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205 (Aus dem physiologiscben "Institut zu KSnigsberg i. Pr.) Beitr~ge zur Physiologie des inneren Ohres. Von Dr, reed. ][L Strehl. (Enth~lt zugleich Beobachtungen yon h. llermann, ]~r. Matthias, M. Podack, P. Junius.) Im F01genden soll kurz iiber Untersuchungen beriehtet werden, welche seit einer Reihe yon Jahren auf Veranlassung und unter Leitung des Herrn Geheimrath Her m a n n ausgeftihrt worden sind, und an welchen ausser mir zeitweise aueh andere Herren, besonders Herr Dr. Fr. M a t t h i a s, betheiligt waren. 1. Die Schallreactionen an labyrinthlosen Taubcn, sowie an taubstummen ~cnschen. Die hiichst merkwtirdige Beobachtung von J. R. E w a 1 d 1), sowie yon Fano & Masini~), dass labyrinthlose Tauben noeh auf Scha!l reagiren, wtirde, wenn sie auf Erregung des Actisticus, stammes dureh Sehatl beruhte, mit verbreiteten Vorstellungen tiber allgemeine b~ervenreize und speclfische Sinnesreize in Conflict kommen, und ist daher vielfaeh mit gr0ssem Misstrauen aufge- nommen worden. Am weitesten ist wohl in dieser Richtun~ M a t te 3) gegangen, weicher einfach die Thatsache bestreitet, indem er die Reflexe auf Sehiisse als einzig" sicheren Beweis der Sehall- wahrnehmung anerkennt, diese Reflexe aber bei der labyrinthlosen Taube vermisst: Das andere Extrem der Ansicht findet sieh bei Wundta), weleher geradezu aueh das n0rmale H0ren yon direeter 1) Berliner klin. Wochenschr. 1890. Nr. 32. Physiologische Untersuchun- gen fiber den Nervus octavus. Wiesbaden 1892. S. 24. 2) Centralbl. f. Physiol. Bd. 4. S. 25. 1891. 3) Dies Archly Bd. 57. S. 437; s. auch Berastein~ ebendaselbst S. 475. 4) Philosophische Studien Bd, 8. S. 641, Bd. 9. S. 496.

Beiträge zur Physiologie des inneren Ohres

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(Aus dem physiologiscben "Institut zu KSnigsberg i. Pr.)

B e i t r ~ g e z u r P h y s i o l o g i e d e s i n n e r e n O h r e s .

Von

Dr, reed. ][L S t r e h l .

(Enth~lt zugleich Beobachtungen yon h. llermann, ]~r. Matthias, M. Podack, P. Junius.)

Im F01genden soll kurz iiber Untersuchungen beriehtet werden, welche seit einer Reihe yon Jahren auf Veranlassung und unter Leitung des Herrn Geheimrath H e r m a n n ausgeftihrt worden sind, und an welchen ausser mir zeitweise aueh andere Herren, besonders Herr Dr. Fr. M a t t h i a s, betheiligt waren.

1. Die Schallreactionen an labyrinthlosen Taubcn, sowie an taubstummen ~cnschen.

Die hiichst merkwtirdige Beobachtung von J. R. E w a 1 d 1), sowie yon F a n o & Masini~), dass labyrinthlose Tauben noeh auf Scha!l reagiren, wtirde, wenn sie auf Erregung des Actisticus, stammes dureh Sehatl beruhte, mit verbreiteten Vorstellungen tiber allgemeine b~ervenreize und speclfische Sinnesreize in Conflict kommen, und ist daher vielfaeh mit gr0ssem Misstrauen aufge- nommen worden. Am weitesten ist wohl in dieser Richtun~ M a t te 3) gegangen, weicher einfach die Thatsache bestreitet, indem er die Reflexe auf Sehiisse als einzig" sicheren Beweis der Sehall- wahrnehmung anerkennt, diese Reflexe aber bei der labyrinthlosen Taube vermisst: Das andere Extrem der Ansicht findet sieh bei Wundta) , weleher geradezu aueh das n0rmale H0ren yon direeter

1) Berliner klin. Wochenschr. 1890. Nr. 32. Physiologische Untersuchun- gen fiber den Nervus octavus. Wiesbaden 1892. S. 24.

2) Centralbl. f. Physiol. Bd. 4. S. 25. 1891. 3 ) Dies Archly Bd. 57. S. 437; s. auch B e r a s t e i n ~ ebendaselbst

S. 475.

4) Philosophische Studien Bd, 8. S. 641, Bd. 9. S. 496.

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Nervenfasererregnng ableiten nnd den specifischen Endorganen nur eine klanganalytisehe Bedeutung zuerkennen will.

Die ersten hiesigen Beobaehthngen in der vorliegenden Frage wurden yon den Herren H e r m a n n und M a t t h i a s im Sommer

1893 an elner yon Herrn Prof. E w a l d operirten und liebens- wtirdiger Weiss naeh Kbnigsberg gesandtsn labyrintblosen Taube gemaeht, welehe tiber 9 Monate lang im Institute lebte. (Eine gleiehzeitig eingesandte .einseitig labyrinthlose Taube lebt noeh jetzt, Mai 1895.)

Seitdem hat zuerst Herr Dr . M a t t h i a s , nachdem die von E w a l d empfohlenen experimentellen Htilfsmittel besehafft waren, im Februar und M~rz sowie im September 1894 einer Anzahl Tanbeu beide Labyrinthe exstirpirt; auch yon dissen war sine im Februar 1894 operirte bis vor Kurzem am Leben. Endlieh habe auch ieh selbst im letzten Wintersemester mehrfaeh die Operation mit Erfolg ausgeftihrt. Eins beiderseits yon mir operirte Taube lebt ebenfalls noeh jstzt (Mai 1895).

Es sei bier bemerkt, dass die yon E w a l d vorgesehriebenen eomplieirten Proeeduren, mbgen sie aueh thsilwsise zuerst wie Ubertrieben ~ngstlieh erseheinen, sich a l s unentbehrlieh heraus- gestellt haben , und dass wir keinen Theil des Instrumentariums, weder den Taubenhalter noeh die Westien'sehe Lupe, die Instru- mente zum Aufbrechen des Sehi~dels, den Galvanoeauter etc. eut~ behren mbehten, wie aueh die t~brigen Vorsehriften, beziiglish der F~itternng u. dgl., sich als sehr zweekmiissig bew~thrt haben. Statt tier Beleuchtung mit Lampe und Spiegel benutze ieh neuerdir.lgs eine an der Westien'sehen Lups angebraehte kleine Gltihlampe, welehe mit einem kleinen Accumulator bet~:iebsn wird.

An tier Ewald ' sehen labyrinthlosen Taube haben die oben gen/mnten Herren zl Tage naeh Ankunft des Thieres, d. h. am 10. Juli 1893, mehrfach zweifellose Reaction auf gufen, z. B. Uh, beobachtet. In spiiteren Versuehel), besonders mit Sehtissen (Ztind- btitehen versehiedenen, zum Theil sehr grossen Kalibers) trat dagegen meist Versagsn ein, jedoch war damals alas Vsrsucl~sziel ein anderes, und es wurde daher auf diese neg'ativen Ergebnisse, welehe auch an den yon Herrn Dr. g a t t h i a s operirtsn Thieren verzeiehnet wurden, kein besonderer Werth gelegt, sondern die genauere Prtifung dieses Punktes einer sp~teren Zeit vorbehalten. W~ire aber damals Anlass zu einer 5ffent, liehen Asusse~'ung

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gewesen, so wtirde sic iiberwicgend negativ ausgefallen seth, ~ihn- lich der spi~teren von M'atte.

Als ieh selber endlich die im Institut vorhandenen, theils yon Mat th ias , theils yon mir operirten labyrinthlosen Tauben auf Schallrcactionen untersuchte, gelangte ieh bald zu durehaus sieheren und regelmitssigen Ergebnissen , aueh an denjenigen Thieren, an welehen frUher negative Resultate erhalten worden waren. Der G e s i e h t s s i n n war bet allen meinen gersuchen dutch die Ewald 'sehe K0pfkappe a u s g e s e h l o s s e n , was ftir das Gel{ngen sehr wesentlieh ist. A u f S e h t i s s e e r h i ~ l t m a n a l l e r d i n g s f a s t n i e m a l s e i n e d e u t l i e h e R e a c t i o n , w o h l a b e r a u f T r i n e , b e s o n d e r s s o l e h e yon L i p p e n - o d e r Z u n g c n p f e i f e n l ) .

Die Reaction besteht nieht in dem wohl meist erwarte- ten Zusammensehreeken, sondern hat einen ganz anderen, und zwar sehr regelmitssigen Character. Sic tritt bet Tage eben- sogut wie in der Stille der Naeht ein; ich land as nieht ni~thig, wie die Herren H e r m a n n und M a t t h i a s auf Grund einer An- gabe E w a l d ' s hi~ufig gethan hatten, die Nachtruhe zur Beobach- tung ether Reaction zu opfern.

Das Thier rcckt auf jeden Schall der angegebenen Art in hiichst characteristiseher Weise Hals und Kopf vor and in die HShe, unter leichtem Hin-und Herschtitteln. Die Bewegung hat" durchaus nicht den Anschein eines ersehrockenen Zusammenfahrens sondern eher einer Reaction auf eine unangenehme Empfindung. Auch sind grade p 1 (~ t z 1 i e h e, kurz vorttbergehende, selbst sehr h e f t i g e, knallartige Schalle, w i e Schtisse, Hiindeklatschen, Hammersehllige, wie schon bemerkt, o h n e Wirkung.

Der Schall braucht weder sehr heftig noeh sehr nahe zu seth, um die erw~hnte Reaction hervorzurufen; man kann sic mit ether Pfeife, Telephontrompete n. dg'l. vom Naehbarzimmer aus bewirken, wenn die Thtir nicht v~llig geschlossen ist. Der Ein- wand, dass der zum Anblasen der Pfeife dienende Luftstrom das Thier direct treffe, wird sehon hierdureh ausgeschlossen, noch besser fi'eilieh dutch besonders yon mir angestellte Vcrsuehe. Die

1) Die Thatsache, dass auf Schiisse keine sichere Reaction auftritt,

haben wir schon vor dem Erseheinen von E w a ld's letzter Publicati6~, welche

denselben Umstand hervorhebt (dies ArcMv Bd. 59. S. 271), constatirt.

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Reaction blieb nicht aus, wenn zwischen Taube und Pfeife ein grosser Schirm aufgestellt wurde, und liess sieh andrerseits durch directes sehallloses Blasen durch eine Kautschuk- oder PapprShre nich~ hervorrufen, selbst wenn der Luftstrom das Thier direct und aus n~chster bT~he traf.

U n z w e i f e l h a f t a l s o r e a g i r e n l a b y r i n t h l o s e T a u b e n a u f g e w i s s e v i b r i r e n d e t o n e r z e u g e n d e B e w e g u n g e n. Die zweite Frage ist, ob diese Reaction wirk- lich auf einer Erregung der Acusticnssttimpfe beruht, wie E w a l d behauptet.

An sich w~re eine solche Erkl~rung ftir diejenigen Physiotogen nichts UnerhSrtes, welche tiberhaupt die Schallerregung auf clue ,,mechanische Tetanisirung" der Nervenenden zurtickfiihrcn wollen, also auf einen allgemeinen hTervenreiz, ftir den sic aller- dings den :Nervenendigungen einen hSheren, specifisehen Grad yon Erregbarkeit zuschreiben. Abet E w a l d ' s Beweis far seine Er- kl~rung hat eine sehr sehwactie Seite. Er behauptet niimlicb, dass, wenn man die Aeusticussttimpfe durch Einbringen yon Arsenikpaste oder Kroton(il in die Knoehenkani~le zerst(irt, die Sehallreaction verhindert wi rd . Darch diese Operation kann doch wohl nieht der ganze centrale Rest der Acustieusihsern vernichtet werden; wenigstens ist nicht bekannt, dass caustische Zerst~rung eines Nervenabsehnittes auch den nicht direct betroffenen Rest d e s Nervcn afficirt. Beruht abet die ZerstSrung auf Ausbrcitung des Aetzmlttels selbst bis zu den centralen Enden des :Nerven, dann wtirde eine so intensive Hirnli~sion vorliegen, dass ein Functions- ausfall irgend welcher Art nichts ftir Loealisirung der Function

�9 beweisen wtirde. Warum abet die in der Hirnsubstanz liegenden Acustieusreste nicht eben so gut vom Schall gereizt werden sollen, wie die in den Knochenkan~ilen liegenden, ist nieht reeht zu ver- stehenl). Ein noeh ernsterer Einwand "liegt in dem Umstande, dass die Schallreaction noch Viele Monate naeh der Labyrinth- exstirpation beobaehtet wird, ja sogar, wie es mir naeh meinen

1) E w ~ 1 d tm~ neuerdings angegeben (dies Archly Bd. 59. S. 274), dass ihm der Aetzversuch nicht mehr gelingt, also vielleicht iiberhaupt; nur einm~l oder wenigstens in sehr wenigen F/~llen'ge]ungen ist. Dieser Urn- stand seheint mir um so mehr ein Hinderniss, ihm eine en~scheidende Bedeu- tung in einer so fundamentalen Frage beizulegen.

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Vcrsuehen seheint, mit der Zeit sicherer und energiseher, w~ihrend man doch annehmen muss, dass die centralen hcusticussttimpfe naeh Abtrennung ihres Spinalgangiions der D e g e n e r a t i o n anheimfallen, wie andere sensible Nerven t); als Spinalganglion des Acusticus wird abet ftir den Sehneekenast das Ganglion spirale betraehtet; mag auch fUr den Vestibularast das trophische Centrum mehr central liegen, die Vestibularnerven also nach Labyrinth- exstirpation mSglicherweise yon derDegeneration versehont bleiben : hier handelt es sigh um die das H5 re n vermittelnden Nerveff- fase!'n, d. h. naeh E w a l d um die Schneckennerven. Ueber ihre

�9 Degeneration kann kein Zweifel sein. An einigen Gehirnen yon Tauben, deren Labyrinth l~ingere

Zeit vor dem Tode exstirpirt war, babe ich den centralen Verlauf des Acusticus auf degenerirte Fasern untersucht, und glaube in der That solche gefunden zu haben; da abet eine umfassendere Feststellung wtinschenswerth erschien, so hat Herr Privatdocent Dr. A s ka n a z y ein solches GeMrn zu untersuehen sich freund- lichst bereit erkliirt; fiber das Ergebniss wird naehtriiglich be- richtet werden.

Ist nun wirklich eine Ableitung der Seh~llreaetion yon Emp- findungen, welehe dutch an d e r e Nerven als die Acustici ver- mittelt werden, ausgeschlossen ? Ew a 1 d giebt an, dass die labyrinth- losen Tauben noel reagiren, wenn man ihnen die Trommelfclle zerst(irt, die Federn abschneidet, und sie anf Watte stellt. I~ch kann alle diese Angaben, soweit ich sie prtifen konnte, bestiitigen, halte sie aber keineswegs fiir entseheidend.

Dass vor Allem Sehallschwingungen im Stande sind, vom Tastsinn empfanden zu werden, ist aus zahlreiehen Erfabrungen bekannt. Je direeter die Hand mit dem sehwingenden Kiirper verbtmden ist, um so lebhafter ist die vibratorische Empfindung. Sehr bemerkenswerth sind z. B. fo!gende, theits yon Herrn Prof. tt e r- mann, theils yon mir selbst gemachte Beobaehtungen. Wird eine auf einem Resonanzkasten befestigte Stimmgabel angeschlagen oder angestriehen, so fiihtt man die Schwingungen sehr deutlieh, wenn man die Finger an den Resonanzkasten h~ilt. Je tiefer d i e Gabel,

!) Dieser Einwand, auf den Herr Prof. Her m a n n reich schon im Beginn meiner Arbeit im J. 1891 aufmerksam gemacht hat, ist seitdem in der im Sommer 1894 ersehienenen Arbeit yon Matte ausfiihrlieh entwickelt.

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um so kr:aftiger ist die Empfindung. Sitzt man auf einem Stuhl, so ftihlt man seine eigene Stimme deutlich an der Lehne, sobald man sieh anlshnt, besonders auch an der Seitenlehne'eines Sehreibtisehsessels, sobald man denselben hinten mit dem RUcken beriihr~t; es ist der Fremitus peetoralis, weleher sich dem Holz mittheilt. Aber aueh durch die Luft fortgepfianzte Sehwingungen setzen geeignete KSrper in leieht fi]hlbare Mitsehwingung. An der Msmbran eines KSnig 'schen Phonautographen ftihle ish, sowie Hr. Prof. H e r m a n n, in gesehlossenen Raumen.M~nnerstimmen, besonders Vocal I, bis Uber 8, eine Zungenpfeife c 2 bis fiber 31 Mster! Des L~utsn grosset Kirehenglocken, welshe 2 m tiber dem Erdboden aufgestellt sind, ftihle ieh an einem Ubsr einen Rahmen gsspannton Papierblatt im Freien bis 25 m, und unmittel- bar an meinem K~irper noeh viel welter.

Sehr bemerkenswerth ist, dass beim Ptihlen yon Stimmgabeln die direetests Zuleitung der Schwingungen nieht immer die gtinstigste ist. Beispielsweise finds ich, dass eine angeschlagene Stimmgabel viel deutlicher geftihlt wird, wenn man ihrsn Stiel auf die mit dicker Kleidung bsdsckte Brust setzt, a l s wenn man sic auf die nackte Brust oder, auf den Kopf halt. Ebenso ftihlt man die Vibrationen einer angeschlagenen cl-Stimmgabel (Ut~) nicht 'so gut, wenn man ihren Stiel auf die nackte Fingerkuppe h~lt, als wenn sich zwischen Finger und Gabel sin zusammen- gelegtes Haudtuch oder eine mehrfache Wattelage bsfindet. Im letzteren Falle f t i h l t man das Sehwirren noch sehr deutlich, wenn die Schwingungen so welt verklnngen sind, dass man sis bei diesem Abstands vom Ohre nicht mehr deutlich h 5 r t.

Wie wenig dicke Wattelagen die Mittheilung yon Schwin- gungen hindern, babe ich bei Microphonversuehen constatirt, welche ich angestellt habe als Vorversuehe zur acustischen Isolation

des Taubenkiirpers. Verwendet wurde ein Mierophon neusrsr Construction, wie es zum Telephonverkehr bsnutzt wird~ bestehend aus 4 yon Filzringen umfassten Kohlengrusslagern zwischen zwei Kohleplatten. Der yon einem D a n i e l l geliefcrte, dutch das Microphon gehende Strom wurde einer primih'en Spirale zugeleitet, und die seeundare Spirale war mit einem in einem sntfernten Zimmer befindliehen Siemens-Telephon verbnnden; letzteres war dutch eine Nebenschliessung (d u- B o i s'seher Sehltissel) absperr- bar, um leise TSne sicherer zu constatiren. Pfeifentsne h(irt man

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Beitr~ge zur Physiologie des itmeren Ohrcs. 211

in diesem Falle am lautesten, wenn das Microphon auf der nackten Tischplatte liegt, weniger laut, wenn es fret schwebt, oder auf eine dieke auf den Tisch gelegte Watteschicht gebracht wird , aber man hiirt auch dann noch zweifellos, wenn auch sehr schwach, wenn das Microphon in dicke Watte ganz eingepackt, und so in einen mit Kautschnk bedeekten Cylinder gesteckt wird. Das Microphon dtirfte tin Apparat genannt werden kSnnen, welcher beztiglich der Wahrnehmung yon Vibrationen zwisehen der ffihlcn- den Fingerkuppe und dem Ohre steht.

So gering die Aussicht war, durch meehanische Isolation die Schwingungen yon irgend einem KSrpertheil der Tanbe vNlig ab- zuhalten, musste sich doch dureh Erschwerung der Zuleitnng, ent- weder zum Kopf oder znm Kth'per der labyrinthlosen Taube, eine Andeutnng ergeben, welcher der beiden Theile die Reaction haupt- siichlich vermittelt. Da Einpackungen des Kopfes sich schon des- wegen verb[eten , well an ihm die Reaction fast allein beobachtet werden kann, konnte es sich nur nm Erschwerung der Znleitung zum K~irper handeln. Ich benutzte dazu Einpackung in Wage und Versenken in Oel. In den ersteren Versuchen befand sich das Thier in einem an der Decke anfgehitngten und durch einige am Fussboden befestigte Faden an Drehungen verhinderten Draht- k~tfig, dessert Boden mit Watte ausgelegt war, tiber welche ein Sttick Baumwollenstoff gespannt ist. Ffir die Reaetionen zeigte es sich nun ganz zweifellos yon entsch~eidendem Einfiuss,. ob der Kiirper mit Ausschluss des K0pfes mit Watte eingepackt war oder nicht. Im letzteren Falle reagirte die Tanbe reg-elmlissig auf grosse Entfernungen, im ersteren entweder tiberhaupt nicht, oder nnr aus allerniichster Nithe. Da die Sehaliwellen den Kopf in beiden Fi~llen gleich gut erreichen, so ist es zum mindesten h~chst unwahrscheinlieh, dass die Reaction anf Erregung der Acusticns- sttimpfe bernht. Dasselbe Resultat hat ten die Oelversuche. Ein sehr grosses cylindrisehes Glasgefiiss yon 80 cm innerer HiJhe und 30 cm innerem Durehmesser warde zum griisseren Theil mit zimmerwarmem Wasser, and dartiber 15 cm hoeh mit ebenfalls zimmerwarmem Masehinen(il geftillt. Die Taube wurde (mit Kopfkappe) mit znsammengebundenen Fltigeln in das Oel einge- legt, in welchem sie sich sch:Mmmend hNt, und zwar in normaler Haltung; wenn der Schwanz dutch ein Gewicht yon 10 gr l)e- schwert ist. Der Kopf warde mittels eines Fadens an einem fiber

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den Rand des Gef~sses gelegten [Iolzstabe befestigt. Im Freien iihnlich gebunden und befestigt rcagirt das Thier w[e gewiihnlich auf grosse Entfernungen, im Oel dagegen nur, wenn der Sehall in unmittelbarster NiChe erzeugt wird. Dieser Vcrsuch ftihrt zu dcm- selben Schlusse, wie der Einpaekungsversueh. Wiederholte Ocl- versuche sch~digen, beil~ufig bemerkt, die Tauben dauernd.

Besonders gut reagiren die Tauben, wenn man sie auf tin an Drahten aufgeh~ngtes dtinnes Brett yon Cigarrenkistenholz stellt. Sie reagiren hier am stiirksten, wenn man mit einem schwingenden KSrper, z.B. einer angesehlagenen grSsseren Stimm- gabel, das Brett yon unten he r bertihrt, sei es mit dem Stiel, sei es, was besonders wirksam ist, mit einer Zinke. Die Reaction besteht immer in dem sehon beschriebenen characteristisehen Er- heben und Sehtitteln des Kopfes. Legt man dieke Watteschichten unter dieFtisse, so hat dies zwar einen schw~ichenden Einfluss auf die Reaction, verhindert sie aber" nieht.

Diese Erfahrungen begtinstigen die Vel'muthung, dass die Schallreaction labyrinthloser Tauben auf einer tactilen Wahr- nehmung der vibrirenden Bewegung beruht, vielleicht auf einer dem Thiere unangenehmen oder es erschreckenden Kitzelempfin- dung. Beachtung verdient tibrigens, dass die L u f t s ii c k e der Taube m(fglicherweise die Eipwirkung Yon Vibrationen auf das Geftihl sehr begUnstigen.

Es lag nahe, den Gedanken der tactilen Schallwahrnehmung aueh an taubstummen M e n s c h e n zu prtifen, welche tiber ihre Wahr- nehmungen Aufschluss gebea k(innen. Ich liess daher die beiden taubsten Sehtiler einer der hiesigen Taubstummenanstalten 1) in das Institut kommen; sie wurden yon einem Lehrer begleitet, welcher sieh ausgezeichnet mit ihnen verst~ndigen konnte. D er eine Knabe A. B. ist 13 Jahre alt, und seit dem 7..Jahre ganzlich taub, der zweite G. W. 12 Jahre alt, giinzlieh taub seit dem 3. Lebensjahre.

Beide Schiller, mit wollenen Strtimpfen und Stiefeln, stehen etwa 2 Meter vom Untersuchenden mit abgewandtem Gesicht auf dem Fussboden, und haben bei mehrmaligem Anblasen einer Zungen-, resp. Lippenpfeife, die Zahl der wahrgenommenen TSne anzugeben. Die Zahl wird ftir die Zungenpfeife yon beiden riehtig angegeben ; beide behaupten in vielen F~tlleia, aber nieht durchweg, die Enapfin-

1) Dieselbe hat etwa 90 Schiiler.

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JBeitr~ge zur Phys~oiogle des {nneren 0hre~. 9i3

dung in den Ftissen zu haben. Die Lippenpfeife wird yon B . nieht, ;con W. richtig wahrgen0mmen.

Weitere Versuehe wurden mit begUnstigter Zuleitung vor- genomrfien, indem die Knaben mit blossen Ftissen auf einem Tisch standen. Bei beiden Verfahren warden yon W. stets richtige An- gaben gemaeht, yon B. sehr unsiehere und oft falsehe. W. empfand den Schall auch bei erschwerter tactiler Zuleitung , indem er in einen an der Deeke aufgeh~ingten gepolsterten Riemen gesetzt wurde, den er mit den H~inden nicht anfassen durfte.

W. nimmt tiberhaupt besser wahr als B., der einen etwas stumpfsinnigen Eindruek maeht. Werden Ztindhtitehen dutch Hammersehliige auf einem Ambos verknallt, wobei in der Regel einige Sehliige versagen, so geben beide die Zahl der Hammer- schliige richtig an, W. empfindet ausserdem den letzten, die Ex- plosion erzeugenden, starker als die Fehlsehliige. Auf die Frage, mit welchem KSrpertheil die Sehl~ige wahrgenommen warden, werden zuweilen die Ftisse~ h~tufiger aber die Kopfgegend hinter den Ohren, oder aueh nur ein Ohr bezeiehnet.

Der begleitende Taubstummenlehrer giebt an, dass die Schiller welt feinftihliger sind als er. Wenn beim Unterricht ein Wagen dureh die yore Gebiiude etwas entfernte Strass.e f~thrt, den el" weder hSrt noeh ftihlt, so sehen sieh die Schtiler naeh demselben uml). Aehnlieh wie bei Blinden seheint auch bei Tauben der Tastsinn sieh zu verfeinern , wenn auch in anderer Richtung. De~ss auch die labyrinthlosen Tauben Sehallreaetionen lange Zeit naeh der Operation sicherer zeigen, als in dan ersten Wochen, babe ich schon erw~thnt.

Beide Sehtiler waren sehon 11/2 Jahre vorher bei einer Ge- sammtuntersuehung (s. unten) auf Drehschwindel und galvanisehen Sehwindel geprUft worden, und diese Priifung wurde jetzt wieder- holt. B. zeigte damals und jetzt Drehschwindel und rot~torisehen :Nystagmus; der galvanische Schwindel und ~Nystag'mus war frtiher vermisst worden, war aber jetzt vorhanden. W. hatte beide Male auf dem Drehstuhl weder Sehwindel noeh Nystagmus; der gal- vanische Schwindel hatte frtiher gefehli, wiihrend hTystagmus auf- getreten war; jetzt war beides vorhanden. Diese Verschiedenheit

1) Ei~l anderer hleriiber befragter Tuubstummenlehrer hat hiervon nichts bemerkt, was vorsichtshalber ausdriicklich erw~ihnt wird.

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des Ergebnisses in lJ/~j~hrigem Intervall scheint mlr yon grosskm Interesse.

Auch aus der zweiten hiksigen Taubstummenanstalt licss ich die beiden taubsten Schtiler in das Institut kommen, einen 15j~ih- rigen Knabea C. W., seit dem 1. Lebknsjahre taub, and ein 13j~h- riges M~idchen A. W., skit dem 8. Jahre taub. Der Knabe empfindet, aneh im Rikmen sitzend, PfcifentSne regelm~issig; als Oft d e r Empfindung giebt er die Gegend hinter dem Ohre an. Sehiisse nimmt er aueh entfernt wahr, wie, ist nicht festzustellen. Das M~idchen empfindet nut tiefe PfeifentSne. Ein Schuss in der N~ihe macht ihr Scbmerz im Ohr, aber keine eigentliche Schallempfin- dung; in der Entfernung (Nebenzimmer) nimmt sie Nichts davon wahr.

Die Untersuchung auf Drehschwindel ffiebt bei beiden positive Resultatc. G'alvanischen Sehwindel zeigt n u r d e r Knabe, Iqystag- mus beide. Das M~dchen war schon vor 11/2 Jahren untersueht worden, uud hatte damals aueh galvanisehen Schwindel gezeigt.

in1 Ganzen schliesse ieh aus meinen Versuchen, dams es keineswegs naehgewiesen ist, class die Schallempfindungen bei Labyrinthmangel yon den Acusticusstfimpfen herrUhren. Vielmkhr erscheint es sehr wohl mSglich, dass kS sich nur um tactile Empfin- dungen handelt, fiir welehe vielleicht eine grSssere Erregbarkeit sich anerzogen hat.

"Neuerdings hat Ewald l ) , Vkranlasst durch die VerSffent- liehungen yon Mat t e und B e r n s t e i n , sich noeh einmal fiber die vorliegende Frage ge~ussert. ~eben manchen Bemerkungen , welche mit unseren E~'gebnissen vSllig ~ibereinstimmen, enth~lt diese Ab- handlung eine Anzahl abwkiehender Angaben. So behauptet E w a l d , dass die Tauben auf Anstreichen der Unterlage mit dem Violinbogen nieht reagiren; dieser Widersprueh tSst sieh vielleicht dadureh, dass E w a l d nur solide Tischplatten, ich abet auch dtinne Grundbretter" angestrichkn habe. Eink welt starkere Diffe- renz liegt in dem Umstande, dass die Reaetionen bei E w a l d nut :Nachts, bei mir aber ausgezkiehnet and regklm~issig auch am Tage auftraten. Dies kSnnte dem Gedanken Raum geben, class kS sich bei den beiderscitigen Beobachtungen um versehiedene Arten der Reaction handelt, und E w a l d die yon mir beschriebene charaete-

1) Dies Archly Bd. 59. S. 258.

Page 11: Beiträge zur Physiologie des inneren Ohres

Bdtr~ge zur Physiologie des inneren Ohres. ~15

ristische Vibrations-Reaction nicht beobachtet hat, wir aber nicht dasjenige, was ihm als Schallreaction erscheint. Aueh davon, dass die Reaction noch viele Monate nach der Exstirpation des Laby- rinthes, ja weit sicherer als anfangs auftritt, finder sich bei E w a l d Nichts. El" hat sch0n am Abend nach der Operation die Reaction festgestellt. Dass er sic freilich auch in spiiteren Zeiten nicht ver- inisste, folgt schon aus dem Umstandc, dass er solche Taubcn Monate nach der Qperation zur Constatirung der Sehallreaetion versandte. Die unserm Institut am 6. Juli 1894 zugegangene Taubc war z. B. rechts am 13. April, links am 29. Mai operirt. Um so mehr daft ich mein Befremden aussprechen, dass E w a ld gegen den schon yon M a t t e erhobenen Einwand der Degeneration nur das anftihrt, dass die Sehalh'eaction schon am Abend nach der Exstirpation vorhanden ist.

Bei einem so znverl~issigen Beobachter wie E w a l d muss ich immerhin die MSglichkeit anerkennen, dass wiL wie schon an- gedeutet, vielleicht ganz verschiedene Erscheinungen als Schall- reaction bctrachten. Die yon mir beobachtete ist aber unzweifel- haft zu einer Zeit vorhanden, .wo die Acusticusreste degenerirt sein miissen, nnd aus den erwiihnten Zeitangaben seheint hervorzn- gehen, dass dies auch flit E w a l d ' s Sehallreaction angenommen werden muss.

2. Ueber den angeblichen Zusammenhang des galvanischen Schwindels mit dem Labyrinth.

W~hrend im hiesigen Institut E w a l d ' s A n g a b en U b e r d a s V e r h a l t e n , l a b y r i n t h l o s e r T a u b e n i n f a s t a l l e n B e z i c h u n g e n , t h c i l s a n d e n y o n i h m e i n - g e s a n d t e n , t h e i l s an d e n h i e r o p e r i r t e n T h i e r e n b e s t ~t t i g t w o r d e n s i n d, besteht eine wesentliche Differenz hinsichtlich der Reaction auf transversale KopfdurchstrSmung. Ich habe die .Fragc ihres Zusammenhanges mit den Bogengi~ngen in zahh'eichcn Versuehen an FrSschen, Taubeu und Menschen, wclche bis in das Jahr 1892 zurtiekrcichen, bearbeitet, und will im Folgen- den die Ergebnisse kurz mittheilen.

Fr t i sche , auf einer Platte sitzen d, zeigen auf miissigc StrSme (2 kleine Chromsgurc-Elemente), welehe man mittels kleiner in die Trommelfelle eingehakter Drahtiisen durch den Kopf leitet, regel-

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916 H. S t r e h i :

m~ssig Torsion des Kopfes und des vorderen Theiles der Wirbel- s~tule nach der Anode. Die Labyrinthe exstirpirte ieh zum Theil nach S c h r a d e r ' s Vorgang yon der MundhShle aus, hiiufiger abet naeh folgendem etwas bequemeren Verfahren, yon aussen her. Ich spaltete die Haut tiber dem Os petrosum von einem Trommelfell bis zum anderen, dann machte ich einen Medianschnitt, bog die entstandenen vier Hautlappen zurtiek und beschwerte sic durch herabhiingendekleineKlemmen, da sie bei Bewegungen des Frosches, der auf dem Bauehe liegend angebunden ist, leieht zurtickklappen. In diesem so entstandenen viereekigen Felde sieht man vor sich zuerst die Fascie; diese wird vorsichtig entfernt, ohne die darunter liegende und durchschimmernde Arteria occipitalis zu verletzen. Dann wird die Arterie durchschnitten, nachdem man sic durch Compression neben der Wirbelsiiule blutleer gemaeht hat. Doch, da kS unbequem ist, wahrend der ganzen Operation mit der einen Hand zu eompr!miren, und die Blutung bisweilen am anderen Ende der Arterie noch st(irend auftritt, ist es besser~ die Blutung mit dem Galvanocauter z u stillen. Dann liist man den Musculus temporalis yon seiner oberen Insertion ab, klappt ihn zurtiek und hat so das Felsenbein vor sich liegen. Naehdem man sieh am kn(ichernen Pri~parat gentigend orientirt hat, bohrt man mit dei" Messerspitze eine Oeffnung in das Felsenbein und erweitert diese, bis man bequem mit einer kleinen Pincette eingehen kann. Es ist zweekmiissig, zuerst mit. einer INadel das Otolithen-S~ickchen zu liffnen und mit einer fein gezogenen GlasrShre die Otoiithen- Krysti~llchen herauszusaugen und dann erst mit der Pincette das Labyrinth zu fassen. Man Uberzeugt s ich davon, ob das ganze Labyrinth entfernt ist, dadurch, dass man in einem Uhrsehi~lchen in Wasser genau untersucht, ob es vollst~ndig ist. :Nur in diesem Falle wurde die Exstirpation als gelungen betrachtet. Nachdem auf der anderen Seite ebenfalls das Labyrinth exstirpirt war, wui'den die Musculi temporales wieder an den Knochen herangelegt, die Fascie dartiber, und dann die Hautlap])en durch mehrcre Knopf- ni~hte wieder vereinigt.

Ein beiderseits operirter Froseh reagirt sicher auf den gal- vanischen Strom, vielleicht noeh stiirker als sin gesunder. Ein auf einer Seite frisch operirter Froseh reagirt ebenso constant auf den Strom wie ein normaler, doch scheint die Bewegung lebbafter zu sein, wenn die Cathode an der operirten Scite Jiegt.

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Beitr~ge z~r Physiologic des inneren 0hreso ~~

An der yon E wald unserm'Institut freundlichst zugesandten' beiderseits labyrinthlosen T a u b e hatte schon Herr Prof. H e r m a n n in G emeinseha'ft mit Herrn Dr. M a t t h i a s Versuehe tiber galvanische Reaction angcstellt. Zu denselben diente ein yon Herrn Prof. H e r m a n n angcfcrtigter sehr I e i c h t er und cinfacker Elcctroden- halter yon folgender Construction. Ein federnder Eisendraht ist halbkreisfih'mig so gebog'en, dass er um den Kopf der Taube herumgeht; das eine Ende ist rechtwinklig in frontaler Riehtung nach innen umg'ebogen, so dass es in das eine Ohr gesteckt werden kann, nnd endet knopff(irmig'; das andere Ende ist um ein Holz- pfiSckchen herumgewunden, welches ebenfalls fi'ontal steht, nnd durch welches tin kurzes ehenfalis knopffSrmiges Eisendrtthtehcn gesteckt ist. Von den beiden dUnnen kupfernen Zuleitungsdriihten ist der cine an das letztgenannlie Eisendrithtchen, der andere an den Biigeldraht selbst, a.n dessert Umbiegungsstelle gelSthet. In beide GehSrg~inge werden winzige mit Kochsalzliisung getr~tnkte Schwiimmchen gesteekt, in wetche die beiden knopffSrmigen Draht- enden federnd sich eindrtieken. Der Btigel liegt stets tadellos lest.

Die Tauben stehen meist, mit der Ewald'schen Kopfkappe versehen, fi'ei auf dem Tisch; zuweilen wnrden sic auch in ein Handtuch eingewickelt, das nur den Kopf fi'ei liess, beobachtet. Sowohl an der E w a l d ' s e h e n Taube wie an den von Herrn Dr. M a t t h i a s und yon mir operirten Thieren wurde regelmiissig Ncigen des Kopfes nach der knodenseite beobachtet, und es be- durfte hierzu dnrehaus keiner St~trkeren StrSme als bei gesuladen. An der yon Herrn Professor E w a 1 d hierher gesandten eiuseitig labyrinthlosen Tanhe trat die Reaction etwas stih'ker ein, wenn die Cathode auf der unverletzten Seite, als wenn sic auf der verletzten lag, fehlte abet auch in diesem Falle nieht. Aueh bei der Oeffnung, besonders nach liingerer Schliessnng, sieht man oft die Gegem'eac- tion nach. derCathodel). D i e S t r o m r i c h t u n g l a s s t s i e h a u s d e n R e a c t i o n e n s t e t s m i t S i e h e r h e i t e n t - n e h m e n .

1) Hins icht l ich der Gegenwlrkung bei der Oeffnung mach t E w a l d

(N. octavus S. 238) die Bemerkung , die Polar isat ion sei dabei bethei l igt , well

die Gegenwirkung bei A n w e n d u n g unpolar i s i rbarer Electrode11 ger inger aus-

f~llt. Hier liegt anscheinend ein i r r t h u m zu Grunde. Polar i sa t ion an den

E 1 e e t r o d e n kSnnte h~chstens dann einen Einflu~s haben, wenn die Oeff-

hung jensei ts einer N e b e n s e h 1 i e s s u n g s tat t f~nde, so dass tier Polar i -

E. Pflfiger, Archiv f. Physiologie. Bd. 61. 15

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~18 H. 8 t r e h l

Dies einfache, oft constatil'te Resultat steht nun anscheinend zu E w a l d ' s Angaben in directem Gegensatz. Derselbe beob= achtete erstens an labyrinthlosen Tauben auch mit den stErksteu StrSmeu niemals die Reaction (N. octa.vas S. 232), sondera nu r Zuekungen des Kopfes und anderer Muskcln, bci denene r von eiller ~)rientirten Bewegffng Nichts angiebt, zweitens an einseitig labyrinthlosen Tauben (S. 233) nur dann die gewtihnliche Reaction, wenn die Cathode am gesunden Ohre liegt; im anderen Falle ,,kommt keine starke KopNeigung mehr zu Stande". Aus dieser Ausdrucksweise ist zu entnehmen, (lass doch auch hier Kopfneignng beobachtet warde, so dass eine Differcnz gegen unsern Befund hier kaum vorhanden scheint. Vermuthlieh erkl~h't E w ~ l d diese Reaction als ,Anodenhemnmngswirkung" auf das noeh vorhandene Labyrinth.

Die ,,Nebenreaction", yon welcher E w a l d spricht (z. B. S. 235), kann nicht zur Erkliirnng unsrer Befunde herangezogen werden, da sie naeh E w a l d kcine orientirte zu sein scheint. W~tre sic das, d. h. macht das Thier auch dutch Rcizung anderer Theile ais Labyrinth and Acusticus Bewe~ungen nach der Anoden- seite, so wlire jedenfalls der Behauptung, dass die eigentliche Reaction auf Labyrinthreizung beruht, der Boden fast entzogen.

Die zahlreichen feinen und sinnreich modificirten Versuche Ewald ' s mit Anbringnng nut Einer Electrode am Ohr, sowie mit Anbringung beider Electroden an einem Labyrinth, oder Theilen desselben, enthalten bei nEherer Prtifung keinen entscheidendcn Beweis ftir die beh~uptete Beziehung der Reaction zum Labyrinth. Denn nirgends ist die MitdurchstrSmung' des Gehirns vSllig aus- gesehlossen. Etwas anderes were es, wenn kS E w a l d gelangen were, durch localisirte Reizung einzelner Bogengiinge oder Ampullen Bewegangen in den Ebenen derselben hervorzurufen, was aber nicht' der Fall i s t ; im Gcgentheil tritt cr den heziiglichen Be- hauptungen Breue r ' s entschieden entgegen. Er giebt selbst an, dass in diesen Versuchen stets das ganze Labyrinth gereizt win'de, and es ist nur hinzuzusetzen, dass stets aneh das GeMrn Strom-

sationsstrom sich durch den Kopf abgleichen kann; yon einer Nebenschlies- sung sprlcht aber Ewald nicht,. Handelt es sich aber um inhere Polarisa~ion in den Organen, so mu~s es gleichgiiltig sein~ ob die Electroden polarisirbar uind oder nieht.

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Beit~iige zur Physioiogie d.es ~nneren 0hre~. ~19

antheile' erhalten musste. So beautwortet sieh aueh sehr einfach E w a l d ' s Frage (S. 249), warum auch die stiirksten StrSme be i wirksamster An0rdnung ftir eine Ampulle ,einen so relativ sehwaehen Erfolg zeigen". Er selber macht die hiichst unwahrscheinliche Annahme, ,,dass der durch die electrisehe Erregung erzeugte Zustand der Nervenfasern im Octavusstamm yon einer Faser auf die andere tibergeht", und findet es wahrscheinlich (?), dass der Angriffspunkt fiir den Strom gar nieht das eigentliehe Endorgan, sondern die letzten Verzweigungen des Nerven selbst seien.

In Wirklichkeit scheint mir die Erkl~trung der Reaction dureh Wirkung auf das Labyrinth, selbst wenn dieseibe nicht durch die Erfolge an labyrinthlosen Thieren widerlegt w~h'e, ungemein schwierig, ja unmSglich. Man denke sich den Kopf der Taube, oder auch des Menschen von queren Stromfiiden durchflossen, oder besser, man nehme cute Prliparate zu Htilfe. Man wird dann er- kennen, dass die dureh die Ampullen gehenden Antheile die einzelnen Ampullen in den v e r s c h i e d e n s t e n Richtungen, wenn man die Crista acustica oder die Nel;veneintrittsstelle zum Orientirungscentrum nimmt, durchsetzen. Jede Ampulle hat offenbar ihre Anoden- und Cathodenstellen, deren Dichte bei einem so tier in den Schiidel geriiekten oder wenigstens �9 was auf dasselbe herauskommt -- yon den Electrodenpunkten so welt entfernten Organ im Wesentliehen ~leieh sein muss. Unter diesen Umst~inden verstehe ieh nicht, wie man sich mit Erklarnngen wie Anodenwirkung an dem einen und Cathodenwirkung an dem auderen Labyrinth begn[igen kann. Jede Ampulle muss Anoden- und Cathodenwirkung zugleich empfangen. Hi~ehstens also kSnnte man annehmen, dass der Erfolg eine Art resultirender Wirkung aller Ampullcndurehstriimungen wiire; auch dann abet wtirde ich Begriffe wie Cathodenreizung, Anodenhemmun~', welehe an das electrotouisehe Gesetz erinnern, nieht hineinwerfen, da sie yon der ausseren Electrode hergenommen sind, und Niemand wissen kann, ob in der Resultirenden Anoden- oder Cathodenwirkung der Am- puilen iiherwiegt. Wie u n g e m e i n u n w a h r s c h e i n l i c h i s t e s aber Vollends, dass die resu!tirende Wirkung aller Ampullen- durchstrSmungen bei so versehiedenen Gesehiipfen wie Frosch, Tanbe, Kaninchen, Menseh stats dieselbe sein soil. Die Lage der physiologisehen Anoden und Cathoden an jeder Ampulle muss doch nicht blos yon der bei den einzelnen Thierarten ganz versehiedenen

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2,~0 H. S t r e h l ' .

Orientirung dieser Organe zur Verbindungslinie beider Eleetroden und zum System der StrSmungslinien abh~ingen, sondern dies letz- tere aueh yon den 1,citungsverhaltnissen im Schiidel. K~;nnen diese aber verschiedener sein, als bei Taube und Mensch? Bei jener liegen die Can~tle in einem lnfterfiillten Raum, yon Biilkchen getragen, bei diesem in der eompaetesten Rnochenmasse!

Ein besserer IAusweg wtirde es sein, wenn man die Erfolge yon der Durchstr(imung des Rerven selber ableiten wollte. Man kann nitmlieh mit ziemlieher Wahrseheinliehkeit sagen, dass der Acustieusstamm auf der Seite der Anode wesentlieh aufsteigende, auf ~der Seite der Cathode wesentlieh absteig'ende Componenten erhalten wird~ was sich fi'eilieh auf die eentralen und peripheren E n d i g n n g e n sicher nieht ausdehnen l~sst. [)er Kopf wtirde sich also dutch absteigende Durehstr(imung eines Aeusticus yon der betreffenden Seite wegwenden, and dutch anfsteigende Dureh- strSmung derselben znwenden, und letztere Wirkung die wenig'er starke sein., Diese Ableitung seheitert jedoeh gerade bei E w a l d an der Behanptung', dass Exstirpation des Labyrinthes die be- treffende Reaction aufhebt; bei nns abet, die wit das nieht zn- geben, daran, dass sie aueh noeh zu einer Zeit vorhanden ist, wo die Aeustieusst~imme l~ng'st degenerirt sein mtissen.

Auf der anderen Seite hat es keine Schwierigkeiten, die Er- seheinung auf DurehstrSmnng des Gehirns selbst zu beziehen. Einmal wissen wit, dass Zwang'sstellungen und Zwangsbewegungen, ohne Zweifel verbunden mit Sehwindelempfindungen, dutch Ver- letzung der versehiedensten Hirntheile yore Kopfmark ab, Brticke, KMnhirn, Grosshirnstiele, hervorgebraeht werden kiinnen, sobald nur die Verletznng u n s y m m e t r i s e h ist. Quere Durehstriimung des Gehirns ist abet wie eine htiehst unsymmetrisehe zarte Ver- letzung zu betraehten; dass eine solehe Sehwindel, Zwangsstellun- gen and Zwangsbewegungen macht, ist sehr wahrscheinlieh, ob- wohl kS zur Zeit unmSglich ist, eine speciellere Erklarang oder eine Localisation der Einwirkung zu versuehen. Dass B r e u e r 1) nnd g w a l d 2) leiehter Reaction erhalten, wenn sic die betreffende Electrode auf die Bogeng~nge bringen, als wenn sic sie dicht da- neben dutch dan Knochen hindureh in den Seitentheil des Klein-

1) Dies Archly Bd. 44. S. 143. 2) N. oetavus S. 228.

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Beitr~ige zur Physiologie des inneren Ohres. 22I:

hirns einstechen, beweist nichts. Denn erstens ist es willktirlich, grade des Kleinhirn aus den auf unsymmetrischen Angriff Schwindelreaction gebenden Hirntheilen herauszugreifen, zweitens geht aus Breue r ' s Darstellung dcutlich hervor, dass er aueh yon der in's Kleinhirn eingest0chenen Electrode Reaction erhalten bat, wenn aueh erst bei etwas st~rkeren StrSmen. Da man annehmen muss, dass die Electrodennadel bis auf die Spitze isolirt war, denn sonst w~re das Resultat geradezu unverst~indlich, so kann man den Versuch ebensogut als Beweis benutzen, dass directe Strom- zuleitung' zum Kleinhirn die Reaction hervorrufen karm: A b e r muss denn tiberhaupt die eleetrische Wirkung dieselbe sein, wenn die Electrode punktfOrmig direct auf einen Hirntheil aufgesetzt wird, wie wenn die Stromf~tden yon einem entfernteren Punkte her in gleichmfissigerer vertheilung in einen grSsseren Theil der Ober- fl~che eintreten?

Dass oricntirte DurchstrOmung yon Centralorganen oricnti]'te Einstellung yon KOrpertheilen machen kann, offenbar unter Einfluss yon Empfindungen, daftir haben wit" ein sehOnes Beispiel: in der von H e r m a n fl entdeckten Einstellung yon Froschlarveu und Fischen in durchstrSmtem WasserJ) . Dass das Kopfende bier gegen die Anode gewendet wird, hat sogar cine gewisse Analogie mit de r galvanischen Zwangsdrehung~hi~herer Thiere, welehe frei- lich nur oberfi~ichlich ist nnd nur mit g'rosser Vorsicht verwendet werden dari:

Ich halte es also durchaus fUr mSglich, dass der g'alvanische Schwindel yon Stromwirkung auf das Gehirn selbst herrtihrt: Die Gleichgewichtsempfindung wird, von welchen Organen sie aueh herriihren mSge, symmetrische Erregung voraussetzen; die ge~'ingste Asymmetric der peripheren Erregung nicht blos, sondern aaeh der centralen Erregbarkeiten wird StSrungen der Gleichgewichts- empfindung mit ihren Folgen bis zur Zwangsbewegnng hervor- bringe n. So werden selbst schwaehe das Gehirn durchsetzcnde Stromschleifen, wenn sic nieht etwa rein parallel der Symmetrie- ebene sind, den Keim zu solehen Erseheinungen in sich haben. Solche Stromschleifen wird aber das Gehirn bei jeder Stromappli- cation an den Kopf erhalten miissen, mit Ausnahme des Falles, dass beide Electroden median liegen. In de r That entsteht am

1) Dies Archiv Bd. 37. S. 457, Bd. 39. S. 414, Bd. 57. S. 391.

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222 It. S t r e h l :

Menschen Schwindel nicht allein wenn beide Electroden oder nur eine in der Ohrgegend, sondcrn auch wenn z. B. beide, jedoch in unsymmetriseher~ Lage, im l~acken ange~racht werden, wenn nur der Strom stark genug ist. Wie weit sich die Stromschleifcn er- streeken, erkennt man an dem fast stets sich einmischenden elec- trischen Geschmack und den meist vorhandenen optischen Erschei- nungen. Selbst wenn, wie in gewissen Ewald ' schen Versuchen, beide Electroden an demselben Labyrinth liegen, werden die hier grade auffallend schwachen Erseheinungen (s, oben) viel wahr- Scheinlicher von Hirnschleifen als yon directer Wirkung auf das Labyrinth herriihren.

Man kbnnte einwenden, da doch einmal das Labyrinth Be- wegungsempfindungen und deren Reactionen auslbst~ sei es un- zweifelhaft, dass auch elcctrische Beeinfiussung dessclben solche Folgen haben mtisse, da die Organe auch bei diescm ~vidernatiir- lichen Reiz mit ihrer specifisehen Energie reagiren mtissen. In der That mag ja ein solcher Antheil vorhanden sein, abet die Hauptsache kann er unmbglich ausmachen, da die Reaction, wie ich auf das Bestimmteste behaupte, aueh bei labyrinthlosen Thieren auftritt, und ferner babe ich oben auf die grosse Schwierigkeit hingewiesen, die Constanz des resultirenden Erfolges bei den ver- sehiedenen Verh~iltnissen der einzelnen Wirbelthierklassen zu ver- stehen, wenn es sich wirklich um Labyrinthwirkungen handelt. Endlieh vermisst man bei E w a l d cinch wichtigen Versuch: sehr richtig giebt er an, dass beim Versueh auf eine einzelne Ampulle zu wirken, stets das ganze Labyrinth gereizt wird. Da nun auf diesem Wege eine isolirte Wirkung nicht zu erzielen ist, h~itte er doeh versuchen mUssen, Modificationen dadurch hervorzubringen ~ dass er~die Reizung naeh Zerstbrung einer oder zweier Ampullen wiederholte, ein freilich schwieriger, abet bei seiner feinen Ope- rationsteehnik nicht von vornherein unausftihrbar erscheincnder Versueh.

Ieh komme nun endlich zu den galvanischen Versuehen an taubstummen M e n s c h e n , wie sie zuerst von James1), dann v~ Pollak2)~ und in sehr grosset Zahl, zum Theil schon vor Pol lak ,

1) Amer. Journ. of o~ology Bd. 4. 1882. 2) Dies Archiv Bd. 54. S. 188.

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Beitr~ge zur Physiol0gie des inneren Ohres. 223

und wiederholt, yon mir selber angesiellf sind. Ueber meine eigenen Versuche habe ich Folgendes zu beriehten.

Es wurden mir die SehUler der beiden hiesigen Taubstummen- Institute, des ~Provinzial-Taubstummen-Instituts" und der ,KSnigs- berger Vereins-Taubstummenanstalt', yon den Herren Direetoren hi der liebenswUrdigsten Weise zur Verftigung gestellt, wefiir ieh den Herren auch an dieser Stelle meinen verbindlichsten Dank sage. Bei allen den zahlreiehen und zeitraubehden Versuchen wurde ieh in der freundliehsten Weise yon den Herren Taubstummenlehrern untersttitz~, ohne deren HUlfe es mir hiiufig ganz unmSglieh gewesen w~ire, zu.einem Resulta! zu gelangen.

Die erste Untersuchung habe ieh mit Htilfe des Herrn Dr. P o d a c k im Sommer 1892 in den Taubstummen-Instituten selbst gemaeht. Es wurde sehr darauf geaehtet, dass die schon Unter- suehten mit den noch zu Untersuchendea nicht in Verkehr treten und sie auf die zu erwartenden Erscheinungen vorbereiten konnten. Eine g'anz gewaltige, hiiufig' nicht zu tibei-windende Sehwierigkeit bei diesen Untersuehungen ist tier Umstand, dass den meisten Taubstummen der Begriff,Sehwindel" absolut unbekannt ist. Wenn man sichtlich yon Schwindelgefiihl ergriffene Kinder nach ihren Empfindungen befragt, so gibt das eine wohl an, dass sich die Gegenst~inde mit ibm bewegt hi~tten, oder ein anderes vergleieht seinen Zustand mit dem eines Betrunkenen, ein drittes aber steht stumpfsinnig da, gibt auf alle Fragen verneinende Antworten und macht den Eindruck. als ob ihm sein Zustand gar nicht zum Be- wusstsein gekommen sei; ein viertes will mit deutlichem Ausdruck der Furcht vor etwas illm Unerkl~rlichen davonlaufen. Jedenfalls ist man bei Taubstnmmen ungleich mehr als bei b~ormalen auf die o bj e e ti v e n Erscheinungen (Kopfneigung, Nystagmus) angewiesen.

Zu den Versuchen wurde eine kleine Chromsiiure-Tauehbatterie yon 18 Elementen angewendet, yon denen gewShnlich jedoch nut die Hiilfte benutzt wurde. Der Strom wurde dureh einen Schltissel, Pohl'sche Wippe und Milli-Amp6remeter zu den beiden mit Leder tiberzogenen Knopfelectroden geleitet, diese mit Kochsalz g u t durchfeuchtet auf die beiden Processus mastoidei der Versuchs- person aufgedriickt. Die Stromstiirke betrug, wenn der Kopf in den Strom eingesehaltet war, 5--10 M.-A., je naehdem Haut und Eleetroden mehr oder weniger gut dnrchfeuchtet waren. Ich habe, 0hne unangenehme Zufiille zu beobaehten, die Stromst~rke bis zu

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~24 H. S t r e h l :

20 M.-A. steigern kSnnen, ~ und zwar geschah dieses in allen den F~llen, bei denen auf geringeren S~rom keine Reaction erreicht werden konnte.

Zuerst experimentirte ich an den Schiilern des Provinzial- Taubstummen-Institnts. Bei dieser Untersuchung vers~tumte ich es, die untersuehten Kinder yon den noeh zu untersuchenden zu trennen~ wodurch die Versuche bisweilen sehr gestSrt wurden, aber in ihren sehliesslichen Resultaten nieht beeinflusst werden konnten, da ich den Strom bald yon der einen, bald yon der andern Seite in den Kopf eintreten liess, so dass willktirliches Tat~meln sich immer verrathen musste. Von 65 Knaben und M~tdchen. im Alter yon 8--17 Jahren reagirten 5 nicht auf den galvanischen Strom, also 7,7 ~ Unter diesen 65 waren 38 total taab, yon letzteren versagten 4 = t0,5 o/o. Auf Nystag'mus wurde leider bei diesen Ver- suchen nicht geachtet.

Bei der zweiten Sehule, der KSnigsberger Vereins.Taubstummen- anstalt, wurde die Anordnung des Versuches ge~indert. Vor allem wurden die untersuchten Schtiler yon den noch zn uutersucbenden getrennt. Auch- wurdcn diese Versuche bei g'eschlossenen Augen und einer Fussstellung vorgenommen, Wie sie beim Turnen auf das Kommando ,Fiisse schliesst" eingenommen wird. Von den dorti- gen 76 Schiilern und Schtilerinnen im Alter yon 6-1.6 Jahren ver- sagten auf den galvanischen Strom 12 = 15,8 ~ Unter den 76 waren 54 total taub, yon letzteren zeig'ten 10 keine Reaction =

18,5 ~ In demselben Jahre habe ieh, um diese an Taubstumlnen ge-

wonnenen Resultate mit den Beflmden an g e s u n d e n Kindern vergteiehen zu kSnnen, die Schiller dcr hiesigen Steindammer Mittel- schule mit dem galvanischen Strom untersueht. Die Versuehsan- ordnung war die g'leiche wie bei der letzterw:~thnten Taubstummen- anstalt. Untersucht wurden 78 Sehtiler im Alter yon 9--14 Jahren. Von diesen reagirten 5 nicht auf den galvanischen Strom ~ 6,4 ~ Diese Versager wurden am n~ichsten Tage noeh einmal geprtift, indem ich mich selbst in den Strom mit einschaltete, und so das Vorhandensein und die St~irke des Stromes an meinen Empfindun- gen controlliren konnte. Das Resultat blieb das gleiche. Von diesen 5 Schtilern war keiner sehwerhSrig und hat keiner irgend eine Ohrenkrankheit durchgemacht. Die Versagenden unter den

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BeitrKge zur Physiologie des inneren Ohres. 225

Taubstummen wurden auch noch einmal in der angegebenen Weise geprtifi; a~ den Resultaten iinderte sich dadureh nichts.

[ias G e s a m m t r e s u l t a t d e r V e r s u e h e a u s d e m S o m m e 1." 1892 war also :

yon 141 Taubstumm~n versagen auf den galvanischen Strom 2l = 14,89 %,

yon den darunter befindliehen 92 Totaltauben versagen 14-- 15,21%,

yon 78 normalen Kindern versagen 5 = 6,4 %. I m Sommer 1893 babe ieh die Un[ersuchung der Taubstummen

wiederholt. Wenn aueh his dahin ein gewisser Wechsel unter den Sehiilern staltgefnnden hatte, d. h. die iilteren die Anstalt verlassen hatten und jting'ere daftir eingetreten waren, so war d0ch eine ziem- lieh bedeutende Anzahl mir yore vorigen Jahre bekannter Schtiler da. Meine Versuche erstreektensich diesmal nieht allein auf den galvanischen Sehwindel, sondern aueh auf den dureh Rotation her- vorgernfenen Schwindel. Da letztere Versnehe nicht direct an diese Stelle gehSren, will ich nur kurze Mittheilung dartiber machen. Auf dem Drehstuhle 1) befand sich ausser der Versuehsperson noeh ein Beobaehter, der dutch Fingerauflegen auf die gesehlossenen Lider der Versuebsperson even/utile Bulbusbewegungen bei der Rotation eonstatiren sollte. Derart hatte K r e i d l seine Versuche angestellt und hatte gefunden, dass ca. 50 % der Taubstummen diese reflectorischen Bulbusbewegungen vermissen liessen. Er halt diesen I',lystagmus fiir~ ein Reagens der Functionen des Bogengangappa: rates. Bei meinen Versnehen wurden die Beobachtungen theils dutch Herrn Dr. M a t t hi a s, theils durch reich selbst ausgcfiihrt. Es el'gab sieh, class yon 167 Taubstummen 86 21,5~ keinen ~Nystagmus zeigten. Yon den 167 waren 122 total taub, yon diesen zeigten 2 6 = 2 1 , 3 % keinen blystagmus. Von 53 untersuehten g e s u n de n SehUlern zeigten alle :Nystagmus, 2 gar keinen Sehwindel und 12 sehr schwaehen Sehwindel.

Bei den g a l v an i s e h en Untersuehungen wnrde dieses Mal aueh auf den Nystagmus geaehtet, die Versuehe also bei offenen

1) Derselbe ist nach den Angaben des Herrn Prof. H e r m a n n sehr solide hergestellt und dreht dureh Bewegung einer horizontalen mit Kurbel versehenen Axe eine vertieale Axe mit eiserner Platte, auf welches ein Lehn- stuhl mit den nSthigen Sieherungsvorrichtungen befestigt ist.

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I~26 H. S t r e h l :

Augen angestellt, sonst war die Anordnung so wie im Jahre vorher. Ich fand iblgende Resultate bet den Schtilern des Pr0vinzial-Taub- stummen-Institates: Von 88 Schtil~ern zeigen keine g'alvanische Re- action 23 ~ 26,1 ~ keinen Nystagmus 17 = 19,3 ~ ; weder gal- vanische Reaction noch l~ystagmus habeu 10-----11,3o/o. Ferner, diese Versucite mit den Rotationsversuchen vergliehen, ergibt sich, dass weder rotatorischcn noch galvanischen Nystagmns yon 88 Taub- stummen 6 ze~gen = 6,8 ~/t,, weder galvanische Reaction noch rota- torischen Nystagmus 8 = 9,1%.

Von 78 Schtilern der Vereins-Taubstummen-Anstalt versagten auf den galvanischen Strom 22 = 28,1 O/o , zeigten keinen galvani- schen blystagmus 13 = 16,7 ~ beides zeigten nicht S =: 10,3 ~ .. Mit den Resultaten der Rotationsvcrsuche verglichen, ergibt sich,

das s weder galvanisclien noeh rotatorischen Nystagmus 4 zeigen = 5,1%, weder galvanische Reaction noch rotatorischcn blystag- mus 10-- 12,8 %.

Das G e s a m m t r c s u l t a t d e r U n t e r s u e h u n g .aus d e m J a h r e 1893 ist:

yon 166 Taubstummen zeigen keinc galvanische Reaction 45 = 27,1 ~ ,

keinen galvanischen Nystagmus 30 = 18,1~ weder galvanische Reaction noch Nystagmus 18 = 10,8 o/o , weder galvanisehen noch rotatorischen Nystagmus haben

1 0 = 6 % , weder g'alvanische Reaction noch rotatorischen Nystagmus

haben 18 = 10,S%. Vergleicht man diese Resultate mit denen des vorigen Jahres,

so ergibt sich aus beideu, dass die Zahl del' Vel'sager eine ver- schiedene ist. Als Erkl~runff dafiir den Wechsel unter den Schtilern anzufiihren, dtirfte kaum geniigen.

Ich ziehe aus dieser Ungleichheit der Resultate den Schluss, dass allen diesen Versuehen ein gewisser Manffel an Objectivit~t anhaftet, dass der subjectiven Auffassung ein zu grosser Spielraum gelassen ist. Wet derartige Untersuchnngen selbst gemacht hat, wird an- erkennen miissen, auf wie grosse Sehwierigkeiten man dabei stSsst. Man bedenke, dass die Sehtfler der Taubstummeninstitute aus den ~rmsten Familien stammen, dass in Folge ihrer Krankheit yon den Eltern wenig Gewicht auf ihre Erziehung gelegt wird, dass sic yon den Spielen ihrer Jugendgenossen grSssten Thefts aasgeschlossen

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Beitr~ge zur Ph.ysiologie des inneren Ohres. 997

sind, well sic sich nicht mit ihnen verstiindigen ki~nnem Dass die geistige und kSrPerliche Entwickelung aller dieser Kinder auf einer sehr niedrigen Stufe steht, ist klar~

Jedenfalls stimmen meine Resultate mit denjenigen P o l l a k ' s wenig tiber Bin. Er vermisst Kopfbewegungen bei 33 o/o , ich bei 14,89~ (erste Untersuehung) resp. 27,1% (zweitc Untersuchung). Augenbeweguagen fehlten naeh P o 11 a k bei 30,5 %, nach mir bei 18,1%. Weder Augen- noeh Kopfbewegungen zeigten bei P o l l a k 29,3 % , bei mir 10~8 ~ Von Taubstummen, die bei K r e i d 1 auf der Drehscheibe keine Augenbewegnngen zeigten, hattcn bei P ell ak nur etwa die H~tlfte (58%) keinen .galvanischen ~ystagmus, von 36 Taubstummen, die bei mir auf dem Drehstuhl keinen My- stagmus zcigt~n, hatten nur 10 =-- 27,8 % keinen galvanisehen My- stagmus, es zeigten abel: auch umgekehrt yon 30 Taubstummen, die keinen galvanischen ~ystagmus hattcn, nur 10 = 33,3 % keinen rotatorischen ~ystagmus.

Im Ganzen habe ich hiernach viol weniger galvanisohe Ver- sager (urn einen kurzen Ansdruck einzuftihren)gefundcn als P e l l a k; dieser fand 29,3~ totale Versager, ich nut 10;8 % :

~Normale Personen, wie ich sic schon vet der P o l l a k ' s c h e n Arbeit in grosset Zahl mit herangezogen habe, hat er gar nicht bcriicksichtigt, und so kommt es, dass im gleichen Laboratorium K r e i d I 1) das Versagen eines normalen jungen Mannes als etwas Besonderes auffasst; und demselben einen Defect im inneren Ohre zuschreibt. Ich selbst babe unter 78 gesunden Schiilcrn 6,4 ~ g~l- vanische Versager gefunden~ was gar nicht so sehr weit hinter der, relativen Zahl der taubstummen Versager zurticksteht. Besonders bemerkenswerth abet ist das Verhaltniss dcr galvanischen zu den rotatorischen Versagern. Wenn beide Reactionen, w i e behauptet wird, yon demselben Organ herriihrten, so mUssten, sollte man meinen, entweder beide Dcfecte stets vereinigt sein, oder wenig- stens, falls sine der 'beiden Reactionen die schwiel'iger Zu Stande kommende ist, diese hie ausbleiben, ohne dass auch die andere fehlt. S ta t t dessert giebt es nach meinen Versuchen unter den Taubstummen sowohl galvanische Vcrsager, welche rotatorische Reaction zeigenl als rotatorisehe Versager, bei welehen die galva- nische Reaction vorhanden ist. Da ausserdem, wie schon mehr-

1} Centralbi. f. Physiol. Bd. 7. S. 165.

Page 24: Beiträge zur Physiologie des inneren Ohres

228 H. S t r e h l :

faeh bemerkt (S. 213f. uad 226), derselbeTaubstumme, in Jahres- fristen wiederholt untersucht, mitunter eine friiher vermisste Reac- tion zeigt, so schcint mir der Schluss aus den Untersuchungen Taubstummer, dass die galvanische Reaction yore Labyrinth aus- geht, durcbaus nicht auf festem Baden zu stehen. Am wenigsten aber kann ich es mitmachcn, bei eincm Gesunden, welehem eine oder beide Rcaetioneu fehlen, einen organischen Defect zu diagno- sticiren.

3. Die Bedeutung des VeMibularapparates iiberhaupt.

Der Gcdanke, dass ein Theil desjenigen Organes, w~lches wit als GehSrapparat bezeichnen, einer ganz anderen Function dient, und dass wir ein Sinnesorgaa besitzen, dessen wir uns, ub- weichend yon allen anderen Sinnen, absolut nicht bewusst sind, hat etwas ungemein Widerstrebendes. Abet man muss zugeben, dass im Laufe der Zeit die stringenten Beweise, so wait es sich um Thiere handelt, in grosser Zahl erbracht sind. Die Versucbe von G o l t z , B r e u e r , C r u m B r o w n , E w a l d und vielen anderen sorgf~ltigen Experimentatoren mtissen auch den ~iussersten Skeptikcr zwingen, sich zu ftigen. Freilich fehlt noch der erl~sende Gedanke, n~imlich der •achweis des ursprtingliehen inneren Zu- sammenhanges des statischen oder locomotorischen Sinnes mit der Geh6rfunction. Denn ein solcher m u s s vorhanden sein; dafiir spricht tier innlge Zusammenhang der Schneeke mit dam einen Otolithensack, sowie der gemeinsame Nerv beider S~cke, und da schneckenlose Thiere h~ren kSnnen, muss sogar tier Vestibular- apparat vielfach neben der neu entdeekten auch die GehSrfunction vollziehen k~nnen, oder allgemein mit vollziehen. MSglieherweise ist der primitive Zusammenhang in 'de r phylogenetisch ~iltesten Lebensform, im Leben unter Wasser zu suchen. Die Wahrneh- mung der eigenen Bewegung im Wasser, ohne jeden festen StUtz- punkt, erfordert Sinnesorgane. welche durch das Medium oder durch die Bewegung der Ki~rpermasse dislocirt werden. Ziemlich analog aber ist die Aufgabe, welche beim H~ren vorliegt; die Vibrationen der Umgebunff oder tier K~rpermasse k~nnen nur dutch die Dislocation relativ fester oder relativ tr~iger Ki~rper- bestandtheile zur Wahrnehmung gelangen.

Die Ueberzeug'ung, dass vollst~indiffe Wegnahme der Laby-

Page 25: Beiträge zur Physiologie des inneren Ohres

Be~lr~ge zur P)~yslologle (tes im~eren O~re~. S'29

r in the eine sehr starke Desorientirung der Thiere hervorbringt~ welche besonders hervortritt," wenn man dem Thiere (lurch Ver- sehluss der Angen und Aufstellung aufWatte seine fibrigen Orien- tirung'smittel raubt, muss sieh Jedem aufdriingen, tier eine so operirte Tanbe beobachtet, und Her," Prof. H e r m a n n, dem ich die w)rstebende Betraehtung verdanke, ist dutch die yon Herrn Professor E w a I d eingesandte labydnthlose Taube, und spiiter durch die hier operirten, von seinem frliheren Standpunkte, welcher ungefiihr mit dem noch vet Kurzem von H e n s e n 1) vertretenen tibereinstimmte, zurUckgekommen, ohne sieh im Uebrigen den yon E w a 1 d entwiekelten Theorien des ,,Tonuslabyrinthes" anschliessen zu k0nnen.

Antiers aber tlegt die Saehe beim M e ~ s e b e ~. "Aucb bier dem Labyrinthe eine so fnndamentale Bedeutung zusehreiben zu- wollen, wie bei der Taube, ist eiufaeh unm(iglieh. Ich habe bei den vielen Untersuchungen Taubstummer auf gaivanisehe und rota- torisebe l~eaetion, und bei dem damit verbtmdenen Verkehr mit vielen Taubslummenlehrern meine Anfmerksamkeit ganz besonders auf des generelle Verhalten tier Taubstummen geriehtet. Dieselben zeigen, aasser der Ta~bst~mmbe~ selbs~ ~nd einer m~t diesem Leiden, wie sehon erwiihnt, h~tufig verbnndenen geistigen Sehwer- f'~lligkeit, welehe sieh dutch den Unterrieht in der Taubstummen- anstalt siehtlieh vermindert, kSrperliCh niehts, was auf Mangel eines anderen Sinnesorganes dentete. Dass sic in gewisser Hin' sieht auffallend feinfiihlig sind, ist sehon angefiihrt (S. 213). Ihr Gang" hat eft etwas Stampfendes oder Sehliirfendes an sieh; abet dies erkiiirt sleb, abgesehen yon dem ginfiuss, den geistige Schwer- fiiJligkeit auch auf die kiirperliehe Grazie h,dt, gentigend ans dem Umsiande, dass sic ihre Tritte nieht h(iren, also gewisse naeh dem Gehfr zu erziehende Feinheiten des A:uftretens nicht erlernen. Sie

�9 stehen und bewegen sich sehr sieher aueh mit verbundenen Augen, und was sehr viel sagt, es sind unter ihnen auffallend viele aus- gezeichnet gewandte Turner, Von erwaehsenen Tanbstummen ist ferner hekannt, (lass sie g'rossentheiis gem und gi l l tanzen. Wenn bei allen Taubstummen, welche auf dem Drehstahl abnormes Ver- halten zeigen, tier Vestibularapparat fehlt oder defect ist, so miisste man erwarten, dass wenigstens d ie s e Tanbstummen irgendwelehe

1) Arch. f. Ohrenheilkunde Bd. 35. S. 161.

Page 26: Beiträge zur Physiologie des inneren Ohres

~aO FI. 8+.r e h l :

Haltungs- oder Bcwegangsanomalien zeigen, und ich habe hierauf ganz besonders racine Beobachtung sowic racine Erkundigungen bei den Lehrern gerichtet. Alles fiel ziemlich negativ aus; i n - dessen beruhigte ich mieh hierbei nicht, mit Rticksicht auf die positiven Angaben yon B r e u e r und yon K r e i d l l ) . Nach letzterem kSnnen cine Anzahl Tanbstumme mit geschlosscnen Augen nicht auf einem Beine stehen, anf einem Rundholz laufen. Sehr wichtig ist hier die Vergleiehung mit n o r m a l c n Personen; K r e i d l ' s Bcmerkung~ dass ,a l le die Aufgaben, die in dieser Weise an die Taubstummen gestel!t wurden~ yon einem normalen Menschen mit Leichtigkeit ge]eistct werden konnten", besagt nichts darilber, ob entsprechende Prtifungen an einer gr~i s s ere n Anzahl normaler Personen mit geschlossenen Augen angestellr wurden.

Herr eand. reed. P. J un i u s hat auf Veranlassung des Herrn Prof. H e rm a n n zuniichst cine Anzahl Schiller der beiden hiesigen Taubstummenanstalten anf ihr Verhalten nntersucht, niimlich 16 Knaben und 10 M~dchcn aus der Provinzial- und 16 Knaben aus der Vercins-Anstalt , im Ganzen 42. Die Prtifung erstreckte sich auf gew~ihn[iches Stehen, Stehcn auf einem Bein, Gehen, nnd zwar alles mit offenen und mit verbundenen Augen. Selbst die g e r i n g s t e Abweichung vom normalen Verhalten wurde als Abnormiti~t verzeichnet; die Ergebnisse sind also so u n g ii n s t i g w i e m 5 g 1 i c h gedeutet. Folgende kleine Tabelle

stellt dieselben dar~):

Normal Abnorm

~Norm~l Abnorm

Stehen 1

O: 41 ~ 97,6 O/o

1 ~-- 2,4 ,7 G.

39 ----- 92,9 O/o 3---- 7,1 ,

Ste|ma unf 1 Bein

O~ 32 ---- 76,2 O/o 10 ~ 23,8 , ,

G. 16 --~- 38,1 o/o 26 ~ 61,9 ,

Gradeaus- Gehen

O, 38 ~-- 90,5 % 4 ~--- 9,5 ,,

G. 7 ----- 16,7 ~

35 ~ 83,3 :,

Unter den untersuchten Schtilern sind mehrere erst soeben in die Anstalt eingetreten, und d~ese zeigen entsehieden in jcder Hinsicht das ungtinstigste Verhalten.

1) Dies Archly Bd. 51. S. 144 ft. 2) O. bedeutet offene, G. geschlossene Aug~n~

Page 27: Beiträge zur Physiologie des inneren Ohres

Beitrlige zur Physlologie des inneren Ohre~. 23t

Zum Vergleiehe wurden 16 gesunde Knaben aus einer Volks- schule auf ihr Verhalteu gepriift, wobei sich ergab:

Normal Abnorm

Normal Abnorm

Stehen auf ' Gradeaus. Stehen 1 Bein Gehen

O~ 16 ---~ 100 ~

G. 16 ----- 100 ~

O. i o. 16 = 100 O/o I 16 = 100 O/o

G. G. 10 ---~ 62,5 o/o 7 = 43,7 O/o 6 = 37,5 ,, 9 = 56,3 ,,

Auf den erstcn Bliek scheincn diese Uebersichten die An- sieht K r e i d l's zu bestittigen; die Proeentzahlen der Abnormen sind durchgehends bei den Taubstummen hSher als bei den Nor- malen. Wcnn man aber sieht, dass auch yon ganz gesunden Knaben ti b e r d i e H ~t I f t e m i t verbundenen Augen nicht grade- aus gehen, und t ibel ' e i n D r i t t e i nicht ordentlich aufeinem Beine stehen kiinnen, so wird man schwerlich gcneigt sein, die Abweiehungen auf den Mangel des.jcnigen Sinnesorgans z u be- ziehen, welches den Taubstummen grossentheils fehlcn soll. Viel wahrscheinlieher ist as doch, dass die schon erw~ihnten erziehiichen M~tngel, und .die gr~issere Aengstliehkeit und Befang'enheit der Taubstummen die Ursaehe dei" Versehiedenheit sind.

Wie unwahrseheinlich ist es ferner, dass ein Organ des Kopfes ftir die Ktinste des Balancements auf den Ftissen von ent- scheidender Bedeutung' scin soll. Hier kommt as darauf an, ge- ringe Abweiehungen des Schwerpunkts yon dem Verticahaum tiber de r Untersttitzungsfiiiehe sofort wahrzunehmen und zu corrigiren. Solche Abweiehungen bewirken gar keine merkliche Drehungs- componente des Kopfes, zu deren Wahrnehmung das fragliche Organ g'eeignet w~ire. Vielmebr ist langst bekannt, dass d i e zur Balancirung erforderlichen Wahrnehmungen wesentlieh dcm Tastsinn der ~usssohlen und vielleicht den Empfindungen der Gelenke zufallen, dass deswegen Tabische mit geschlossenen Augen nicht stehen k6nnen. Der V'estibularapparat ntitzt also ganz often- bar diesen Kranken ftir die in Rede stehende Leistung gar n i c h t s ! K r e i d l's Ansicht, dass das Baiancement durch dan Vestibularapparat vermittelt werde, kaun daher nicht riehtig sein,

Worin besteht also der Nutzen des Organs ftir den Menschen?

Page 28: Beiträge zur Physiologie des inneren Ohres

~3~ H. S t r e h l :

Wir wollen zugeben, dass es vermuthlieh den Drehsehwindel her- vorbringt; in der That seheint dies die einzige positive Empfindung- zu sein, durch welehe sich der Besitz ~lieses Sinnesorganes uns verriith. Aber die Fiihigkeit sehwindlig zu werden, kann nicht gut als ein Vortheil der Organisation angesehen werden, es sei denn, dass der Sehwindel uns zur Warnung dient, Drehbewegung'en, welche vielleieht Gefahren bergen, nicht tibet: einen gewissen Grad oder eine gewisse Dauer anwaehsen zu lassenl). Kre id l sehreibt dem Vestibularapparat noeh eine andere Leistung zu, deren Nutzen ftir die Organisation noeh viel sehwerer verstandlieh ist. Der Defect des Organs soll namlich das Bewusstsein der resultirenden Richtung aus Schwer- und Centrifugalkraft verhindern2). Naeh ihm w:~re abel' der Defeetuiise geg'eniiber dem Normalen geradezu im Vortheil, denu ersterer erkennt auf dem Carroussel die absolute Verticalriehtung richtig, tier Normale wird dureh die Centrifugal- kraft get~iuseht !

Abel" grade dieses Erkennen der Vertieah'iehtung seitens des Taubstummen ist so unbegreifiich, dass man den Versnchen gegen- tiber misstrauiseh wird. Er kann doeh unmr eine Erinnerung oder eine verwendbare Gewohnheit mil, bringeu, sondern ist w~ih- rend der Drebung-auf seine Sinnesorgane allein angewiesen. Er befindet sieh abel" in einer Situation, in welcher nun einmal die Riehtung d e r Massenbesehleunigung yon der Vertiealen gesetz- massig abweieht und in j e d e r Hinsieht, ftir die Sinne so gut wie far ein Glas Wasser, in die Resultante aus Sehwer- und Centrifu~,alkraft fiillt. Entweder hat der Taubstumme noeh Sinne tibrig, um diese Riehtung zu erkennen, dann muss er sehief ein- stellen, oder er hat keine tibrig, dann mtisste er gar nieht oder sinnlos einstellen. Wie er dazu kommt auf die absolute Vertieale einzustellen, ist unbegreiflieh, und der Versuch kann daher nieht in K r e i d l's Sinn aeeeptirt werden.

Alles zusammenfassend kommt man zu tier Ueberzeugung, dass der sog. statisehe Sinn des Labyrinthes beim Mensehen nur eine itusserst geringe Bedeutung hat. Das gebt aueh sehon daraus

1) J a m e s (a. a. 0.) will merkwlirdigerweise auch Fehlen des sog. HShenschwindels, einer offenbar rein intellectuellen Erseheinung, bei relativ vielen Taubstummen be0bachtet habei~.

9) Dies Arehiv Bd. 5 I. S. 133 ft.

Page 29: Beiträge zur Physiologie des inneren Ohres

Beltr~ge zur Physlologle des ~nnerea 0~hre~. 233

hervor, dass er nicht schon vor Jahrhunderten dutch Taubstummen- beobaehtung entdeckt ist, sondern dass er erst nach den experi- mentellen Entdeekungen a n der Taube miihsam und spurweise aueh am Menschen dutch zweifelhafte M~ingel Taubstummer be- sti~tigt werden konnte.

Es kiinnte sieh mit diesem Sinne ~thnlich verhalten wie mit dem Geruehssinn, der ebenfalls beim Mensehen, wenn auch ungleieh mehr als der statisehe Sinn, doeh im Vergleieh zu den Thieren nur sehr wenig entwiekelt ist. Hier abet giebt sich die geringere Entwicklung auch morphologiseh am Lobus olfaetorius~ des Gehirns, am knSchernen l~asenlabyrinth und an der Ausdehnung und husstattung der Riechhaut zu erkennen, w~hrend das Ohr- labyrinth in seiner Entwieklung beim Menschen durchaus nieht zurtieksteht. Man daft wohl aueh hieraus schliessen, dass der Vestibularapparat durchweg auch HSrfunetionen hat (vgl. oben S. 228). Ja man ki~nnte sogar vermuthen, dass er z u m H ii re n u n e n t b e h r l i c h ist, d. h. dass der Besitz der Sehnecke zum HSren nicht genUgt; denn nach M y g i n d ~ ) z e i g t e i n F t i n f ' t e l a l l e r T a u b s t u m m e n n u r a n d e n B o g e n g ~ i n g e n A b n o r m i t i i t e n .

Auch bei Fisehen und hmphibien spielt offenbar die bei der Taube so stark entwickelte statisehe Labyrinthfunetion ' nur eine relativ gerlnge Rolle neben der H~irfunction. Wie viele Autoren konnten bei solehen Thieren nach Exstirpation der Bogeng~inge oder des ganzen Labyrinthes keine Haltungs- und Bewegungs- stiirungen eonstatiren~ Da wir vom Verhalten der Reptilien kaum etwas wissen, so darf man sagen, dass tiberhaupt n u r b e i V (i g e I n e i n e erhebliche Bedeutung des uns beschiiftigenden Sinnes nachgewiesen ist; ihnen a m niichsten scheinen die Fische z u stehen. Beide Thierklassen bewegen sich in ihrem Medium ab- weichend yon den nur krieehenden und gehenden Thieren, naeh d re i Dimensi0nen ohne feste Stiitze, und man kann sieh wohl eine Vorstellung davon machen, dass bei ihnen ein besonderes Orientirungsorgan wichtiger ist als bei anderen Wirbelthieren, Und sich daher mehr ausgebildet oder weniger zu)'tiekgebildet hat a!s bei den iibrigen.

1) H. Mygind, Taubstummheit. Berlin u. Leipzig 1894. S. 158. E. Pflf iger , .krchiv f. Physiologie Bd. 61. 16

Page 30: Beiträge zur Physiologie des inneren Ohres

234 H. St rehl : Beltr~ge zur Physioiogle des inneren Ohres.

Naehtrag. Die Abfassung der vorstehenden Arbeit ist in ihren wesent-

lichen Theilen schon vor dem Erseheinen einiger neueren, den- selben Gegenstand betreffenden Pub!icationen erfolgt, auf welche daher nut anhangsweise kurz eingegangen werden kann.

A. B r u c kS) hat nicht altein Taubstumme, sondern wit ich, resp. Herr J u n iu s, aueh Normale auf gewisse Bewegungsanoma- lien untersucht, und unter ersteren etwa 50 O/o, unter letzteren nur 81/3 ~ mit solchen gefunden. Wenn aueh unsre Ergebnisse all :Normalen mit geschlossenen Augen ungtinstiger waren, so ist doeh die Differenz nieht so betritchtlich, dass B r u e k's Versuche unser Urtheil in Frage stellen kSnnten. B r u e k gibt zwar an, dass die mangelhaft fnnetionirenden nieht taubstummen Kinder sehwi~ehlicb und iingstlieh waren [bei unseren Versuehen wurde eine solehe Be- ziehung durehaus nicht bemerkt), sagt aber selbst, d~ss diese M~ngel die Abweichungen nicht erkii~ren, und dass ,,es aueh vielen yon uns nieht immer mSglieh ist, bei gesehlossenen Augen in grader Riehtung vorwiirts zu gehen." Aueh will B r u c k die Stii- rungen night vom Mangel clues specifischen Bal~ncirapparates, sondern yon allgemeinen dureh den HSrdefcet und sonstige mit der Taubstummheit zusammenhiingende Uebelsti~nde bedingten Miingeln herleiten, eine Ansicht, welche sigh mit der hier vorge- tragenen im Wesentlichen deckt.

Die interesSante Arbeit yon L. W. S t e r n 2) ist, abgesehen yon ihrer Bedeutung ftir die Pathologic der Taubstummheit, ftir unsre Frage in sofern yon Bedeutung, als aus derselben ein Zusammen- hang zwisehen Loeomotions- und Spreehf:,'thigkeit der Taubstummen sich zu ergeben seheint. S t e r n ist geneigt, dies mit der Ewald ' - sehen Idee des ,,Tonuslabyrinthes" in Zusammenhang zu bringen. N~ther liegt es wohl, im Ansehluss an das S. 231 Gesagte anzunehmen, dass die mit der Taubstummheit h~tufig verbundene allgemeine Ungeschicklichkeit allen Defeeten, welche ausser der Taubheit be- obaehtet werden, zu Grnnde liegt, und sehwierigere Leistungen, wie Balancirkiinste und Spreehen, minderwerthig maeht.

Zum Schluss sei es mir gestattet, meinem hochverehrten Lehrer, Herrn Geheimrath H e r m a n n fUr seine mir bei der Arbeit stets zu Theil gewordene UnterstUtzung meinen herz!ichsten Dank auszusprechen.

1) Dies Archly Bd.' 59. S. 16. 2) Dies Archiv Bd. 60. S. 124.