsymptome

• Mangel an mit anderen geteilter Aufmerksamkeit oder Freude (andere werden nicht auf Dinge gelenkt, um sie daran zu interessieren),

• Mangel an sozio-emotionaler Gegenseitigkeit (Annäherungsversuche des Kindes und seine Reaktionen in sozialen Situationen unangemessen oder unpassend, Gefühlsäußerungen, wie jemand zu trösten, fehlen, andere Personen scheinen wie Gegenstände benutzt zu werden).

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Diagnostikautistischer Störungen

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Diagnostikautistischer Störungen

B2 Qualitative Auffälligkeit der Kommunikation/Sprache

• Bei der Hälfte der Kinder mit frühkindlichem Autismus entweder keine oder unverständliche Sprache.

• Keine Kompensation der mangelnden Sprachfähigkeiten durch Mimik oder Gestik, kein spontanes Imitieren der Handlungen anderer, kein spontanes oder phantasievolles Spielen bzw. Symbolspielen.

• Stereotype, repetitive oder idiosynkratische sprachliche Äußerungen (neologische Wortbildungen, Vertauschung der Personalpronomina, verzögerte Echolalie, kein sprachlicher Austausch im Sinne einer informellen Konversation).

Leitsymptome

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Diagnostikautistischer Störungen

(c) Dr. med. Ekkehart D. Englert, Erfurt, September 2010 14

Diagnostikautistischer Störungen

B3 Begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster• Ausgedehnte Beschäftigung mit stereotypen, ungewöhnlichen

Handlungen und eng begrenzten Spezialinteressen (zwanghaftes Festhalten an nicht-funktionalen Handlungen / Ritualen, extrem ängstliche oder beunruhigte Reaktion bei Unterbrechen dieser Handlung),

• Stereotype und repetitive motorische Manierismen (Drehen/Flackern der Finger vor den Augen, Schaukeln, Auf- und Ab-Hüpfen),

• Beschäftigung mit Teilobjekten oder nicht-funktionellen Elementen von Gegenständen (ungewöhnliches Interesse an sensorischen Teilaspekten wie am Anblick, Berühren, an Geräuschen, am Geschmack oder Geruch von Dingen oder Menschen).

Leitsymptome

(c) Dr. med. Ekkehart D. Englert, Erfurt, September 2010

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Diagnostikautistischer Störungen

(c) Dr. med. Ekkehart D. Englert, Erfurt, September 2010 16

Neuropsychologische Befundebei autistischen Störungen

„Theory of Mind“ (ToM)

• Sammelbegriff für Kognitionen, die es einem Menschen ermöglichen, fremdes und eigenes Verhalten und Erleben zu erkennen, verstehen, erklären, vorherzusagen und zu kommunizieren (Baron-Cohen et al., 2000).

• Studien konnten bei Personen mit Autismus oder Asperger-Syndrom Schwierigkeiten bei der Bewältigung von Aufgaben zeigen, die Fähigkeiten im Bereich der ToM voraussetzen.

• Dazu zählen u.a. sog. „false-belief“- oder „deception“-Tests, zu deren erfolgreicher Bewältigung die Fähigkeit, eines inter-personellen Perspektivenwechsels notwendig ist, so dass Täuschungen durchschaut sowie subjektive und objektive Annahmen und Informationen unterschieden werden können.

(c) Dr. med. Ekkehart D. Englert, Erfurt, September 2010

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Neuropsychologische Befundebei autistischen Störungen

„Theory of Mind“ (ToM)• Baron-Cohen, Leslie & Frith (1985):

Does the autistic child have a theory ofmind?

False Belief Test(Sally-Anne-Test)

(c) Dr. med. Ekkehart D. Englert, Erfurt, September 2010 18

Epidemiologieautistischer Störungen

• Neuere epidemiologische Untersuchungen kommen auf wesentlichhöhere Prävalenzraten als Studien der 70er und 80er Jahre.

• Höchstwahrscheinlich liegt kein tatsächlicher Anstieg des Autismusvor, sondern eine bessere Diagnostik und größere Sensibilität sowiesorgfältigere Untersuchungsdesigns.

• Bis vor kurzem wurde eine Häufigkeit des Autismus von circa5/10.000 angenommen.

• Nach einer jüngeren Studie von Chakrabarti und Fombonne (2001)anhand einer Population von 15.500 Vorschulkindern (2,5 bis 6,5Jahre) in Südengland kann allerdings eine Prävalenz von16,8/10.000 angenommen werden.

• Die Häufigkeit des Asperger-Syndroms liegt demnach bei8,4/10.000.

(c) Dr. med. Ekkehart D. Englert, Erfurt, September 2010

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Epidemiologieautistischer Störungen

Prävalenz Tiefgreifende Entwicklungsstörungen (DSM-IV)pro 10.000 Bevölkerung

299.0 Autistische Störung 16,8299.80 Asperger Syndrom 8,4299.80 Rett-Syndrom 0,6299.10 Desintegrative Strg. des Kindesalters 0,6299.9 N. näher bez. Tiefgr. Entwicklungsstörg. 36,1299 Tiefgreifende Entwicklungsstörungen gesamt 62,6

Chakrabarti S, Fombonne E. Pervasive developmental disorders in preschool children. JAMA 2001;285:3093–9.

Autismus ist bei Jungen 3 bis 4-mal häufiger anzutreffen alsbei Mädchen, beim Asperger-Syndrom ist dieses Missver-hältnis noch deutlicher.

(c) Dr. med. Ekkehart D. Englert, Erfurt, September 2010 20

FALLBEISPIELStationäre Diagnostik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie

(c) Dr. med. Ekkehart D. Englert, Erfurt, September 2010

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Aufnahme

Markus• Der 8½ jährige Junge wurde in Begleitung seiner Eltern nach Einweisung

durch die Kinderärztin stationär bei uns vorstellig. • Auf Anregung der Lehrerin und der Mutter war die Vorstellung zunächst in

unserer Institutsambulanz erfolgt. • Dort fiel die Entscheidung für eine stationäre Verhaltensbeobachtung und

Therapie.

22

Aufnahme

In der Schule wurden Verhaltens-auffälligkeiten beobachtet:

• Markus ziehe sich stark zurück, kaum ein Erwachsener könne Zugang zu ihm finden,

• der Junge „lebe in seiner eigenen Welt“ und

• könne keine Emotionen zeigen, • könne nicht ausgelassen sein, • er lese sehr gut, jedoch ohne

emotionale Beteiligung. • Aus unerkennbarem Anlass

quiekse, brülle oder schreie der Junge oder weine mitunter.

• Von Mitschülern werde er aufgrund seines Verhaltens zeitweise belächelt oder abgelehnt.

• Er habe keine Freunde.

An welche Diagnosen denken Sie bei der Beschreibung?

1. Soziale Ängstlichkeit / Phobie

2. Frühkindlicher Autismus

3. Störung des Sozialverhaltens

4. Asperger-Syndrom

5. Tourette-Syndrom

?

23

AnamneseDie Mutter berichtet:• Einzelkind• Eltern trennten sich, als M. 2 Jah-

re alt war.• SS, Geburt, postpartale Entwick-

lung komplikationslos, • Sprachentwicklung zeitgerecht, • Sauberkeitsentwicklung verzögert. • Mit 2½ Jahren Besuch des Kinder-

gartens, dort Kontaktstörungen mit Gleichaltrigen.

• Im Verlauf mehrere Schulwechsel, jeweils mit Eingewöhnungs-schwierigkeiten aber

• sehr guten Schulleistungen.• Keine familiären Belastungen,

insbesondere hinsichtlich neuro-psychiatrischer Erkrankungen.

Welche der Diagnosen können Sie bereits jetzt ausschließen?

1. Soziale Ängstlichkeit / Phobie

2. Frühkindlicher Autismus

3. Störung des Sozialverhaltens

4. Asperger-Syndrom

5. Tourette-Syndrom

?

24

Verhalten auf Station

• Er verhielt sich sehr ruhig, war schüchtern, weinerlich, nahm Aktivitäten kaum an.

• Markus spielte zu Beginn aus-schließlich allein und ließ sich auch von Mitpatienten nicht zum Spiel animieren.

• Mit seiner einzelgängerischen Art stieß er bei seinen Mitpatienten auf Ablehnung. Gegenüber Hänseleien zeigte er sich unsicher, zurückhaltend.

• Nach einer Woche begann der Junge vereinzelt mit den Kindern zu spielen, reagierte aber schnell gereizt, wenn z.B. nicht nach seinen Vorstellungen mit Lego gebaut wurde.

Welche Diagnose können Sie ebenfalls ausschließen?

1. Soziale Ängstlichkeit / Phobie

2. Störung des Sozialverhaltens

3. Asperger-Syndrom

4. Tourette-Syndrom

• Betreuern und Therapeuten gegenüber war er stets höflich und freundlich.

• In den Gruppenrunden bemühte er sich, sich an die Regeln zu halten.

• Beim freien Spiel in der Einzel-situation konnte sich Markus gut auf eine Zusammenarbeit mit der Therapeutin einlassen und war gut führbar.

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Psychopathologischer Befund

• Der 8;5jährige Junge wirkte bei der Aufnahme sehr zurückhaltend.

• Er antwortete zögerlich auf Fra-gen, brachte sich jedoch nicht aktiv in das Gespräche ein.

• Die Mutter war sehr besorgt um das leibliche Wohl ihres Sohnes und wirkte ängstlich.

• Markus’ Stimmung erschien ge-drückt, affektiv war er kaum schwingungsfähig, sowohl im An-trieb als auch im Antwortverhal-ten leicht verlangsamt.

• Kein Hinweis auf inhaltliche oder formale Denkstörungen bzw. Wahrnehmungsstörungen oder Ich-Störungen. Kein Anhalt für Suizidalität.

Welche Diagnose können Sie ebenfalls ausschließen?

1. Soziale Ängstlichkeit / Phobie

2. Asperger-Syndrom

3. Tourette-Syndrom

• Während der gesamten Zeit (5 Wochen stationärer Aufenthalt) keine Anzeichen für Tics oder andere Störungen der Motorik.

• Motorik recht ungeschickt, moto-rischer Entwicklungsrückstand bekannt, „immer schon Probleme im Sport“.

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Testpsychologische Befunde1. Psychopathologie – Fremdurteil Eltern

• CBCLbewertet von Mutter

Gesamt T-Wert 73

• Internalis. 73• External. 67

Höchste Werte in den Skalen:

• Social Problems 83• Withdrawn 81• Thought Probl. 70

28

Testpsychologische Befunde2. Psychopathologie – Fremdurteil Lehrer

• TRFbewertet von Klassenlehrerin

Gesamt T-Wert 65

• Internalis. 68• External. 59

Höchste Werte in den Skalen:

• Thought Probl. 85• Withdrawn 73• Social Problems 70

29

Testpsychologische Befunde2. Psychopathologie – Fremdurteil Lehrer

• TRFbewertet von Klassenlehrerin

30Folie: 30

Testpsychologische Befunde.

31

Testpsychologische Befunde3. Leistungsdiagnostik Intelligenz

• HAWIK-IIIGesamt-IQ 122

• Signifikante Diskrepanz zw. lernabhängigem Verbalteil (IQ=128) und der handlungspraktischen Intelligenz (IQ=109)

• Die Bereiche Konzentration und Arbeitsgeschwindigkeit sind altersentsprechend bis leicht überdurchschnittlich.

• Es fällt ihm schwer soziale Zusammenhänge zu erkennen und entsprechend zu interpretieren.

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Testpsychologische Befunde4. Leistungsdiagnostik Motorik• KTK

Gesamt-MQ 59

• Unter Berücksichtigung der Fehlertoleranz (+/- 9,3 MQ-Punkte) liegt dieser Wert im deutlich auffälligen Bereich (MQ < 70) und

• entspricht einem motori-schen Entwicklungsalter von ca. 5 Jahren

• Sein Muskeltonus wirkt leicht herabgesetzt.

• Markus verhält sich bewegungsunlustig und leicht frustrierbar.

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Befunde aus der Therapie

• GruppentherapieAufforderung: schreibt/malt auf die linke Seite, was Ihr besonders mögt und auf die rechte Seite, was Ihr nicht mögt.

• Kommentar: „Mir gefällt nur alles, was alt ist.“

• Der Junge hatte sich bereits bei seiner Therapeutin darüber beschwert, dass die Eltern einen neuen TV angeschafft hatten.

34

Befunde aus der Therapie

• Während der stationären Behandlung wurde deutlich, dass Zahlen und die Uhrzeit wichtig für den Jungen sind,

• z.B. dokumentierte er jeden Tag die Zahl der Folge einer Kindersendung („Wissen macht Ah!“). Er habe ein Mal in der Fernsehzeitung die Zahl der Folge gelesen und nun zähle er jeden Tag welche Folge ausgestrahlt wird, wenngleich er die Sendung nicht sehen konnte.

• Sonderinteressen:• Sammeln von Fernsehzeitschriften,• Genaue Sendezeiten und Serien-Nummern,• PC-Betriebssysteme (kennt sich mit den genauen

Bezeichnungen und Erscheinungsdaten aus).35

Diagnose

F84.5 Asperger Syndrom a. Es fehlt eine klinisch eindeutige allgemeine Verzögerung der

gesprochenen oder rezeptiven Sprache oder der kognitiven Entwicklung.

• Selbsthilfefertigkeiten, adaptives Verhalten und die Neugier an der Umgebung sollten während der ersten drei Lebensjahre einer normalen intellektuellen Entwicklung entsprechen.

• Allerdings können Meilensteine der motorischen Entwicklung etwas verspätet auftreten und eine motorische Ungeschicklichkeit ist ein häufiges (aber kein notwendiges) diagnostisches Merkmal.

• Isolierte Spezialfertigkeiten, oft verbunden mit einer auffälligen Beschäftigung sind häufig, aber für die Diagnose nicht erforderlich.

b. Qualitative Beeinträchtigungen der gegenseitigen sozialen Interaktion (entsprechend den Kriterien für Autismus).

36

Diagnose

F84.5 Asperger Syndrom c. Ein ungewöhnlich intensives umschriebenes Interesse oder

begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten (motorische Manierismen eher ungewöhnlich).

d. Die Störung ist nicht • einer anderen tiefgreifenden Entwicklungsstörung, • einer schizotypen Störung (F21), • einer Schizophrenia simplex (F20.6), • einer reaktiven Bindungsstörung des Kindesalters oder • einer Bindungsstörung mit Enthemmung (F94.1 und F94.2),• einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung (F60.5) oder • einer Zwangsstörung (F42)

zuzuordnen.

37

Diagnosen gemäß Multiaxialem Klassifikationsschema:Achse I Klinisch-psychiatrisches Syndrom (ICD-10):

F84.5 Asperger SyndromAchse II Umschriebene Entwicklungsstörungen (ICD-10):

F82 Umschriebene Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen

Achse III Intelligenzniveau:2 überdurchschnittliche Intelligenz

Achse IV Körperliche Symptomatik (ICD-10):- keine -

Achse V Assoziierte aktuelle abnorme psychosoziale Umstände:5.1 Abweichende Elternsituation

Achse VI Globalbeurteilung der psychosozialen Anpassung:3 Mäßige soziale Beeinträchtigung in Familie und Schule

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38(c) Dr. med. Ekkehart D. Englert, Erfurt, September 2010

Komorbiditätautistischer Störungen

Multiaxiale Einordnung

Achse I- klinisch-psychiatrisches Syndrom• Häufige komorbide Störungen sind Konzentrations- und Aufmerksamkeits-

defizite im Sinne einer hyperkinetischen Störung bei fast der Hälfte derKinder mit Autismus sowie

• Ticstörungen.• Häufig schwerwiegende Begleitsymptome sind:

- Selbstverletzungen,- Probleme der Sauberkeitsentwicklung,- Ess- und Schlafprobleme.

Achse II - umschriebene Entwicklungsstörungen• Erhebliche Sprachdefizite unterschiedlichen Ausmaßes,• Probleme der Lesefähigkeit überdurchschnittlich häufig,• (fein-) motorische Defizite.

39

Komorbiditätautistischer Störungen

Multiaxiale Einordnung

Achse III - Intelligenz

• Intellektuelle Behinderung in 30-50-75% der Fälle (II) und/oder

• spezielle Probleme der sozialen Wahrnehmung bei besserer Gestaltwahr-nehmung bzw.

• neuropsychologisch verifizierbare Defizite- der Exekutivfunktionen (Probleme der Handlungsplanung, Handlungskontrolle),- der zentralen Kohärenz (partialisierte Reizwahrnehmung, die den Gesamtzu-

sammenhang zugunsten des Einzelreizes vernachlässigt) und- der „Theory of Mind“ (eigene und fremde Gedanken erkennen, z. B. am jeweiligen

Ausdrucksverhalten) (II).

• Spezifische Intelligenzstrukturen (Rühl et al., 1995) mit sehr individuellenBegabungsprofilen.

(c) Dr. med. Ekkehart D. Englert, Erfurt, September 2010

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Komorbiditätautistischer Störungen

Multiaxiale Einordnung

Achse IV - körperliche Symptomatik• Epileptische Anfälle in bis zu 30% der Fälle,• häufig hypotoner Muskeltonus und/oder motorische Unbeholfenheit,

„Clumsiness”

Achse V – abnorme psychosoziale Bedingungen• Häufig gewaltige Überforderung der Bezugspersonen des Kindes,• depressive Symptomatik,• überprotektive Schutzhaltung,• Zerbrechen der Familie (unvollständige Familie).

Achse VI – Globale Beurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus• Die Pflegebedürftigkeit des betroffenen Patienten ist in der Regel

überdurchschnittlich hoch (III).

(c) Dr. med. Ekkehart D. Englert, Erfurt, September 2010 41

Diagnostikautistischer Störungen

• Diagnostik meist ambulant möglich, nur in Ausnahmefällen (teil-)stationär.

• Diagnostik sollte die Möglichkeit für Haus-/ Schul-/ Werkstattbesucheeinschließen, um die Patienten in ihrer gewohnten Alltagsumgebung ein-schätzen zu können. Gerade autistische Menschen zeigen in fremder Umge-bung veränderte/ eingeschränkte Verhaltensweisen, sind stark irritiert oderverweigern sich.

• Die Diagnose muss von speziell geschulten Personen unter Verwendungautismus-spezifischer standardisierter Instrumente erfolgen.

• Differenzierte psychologische Intelligenz- und Leistungsmessung zureingehenden Erfassung durch die Symptomatik verdeckter Ressourcen mitErstellung individueller Leistungsprofile.

• Bei fehlendem Instruktionsverständnis und fehlender Kooperationsfähigkeitkann die Einschätzung des Funktionsniveaus zum Beispiel durch dieVineland-Skalen (Vineland Adaptative Behavior Scale) durchgeführt werden.

Diagnostische Vorgehensweisen:

(c) Dr. med. Ekkehart D. Englert, Erfurt, September 2010

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Diagnostikautistischer Störungen

• somatische Untersuchungen:- Hörprüfung (wegen der mangelnden Reaktion auf akustische Reize oft

schwer differenzierbar),

- Sehprüfung (oft nicht sicher einschätzbar),

- Neurologische Untersuchung (zur Beurteilung der motorischen Behin-derung, zur Differentialdiagnose),

- EEG (wegen der erhöhten zerebralen Erregungsbereitschaft),

- Mindestens einmal eine Untersuchung mit Hilfe eines bildgebendenVerfahrens (CT, MRT) zum Ausschluss einer organischen Erkrankungwie z. B. einer tuberösen Hirnsklerose,

- Chromosomale Untersuchung zur Auffindung chromosomalerAberrationen und molekulargenetische Untersuchung zur Differenzierungvon möglichen Begleiterkrankungen wie dem fragilen X-Syndrom.

Diagnostische Vorgehensweisen:

(c) Dr. med. Ekkehart D. Englert, Erfurt, September 2010 43

Diagnostikautistischer Störungen

Empfohlene Untersuchungsinstrumente:- Autismus-Diagnostische Interview-Revision (ADI-R) und - Autismus-Diagnostisches Beobachtungs-Instrument (ADOS).

Beide Instrumente verlangen eine intensive Schulung!- Reading Mind in the Eyes Test

Zum Screening empfehlen sich Fragebögen - Fragebogen zur Sozialen Kommunikation (FSK),- Skala zur Erfassung sozialer Reaktivität (SRS).

Speziell zum Asperger-Syndrom:- Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom (MBAS)

Weitere Verfahren: - die Autismus-Beurteilungs-Skala (CARS) oder - die Autismus-Verhaltensliste (ABC).

Diagnostische Vorgehensweisen:

(c) Dr. med. Ekkehart D. Englert, Erfurt, September 2010

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44

Diagnostikautistischer Störungen

• Schwere und Schwerste Intelligenzminderung (IQ<35) (F72, F73):Jede Form der Kommunikation und des sozialen Kontakts dieser Kinder spricht gegen die Diagnose eines Autismus.

• Expressive (F80.1) und rezeptive (F80.2) Sprachstörung:Insgesamt sind Ausmaß und Qualität des Sozialkontakts sowie Versuche der Kompensation von Kommunikationsdefiziten durch non-verbale Verhaltensweisen in der Regel höher als bei autistischen Störungen.

• Kinder mit Bindungsstörungen (F94.1, F94.2) oder deprivierte Kinder (Z62.4, Z62.5) zeigen nach einigen Monaten in adäquatem Umfeld im Vergleich zu Patienten mit Autismus deutliche Verbesserungen kommunikativer und sozialer Funktionen.

Differenzialdiagnostik:

(c) Dr. med. Ekkehart D. Englert, Erfurt, September 2010 45

Diagnostikautistischer Störungen

• Bei früh beginnenden Schizophrenien (F20) zumeist auch Positivsymptome, wie Wahn und Halluzinationen. Unterschiede im Zeitpunkt des Beginns, des Verlaufs und der Wirksamkeit antipsychotischer Medikation.

• Schwierige Differenzialdiagnostik von schizoider Persönlichkeits-störung (F60.1) und Asperger-Syndrom.Patienten mit Asperger-Syndrom weisen jedoch

- anamnestisch eine klarere Biographie auffälligen Verhaltens auf,- haben meist begrenztere alltagspraktische Fähigkeiten und - einen höheren primären Leidensdruck.

• Bei Mutismus (F94.0) und Angstsyndromen (F41) liegen u.a. eine deutlich bessere soziale Reaktivität, angepasstere Mimik und Gestik sowie besserer Blickkontakt vor mit unauffälligem Sprachgebrauch in vertrauter Umgebung.

Differenzialdiagnostik:

(c) Dr. med. Ekkehart D. Englert, Erfurt, September 2010

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Diagnostikautistischer Störungen

Asperger – ADS:

• ADS – Kinder

- erscheinen zeitweise gedankenverloren, wie in ihrer eigenen Welt zu sein,

- starren manchmal unverwandt vor sich hin,

- reagieren dabei nicht auf Außenreize,

- scheinen „ein anderes Tempo“ zu haben, scheinbar abgekoppelt von der sozialen Umgebung.

Differenzialdiagnostik:

(c) Dr. med. Ekkehart D. Englert, Erfurt, September 2010 47

Diagnostikautistischer Störungen

Asperger – ADS:

• Beide Krankheitsgruppen zeigen

- Defizite im Bereich der sozialen Interaktion und Kommunikation,

- Beeinträchtigungen von Aufmerksamkeitsleistungen,

- Exekutiver Funktionen (Geurts et al., 2004) und

- Schwierigkeiten bei der korrekten Erkennung und Zuord-nung fazialer Affekte (Downs & Smith, 2004).

- Genetikstudien deuten auf eine gemeinsame neurobiolo-gische Basis hin (Smalley et al., 2002).

- Außerdem werden Überschneidungen in funktionell bildge-bendenVerfahren, insbesondere hinsichtlich

Veränderungen an zerebellären Strukturen (Chugani, 2000; Durston, 2004) und

fronto-striatalen Strukturen (Faraone & Biedermann, 1998; Eliez & Reiss, 2000) beschrieben.

Differenzialdiagnostik:

(c) Dr. med. Ekkehart D. Englert, Erfurt, September 2010

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Diagnostikautistischer Störungen

Asperger – ADS:

• Aber: AD(H)S – Kinder - sind durchaus beziehungsfähig, haben Freundschaften,

- können liebevoll, einfühlsam sein,

- haben selten Kommunikationsprobleme,

- sind lebendig und emotional im mimischen und gestischen Ausdruck,

- lieben die Abwechslung und

- neigen kaum zu starren Zwangsritualen,

- suchen eher nach aufregenden Außenreizen und Abenteuer.

Differenzialdiagnostik:

(c) Dr. med. Ekkehart D. Englert, Erfurt, September 2010 49

Verlauf und Prognoseautistischer Störungen

• Die ersten Daten zum Verlauf des Autismus von Leo Kanner zeigten bei 12 von 96 Patienten eine Verselbständigung im Erwachsenenalter. Diese Patienten waren mindestens durchschnittlich begabt und die günstige Entwicklung begann zumeist in der Adoleszenz.

• Gemäß einer japanischen Studie von Kobayashi et al. (1992) sind bei über 40% der Patienten Verhaltensverbesserungen im Erwachsenenalter zu erwarten.

• In einer Übersichtsarbeit von Howlin und Goode (1998), die 15 Verlaufsstudien berücksichtigte, wurde der

- Prozentsatz der remittierten Patienten mit 30% bis 80% und - derjenigen mit einem nicht näher definierten guten Ergebnis von 3% bis

38% angegeben.

(c) Dr. med. Ekkehart D. Englert, Erfurt, September 2010