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COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden.
Belgrader „Undergrounds“ und die Stille der Provinz
Über die Situation serbischer Autoren in der Gegenw art
Feature von Mirko Schwanitz
ERZÄHLER SPRECHER 1 SPRECHER 2 SPRECHERIN
COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt
werden.
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ATMO 01 Straßenlärm / Stimmengewirr / Belgrad ERZÄHLER Wie jeden Tag staut sich in Belgrad der Verkehr. Schon lange
bevor er das Zentrum erreicht, verdichtet er sich zu einer
zähflüssigen Masse, die die Stadt erwärmt wie ein Lavastrom
seine Umgebung. Seine giftigen Ausdünstungen haben „Beli
Grad“, die „weiße Stadt“ längst schwarz gemacht. Und so
gleichen die hell gekleideten Menschen bunten
Schmetterlingsschwärmen, die unablässig durch die Knez
Mihailova flattern - Belgrads beliebteste Fußgängerzone. Es ist
die fröhliche Unruhe einer Stadt mit zwei Gesichtern.
O-TON 01 Marija Knezevic (serb.)
SPRECHERIN Diese Stadt ist leer, obwohl sie voll ist mit Menschen. Es sind
einfach zuviele Menschen von hier fortgegangen. Sie fehlen dem
Land und sie fehlen mir.
ATMO unter Erzähler ausblenden
ERZÄHLER Marija Knezevic sitzt in einem Café, dessen Tische wie Stege in
den dahinplätschernden Strom aus Körpern und Gerüchen
ragen. Sie rührt in ihrem Kaffee und skizziert mit dürren Worten
präzise die Gemütslage vieler serbischer Schriftsteller, die hier
geblieben sind. Die nicht gegangen sind nach Deutschland,
Holland, Kanada, Kroatien….
MUSIK 01 CD Soundtrack Before the Rain Titel 5 „At The Restaurant“
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SPRECHERIN „In der Pause meiner Reise durch das Zimmer rufe ich mir meine
Freunde in Erinnerung, die in den letzten Jahren fast alle
weggegangen sind, jeder auf irgendeine und kaum jemand auf
s e i n e Seite. Sie sind weggefahren, doch nicht um
zurückzukommen, …, mit Fotoapparaten, Tauchermasken, Schi,
Antibiotika und Pavlovic-Salbe. Diesmal nahmen sie ihre
Diplome mit, ihre internationalen Führerscheine,
Gesundheitszeugnisse, …, Manuskripte, Disketten, Kassetten
mit Musik aus den Siebzigern und diesen Seufzer, der in der
Brust stecken geblieben war und noch lange Zeit nicht den Weg
hinaus finden würde.“ („Das Buch vom Fehlen“, Edition Zwei – Wieser Verlag 2004, S. 107/109
Übersetzer: Goran Novakovic)
MUSIK Ausblenden
ERZÄHLER Nach den Ereignissen im Kosovo 1999, den 38 004 Feindflügen
der NATO, dem Sturz Milosevics und dem Mord an Zoran
Djindjic hat der Westen Serbien nicht nur politisch den Rücken
gekehrt. Titelzahlen und Auflagenhöhen übersetzter Bücher
zeigen, das die Verständigung auch im kulturellen Bereich fast
vollständig zum Erliegen gekommen ist. Marija Knezevic ist es
als einziger serbischer Schriftstellerin, die nicht im Exil lebt,
gelungen, im deutschsprachigen Raum ein Buch zu
veröffentlichen. In dem im Klagenfurter Wieser-Verlag
erschienenen „Buch vom Fehlen“ beschreibt sie mit fast
chirurgischer Präzision unter anderem das Entstehen einer
neuen Spezies literarischer Exilanten.
MUSIK 01 CD Soundtrack Before the Rain Titel 5 „At The Restaurant“
SPRECHERIN „Sie sind auch mit jenen Sachen weggegangen, die sie in ihrer
Verwirrtheit vergessen haben, zu welchen auch die
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Verabschiedung von einem Freund gehört. Das ist kein Wunder,
weil wir ungefähr Dreißigjährigen (bis vor kurzem vom Wort
‚Generation’ angewidert) eigentlich überhaupt keine Erfahrung im
Verabschieden besitzen. Diese Menschen mit der vergessenen
Verabschiedung sind nicht, wie man früher zu sagen pflegte,
emigriert. Das ist jetzt ein anachronistisches Wort. Sie sind in
Züge und öfter Flugzeuge gestiegen noch bevor sie sich sicher
werden konnten, ob sie irgendwer oder irgendwas aus dem Land
gejagt hat. Sie wissen nur, dass Emigrant nicht das richtige Wort
ist, können sich aber an ein anderes nicht erinnern.“ („Das Buch vom Fehlen“, Edition Zwei – Wieser Verlag 2004, S. /109
Übersetzer: Goran Novakovic)
MUSIK ausblenden
ERZÄHLER Wie in den meisten Städten Serbiens haben der vergangene
Krieg und die neuen Grenzziehungen auch in Belgrad tiefe
Spuren hinterlassen. Während sich viele Intellektuelle in
Richtung Westen aufmachten, drängten zahlreiche Opfer
ethnischer Vertreibungen aus ländlichen Gebieten in die
Stadt.Von den 1,7 Millionen Einwohnern sind heute mehr als 300
000 Kriegsflüchtlinge aus der kroatischen Krajna, Slawonien,
Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo. Nur wenige der heute in
Serbien lebenden Schriftsteller haben den Mut, sich damit
auseinanderzusetzen. Das zumindest meint der Autor und
Dramaturg Filip David. Er hat drei Bände mit Erzählungen
veröffentlicht und einen fantastischen Roman. Unter Milosevic
verlor er seinen Job als Leiter der Abteilung Drama beim
serbischen Fernsehen. 1999 gründete er, zusammen mit Autoren
wie Nenad Popovic aus Kroatien und dem in Deutschland
lebenden Miodrag Pavlovic die Gruppe 99, die versucht, die
abgerissenen Kontakte zwischen den Autoren des ehemaligen
Jugoslawien neu zu knüpfen.
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O-TON 02 Filip David (serb)
SPRECHER 1 Ich glaube, dass es gerade mit Blick auf die letzten 15 Jahre
wichtig ist, dass wir Schriftsteller endlich laut und deutlich
Position beziehen. Wir sind Teil der Öffentlichkeit. Wir können
uns nicht bequem an den Rand des Schlachtfeldes setzen und
zugucken. Für das, was in Jugoslawien, in Serbien geschehen
ist, tragen auch die Schriftsteller eine Verantwortung.
ERZÄHLER Der serbische Schriftstellerverband hatte die Politik Titos bis zum
Ende der 70iger Jahre vorbehaltlos unterstützt. Kein Wunder,
seine Mitglieder hatten im Gegensatz zu ihren Kollegen in
anderen sozialistischen Ländern Zensur kaum zu fürchten. Mit
einem Gedichtband sollte sich das Anfang der 80iger Jahre
plötzlich ändern.
MUSIK 02 CD DD Synthesis Titel 7 Chuma unterblenden
SPRECHER 2 … Keiner kann das stumme Buch lesen / Und seine Seiten
zerreißen / Darauf ist das Weltalphabet gedruckt / Und diese alte
Geschichte ohne Ende
Es wurde unterzeichnet / Von einem linkshändigen Schreiber /
Mit Herzfehler / Und einer mit Vogelkot besudelten Brieftaube.
Die Blinden, / Singen und dichten Loblieder / Für diesen Wurm-
Kuttenträger / Und lassen ihn in jedem Dorf ein Haus bauen
(Aus: Goiko Djogo, „Keilschrift“ in: „Das Lied öffnet die Berge - Eine
Anthologie der serbischen Poesie des 20. Jahrhunderts“, Hrsg. Manfred
Jähnichen, Gollenstein-Vlg. 2004, S. 311)
MUSIK ausblenden
5
ERZÄHLER In den Zeilen des Lyrikers Gojko Djogo glaubte das Regime eine
Verunglimpfung des 1980 verstorbenen Tito zu erkennen. Als sie
daraufhin den Gedichtband „Wollene Zeiten“ verbot und seinen
Autor kurzerhand ins Gefängnis steckte, passierte etwas völlig
Unerwartetes: Der Schriftstellerverband organisierte zwei Monate
lang literarische Protestabende auf denen das Regime öffentlich
wegen Knebelung der künstlerischen Freiheit kritisiert wurde. Am
Ende erzwang die Organisation die Freilassung Djogos und
verteidigte in der Folge auch andere betroffene Autoren. Eine
Haltung, die den Verbandsfunktionären in ganz Jugoslawien zu
hohem Ansehen verhalf. Vielen von ihnen, auch Gojko Djogo,
sollte man Anfang der 90er Jahre als Kannonieren der
nationalistischen Politik wiederbegegnen – nicht nur in Serbien.
O-TON 03 Filip David (serb)
SPRECHER 1 Diese Schriftsteller haben genau gewusst, was sie taten. Sie
haben Verantwortung zu tragen, weil sie sich für den
Nationalismus entschieden und nicht für Reformen.
ERZÄHLER Mitte der 80er Jahre durchlebte Jugoslawien eine schwere Krise.
Die Wirtschaftslage war schlecht, Rezession und Hyperinflation
erschütterten das titoistische System in seinen Grundfesten. Auf
der Suche nach Sündenböcken wurden zuerst in intellektuellen
Kreisen, danach in allen Bevölkerungsschichten nationalistische
Argumente salonfähig. 1986 veröffentlichte eine der
renommiertesten Institutionen des kulturellen Lebens, die
Serbische Akademie der Wissenschaften, ein Memorandum.
Darin heißt es:
SPRECHER 2 Durch die herrschende Ideologie werden die Errungenschaften
des serbischen Volkes auf kulturellem Gebiet verfremdet, man
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eignet sie sich an oder spricht ihnen jeglichen Wert ab, man lässt
sie einfach unbeachtet oder lässt sie verfallen, die serbische
Sprache wird unterdrückt, die kyrillische Schrift verliert sich
allmählich. Der Bereich der Literatur ist in diesem Sinne ein
bedeutsamer Schauplatz von Willkür und Gesetzlosigkeit. (Aus: „Völkermord an den Kosovo-Serben!“-Das Memorandum der Serbischen
Akademie der Wissenschaften und Künste 1986, in. „Weltenzyklopädie des
Europäischen Ostens“, Bd. 18, Wieser-Verlag S. 643)
ERZÄHLER Das Memorandum stellte einen Wendepunkt in der Entwicklung
Jugoslawiens dar. Unterzeichnet von zahlreichen Schriftstellern,
u.a. von Dobrica Cocic, dem späteren Präsidenten Serbiens,
lieferte es nicht nur den ideologisch-kulturellen Unterbau für die
erstarkenden nationalistischen Strömungen, sondern wies
gleichzeitig der Literatur eine neue Funktion zu:
In dieser Diktion sollte Literatur den territorial verstreut lebenden
Serben nun ihre nationale Zugehörigkeit verdeutlichen. In den
sogenannten „neuen historischen Romanen“ wurde nun die
Geschichte umgeschrieben, wurden Legenden und Mythen mit
der Realität verwoben. Der Belgrader Soziologe Ivan Cirilov hat
in seinem Buch „Die Symbole der Politik“ die über diese Bücher
transportierten Grundthesen des serbischen Nationalismus
provokativ zusammengefasst:
SPRECHER 2 Die serbische Nation lebt seit Urzeiten auf serbischem Boden.
Dieser Boden ist der Körper. Der Neretva-Fluss ist die Aorta des
serbischen Blutstromes, der Fluss Drina ist ihr Rückgrat …,
während die bosnischen und serbischen Gebirge … ihre Lunge
sind. Dieser Boden verschmolz mit seinem Volk zu einem
lebenden Organismus, der Mutter jedes Serben. … Daher sind
die Orte, an denen das Blut der gefallenen Helden vergossen
wurde – die Schlachtfelder, Hinrichtungsstätten, Friedhöfe und
Gräber – von besonderem symbolischen Wert. Sie bewahren
den Keim der nationalen Erneuerung, das ursprüngliche Opfer
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und den Tod sowie die Wurzeln, durch die die Nation mit der
Erde der Ahnen verbunden ist. Gräber sind daher die natürlichen
Grenzen Serbiens. (Aus: Ivan Colovic „Politika Simbola“ Belgrad 1997, S. 14-16)
ERZÄHLER So gesellten sich die wackeren Mythenschöpfer vom Schlage
eines Dobrica Cocic zu jenen Brandstiftern, die Jugoslawien
lange vor seinem Zerfall Feuer unters Dach legten. Weil sie darin
keine Verstrickung sahen, sondern sich im Gegenteil als
Aufklärer ihres Volkes verstanden, machten sie sich zu
Handlangern einer großserbischen Propaganda. Die Folgen,
meint Filip David, bestimmen bis heute das literarische Leben im
Land und haben deutliche Spuren auf dem Buchmarkt
hinterlassen.
O-TON 04 Filip David (serb)
SPRECHER 1 Natürlich gibt es inzwischen wieder so etwas wie eine
Demokratisierung des Buchmarktes. Die Frage ist nur, wie das
aussieht. Große Zeitungsverlage überschwemmen den
Buchmarkt mit Büchern aus billigem Papier. Mit kitschigen
Liebesromanen, ein paar alten Klassikern, für die sie keine
Rechte mehr zahlen müssen. Das Schlimmste aber ist eine
andere Sorte von Büchern, die die eigentlichen Bestseller sind.
Das sind die Memoiren von Kriminellen und Kriegsverbrechern.
ATMO 02 Stadtverkehr / Schritte / Geräusche
ERZÄHLER Verkauft werden die von Filip David erwähnten Bücher nicht nur
in Buchhandlungen, sondern auch in tausenden bunten Kiosken,
die die Gehwege Belgrads überschwemmen. Hier finden sich
die Konterfeis Radovan Karadzics oder Ratko Mladics in trauter
Nachbarschaft von Sex-Postillen und Zeitschriftenkopien
westlicher Großverlage. Diese Kioske, meint Marko Vidojkovic,
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seien das Abbild des Chaos, das Milosevic in den Köpfen vieler
Menschen hinterlassen habe.
O-TON 05 Marko Vidojkovic (serb)
SPRECHER 2 Das, was sie hier sehen sehen, hat nichts mit Literatur, sondern
eben nur mit Schund zu tun - diese Biographien. Man kann sie in
zahllosen Zeitungskiosken in der ganzen Stadt kaufen. Nehmen
wir „Legija“ Der schreibt fünf Bücher pro Jahr obwohl er im
Gefängnis sitzt. Und die Leute kaufen es, weil er der Mörder von
Djindjic ist. Also da geht es nicht um das Buch, sondern darum,
wer das Buch geschrieben hat. Daran kann man sehen, wie sehr
solche Kriminellen nach wie vor das Unterbewußtsein in
unserem Lande beherrschen. Hier kriegen sie auch die Bücher
von Karadzic, der sich ja angeblich so versteckt hält, das man
ihn nicht finden kann. Als ob die Manuskripte per Post und
anonym zum Verlag kommen.
ERZÄHLER Marko Vidojkovic gehört zur jüngeren Generation serbischer
Schriftsteller und gilt, obwohl inzwischen bereits ein etablierter
Autor, doch noch immer als „Underground“, als Star der
alternativen Literaturszene. Begründet hat er seinen Ruf mit dem
auch im deutschen Horlemann-Verlag erschienenen Buch „Tanz
der kleinen Dämonen“. Geschrieben hat er es mit 17 Jahren.
O-TON 06 Marko Vidojkovic (serb)
SPRECHER 2 Das erste Buch war auf meine Teenagerzeit fokussiert. Mir ging
es darum darzustellen, wie wir damals den Beginn jener
Krisenzeit wahrnahmen, die zu dem Zustand führte, in dem wir
uns heute befinden.
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ERZÄHLER Vidojkovics Buch ist heute nicht nur ein zeitgeschichtliches
Dokument, mit ihm hielt auch eine neue Sprache Einzug in die
serbische Literatur.
MUSIK 03 CD Soundtrack Underground Titel 7 War
Sprecher 2 Wir saßen da und zogen uns eine Sendung von irgendeinem
Idioten …rein …der unglaublich schnell herumflitzte und
Verbrechen löste. Er war arschschnell. Nach der Serie hatten wir
es mit der Politik. Irgendwo im Lande tobte ein Krieg und mein
Vater erklärte mir warum. Er erzählte, dass die einen wie die
anderen Idioten seien … und das in zehn Jahren alle, die sich
jetzt bekämpften wieder zusammenleben müssten, wenn Europa
ihnen die Ohren langgezogen habe. …. Ich teilte seine Meinung
vor allem deshalb, weil sie ganz anders als die offizielle Meinung
war. Mein Alter war in dieser Hinsicht ein absoluter Punk. ….
Insgeheim war ich für die Serben und wünschte mir, dass sie das
Land der Ustascha in Brand setzen würden. Aber ich wusste,
dass das falsch war, weil das ganze Land dafür war und mein
Land und die Menschen in ihm waren ekelhaft … und so
befasste ich mich nicht mit Politik. … Wichtiger war mir, endlich
eine Möse vor die Flinte zu bekommen, einen guten Song zu
schreiben, einen störenden Pickel am Rand der oberen Lippe
auszudrücken. (Aus: Marko Vidojkovic, „Tanz der kleinen Dämonen“, Horlemann 2005, Übersetzung
Milan Andrejic S. 34)
MUSIK ausblenden
O-TON 07 Marko Vidojkovic (serb)
SPRECHER 2 Ich habe erst spät meinen Stil analysiert. Auch wenn es sich um
eine hyperrealistische Art und Weise des Schreibens handelt,
arbeite ich doch mit vielen Symbolen und Metaphern. Man kann
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meine Romane nehmen wie sie sind. Als Abbild des realen
Lebens ohne Hintersinn. Zugleich aber gibt es eine Metaebene,
die ihnen – so hoffe ich – noch ein zweite Dimension verleiht, die
sich aber nicht jedem beim ersten Lesen erschließt.
ERZÄHLER Marko Vidojkovic steht auch für eine neue Generation serbischer
Autoren. Eine, die sich nicht scheut, in einer drastischen Sprache
mit der jüngeren Vergangenheit abzurechnen. Eine Generation
auch, die es verstanden hat, dass Literatur im Medienzeitalter die
Medien für ihre Zwecke nutzen kann und muss:
O-TON 08 Marko Vidojkovic (serb)
SPRECHER 2 Die Kunst verändert sich mit dem Leben. Aber viele Autoren
verändern sich nicht. Und so läuft das Leben an ihnen und ihren
Bücher vorbei. Das Leben, das sind die Leser. Ich kann also
morgen nicht so schreiben, wie ich heute schreibe und dann
jammern, dass meine Bücher sich schlecht verkaufen. Sie haben
einfach nicht begriffen, dass auch gute Literatur den
Marktgesetzen folgt, dass man für die Verbreitung und den
Verkauf von Kultur etwas tun muss. Ich z.B. habe zusammen mit
dem Sender B92 eine Kampagne gestartet.
ATMO 03 Auschnitt aus Radio-Programm B92
ERZÄHLER B92 hat auf der anderen Seite der Donau seinen Sitz, dort wo die
Beton-Gebirge Neu-Belgrads in den Himmel ragen. Aus dem
Radiosender, der in einer Art Guerilla-Taktik maßgeblich am
Sturz Milosevics beteiligt war, ist längst ein kleiner
Medienkonzern geworden. Neben einem Fernsehsender und
einem eigenen Musiklabel haben die B92-Rebellen schon früh
ein kleines Verlagshaus gegründet, das heute mit wenigen
anderen die Keimzelle eines neuen progressiven Verlagswesens
in Serbien bildet. Den Namen aus der Zeit der Arbeit im
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Untergrund, sagt seine Leiterin Lydia Kusovatz, habe der Verlag
aber behalten
O-TON 09 Lydia Kusovatz (serb)
SPRECHERIN Wir haben den Samizdat-Verlag 1993 gegründet, weil wir die
Grundidee von B92 auch auf den serbischen Buchmarkt
ausdehnen wollten. Uns geht es darum, in all den
gesellschaftlichen Bereichen präsent zu sein, in denen wir
Einfluss nehmen können auf die Entwicklung eines
selbstkritischen und staatsbürgerlichen Bewusstseins in unserer
Gesellschaft. Neben belletristischen Werken geben wir also
auch ein Vielzahl politischer und gesellschaftlich engagierter
Publizistik heraus.
ERZÄHLER Dank B92 ist der kleine Verlag entgegen dem allgemeinen Trend
auch mit seiner Belletristik-Sparte höchst erfolgreich.
O-TON 10 Lydia Kussovatz (serb)
SPRECHERIN Wir geben im Jahr vielleicht 14 bis 20 Bücher heraus. Während
es für andere Verlage unerschwinglich ist, die eigenen Bücher zu
bewerben, wird bei uns jedes Buch mit einer Medienkampagne
des eigenen Hauses begleitet. So gelang es uns stets, für unsere
Bücher die notwendige Aufmerksamkeit bei den Lesern zu
erreichen.
ERZÄHLER Die übliche Startauflage für ein Buch liegt in Serbien zur Zeit bei
etwa 500 Stück. Ab 1000 verkauften Exemplaren gilt es bereits
als Bestseller.
O-TON 11 Marko Vidojkovic (serb)
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SPRECHER 2 Die erste Auflage meines vierten Romans „Krallen“ betrug 1000
Exemplare. Dann starteten wir eine dreiwöchige starke
Werbekampagne für das Buch und siehe da, am Ende wurden
15 000 Bücher verkauft.
ERZÄHLER Vidojkovics Roman war damit im Jahr 2005 nicht nur das
meistverkaufte Buch nach dem „Da-Vinci Code“ von Dan Brown.
Schaut man in die Statistiken der Belgrader Nationalbibliothek, in
der die Daten aller Landesbibliotheken erfasst werden, ist es bis
heute auch das meistgelesene Buch in Serbien nach dem Krieg.
O-TON 12 Marko Vidojkovic (serb)
SPRECHER 2 Der Grund ist wahrscheinlich der, das dieses Buch, das in der
Zeit der Studenten- und Bürgerproteste spielt, auch viel über das
Heute und Jetzt aussagt. In meinen Büchern, in meinen Helden
gibt es sehr viel Wut. Ich halte Wut für eine gute Sache – für eine
gesunde Emotion in einer ungesunden Situation. Ich weiß nicht,
was mich trieb, aber ich wollte bei jedem wieder dieses Gefühl
wecken, dass wir es schon einmal geschafft haben, eine
Regierung zu stürzen, dass wir den Mächtigen zeigen können,
von wem die Macht wirklich ausgeht.
ERZÄHLER Und so beginnen literarische Helden, denen jegliche
Heldenmythen fremd sind, nun auch in Serbien zu funktionieren.
Das sei das eigentlich Spannende an Vidojkovics Erfolg, meinen
der Schriftsteller Vladimir Arsenjevic und der soeben aus dem
deutschen Exil nach Belgrad zurückgekehrte Lyriker Dragoslav
Dedovic. Beide kommen – wie Vidojkovic – aus dem
„underground“.
O-TON 13 Vladimir Arsenjevic (serb)
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SPRECHER 1 Ich bin nicht richtig zur Schule gegangen. Ende der 70 Jahre
breitete sich in Belgrad die New Wave und Punkszene wie ein
Lauffeuer aus. Das hieß: Schule schwänzen, abhängen, Mist
bauen. Zugleich ist das Aufkommen dieser Szene untrennbar
verbunden mit dem Tod von Tito, denn plötzlich gab es eine
merkwürdige Form von Freiheit. Alle Beteiligten waren sehr jung.
Ich selbst war 15 damals.
O-TON 14 Dragoslav Dedovic (dt.)
In diesem Jahrzehnt haben sich die Leute intellektuell und
menschlich entwickelt in einem schönen Vakuum. Die Hardliner,
die Kommunisten konnten damals nicht sicher sein, dass sie
auch morgen die Macht haben werden. Und die Chauvinisten
haben sich noch nicht formiert, haben ihre aberwitzigen
Programme noch nicht ausformuliert, und in diesem Vakuum
konnte man wunderbar leben.
MUSIK 04 CD Soundtrack Bevor the Rain Titel 6 In a London Cab
SPRECHER 2 als kind stotterte er und sprach deshalb wenig / es war gegen
ende des sommers da hörte er im radio / the house of the rising
sun seitdem trifft man ihn / in der schule selten häufiger in der
garage wo er / an den bindfäden der weißen bassgitarre zupft / if
you want blood you`ve got it / dürr und gebeugt mit einem joint
hinterm ohr / auf der bühne mit den hüften zuckend zu unserer
geil / aufspielenden Musik never mind the bollocks / im krieg
sagen sie hat er aufgehört zu stottern / doch spricht er immer
weniger und raucht um so mehr / frisch abgeschnittene
Menschenohren tauschend / und abgeschmackte Zigaretten /
seine kalaschnikov ölt er wie weiland die fender / und singt
sindjelic mit der stimme von waits / cold ground mein kumpel /
could, could ground
14
MUSIK noch etwas stehenlassen, unterblenden
ERZÄHLER Zwischen dem lyrischen Werk Dedovics, erschienen im
österreichischen Drava-Verlag, und den Romanen Vladimir
Arsenjevics gibt es viele Parallelen. In seinem inzwischen in
zehn Sprachen übersetzten und bei Rowohlt unter dem Titel
„Cloaca Maxima“ erschienenen Roman, schreibt Vladimir
Arsenjevic über eine geopferte Generation. Eine Generation, die
es ablehnt, den Krieg als ihr Schicksal zu akzeptieren, ihm aber
trotzdem nicht entgeht.
MUSIK 04 CD Soundtrack Bevor the Rain Titel 6 In a London Cab
SPRECHER 1 „Ich hatte Mitleid mit uns allen. In einer jäh aufblitzenden Vision,
die das normale Straßenbild vor meinen Augen zerriß, sah ich
uns alle fliehen, während sich der Boden unter unseren Füßen
mit furchtbarem Geräusch auftat und aus den Tiefen der
unerträgliche Gestank der Jahrhunderte emporstieg, die auf
würdige Weise zu nutzen wir in unserer Trägheit versäumt
hatten; ein zuckender Krake grinste uns entgegen, gleichgültig
für das Entsetzen, dass unsere Bewegungen lähmte, für unseren
Wunsch, weit weg von hier zu sein. Während eines teuflischen
Bacchanals, das eine Sekunde dauerte, verschwanden
willkürlich herausgegriffene Opfer in diesem Krater aus Fleisch.
Es waren viele. Alle, die sich nicht rechtzeitig hatten in Sicherheit
bringen können, alle die es traf, wurden fortgetragen wie
Papierdrachen, die uns von den Novemberstürmen aus den
Händen gerissen werden.“ (aus: Vladimir Arsenjevic „Cloaca Maxima“, Rowohlt-Berlin, S. 64/65
Übersetzung: Barbara Antkowiak)
MUSIK kurz stehenlassen, unterblenden
ERZÄHLER Sarkastisch, selbstironisch und doch mit unüberhörbarer
Verzweiflung beschrieb Arsenjevic das Leben in Belgrad Anfang
15
der 90er Jahre. Das Erfolgsgeheimnis von Autoren wie
Arsenjevic oder Vidojkovic liegt in ihren literarischen Helden
selbst. Sie widersetzen sich den nationalen Programmen und
beziehen ihren subversiven Geist aus ihrem Beharren auf der
eigenen Individualität.
O-TON 15 Vladimir Arsenijevic (serb)
SPRECHER 1 Ich war immer ein Einzelgänger. Ich gehöre zu keiner Gruppe.
Ich versuche als Schriftsteller und Verleger, meine Ideen in die
Gesellschaft zu rufen. Wenn es überhaupt ein kulturelles Leben
in Belgrad gibt, so glaube ich, ist es noch in einem sehr
armseligen Zustand. Der größte Unterschied zu den 90iger
Jahren ist vielleicht der, dass die Leute sich damals geäußert
haben: Für Milosevic oder gegen Milosevic. Weil es diesen
Austausch gab, war die Situation irgendwie erträglicher als
heute. Und das obwohl die Katastrophe damals viel größer war
als heute. Heute ist alles fragmentiert. Und die Literatur leidet
darunter am meisten.
ATMO 05 Zuggeräusche innen
ERZÄHLER Der Zug schaukelt nach Norden. In die Stille der Provinz. Vor
dem Fenster sind die Dörfer der Vojvodina in den Fluten der
Kukuruz-Felder versunken. Ab und zu Getreidesilos wie
Leuchttürme; gemähtes Gras, das liegenblieb und staubige
Wege, auf denen die Speichen einsamer Fahrradfahrer in der
Sonne blinken. Sechseinhalb Stunden, dann taucht aus den
grünen Wogen ein Eiland auf, mit Marktplätzen und
Sezessionsbauten. Der Blick hält sich fest an Subotica.
O-TON 16 Bosko Krstic (serb)
16
SPRECHER 2 Subotica liegt im Schnittpunkt der Gravitationsfelder von
Budapest und Belgrad, auch von Zagreb. In den letzten
einhundert Jahren hat die Stadt fünfmal den Staat gewechselt.
Die großen Ereignisse spielen sich immer in den Zentren ab und
das ist es, was meine Stadt immer verpasst hat, die großen
Geschehnisse aber auch die großen Wahrheiten.
ERZÄHLER Bosko Krstic ist ein drahtiger Mann mit schlohweißem Haar und
blauen Augen in denen Melancholie nistet. Lange Jahre war er
Journalist. Eines seiner Bücher aus dieser Zeit handelt von
seiner Suche nach dem Geburtshaus von Danilo Kis.
O-TON 17 Bosko Krstic (serb)
SPRECHER 2 Mich hat immer interessiert, wieso Subotica überhaupt keine
Notiz nimmt von einem der größten Söhne der Stadt. Und
gleichzeitig hat mich interessiert, warum Danilo Kis die Stadt, in
der er geboren wurde nie erwähnt.
ERZÄHLER Danilo Kis gilt heute als der bedeutendste serbische Schriftsteller
des 20. Jahrhunderts. In seiner Heimat ist er nur wenig beliebt.
Kein Wunder, mutieren seine literarischen sozialistischen Helden
doch nur zu oft zu autoritätsgläubigen Kreaturen, die in blindem
Gehorsam durchaus nicht vor Mord zurückschrecken. Bereits in
seinem Roman „Ein Grabmal für Boris Davidovitsch“, beschrieb
er das Psychogramm jenes Menschentyps, auf den sich später
auch die Macht eines Slobodan Milosevic stützen sollte. Doch
schon in den 70iger Jahren sah die Gesellschaft nicht gern in
einen solchen Spiegel und so wurde Kis schließlich mit einer
Hetzkampagagne überzogen, die ihn 1976 ins französische Exil
trieb.
Warum Kis nie etwas über seinen Geburtsort schrieb, hat Krstic
nicht herausfinden können. Umgedreht jedoch habe er für sich
17
eine Antwort auf die Frage gefunden, warum Subotica sich nicht
an Kis erinnern will.
O-TON 18 Bosko Krstic (serb)
SPRECHER 2 Das Problem ist, das es in Serbien keine kontinuierliche
Geschichtsschreibung gibt. Und damit werden auch jene Figuren
ausgeblendet, die uns einen ungetrübten Blick auf bestimmte
geschichtliche Perioden vermitteln könnten. Auch jetzt wird
wieder heftig daran gearbeitet, das die Menschen vergessen,
was vor diesem Krieg geschehen ist. Es geht also um eine
verordnete historische Demenz.
ERZÄHLER Bosko Krstics Thema sind genaue Studien von Individuen in der
Geschichte. In seinem zweiten Roman „Wassermann“
beschäftigt er sich mit dem Innenleben eines Menschen in der
Endphase des Tito-Regimes und dem Beginn der
Machtübernahme von Milosevic. Auch er bemüht die Mythologie,
wenn auch auf ganz andere Art und Weise.
MUSIK 05 DD Synthesis Titel 6 Ljubov i smrt
SPRECHER 2 Mitten im Schritt hielt er inne. Der Raum war voll Wasser. Das
Nass hatte das Bett, auf dem Andrija lag, bereits völlig
verschluckt. … Es sah aus, als er würde er durch sein eigenes
Zimmer schwimmen, während um ihn herum leere Flaschen im
Wasser hin- und her wippten. …. Die leeren Flaschen schienen
Jan wie geheime Botschaften, die Andrija in seinen letzten
Momenten hatte verschicken wollen, … Doch es gab keinen
Fluss, der sie hätte in irgend ein Meer treiben können, hinaus
aus diesem … Zimmer mit seiner niedrigen Decke. Das Wasser
hatte den kleinen Teppich vor Andrijas Bett zur Seite gedrückt,
so dass er jetzt ganz klar die Löcher in der seltsamen Platte
wahrnehmen konnte, die darunter zum Vorschein gekommen
18
war. Durch diese Löcher strömte das Wasser mit einem
merkwürdigen Heulen in den Raum. …Die Platte ähnelte sehr
einem schweren Grabmahl … Mit einem Mal verstand er alles.
Andrijas Tod und Andrijas Geheimnis. Er begriff, wieso sein
Freund so ruhig und selbstsicher gewesen war, als sie damals
planten, in ihrer Kneipe das Wasser umsonst anzubieten, und …
warum er den Namen des „Wassermanns“ ins Spiel gebracht
hatte. Andrija war der Hüter!
Jan watete zu seinem toten Freund … Nun selbst bis zur Hälfte
im Wasser … folgten seine Augen dessem erloschenen Blick,
der auf das ausgetrocknete Bett des Flüßchens Mlaka gerichtet
zu sein schien. … Als er nach langer Zeit die Straße betrat, fiel
ihm auf, dass das Wasser sich aus beiden Fenstern des
Zimmers ergoss und seinen Weg ins ausgetrocknete Flussbett
suchte. … Alles um ihn war trocken, schrecklich trocken, nur er
war nass und schwach. (Aus: Bosko Krstic „Vodolija“, Kairos-Verlag Subotica 2000, S. 103-105
Erstübersetzung: Marija Lukic/Mirko Schwanitz)
MUSIK ausblenden
O-TON 19 Bosko Krstic (serb)
SPRECHER 2 Für mich steht das Ende des Buches auch als Sinnbild für das
geistige Leben im Serbien der letzten Jahre. Natürlich scheint es
pessimistisch, denn schließlich findet Jan seinen Freund tot auf
der Wasseroberfläche treibend. Aber genau diese Tatsache ist
für mich das Entscheidende, denn wissen Sie, was die Leute hier
früher glaubten? Nur der kann nicht versinken, der reich im
Geiste ist.
ERZÄHLER So stemmt sich auch Bosko Krstic gegen das Versinken. Er
weiß, dass ein Neuanfang notwendig ist. Zur Zeit bemüht er sich,
der ältesten Literaturzeitschrift Serbiens, der 1956 gegründeten
„Garbe“, wieder Leben einzuhauchen und den verstummten
19
Diskurs zwischen den Schriftstellern des einstigen Jugoslawien
von der Provinz aus wieder in Gang zu bringen. Ein schwieriges
Unterfangen.
O-TON 20 Bosko Krstic (serb)
SPRECHER 2 Dieser Krieg hat auch viele Freundschaften beendet. Und das
führt zu einer unglaublichen Vereinsamung. Vielleicht ist deshalb
die unter den Schriftstellern der Provinz am meisten verbreitete
Krankheit, die Depression. Wir wissen nicht mehr viel
voneinander. Die Autoren in Belgrad wissen nichts von denen in
Novi Sad, die in Novi Sad nichts von denen in Subotica.
Dagegen wehre ich mich mit dieser Zeitschrift und einer Gruppe
von Freunden um Otto Tolnai. Er ist vielleicht der einzige, den
man in Belgrad noch kennt. Schließlich war er der letzte
Vorsitzende des gesamtjugoslawischen Schriftstellerverbandes.
ERZÄHLER Otto Tolnai wohnt in Palics, wo die Provinz an einem großen See
ankert, Villen im Schweizer Stil stehen und die NATO ein paar
Bomben fallen ließ – auf eine kleine Wetterstation. Ein weißes
Tor ist übrig geblieben. Nun führt es ins Nichts.
O-TON 21 Otto Tolnai (serb)
SPRECHER 1 Nach dem Krieg wurde nicht nur das Land in einzelne
Republiken zerissen, auch die Städte innerhalb Serbiens haben
sich voneinander entfernt und was für die Menschen in ihnen gilt,
gilt auch für die Schriftsteller - sie haben sich eingeschlossen in
ihre kleinen intimen Kreise.
ERZÄHLER Otto Tolnai stammt aus der ungarischen Minderheit in Serbien.
Über 30 seiner Bücher sind in Ungarn und im ehemaligen
Jugoslawien erschienen. Als einer der engsten Freunde von
Danilo Kis und Alexander Tisma, hat er seine kleine Welt rings
20
um den Palics-See in den Mittelpunkt eines literarischen Kosmos
gestellt, der ihn zu einer der wichtigsten Stimmen in der
zeitgenössischen ungarischen Literatur machte. Doch wenn er
heute auf sein Leben zurückblickt, bezeichnet er sich nicht ohne
eine gewisse Bitterkeit und Resignation als „Orpheus vom
Lande“, als Dichter aus der Provinz.
O-TON 22 Otto Tolnai (serb)
SPRECHER 1 Ich habe erst jetzt verstanden, wie sehr mein Geist geprägt war
von diesem großen Raum. Einige nannten das Jugoslawien, ich
aber nehme diesen Begriff nicht politisch. Als ich aufwuchs, war
hinter mir der eiserne Vorhang und vor mir nur dieser Raum, der
sich bis zur Adria erstreckte. Diesen Raum habe ich durchlebt,
diese Literatur habe ich durchlesen von Ljubljana über Zagreb
bis Pristina. Das war für mich der Spiegel, in dem ich mich selbst
sah und dieser Spiegel ist jetzt zerbrochen.
O-TON 23 Otto Tolnai (serb)
SPRECHER 1 Mir ist aufgefallen, dass es mir schwer fällt, andere Menschen zu
besuchen. Es überrascht mich, wie klein der Kreis jener
Menschen geworden ist, mit denen ich gern diskutieren würde.
Früher hat mich Alles und Jeder interessiert. Das ist jetzt anders.
Alle verdächtigen einander und das hat damit zu tun, dass es
Schriftsteller waren, die sich diese Kriegsideologie der letzten
Jahre nicht nur ausgedacht, sondern auch geholfen haben, sie in
die Praxis umzusetzen. Jetzt definieren sich alle nur noch über
die Grenzlinien ihrer Nationalität.
ERZÄHLER Tolnais Umgang mit der Wirklichkeit, seine Schreibweise, seine
Modernität und seine zum Teil kühnen Anachronismen lassen
sich nirgends einordnen. So umhüllen auch seine Geschichten in
21
dem Bändchen „Eine Postkarte an Don Dukay“ – erschienen in
der Reihe Spurensicherung des DAAD – den Leser mit einem
feinen Spinnennetz, gewebt aus den Fäden von Tolnais geistiger
Existenz, derben Tatsachen und einem unglaublichen
Detailreichtum. So sehr ihn Grenzlinien immer interessierten, so
sehr bemüht er sich, sie in seinem Schreiben völlig aufzuheben.
MUSIK 05 DD Synthesis Titel 6 Ljubov i smrt
SPRECHER 1 „Jemand hatte uns empfohlen, für unsere Pflanzen, … , Torf aus
einem der kleinen Seen zu holen. … Dabei erblickte ich fast
gleichzeitig mit meiner Frau einige prächtige gelbe Wasserlilien.
… Als ich sie im schnell tiefer werdenden Wasser erreicht hatte,
wollte ich rasch ein paar Lilien ausreißen. … Jedoch mir war, als
wollte ich mit meiner Hand einen Baum ausreißen … Wie auch
immer, ich musste tauchen und die näheren Umstände ertasten.
Kaum hatten meine Finger den Seeboden berührt und sich durch
den Schlamm gewühlt, erkannte ich verblüfft, dass sie auf ein
festes Gewirk, auf einen starken, dichten und wahrhaft
berückenden Rhizom-Boden stießen …. bis es mir endlich
gelang, zwei, drei Stengel zu entwirren und dem dichten,
zusammenhängenden Geflecht zu entreißen. Doch da glitt ich
vor lauter Anstrengung aus und griff nach einem schiefen und
vereinzelt dastehenden Pfosten. Solcherart gelang es mir, mit
meinem Strauß in der Hand, das Gleichgewicht
wiederzuerlangen. Und dann besah ich mir .. den Pfosten
genauer.
An seinem oberen Teil waren drei Streifen zu sehen: blau – rot –
weiß.
„Ist das nicht die jugoslawische Trikolore?“ fragte ich meine Frau
… „Ist das nicht vielleicht der Grenzpfosten?“
„Doch, das ist er“ sagte sie, plötzlich ernst geworden. „Wage dich
nur nicht weiter vor!“
22
„Hoffentlich“, sage ich, die wunderschönen gelben Lilien
ängstlich an meine Brust gedrückt „hoffentlich ist der See nicht
vermint.“ Vom ehemaligen eisernen Vorhang übriggebliebene
Tretminen, so sinnierte ich, indem ich den Seeboden mit den
Füßen abtastete; die würden auch den Rhizomteppich nicht
verschonen. Sie würden das zusammenhängende göttliche
Gewebe zerfetzen. Und den Boden, den ich ganz genau ertasten
konnte, neu gliedern (…) – er war nämlich vollkommen
ungegliedert. Die Grenzlinie, die sogar noch auf dem
Wasserspiegel markiert war, spiegelte sich in der Tiefe
keineswegs. Es ist nicht ausgeschlossen, das nunmehr jene
Minen schon verrostet und zu Rhizomen geworden sind,
vielleicht sind es gerade die, aus denen die Wasserlilien
sprießen, aus den rostzerfressenen Rhizomen des ehemaligen
eisernen Vorhangs …. Vor Kälte immer heftiger schlotternd,
fragte ich, meine Blöße mit dem Strauß bedeckend: „Und dann
… worum geht es dann eigentlich?!“ (Aus: Otto Tolnai „Eine Postkarte an Don Dukay“, DAAD Spurensicherung Bd.
15. 2005, S. 81/82 Übersetzung: Gyorgy Buda)
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ERZÄHLER Tolnais Freund und Kollege Laszlo Vegel meint die Antwort zu
kennen. Immer gehe es um Macht. Und im Kampf um die Macht
sei die Identität die größte Manipulationsmasse. Als solche ist sie
aber nur zu gebrauchen, wenn sie sich an der Nationalität
orientiert. Gewissermaßen, meint Vegel, lebten die Autoren der
ungarischen Minderheit in Serbien immer eine Form von
Invalidität.
O-TON 24 Laszlo Vegel (ung)
SPRECHER 2 In den 60iger Jahren waren unsere Werke in Ungarn verboten.
Wir durften nicht in das Land unserer Muttersprache reisen. Als
sich dann die Situation in Ungarn zu verändern begann, wurden
23
meine Werke plötzlich in Serbien verboten. Ich fühlte mich immer
als einer, der zwar zwei Beine hat, aber stets gezwungen war,
auf einem Bein herumzuhüpfen.
ERZÄHLER Für den jüngst bei Matthes und Seitz in Berlin erschienenen
Erzählband „Berlin, meine Liebe“ hat Laszlo Vegel versucht,
seine innere Befindlichkeit und die seiner Heimat in Worte zu
fassen.
MUSIK 05 DD Synthesis Titel 6 Ljubov i smrt
SPRECHER 2 Diese nächtliche Stille zu Hause sucht dich heim, während du in
Berlin in einem billigen Zimmer wach liegst, mit deinem Heimweh
kämpfst, darüber grübelnd wie viele in der sozialistischen Welt
demnächst den Narren spielen, in dem sie hochmütig kundtun,
stets alles klar gesehen, keiner Gewalt je etwas geopfert zu
haben, am allerwenigstem dem kommunistischen Dämon, emsig,
mit pilatushafter Scheinheiligkeit waschen sich die
frischgebackenen postsozialistischen Prohpeten die Hände. Die
ein Leben lang über dich Charakterstudien verfassten, deine
weltanschauliche Eignung bestimmten, trampelten nun auf ihren
seinerzeit heuchlerisch geweihten Fahnen herum, währen sie dir
triumphierend auf die Schulter klopfen und stolz wiederholen:
Alles ist zertrümmert. Aber die Trümmer trösten dich nicht, du
bist vorsichtig, der einen Truppe der Unfehlbaren folgt die
nächste, und man weiß nicht, was sie für dich bereithalten. Von
der Art ist das Heimweh, das dich bedrückt, selbst wenn es für
dein Weh keine Heimat gibt. (Aus: Laszlo Vegel „Nach Berlin…“ S. 199 in: „Berlin, meine Liebe“ –
Ungarische Autoren schreiben über Berlin“, Matthes und Seitz 2006
Übersetzung: Akus Doma)
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24
O-TON 25 Laszlo Vegel (ung)
SPRECHER 2 Meine Heimatstadt Novi Sad, die Hauptstadt der Vojvodina ist
eine große Verliererin des 20. Jahrhunderts. 1945 wurden die
dort lebenden Deutschen vertrieben. Während des zweiten
Weltkriegs die meist ungarischen Juden. Der größte Verlust aber
war, als 1990 fast die gesamte Generation junger serbischer
Schriftsteller auswanderte. Die Vojvodina ist heute keine
mulitkulturelle Region mehr und bei den letzten Wahlen wurden
auch hier die Nationalisten der Radikalen Partei gewählt. Es gibt
dort wieder ein paar junge Autoren. Sie leiden unter der
Situation, aber keiner spricht darüber, was dieses Leiden
ausgelöst hat. Sie meinen, die Aufarbeitung der serbischen
Geschichte sei nicht ihre Aufgabe. Und so fühle ich mich in
meiner Heimatstadt sehr einsam.
ATMO 06 Bahnhof Subotica / Ansage geht über in:
ATMO 05 Zugeräusch innen geht über in:
MUSIK 04 CD Soundtrack Bevor the Rain Titel 6 In a London Cab
SPRECHERIN Was die Einsamkeit ausspuckt / klebe ich auf meine Zähne /
lache / wie hinter dem Glas einer Vitrine in die gewissenlose
Stille / …. / auf dem leuchtenden Kinn der Steine / begegne ich
einem Fischer / Guten Morgen / Guten Morgen / beugt er sich
nach vorn und zeigt mit dem Finger auf den Auswurf / der
Einsamkeit / … / ich wickle mich mit Muscheln ein und schrei / …
/ er zieht mich am Ärmel noch schneller / zerreiß ich mir die
Bluse / wir zappeln wie Fische im Schlamm der Kleider / und
quietschen wie Geldmünzen / Bist du verrückt / Bist du verrückt /
Bist du verrückt / ich grabsche nach dem Auswurf / der
Einsamkeit / ich kopiere den Tanz der Bienen und vermute unter
den Nägeln / die betrunkene Endlosigkeit (unveröffentlicht / dt. Erstübersetzuung. Marija Lukic/Mirko Schwanitz)
25
MUSIK ausblenden geht über in:
ATMO 05 Zug innen
ERZÄHLER Irgendwer hatte mir das Gedicht der jungen Lyrikerin Maja Solar
in die Hand gedrückt. Ich lese es, während der Zug auf
verworfenen Schienen durch die serbische Provinz schlingert. In
Novi Sad, der Heimatstadt Laszlo Vegels, habe ich mich mit drei
jungen Autoren verabredet, die vielleicht schon in einigen Jahren
die literarische Szene ihrer Heimatstadt prägen werden.
ATMO 07 Fußgängerzone
ERZÄHLER Wir treffen uns in einem Café in der beliebten Fußgängerzone in
der Innenstadt. Neben Maja Solar ist da noch die 20jährige
Alexandra Miramarov und den an Muskeldystrophie leidenden
nur wenig älteren Sinisa Tusic.
O-TON 26 Maja Solar (serb)
SPRECHERIN Ich bin gerade mit dem Philosphiestudium fertig geworden. Doch
nun bin ich arbeitslos. Das, was mich in meine Gedichten
beschäftigt, sind die patriarchalischen Strukturen in unserer
Gesellschaft, denn alles hier ist von einem zunehmenden
Phalluszentrismus geprägt.
ERZÄHLER Die Gedichte Maja Solars sind erste zaghafte Versuche der
jungen Generation, anzuknüpfen an die engagierte
jugoslawische Frauenliteratur der 80iger Jahre. Damals schufen
Autorinnen wie Dubravka Ugresic, Slavenka Drakulic und Biljana
Jovanovic literarische Heldinnen, die sich nicht mit der ihnen
vorgegebenen Rolle in der Gesellschaft abfinden wollten. Maja
Solar und Alexandra Miramarov schreiben in einem Umfeld, in
26
dem ihre Vorbilder als „kroatische Hexen“verunglimpft im Exil
leben und die Serbin Biljana Jovanovic als Heimatlose zwischen
Ljubljana und Belgrad pendelt. Heute, so meint Alexandra,
bestimmen in der Mehrheit Männer die Gesellschaft, die den
Frauen nur eine Rolle zuweisen wollen – als „Hüterin des
Herdes“ und Erzieherinnen kommender Generationen
auserwählter Völker.
O-TON 27 Alexandra Miramarov (serb)
SPRECHERIN Dieser Haltung begegnen wir überall, nicht nur in der Geschichte.
Sie bestimmt unseren Alltag. Du spürst es in der Art, wie die
Männer nach dir pfeifen, als pfiffen sie nach ihrem Vieh. Du
spürst es in der Art wie sich die Professoren an der Universität
dir gegenüber verhalten, eigentlich überall, wo ich als Frau
hinkomme. Viele Frauen werden da depressiv. Ich wehre mich
dagegen, in dem ich mich zurückziehe und versuche, mich nur
im engsten Freundeskreis zu bewegen und mich auf mich selbst
zu konzentrieren.
MUSIK 04 CD Soundtrack Bevor the Rain Titel 6 In a London Cab
SPRECHERIN Ist immer noch keine Zeit zu schreiben? / Alles bleibt in meinem
Kopf / das Gehirn eine Raffinerie / Ich kann nicht schreiben! /
schon eine Zeit lang nicht / Alles ist / irgendwie umgekehrt
melodiös und doch / auf seinem Platz /… / die Dummheit macht
mir Angst / Zeit und Raum / eine pulsierende Vagina / in der wir
versinken / wenn ich krank werde / sind auch meine Wörter krank
/ ich will mich wehren / gegen jede Erwartung / unter meinem
Stift / wird mürbe das Papier / (unveröffentlicht, dt. Erstübersetzung Marija Lukic/Mirko Schwanitz)
MUSIK ausblenden
27
ERZÄHLER Die jungen Autorinnen haben ihre eigene Form gefunden, sich
gegen den Kollektivismus eines neuen Nationalismus zur Wehr
zu setzen. Und bauen dabei auf jene weiblichen Netzwerke, über
deren Funktionieren auch während des Krieges in dem Drava-
Verlag erschienenen Briefwechsel von Marusa Krese mit Biljana
Jovanovic und anderen zu lesen war.
O-TON 28 Alexandra Miramarov (serb)
SPRECHERIN Wir haben hier die sogenannte Aschenova-Schule, wo junge
Autorinnen sich mit der Schriftstellerin Dubravka Djuric treffen
und über ihr Schreiben diskutieren. Das ist eine Initiative, die
Feminismus und Poesie zu verbinden sucht.
ERZÄHLER Anders als in Belgrad entwickelt sich im Untergrund von Novi
Sad langsam wieder so etwas wie eine alternative junge
Schriftstellerszene. Der junge Dichter Sinisa Tusic ist darin trotz
oder gerade wegen seiner Muskeldystrophie eine der
markantesten Gestalten. In Belgrad oder Subotica ist er völlig
unbekannt – in Novi Sad aber sind bereits zwei Lyrikbände von
ihm erschienen. Der dritte mit dem Titel „Neue Heimaten“ liegt
noch warm von der Druckerpresse in einigen Buchhandlungen.
MUSIK 04 CD Soundtrack Bevor the Rain Titel 6 In a London Cab
SPRECHER 1 Wie schön auf dem Klo zu sitzen / die ganze Scheiße
loszuwerden / Immer in der Angst, dass mich eine Ratte am
Arsch hat / mich mit ihrem Speichel besudelt / und dann stelle ich
mir das Meer vor / da irgendwo unter mir / Ach wäre es mir
möglich hineinzuspringen / wie der Schauspieler in „trainspotting“
/ einzutauchen in die unendliche Bläue / zu spielen mit
manipulierten Delphinen / zu schwimmen zu den Inseln / dieser
stereotypen Filme / über Schiffbrüche / und Unwetter und …/
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Kannibalen / deren Kot anders stinkt als der / den Manconi einst
ausstellte / der Stammesführer hat befohlen / das man dem
Jungen / das Gehirn kocht / zwischen Millionen Websites / …
Vielleicht hat Bill Gates nicht mit ihnen gerechnet / aber ich
bewahre für mich immer noch die Annehmlichkeit / selbst aufs
Klo zu gehen / wenn unsere Zivilisation auf eine einsame Insel
geworfen wird / wird unsere Scheiße nur anders riechen / und
alle werden sich auffressen / und die / die Überleben / werden
über die Apokalypse berichten / in Form von SMS-Nachrichten /
und die manipulierten Delfine / werden ihren treuen
Wissenschaftlern eine verbogene Poetik bringen / und mit ihrem
Überleben gestalten / das post-kannibalistische Zeitalter (unveröffentlicht, dt. Erstübersetzung: Marija Lukic/Mirko Schwanitz
MUSIK ausblenden
ERZÄHLER Sinisa Tusic beschäftigt sich in seiner Lyrik vor allem mit den
Verwerfungen, die der Krieg in der serbischen Gesellschaft
hinterlassen hat und registriert zugleich, wie sich diese nun mit
den Folgen der Globalisierung vermischen und wie es gerade
der jüngeren Generation vor diesem Hintergrund immer schwerer
fällt, die Vorgänge im eigenen Land zu durchschauen.
O-TON 29 Sinisa Tusic (serb)
SPRECHER 1 Wir leben immer noch in einem Post-Konfliktzeitraum. Für mich
ist eindeutig, dass sich die Schriftsteller in unserem Land zu
wenig engagieren, dass sie keine Verantwortung übernehmen
wollen. Es sind meist die Autoren, die im Exil sind, die darüber
schreiben, dass auch wir Verantwortung übernehmen müssen
für die Kriegsverbrechen in Bosnien-Herzegowina.
ERZÄHLER Seit dem Tod von Zoran Djindjic, meint Sinisa, stehe Serbien nun
noch isolierter da als vorher. Kaum ein Jugendlicher würde ein
Visum für ein westeuropäisches Land erhalten. Und das, obwohl
29
Europa doch gerade von seiner Generation einen
demokratischen Aufbau erwarte. Wenn man aber die Jugend in
dem Topf lasse, in dem nach wie vor nationalistische Köche
rührten, werde der Westen sich schon bald wieder mit
unschönen Dingen befassen müssen. Eine Einschätzung, der
Marija Knezevic nur bitter zustimmen kann. Denn es entspricht
ihren eigenen Erfahrungen mit jungen Studenten der Belgrader
Universität, in der sie vergeblich versuchte, einen Kurs für
Kreatives Schreiben zu etablieren.
O-TON 30 Marija Knezevic (serb)
SPRECHERIN Ich glaube, dass uns eine neue große Tragödie bevorzustehen
scheint – nämlich hier nicht mehr herauszukommen, nicht mehr
reisen zu können. 80 Prozent der serbischen Jugendlichen
waren noch nie in einem anderen Land. Das Wort, dass das am
besten beschreibt, ist das Wort: Perspektive. Meine Studenten
haben keine Perspektive, ihr Blick ist verengt, wie soll man da
kreatives Schreiben lehren. Natürlich kann man die Phantasie
befördern, aber die Phantasie ersetzt nicht die eigene Erfahrung.
Und ich beobachte schon jetzt, welche Auswirkungen das auf
unsere Literatur hat. Bei den meisten beobachte ich so etwas wie
eine hölzerne Sprache. So wird eine Sprache, wenn Erfahrungen
nur noch aus zweiter oder dritter Hand stammen. Doch eigentlich
geht es um Gefühle. Wenn sie an einem Meer stehen, dann
weitet sich der Blick. Aber was ist, wenn sie in einem Keller
sitzen? Das ist die Situation junger Autoren in Serbien.
MUSIK CD DD Synthesis Titel 6 Ljubov i smrt
Sprecherin Der Zimmerstaub kam in meinen Mund, siedelte sich auf meiner
Zunge an, lagerte sich in meinem Körper ab, vom Zeitmessen
ungestört, unmerklich und gleichgültig. … Die Mundhöhle mit
dem feinen Rahmen aus Zahnknochen wurde dadurch noch ein
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dekoratives Element im Zimmer, das nur ein erfahrener
Beobachter von den Kolonien der Vasen und Tassen
unterscheiden kann – also von verschiedenen
Erinnerungsstücken, die auf den Regalen verteilt sind und kraft
des unaufhebbaren Gesetzes der Sentimentalität untereinander
gleichgestellt wurden – also mit brüchigen Zeugnissen immer
ungewisser erscheinenden Reisen, die in die Vergangenheit
ausgewandet sind. Die Vollkommenheit der taubstummen Szene
wird nur noch vom Krächzen des Fußbodens gestört. … Diese
abgenutzten Brettchen … erinnern an ein Musikinstrument,
dessen Klänge in dieser tadellosen Stille ganz klar
wahrzunehmen sind. Und die schwache Erinnerung an das
Knirschen von Kies unter den Schuhen … , welches genügt, um
die Unübersichtlichkeit des Weges zu ersetzen, der in der Ferne
eingemeißelt ist, hat bewirkt, dass das beeinträchtigte Mosaik
des Zimmerparketts jetzt meine neue und einzige Straße wird. (Aus: Marija Knezevic „Das Buch vom Fehlen“ Wieser Verlag 2004 S. 75/77
Übersetzung: Goran Novakovic)
MUSIK auf und ausblenden
ENDE