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Seite 1 von 10 „Wer ist die Stärkste im ganzen Land?“ Bewältigung eines pränatalen Traumas in Form eines „Tonfeld-Theaters“ Autorin: Mag. a Elisabeth Feigl, MAS Pädagogin, Erwachsenenbildnerin und zertifizierte Tonfeldbegleiterin für Kinder, Jugendliche und Erwachsene Beitrag im Rahmen der ISPPM-Jahrestagung in Fulda (25.-27.10.2019) zum Thema „Traumati- sche Geburtserfahrung als lebenslanger Belastungsfaktors“ 1 Einleitendes Aus meiner Arbeit in der Erwachsenenbildung im Bereich Basisbildung und Spracherwerb kenne ich viele Beispiele von Menschen mit unterschiedlichsten Lernblockaden, die keinen positiven Schulabschluss schaffen/geschafft haben und dann als funktionale Analphabeten gelten. 2 Sie berichten mitunter von innerer Unruhe, zeigen starke Spannungen oder erschei- nen wie nicht anwesend. Bei genauerem Nachfragen wird oft deutlich, dass diese Menschen in ihrem Leben starke, negative Erlebnisse hatten - wie schwere Krankheiten, familiäre Prob- leme, Migrations- oder Fluchterfahrungen -, die sie nicht verarbeiten konnten, und die in Folge u.a. zu Lernhemmnissen führen. Sehr oft liegen diese Ereignisse weit zurück, sind etwa prä- oder perinatal, und können verbal weder angesprochen noch gelöst werden. Die phänomenologische Methode Arbeit am Tonfeld® ermöglichte es mir so erstmalig, derar- tige Barrieren zu überwinden und mit entwicklungsverzögerten oder verhaltensauffälligen Kindern und Erwachsenen an den „Bruchstellen“ bzw. Traumen 3 zu arbeiten, denn: „Jegliches Bewegtsein, das uns erschüttert oder berührt, meldet sich in unseren Händen, wenn wir vor dem Tonfeld sitzen und uns in unserer bipolaren Gegenseitigkeit ausrichten. […] Fahrige Unruhe breitet sich zum Beispiel aus oder Erschütterungen gehen durch den ganze Körper (bei Traumatisierungen z.B.), der Herzschlag erhöht sich, wir fangen an zu schwitzen. Organ des haptischen Erlebens und haptischen Vollzugs sind unsere Hände. Mit ihnen tragen wir uns vor – bewegend und gestaltend.“ (Deuser 2018/1: S. 116) 1 https://isppm.de/ 2 Die PIAAC-Studie zeigt, dass etwa jede/r siebente ÖsterreicherIn Schwierigkeiten hat, längere Texte sinnerfas- send zu lesen. 3 In der Arbeit am Tonfeld® definieren wir Trauma als einen Bruch in der Bewegung (vgl. auch Referat meiner Vorrednerin Gerhild Tschachler).

„Wer ist die Stärkste im ganzen Land?“...Wie die Haltungen, Gesten und Äußerungen Simones zeigten, hatte sie ein negatives, abwer-tendes Selbstbild, das von Scham geprägt war,

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„Wer ist die Stärkste im ganzen Land?“

Bewältigung eines pränatalen Traumas in Form eines „Tonfeld-Theaters“

Autorin: Mag.a Elisabeth Feigl, MAS

Pädagogin, Erwachsenenbildnerin und zertifizierte Tonfeldbegleiterin für Kinder, Jugendliche

und Erwachsene

Beitrag im Rahmen der ISPPM-Jahrestagung in Fulda (25.-27.10.2019) zum Thema „Traumati-

sche Geburtserfahrung als lebenslanger Belastungsfaktors“1

Einleitendes

Aus meiner Arbeit in der Erwachsenenbildung im Bereich Basisbildung und Spracherwerb

kenne ich viele Beispiele von Menschen mit unterschiedlichsten Lernblockaden, die keinen

positiven Schulabschluss schaffen/geschafft haben und dann als funktionale Analphabeten

gelten. 2 Sie berichten mitunter von innerer Unruhe, zeigen starke Spannungen oder erschei-

nen wie nicht anwesend. Bei genauerem Nachfragen wird oft deutlich, dass diese Menschen

in ihrem Leben starke, negative Erlebnisse hatten - wie schwere Krankheiten, familiäre Prob-

leme, Migrations- oder Fluchterfahrungen -, die sie nicht verarbeiten konnten, und die in Folge

u.a. zu Lernhemmnissen führen. Sehr oft liegen diese Ereignisse weit zurück, sind etwa prä-

oder perinatal, und können verbal weder angesprochen noch gelöst werden.

Die phänomenologische Methode Arbeit am Tonfeld® ermöglichte es mir so erstmalig, derar-

tige Barrieren zu überwinden und mit entwicklungsverzögerten oder verhaltensauffälligen

Kindern und Erwachsenen an den „Bruchstellen“ bzw. Traumen3 zu arbeiten, denn:

„Jegliches Bewegtsein, das uns erschüttert oder berührt, meldet sich in unseren Händen,

wenn wir vor dem Tonfeld sitzen und uns in unserer bipolaren Gegenseitigkeit ausrichten.

[…] Fahrige Unruhe breitet sich zum Beispiel aus oder Erschütterungen gehen durch den

ganze Körper (bei Traumatisierungen z.B.), der Herzschlag erhöht sich, wir fangen an zu

schwitzen. Organ des haptischen Erlebens und haptischen Vollzugs sind unsere Hände. Mit

ihnen tragen wir uns vor – bewegend und gestaltend.“ (Deuser 2018/1: S. 116)

1 https://isppm.de/ 2 Die PIAAC-Studie zeigt, dass etwa jede/r siebente ÖsterreicherIn Schwierigkeiten hat, längere Texte sinnerfas-send zu lesen. 3 In der Arbeit am Tonfeld® definieren wir Trauma als einen Bruch in der Bewegung (vgl. auch Referat meiner Vorrednerin Gerhild Tschachler).

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Wie Heinz Deuser, der Begründer der Methode anführt, ermöglicht das Setting eines mit Ton

gefüllten Behälters uns selbst als Menschen in unseren Bedingungen zu erleben. So können

wir dank der auf Erfüllung drängenden Hände in neue Möglichkeiten kommen und versäumte

Entwicklungsschritte nachholen.

Die Rahmenbedingungen

Im Schuljahr 2018/19 hatte ich die Gelegenheit an einer Wiener Volksschule4 mit verhaltens-

auffälligen und entwicklungsverzögerten Kindern die ressourcen- und entwicklungsfördernde

Methode Arbeit am Tonfeld® im Einzelsetting anzuwenden.

In meinem Konferenzbeitrag zeige ich als Fallbeispiel den Prozessverlauf von Simone5, einem

9-jährigen Mädchen, die ich von Oktober 2018 bis Juni 2019 in 15 Einzelstunden am Tonfeld®

begleiten durfte.

Simone, ein großes, leicht adipöses Mädchen mit afrikanischen Wurzeln war in der Schule

zwar sozial integriert, musste aber bereits zweimal eine Klasse wiederholen (zum Zeitpunkt

der Tonfeld-Begleitung besuchte sie zum zweiten Mal die zweite Klasse Grundschule). Es

wurde rasch sichtbar, dass sie - wie fast alle mir zugewiesenen Kinder -, sehr frühe und/oder

sehr tiefgehende Entwicklungsauffälligkeiten aufwies. Außerdem waren bei ihr und den ande-

ren mehrfache Stigmatisierungen feststellbar. Einerseits gab es Anzeichen sozialer Depriva-

tion aufgrund geringer emotionaler familiärer Ressourcen und andererseits prägten sie be-

sonders belastenden Ereignisse oder Erlebnisse (im Fall dieses Mädchens ein prä/perinatales

Trauma).

Als ich Simone kennenlernte, war ihre Atmung stoßartig, gepresst und angespannt. Sie nahm

keinen Augenkontakt mit mir auf und sprach abgehakt, schwallartig in unvollständigen, nicht

korrekten Sätzen. Deutsch, ihre Zweitsprache, und Französisch, ihrer Erstsprache, verwendete

sie gleichermaßen grammatikalisch falsch mit bescheidenem Wortschatz bzw. unterschiedli-

chen Registern. Ihre großen kognitiven Lücken wurden etwa auch beim Rechnen im Zahlen-

raum bis 20 sichtbar, und die fehlende Feinmotorik zeigte sich beim Schreiben und Zeichnen;

ganz abgesehen von der Rechtschreibung, die ihr völlig fremd schien.

Die zum Teil sehr wenig ausgebildete Schriftsprachkompetenz im Deutschen und ihre partielle

Mehrsprachigkeit erschweren es ihr außerdem, sich verständlich und altersadäquat verbal

auszudrücken. Von ihrer Umgebung wurde sie daher vermutlich noch stärker als einge-

schränkt intelligent wahrgenommen - sprich die mangelnde sprachliche Ausdrucksfähigkeit

verdeckte zusätzlich den Blick auf sonstige Kompetenzen. Aus den bruchstückhaften Erzäh-

lungen des Mädchens und den Ausführungen der Lehrerin - die selbst kaum Kontakt zu den

Eltern aufbauen konnte – ging hervor, dass sie bisher keine entsprechende Ansprache im fa-

miliären Umfeld erfahren konnte und dass es prä- bzw. perinatal zu gravierenden Problemen

gekommen war.

Wie die Haltungen, Gesten und Äußerungen Simones zeigten, hatte sie ein negatives, abwer-

tendes Selbstbild, das von Scham geprägt war, und das sie durch Abtriften in eine Traumwelt

4 Die Volksschule in Österreich entspricht etwa der deutschen Grundschule; das heißt, sie ist eine vierjährige gemeinsame Schule für alle ca. 6-10 Jährigen. 5 Name geändert

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zu kompensieren suchte. Daher hielt sie sich zunächst vor allem über das Gespräch mit mir,

das wie ein Traumaabreden dahinplätscherte. Hier kam auch ihr zweigeteiltes Wesen zutage:

Sie überspielte und verdeckte ihre Trauer indem sie vorgab, eine lustige, interessierte Person

zu sein. Lachend erzählte sie von einem schlossartigen Gebäude – laut ihren Ausführungen die

künftige Wohnung ihrer Familie. Sie war davon überzeugt, dass sie eines Tages als Ärztin

kranke Kinder in Afrika versorgen würde und erklärte im selben Atemzug, dass sie bei ihrem

nächsten Geburtstag eine Stretchlimousine für sie bereit stünde. Doch dann berichtete sie

fragmentarisch auch immer wieder von (tödlichen) Unfällen im Umfeld, und auffällig oft fiel

dabei das Wort „Tod“. Sie klagte über Halsschmerzen und Übelkeit und erzählte dabei über

Komplikationen vor bzw. bei ihrer Geburt, wo es offensichtlich zu akutem Sauerstoffmangel

gekommen war. Immer wieder erzählte sie von ihrer Mutter. Ihr Vater wurde in den Schilde-

rungen nicht erwähnt. Erst als ich vorsichtig nachfrage, stelle sich heraus, dass er tatsächlich

existierte.

Schwerpunkt meiner Arbeit mit Simone

Im Zentrum meiner Arbeit mit Simone stand zunächst - wie auch in der Arbeit mit anderen

KlientInnen - das Bestreben, mit ihr eine verlässliche Beziehung aufzubauen und dadurch Be-

ziehungshalt, Vertrauen und Verbindlichkeit herzustellen. Das wurde einerseits durch meine

Präsenz als Begleiterin gewährleistet, und andererseits durch den Kontakt mit dem Material

Ton. Außerdem führten wir gemeinsam ein kleines Werktagebuch, in das ich Fotos aller ent-

standenen Arbeiten klebte, und in dem Simone ihre Arbeit schriftlich kommentierte oder

zeichnend festhielt.

Ihre Bewegungen am Tonfeld wirkten zunächst - trotz ihres scheinbar kräftigen, adipösen Kör-

perbaus – sphärisch, zögerlich und kraftlos. Ihr ganzer Körper wirkte erstarrt und bewegte sich

amphibienhaft. Die Handgelenke machten den Eindruck, nicht mit dem restlichen Körper ver-

bunden zu sei. Sie knickten ab, der Tonus ihrer Hände war schlaff und alle Bewegungen wirk-

ten wie führungslos. So schwebten beide Hände etwa zu Beginn der ersten Stunden immer

wieder leicht verdreht ein, und sie saß mit nach hinten gelehntem Körper, also weit von ihrem

Lebensfeld entfernt und kaum damit in Beziehung. Mit anderen Worten, das Mädchen er-

schien dissoziiert und nicht in Kontakt mit ihrem Körper. Johannes B. Schmid spricht in diesem

Zusammenhang von einem „Verlust der Seinsebene“ und führt weiter aus:

„Frühe Schock- und Traumaerlebnisse treffen auf einen in Formung begriffenen Organis-

mus. Seine Abwehrreaktionen sind sehr begrenzt. Häufig besteht die einzige Art, mit einer

solchen Verletzung umzugehen, in Gewebekontraktion, um die gefährdete Oberfläche zu

verkleinern. Die hochgradige Hilflosigkeit des sich entwickelnden kleinen Menschen lässt die

Bedrohung zur gefühlten potenziellen Vernichtung seiner Existenz werden – mit strukturel-

len Folgen für das spätere Erleben der Welt.[…] Embryonale Abwehrmechanismen bestehen

aus Bewegungen im Rumpf. Es sind amphibische, sozusagen frühe Pendelbewegungen ent-

lang unserer Längsachse, deren Zentrum in der Wirbelsäule liegt.“ (Schmid 2008: S. 143)

Und Heinz Deuser meint dazu: „Immobilität und Starre, auf die wir bei der Arbeit am Tonfeld

stoßen können, haben ihren Grund darin, dass das leibliche Zu-Uns keinen entsprechenden äu-

ßeren (Halte-)Pol hat, von dem her wir uns zu uns aufnehmen können.“ (Deuser, 2018: S. 116)

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Auch ihre basalen Sinne schienen wie nicht erwacht. Sie konnte keinen Hautsinn, keinen Tie-

fendruck und keinen vestibulären Sinn wahrnehmen. So hatte sie kein Gefühl für ihr Körper-

schema, für den Ausgleich zwischen Rechts und Links und für ihre eigene Mitte.

Da sie wie „nicht verkörpert“ erschien, musste ich in der Arbeit mit ihr als Begleiterin zunächst

vor allem darauf achten, dass die Erfahrung von Leere vermieden wurde, damit sie nicht noch

tiefer in den dissoziierten Zustand geraten würde. Der Fokus meiner Interventionen lag folg-

lich auf der Verstofflichung – sprich, dem primären Haben von Material und dem in-Besitz-

bringen auf der leiblichen Ebene. Dabei versuchte ich sie etwa mit Aufforderungen oder Be-

merkungen wie „Na, da hast du schon was!“, „Schau, da kannst du das umfassen!“ oder

„Wow, da hast du jetzt aber wirklich viel!“ anzusprechen.

Durch das Erfahren von Berührung und Widerstand lernte Simone sich selbst und das Material

(und in Folge andere Menschen) neu oder überhaupt zum ersten Mal wahrzunehmen und

einzuordnen. So konnte sie langsam dazu herangeführt werden, mit dem Material (und in

Folge auch mit ihrer Umwelt) einen Umgang zu finden.6

Abbildung 3: Sättigung des Hautsinns im Schlammbad Abbildung 4: Umfassen des eigenen Raums

Auch ein eigener Beziehungsrahmen konnte schrittweise aufgebaut werden.7 Zunächst domi-

nierte in der Mitte des Feldes ein Schneemann als Zeichen ihrer Erstarrung, und wenn wir

diesen Raum als den Uterus verstehen, kann auf eine Abwehr der Mutter oder ein Ge-

burtstrauma geschlossen werden. Da es in diesem Fall um das Überleben eines in Entwicklung

befindlichen und ganz eng mit der Mutter verbundenen Fötus im Uterus geht, werden die

komplette Hilflosigkeit und das Ausmaß des Traumas noch verstärkt. Da die Erstarrung der

Bewegung schon in dieser frühen Phase des Lebens passiert ist, wird gleichzeitig verständli-

cher, warum auch die Handbewegungen der 9-Jährigen so kraftlos erscheinen und keine

Wahrnehmung in den Basissinnen vorhanden ist.

In mehreren Sitzungen gelang es, einen eigenen Raum herzustellen, der von Simone mit den

Armen umfangen, und für sie so greifbar und erlebbar wurde (siehe Abbildung 4).

6 So kann etwa durch das Einpacken der Hände und Unterarme Tiefendruck empfunden und Verspannungen in tiefen Gewebeschichten gelöst werden. 7 Dürkheim meint dazu: „Im gelebten Raum ist der Mensch mit seiner ganzen Wesens-, Wert- und Lebenswirk-lichkeit drin“ (Dürkheim, S. 389).

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Die Konfrontation mit dem Trauma

Durch eine erste Sättigung primären Bedürfnisse wurde die Konfrontation mit dem Trauma

vorbereitet. Die Stärkung in den Basissinnen ermöglichte es Simone, sich auf „gefahrlose“8

Weise mit sehr frühen belastenden Erinnerungen zu konfrontieren, die in ihrem impliziten

Gedächtnis gespeichert waren. (Vgl. u.a. Rothschild: S. 55)

Karin Krischmann berichtet dazu aus ihrer eigenen Erfahrung als Tonfeld-Begleiterin: „Kinder

verarbeiten ihre traumatischen Erfahrungen am Tonfeld meist auf der Symbolebene, zum Bei-

spiel in Rollenspielen. […] In dieser Phase geht darum, heftige Gefühle wie Trauer, Angst und

Wut mitzuteilen. Ein weiteres wichtiges Thema ist die Auseinandersetzung mit Loyalitätskon-

flikten den Eltern gegenüber.“ (Tschachler-Nagy, 207: S. 117)

In einer ersten Auseinandersetzung mit ihren prä- und perinatalen Erfahrungen wählte Si-

mone das Märchen „Schneewittchen“. Wie Eugen Drewermann in seiner tiefenpsychologi-

schen Deutung dieses Märchens anführt, beschreibt diese Geschichte die Frage weiblicher

Konkurrenz. „Die Stiefmutter [Anmerkung: negative Seite der Mutter bei Drewermann] fühlt

sich durch die Präsenz und Schönheit ihrer Tochter aufs äußerste gekränkt und zurückgesetzt“

(Drewermann 1992, S. 187), sodass sie keinen anderen Ausweg sieht, als das Mädchen zu tö-

ten. Der dritte Mordversuch gelingt schließlich und Schneewittchen kommt im gläsernen

„Sarg“ zu liegen, der symbolisch „für ein Leben steht, das keines mehr ist, für ein Dasein in

Einsamkeit und Gefangenschaft, für ein Unleben in völliger Blockierung aller Entwicklungs-

möglichkeiten.“ (Drewermann ebd. S. 187)

Simone erfindet ihre eigene Version des Märchens. Sie trägt sie in Form eines „Tonfeld-Thea-

terstückes“ vor, das sie als Distanzierungstechnik nützt.9 Sie inszeniert ihr Schauspiel auf einer

eigens kreierten Tonfeld-Bühne mit kleinen selbstgeschaffenen Tonfigürchen10, kommentiert

die Szenen und spielt die verschiedenen Rollen mit unterschiedlichen Stimmlagen. Wie bei

den Brüdern Grimm stellt das Mädchen dem Spiegel die bekannte Frage und erhält auch die

gewünschte Antwort. Doch die (Stief-)mutter tritt ihr zugleich vehement entgegen und versagt

ihr in höhnisch aggressivem Ton (und entsprechenden Gesten), schöner als sie zu sein. Wie

vom eigenen Minderwertigkeitsgefühl getrieben, dringt die Mutter darauf in das soeben erst

geschaffene Zimmer der Tochter und (sie selbst!) ermordet diese. Und damit nicht genug: Sie

ermordet gleich darauf auch noch die Schwester Schneewittchens, die eine „gute Fee“ ist.11

Die Toten werden vom Vater auf der väterlichen Seite des Feldes begraben. Er betrauerte den

8 Indem wir in der Arbeit am Tonfeld den Fokus auf eine Bewegungsänderung – also auf die Möglichkeiten - legen, ist es möglich, Traumen als belastende Eindrücke auf der motorischen und sensorischen Ebene zu sehen und als Brüche in der Bewegung zu betrachten. So haben wir die Chance, aus den alten Bedingungen auszustei-gen ohne schmerzhafte Erinnerungen explizit in Erinnerung zu rufen. So kann auch eine mögliche Retraumati-sierung vermieden werden. 9 Kirschmann beschreibt den „natürlichen“ Zugang von Kindern zur magischen Ebene haben mit folgenden Fä-higkeiten: „das Erlebte spielerisch auf der Symbolebene darzustellen, das Erzählen des Erlebten, als wäre es einer andern Person passiert (Verschiebung), das Erzählen des Erlebten wie eine Geschichte (‚Es war ein-mal…‘).“ (Tschachler-Nagy, 2007: S. 119). 10 Da die Figuren nicht weiter ausgeformt sind und noch keine präzise Gestalt haben, sprechen wir am Tonfeld von Komplexqualitäten. Diese zeigen sich auf anderer Ebene etwa auch in den ganzleiblichen, nicht differen-zierten Bewegungen des Mädchens. 11 Dabei könnte es sich um eine Zwillingsschwester handeln, die diesen „Angriff“ nicht überleben konnte.

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Tod der Kinder bitterlich.12 Als so alle gestorben sind, entsteht im Spiel eine kurze Pause, die

den Umschwung zwischen Bedingung und Möglichkeit einleitet, denn dann kann es überra-

schend zu einer glücklichen Wende kommen: Die Finger der rechten Hand graben plötzlich

wie energetisiert im rechten Feld, die Fee steigt aus dem Grab und befreit auch ihre Schwes-

ter. Gemeinsam mit dem Vater leben sie nun in Schneewittchens Zimmer, denn: „draußen ist

es viel zu gefährlich. Aus. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“

Abbildung 5: Vorhang auf!

Durch das Abreden-Lassen erhält Simone die Möglichkeit, sich in distanzierter Weise mit dem

Trauma zu konfrontieren und auch bereits erste Lösungsmöglichkeiten zu sammeln. Hier ein

kleiner Auszug aus ihrem Rollenspiel:

Erzählerstimme: „Zunächst hat sie [Anmerkung Verfasserin: Schneewittchen] gar kein eigenes

Zimmer.“

Schneewittchen: „Doch, ich habe ein Zimmer“

Mutter: „Dein Zimmer wird gerade erst gebaut.“

Schneewittchen: „In mein Zimmer darf niemand eintreten außer mein Vater.“

Mutter: „ich bin deine Mutter“

Schneewittchen: „Meine Stiefmutter“.

Auf der haptischen Ebene wird die Sequenz durch die Haltung, Berührungen und Bewegung

der Hände bzw. deren Verbindung zum Körper sichtbar. Das Ungleichgewicht zwischen links

und rechts verweist auf ihre Spaltung. Der weit hinter dem Feld nach unten geknickte rechte

Ellbogen und das ebenfalls stark abgeknickte rechte Handgelenk, das zumeist auf dem Rah-

men aufliegt, deuten auf eine tiefe Verzweiflung oder Depression der väterlich-männlichen

Instanz hin, die jedes aktive Handeln Simones verunmöglicht. Im Gegensatz dazu ist die linke,

weibliche Hand vor allem mit den Fingerspitzen – sprich mit dem Kopf - voll aktiv bzw. vor

allem aggressiv und destruktiv. So stellt sich die Frage, welche schmerzhafte Art einer frühen

mütterlichen Abwehr (etwa einen Abtreibungsversuch und/oder extreme Empfindungen der

12 Diese verzweifelte, kraftlose Haltung ihres väterlich-männlichen Anteils wird auch etwa in der Haltung der rechten Hand auf dem folgenden Bild gut sichtbar.

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Isolation und des Abgetrennseins beim Geburtsvorgang?) das Mädchen so früh in ihrem Da-

sein erleben musste.

Bezugnehmend auf die von Heinz Deuser entwickelten „Lebens- und Handlungssituationen“

steht die geschilderte Sequenz in erster Linie im Zeichen von Ausgleich und Beweglichkeit im

Beziehungsfeld der Eltern bzw. der „Zwei“13. Konkret geht es vor allem um den emotionalen

Ausgleich zwischen Allmacht und Ohnmacht (Deuser Handlungssituation 6.8.1.) und den Aus-

gleich bei Vermissungserlebnissen, wobei die eigene Präsenz vital in Weg-Da-Aktionen einge-

fordert wird (6.8.2.). Angestrebt wird letztendlich der Aufbruch aus dem Beziehungsfeld der

Eltern (Handlungssituation 7), um sich aus dysfunktionalen Internalisierungen, die wir v.a. von

unseren Eltern übernommen haben, zu verabschieden. (Vgl. Deuser, 2018: S. 265 ff.)

Besonders hingewiesen sei noch auf das Ende der Darbietung, wo Simone mit selbstbestimm-

ten, kraftvollen Bewegungen die gesamte Theaterbühne samt „SchauspielerInnen“ zerstört,

indem sie mit den Handwurzeln energisch den Ton glatt streicht. Diese schöpferische Destruk-

tion in Form des Einsteichens der Fläche mit den Handwurzeln am Schluss der Stunde ermög-

licht ihr einen Weg aus alten Mustern und eine Sicherung ihres neu geschaffenen Lebensbe-

reichs.14

Weiterführende Arbeit mit Simone

Nicht zuletzt aufgrund des geringen Tonus in der rechten (und auch in der linken) Hand und

dem zu wenig entwickelten Gleichgewichtssinn konnte Simone bisher überhaupt nicht in ihre

vitale Verselbständigung kommen, um sich von alten (elterlichen) Mustern zu distanzieren.

Es galt daher den folgenden Stunden zunächst vor allem an den Basissinnen weiter zu arbei-

ten, um Stärke und Stabilisation aufzubauen. So erfuhr sie durch das Einpacken der Hände

Tiefendruck und belebte zugleich ihren Hautsinn. Durch Streichbewegungen mit den Hand-

wurzeln konnten ihre Hände das Herstellen der Bipolarität (= Aufbau der Zwei) einleiten, und

durch Aktivitäten wie das Überkreuzen der Arme konnte sie schrittweise ins eigene Gleichge-

wicht finden. Daraufhin konnte eine erste eigene Positionierung in der Präsenz und in der ei-

genen Mitte – sprich Halt im Gleichgewicht - gewonnen werden. Zwischendurch bedurfte es

immer wieder der Stärkung und Stabilisation, um sie (wieder) handlungsfähig zu machen. Das

ist typisch für Kinder wie Simone mit besonders frühen, schweren Brüchen in der Bewegung.

13 Mit „Elternfeld“ ist erstens das mütterliche Beziehungsfeld in der frühen Versorgung und Präsenz und zwei-tens das väterliche Beziehungsfeld in der frühen Haltvermittlung und Präsenz gemeint. (Vgl. Deuser, 2018: S. 257f) 14 Dabei handelt es sich auch um eine frühe Form des „Weg – da“, die auf das Thema des Existenzverlustes ver-weist (Vgl. Sabine Spielrein: „Die Destruktion als Ursache des Werdens.“)

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Abbildung 6: Einpacken der Hände: Erleben des Tiefendrucks Abbildung 7: Einstreichen: Belebung der Handwurzel

Das Mädchen braucht viel Zeit, Zuwendung und Sicherheit, um die massiven Entwicklungsver-

zögerungen auf der motorischen und in Folge auf der sensomotorischen Ebene sowie in Folge

sprachliche15 und kognitive Defizite aufzuholen. Durch die regelmäßige Arbeit und die verläss-

lich anwesende Begleiterin kann schrittweise eine Entspannung des Nervensystems, der Fas-

zien und Muskel eingeleitet und die Trauma-Energie gelöst werden. Nach 15 Stunden hat sie

Beziehungshalt gewonnen und Vertrauen in die eigene Handlungsfähigkeit. Die Selbstwahr-

nehmung ist gestärkt. Die Sprache wird von Mal zu Mal klarer, die Erzählungen in ihrer Zweit-

sprache Deutsch gewinnen an Flüssigkeit und Kongruenz.

Bei Kindern mit derart schwerwiegenden frühen Brüchen ist die Arbeit nach 15 oder 20 Stun-

den zumeist nicht abgeschlossen, aber abgespaltene Persönlichkeitsanteile konnten bereits

schrittweise integriert werden, und die Orientierung an den tatsächlichen Potentialen und

Möglichkeiten wird eingeleitet. Das damit verbundene Gefühl der Selbstwirksamkeit und Er-

mächtigung ermöglicht ihr ein Heraustreten und Abstandnehmen von früheren Positionen

und somit eine positivere Sicht auf die eigene Person. Bei all diesen Entwicklungsschritten sind

Kohärenz, Resonanz und Kontinuität der Begleitung sowie die Unterstützung durch die posi-

tive Affirmation „du kannst das“ von fundamentaler Bedeutung und natürlich die genaue Be-

obachtung der Handbewegungen und die entsprechende Anleitung.

An Ende des Schuljahres ist Simone’s Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten gestärkt und sie

konnte neue Handlungs- und Beziehungskompetenzen erwerben, die sie durch häufige Wie-

derholungen am Tonfeld und in Folge in ihrem Umfeld festigen konnte/kann. Da sie auch in

ihren verbalen Fertigkeiten gestärkt wurde, gelingt es ihr, neben der Haptik auch die Sprache

zusehend als Referenzrahmen zu nützen und sie als Identifikationsaspekt heranzuziehen. Au-

ßer Atem kommt sie nur noch ab und zu, wenn alte schmerzhafte Inhalte getriggert werden,

mit denen sie noch keinen Umgang finden kann.

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15 Sprachstörungen, wie ihre, entstehen aufgrund von Blockaden im Kehlkopf- und Rachenbereich und können erst gelöst werden, wenn die Verbindungen zwischen allen Körperteilen hergestellt sind.

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