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XIV. (Aus DEFt CHIRURGISCHEN PRIVATKLIN1K DES Dn. HARTMANN ZU KASSEL.) Bruch des anatomisehen Halses des Oberarmkopfes. Von Dr. Otto Hartmann in Kassel. Mit 3 Abbildungen. Die Frakturen des anatomischen Halses des Humerus sind in reiner Form sehr seltene Verletzungen und sollen naeh A lb err zwanzigmal seltener vorkommen als die Frakturen des chirurgischen Halses, die im u nisse zu anderen Frakturen, z. B. der Clavicula, des Radius und der Malle- olen auch nicht gerade h~ufig beobachtete Verletzungen sind. Zweifelsohne wird aber manehe Fraktur des anatomischen Halses~ namentlich wenn sie mit geringer Dislokation einhergegangen ist, in frfihere~ Zeit fibersehen worden sein. Denn das Schultergelenk ist a priori wegen seiner versteckten Lags der Untersuchung so schwer zug~nglich, dasses bis vor einigen Jahren fast unmSglieh war, solche Verletzungen, die yon keinen sicheren klinischen Symptomen gefolgt waren, zu diagnostizieren. Erst seit einem Jahrzehnte haben wir in den RSntgenstrahlen ein sehr einfaches und sicheres Mittel an die Hand bekommen, auch F~lle yon Frakturen des anatomischen Humerushalses~ die gar keine oder nur geringe klinische Erscheinungen machen, so dass sie friiher entweder gar nicht diagnostiziert werden konnten oder zum wenigsten in suspenso blieben, einer exakten Diagnose und einem weiteren Studium zug~nglich zu machen. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass die Humeruskopffrakturen, sobald nur eine grSssere Zahl yon statistischen Arbeiten fiber dies Gebiet im Laufe der Zeit verSffentlicht ist, ein etwas grSsseres Kontingent stellen werden, als bisher angenommen wurde, und manche Verletzungen des Schulter- gelenkes, die frtiher als einfache Kontusionen oder Sehnenverzerrungen an- genommen wurden, werden sich in Zukunft als Frakturen des Humeruskopfe, entpuppen. Als Ursache wird in tier Majorit~t der Fglle in den Lehrbiiehern eine starke, die Schulter yon aussen treffende Gewalt oder eine Kompression des Oberarmes in seiner L~ngsrichtung angegeben (Helferich). Bei folgendem Patienten ist die Fraktur des anatomischen Humerushalses, die ebenfalls erst 25*

Bruch des anatomischen Halses des Oberarmkopfes

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XIV.

(Aus DEFt CHIRURGISCHEN PRIVATKLIN1K DES Dn. HARTMANN ZU KASSEL.)

Bruch des anatomisehen Halses des Oberarmkopfes. Von

Dr. Otto Hartmann in Kassel.

Mit 3 Abbildungen.

Die Frakturen des anatomischen Halses des Humerus sind in reiner Form sehr seltene Verletzungen und sollen naeh A lb e r r zwanzigmal seltener vorkommen als die Frakturen des chirurgischen Halses, die im u nisse zu anderen Frakturen, z. B. der Clavicula, des Radius und der Malle- olen auch nicht gerade h~ufig beobachtete Verletzungen sind. Zweifelsohne wird aber manehe Fraktur des anatomischen Halses~ namentlich wenn sie mit geringer Dislokation einhergegangen ist, in frfihere~ Zeit fibersehen worden sein. Denn das Schultergelenk ist a priori wegen seiner versteckten Lags der Untersuchung so schwer zug~nglich, dasses bis vor einigen Jahren fast unmSglieh war, solche Verletzungen, die yon keinen sicheren klinischen Symptomen gefolgt waren, zu diagnostizieren. Erst seit einem Jahrzehnte haben wir in den RSntgenstrahlen ein sehr einfaches und sicheres Mittel an die Hand bekommen, auch F~lle yon Frakturen des anatomischen Humerushalses~ die gar keine oder nur geringe klinische Erscheinungen machen, so dass sie friiher entweder gar nicht diagnostiziert werden konnten oder zum wenigsten in suspenso blieben, einer exakten Diagnose und einem weiteren Studium zug~nglich zu machen.

Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass die Humeruskopffrakturen, sobald nur eine grSssere Zahl yon statistischen Arbeiten fiber dies Gebiet im Laufe der Zeit verSffentlicht ist, ein etwas grSsseres Kontingent stellen werden, als bisher angenommen wurde, und manche Verletzungen des Schulter- gelenkes, die frtiher als einfache Kontusionen oder Sehnenverzerrungen an- genommen wurden, werden sich in Zukunft als Frakturen des Humeruskopfe, entpuppen.

Als Ursache wird in tier Majorit~t der Fglle in den Lehrbiiehern eine starke, die Schulter yon aussen treffende Gewalt oder eine Kompression des Oberarmes in seiner L~ngsrichtung angegeben (Helferich). Bei folgendem Patienten ist die Fraktur des anatomischen Humerushalses, die ebenfalls erst

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der R 5 n t g e n sicher stellte, auch durch eine direkte Krafteinwirkung er- folgt, jedoch nicht yon aussen, sondern yon innen, yon der AehselhShle her, zu stande gekommen, wo der Kopf der Gewalteinwirkung infolge seiner weniger kaschierten Lage mehr zugs ist. Auch der Verlauf dieser Fraktur bietet manches Eigenartige, so dass ieh die Krankengesehiehte ffir mitteilenswert halte.

Herr L., 48 Jahr alt, aus Kassel. A n a m n e s e : Patient, der sich in seiner Jugend einen Knochenbruch

des linken Oberschenkels zugezogen hat, will sonst niemals erheblieh krank gewesen seth. Im September vergangenen Jahres (1901) verlor Patient, als er beim Aufhiingen eines Bildes besehi~ftigt war, auf einer Kommode stehend das Gleichgewicht~ schlug mit der Achsel auf die scharfe Kante einer Stuhl- lehne auf und musste l~ngere Zeit in dieser halb hs misslichen Stel- lung verweilen. Der Fall war so heftig, dass Patient die Besinnung verlor und ohnmKchtig fiber der Stuhllehne gebeugt lag. Der Arm schwoll noch an demselben Abend stark an, auch machten sich Schmerzen in der Schulter- gegend bemerkbar, so dass Patient den Arm nicht gut bewegen konnte. Diese Schmerzen liessen jedoeh bald wieder nach, u n d e r war im stande seine ge- wohnte Arbeit nach 3--4 Tagen wieder aufzunehmen. Am Tage nach dem Unfalle soll sich nur eine blau verfi~rbte Stelle in der Gegend des Tuber- culum majus gezeigt haben, die sich im Laufe tier n~chsten Tage wetter nach unten gesenkt hatte. Dies ist iiusserlich neben der Schwellung der Schulter- gegend das einzige 0berbleibsel der erlittenen Verletzung. In der n~chsten Zeit besserte sieh der Zustand wetter, jedoeh blieb eine geringe Bewegungs- beschr~nkung und Schwiiche im Arme zuriick. Erst seit einigen Wochen haben sich in der Schulter mehr stechende Schmerzen beim Heben des Armes eingestellt, die sich namentlich bet Witterungswechsel geltend machen. Das Geffihl yon Schwiiche hat ebenfalls zugenommen, so dass er nicht im stande ist, seine Uhr fiber das Bert an die Wand zu hi~ngen.

S t a t u s : Nicht sehr kriiftiger Mann mit geringem Fettpolster. Knochen und Muskeln sind gut abzutasten. Linke Schultergegend etwas abgeflacht, was auf eine Atrophie des Deltoides zu beziehen ist. Von vorn gesehen ist der Humeruskopf links etwas mehr in die Augen springend als reehts. Keine Deviation der Achse des Oberarmes. Hinten ist die Wirbelsi~ule lordotisch gekriimmt, die linke Schulter h~ngt leicht herab, so dass die Entfernung vom Processus mastoideus bis zum Akromion links li~nger ist als rechts. Be- wegungen im Schultergelenk sind ausfiihrbar, aber tiber die Horizontale hinaus weniger leicht und unter Schmerzen. Die Rotationsbewegungen sind etwas eingeengt, namentlich nach aussen; bet maximaler Drehung hat es den Schein, als ob der Kopf in eine Subluxationsstellung geri~t, die sich unter leichtem Druck beseitigen l~sst. Tuberculum majus ist druckempfindlich, fiihlt sich verdickt an, der Schmerzpunkt macht die Drehung des KSpfchens bet den Rotationsbewegungen mit.

Wenige Stunden naeh dem Unfalle war Patient yon dem behandelnden Arzte untersucht. Die Schultergegend war etwas geschwollen und infolge

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dessen der Kopf schleeht abzutasten. Die Masse beider Oberarme ergaben keine L~ngendifferenzen, es war weder eine Deviation der Achse des rechten Oberarmes nachzuweisen, noch Krepitation im Sehultergelenk zu fiihlen, so dass die Diagnose auf Fraktur so gut wie ausgeschlossen erscheinen musste, zumal Patient sieh schon wenige Tage nach dem Unfalle leichterer Arbeit, bei der er den Arm nicht einmal zu scllonen brauchte, wieder unterzogen hatte. Nur der Bluterguss, der sich einige Tage spiiter in der Gegend des Tuber- culum majus eingestellt hatte, h~tte Verdacht auf eine Knochenverletzung erwecken miissen.

Fiir gewShnlich beobachtet man bei einer Fraktur des anatomischen Halses des Humerus eine sofortige, vSllige FunktionsstSrung, die sich auch im Verlaufe der n~chsten Tage noch geltend maeht. Man hat entschieden das Bild einer schwereren Knochenverletzung, von der bei diesem Patienten nicht die Rede sein konnte.

Ein mit einer Fraktur komplizierter Bluterguss in das Schultergelenk ist, wenn er sich wie in diesem Falle, wo die erSffneten Blutgef~sse sogleich wieder durch die Einkeilung verschlossen werden, in bescheidenen Grenzen h~lt, durch die blosse Palpation i~usserst schwierig nachzuweisen, da ein m~chtiges Muskellager iiberall das Gelenk umgibt und eine exakte digitale Untersuchung unmSglich macht. Am meisten ist tier Palpation wohl die Stelle am hinteren Rande des Deltoidesmuskels zwisehen Subscapularis und Teres minor zugiinglich, die einzige Stelle, an welcher die Kapsel nicht yon Muskeln bedeckt oder verstSrkt wird. Aber wer vermSchte durch diesen kleinen Spalt in den mi~chtigen Weichteilen, die noch dazu durch einen in- folge der Kontusion entstandenen, intermuskul~ren Bluterguss aufgelockert sind, mit Sicherheit das Gelenk in allen seinen Teilen abzutasten! Wenn es unter Umstiinden schon schwierig ist, einen entziindlichen Erguss, der mit keiner Kontusion vergesellschaftet ist, in der mit zahlreichen Ausstiilpungen versehenen Gelenkkapsel zu diagnostizieren, so gehSrt der Nachweis eines kleinen Blutergusses in das Schultergelenk auf traumatischer Basis zu den schwierigsten Aufgaben der chirurgischen Semiotik, und mancher Chirurg wird schon an der Auffindung eines solchen Blutergusses gescheitert sein.

Wie man die Anfiillung des Kniegelenkes am besten durch die u wSlbung einer oberfl~ichlichen, der Abtastung und dem Auge besser zug~ng- lichen Ausstiilpung (Recessus subcruralis) erkennt, so muss man auch beim Schultergelenk in ganz analoger Weise aus der Fluktuation einer Aussackung des Gelenkes auf einen Erguss in das Gelenk hinein schliessen. Es ist das eine Ausstiilpung der Kapsel liings der Bicepssehne, in der man auch deswegen, well sie fiir gewShnlich den tiefsten Punkt des Gelenkes bildet, einen hydropischen Erguss am leichtesten und sichersten nachweisen kann.

Da Patient im Laufe der letzten Monate eine Verschlimmerung seines Zustandes bei Bewegungen des Armes empfand, wurde yon mir am 4. VIII. 02 eine RSntgenaufnahme bei richtiger anatomischer Lage dieser Extremitiit, wobei der Unterarm nach vorn gerichtet war, aufgenommen, die folgenden Befund ergab: Die ~iussere Form des Humeruskopfes ist vollst~ndig ver-

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~ndert. Es fiillt auf den ersten Bliek sogleich eine Verbreiterung des Gelenkkopfes im horizontalen Durchmesser auf, der Kopf hat seine zier- liche Gestalt und seine rundliche Form eingebiisst, er ist plumper und breiter geworden, trotzdem der eigentliche Schaft ein schlankes Aussehen sieh be- wahrt hat. Besonders in die Augen springend ist eine mgehtige Entwieke- lung des Tubereulum majus und eine Verschiebung'der knorpeligen Gelenk- fl~che, des sogenannten anatomischen Kopfes, medianw~rts~ wodurch zwischen Tuberculum majus und Kopf eine tiefe Einziehung und an der Innenflii.ehe ein schnabelfSrmiger Vorsprung an der Knorpelknochengrenze gebildet wird. Unser Skiagramm zeigt uns als weitere Ver~nderung eine deutliche Bruchlinie, die in der Tiefe des erw~hnten Einschnittes beginnt und sich ein gutes Stiiek abwgrts erstreckt, parallel der Spina tuberculi majoris. Aueh die wellenfSrmige Linie, die der Knorpelknoehengrenze entspricht, und die ich ~uf anderen

Fig 1. Fig. 2.

j f - - ~

Bildern nur angedeutet sah, tritt hier markanter hervor, so dass wit eben- falls eine verheilte Bruchlinie annehmen miissen. (s. Abb. 1 und 2.)

Es handelt sich demnach in diesem Falle um eine totale Absprengung des anatomischen Kopfes~ die keilf5rmig mit geringer Verschiebung median- w~rts in die spongiSse Epiphyse des Schaftes zwischen die beiden Tuberkula hineingetrieben ist, wodurch der Schaft geberstet und auseinandergesprengt worden ist. Das hiirtere spitze Fragment hat sich in das weiche spongiSse Fragment hineingespiesst und eine Li~ngsfraktur bewirkt, die sich in den Schaft des Humerus eine Strecke welt fortgesetzt hat.

Derartige EinkeilungsCrakturen, bei denen das obere Fragment in das untere eingekeilt ist, beobaehtet man nicht so ganz selten. H~ufiger jedoeh, wenn die Bruchfl~che des kleineren oberen Fragmentes glatt ist, rutscht es ganz auf die innere Seite, was in unserem Falle durch die schnabelfSrmig vorspringende Spitze des oberen Fragmentes nur soeben angedeutet ist; hier- bei wird dann das untere grSssere Fragment noeh mehr durch den Muskel-

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zug des Deltoides in die HShe gezogen. In sochen F~llen finder man den Kopf ganz auf der medianen Seite des Humerus, so dass der obere Teil des Humerus, der der Pfanne gegenfiber liegt, ganz ohne Knorpeliiberzug ist. B e c k hat jiingst einen ~hnlichen Fall beschrieben und durch einen ent- sprechenden Gipsverband unter Kontrolle des RSntgens mit Erfolg reponiert.

In anderen F~illen wieder~ in denen der Bruch ganz intrakapsul~r statt- gefunden hat, kann sich das obere Fragment sogar als loser KSrper in der m~ch- tigen GelenkhShle bewegen, die so weir ist~ dass sie unter Umst~nden zweimal den ganzen Humeruskopf fassen kann~ und sich aueh unter der Wucht der Gewalteinwirkung um seine Querachse drehen, so dass die Bruehfl~che des oberen Fragmentes ebenfalls nach der Gelenkfl~che der Skapula gekehrt ist, und seine iiberknorpelte Gelenkfl~che die Bruchfl~che des unteren Fragmentes beriihrt. Dass der Kopf nicht der Nekrose anheimf~llt, hat seinen Grund meistens darin, dass er mit dem Schafte durch br~ickenartige Periostfetzen in Verbindung bleibt~ welche die Ern~hrung weiter unterhalten. Aber selbst wenn er ganz lose~ ohne die geschilderte Verbindung mit dem Schafte in der GelenkhShle gelegen ist, also yon der Blutzirkulation ganz ausgesehaltet ist, braucht nicht immer Nekrose einzusetzen. Mir ist ein Fall in Erinnerung~ bei dem nach einer Hiiftgelenkser5ffnung der Kopf lose~ ohne irgend welehen Zusammenhang mit dem Femur gefunden wurde. Trotzdem nun dieser Kopf schon l~ngere Zeit in diesem Zustande sich in der GelenkhShle beflmden haben musste~ konnten in seinem Inneren lebensf~hige, rote Blutk5rperchen nachgewiesen werden, was bis jetzt unaufgekl~rt geblieben ist.

Die U r s a c h e e ine r so lchen F r a k t u r des H u m e r u s k o p f e s ist nach meinem E r m e s s e n fas t r ege lm~ss ig ebenso wie die L u x a t i o n im S c h u l t e r g e l e n k e ine d i r e k t e Gewa l t e inwi rkung . Denn w~hrend man friiher die Schulterluxation h~ufiger als Folge einer indirekten Gewalt ansah~ die meistens durch Fall auf den ausgestreckten Arm zustande kommen sollte, ist man heute, wo der Reitsport yon jungen M~nnern wenig betrieben wird und das Niederrad das Hochrad ganz verdrgngt hat, der Ansicht, dass diese Verletzung direkten Gewalten, und zwar durch Fall auf die seitliche nnd hintere Schultergegend zuzusehrieben ist, wobei der Kopf dann aus der nach vorn und seitlich gerichteten Pfanne unter den Processus eoracoides getrieben wird. Man braucht nur sorgfgltig die Anamnesen aufzunehmen, um das soeben Mitgeteilte fast in allen F~llen bestgtigt zu finden.

Um die Fraktur des anatomischen Halses zu erkl~ren, miissen wir uns die Anatomie des Schultergelenkes und die Topographie dieser Gegend bei abduziertem Arme, wie es den natiirliehen Verhgltnissen beim Sturze am ehesten entspricht, vor Augen fiihren. Dadurch, dass Patient ausglitt, be- wegte sich der schwere Rumpf plStzlich dem Gesetze der Schwere gemKss nach unten, wghrend der linke Arm, mit dem zweifelsohne instinktive Ab- wehrbewegungen im Momente des Falles ausgefiihrt wurden, anfangs in der Luft sehwebte und dann auf die Stuhllehne aufschlug.

Die Gelenkkapsel, die in dieser Stellung in den unteren Partien ange- spannt ist und in der akromialen Partie mehrere Falten schl~gt, entspringt

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am Schulterblatt ringsherum yon der Gelenklippe und zwar~ wenigstens an der oberen Pfannenh~]fte, nach hinten von dem freien, wulstfSrmig in den Gelenk- raum vorspringenden Lippenrande und setzt sich am Oberarme am anatomi- sehen Halse an~ d. h. oben an der Grenze des fiberknorpelten Gelenkkopfes in der Furche zwischen Knorpelrand und beiden ArmhSckern. Es zieht dem- nach die Kapsel yon der grSssten Peripherie der Gelenkfl~che des Schulter- blattes zu der grSssten Peripherie des Oberarmkopfes (die durch diese Peri- pherie gelegte Ebene bildet mit der Horizontalebene einen Winkel yon 50o), liegt hier dem Kopf eng an und geht fi~eherfSrmig in die v e r d i c k t e , f e s t am K n o c h e n h a f t e n d e Beinhaut fiber, w~hrend die zentral yon der Hals- ebene gelegene Kalotte des Kopfes frei und schutzlos in dem rShrenfSrmigen Raume sehwebt (s. Abb. 2).

Da die fibrSse Gelenkkapsel noch dureh straffe Bindegewebszfige (Liga- mentum coraco-humerale, Ligamentum gleno-humerale sup., reed. und infi)an geeigneten Stellen verst~rkt wird, so haben wir in der Sehultergelenkkapsel

einen recht m~chtigen Schlauch vor uns, der die Knochenteile, soweit sie zum Schultergelenke gehSren~ mit Ausnahme der erwiihnten Kalotte des Kopfes im Verein mit der verdickten, dem Knochen lest anhaftenden Beinhaut umschliesst und dadurch an dieser Stelle zur Ver- stiirkung des Knochens ganz wesentlich beitr~gt. Die Knochenb~lkchen werden durch den Bandapparat ebenfalls lest aneinander gefiigt.

Wir wissen nun alle aus der Frak- Fig. 3. turlehre, dass die B~nder hiiufiger viel

widerstandsfi~higer als die angrenzenden Knochen (Malleolar-~ Radiusfrakturen) sind, eine Tatsache, die auch C a v a y ~ beim Scbulterge]enke bestiitigt, der land, dass nach Trauma durch die unverletzten Kapselteile unter Umst~nden Rissfrakturen des Schulterblatthalses vermittelt werden, w~brend es P o i r i e r allerdings nur gelang, durch Zug an den B~ndern nicht den ganzen Hals, wohl kleine Knochenstiickchen abzureissen.

Wenn diese, ich mSchte sagen, passiven B~nder eine nicht zu unter- sch~itzende Rolle bei der Erkl~rung derartiger Frakturen spielen~ so ist doch auch die Wirkung verscbiedener aktiver B~nder nicht zu unterseh~tzen. Beim Schultergelenke sind niimlich mehrere Sehnen (Supraspinatus, Infraspinatus, Subscapularis und Teresmuskel) in die Gelenkkapsel eingelassen, yon denen schon die oberen fast drei Viertel des Schultergelenkes ausmachen. Durch die Insertionen dieser Sehnen, die mit der Kapsel so innig sind, dass sie naeh S a p p e y ein organisehes Ganze bilden, wird die Kapselwand ganz erheblich verstKrkt und der Kopf mit den iibrigen, das Gelenk umgebenden Muskeln (Deltoides, Pektoralis major und Latissimus dorsi) der gegeniiber liegenden Pfanne genghrt. Nehmen doch alle Muskeln, die die Bewegungen

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des Armes im Schultergelenke zur AuslSsung bringen, mehr oder weniger vom Schultergiirtel ihren Ursprung und inserieren am Oberarm, sei es ganz in der N~he des Gelenkes an den RollhSckern, sei es etwas tiefer am Schafte im Gebiete des chirurgischen Halses.

Kommt demnach die Gewalt ganz plStzlich yon unten, yon der Axilla her, so wird in dem Momente der Gewalteinwirkung der Kopf durch den Muskeltonus, dessen Wirkung in der Regel nicht hoch genug angeschlagen wird, gegen die gegeniiberliegende Gelenkfl~che des Sehulterblattes und nach oben hin gegen das Akromion gepresst und die ~ussere Peripherie des Kopfes gegen die entsprechend ausgehShlte Gelenkfl~ehe fixiert.

Ist dann die Gewalt hinreichend stark, wobei die Stuhllehne im Ge- biete des Kopfes im Momente des Aufschlagens noch als Hypomochlion wirkt, indem der Arm als 15ngerer Hebelarm schon infolge seiner Schwere herabfs so kann es nur zwischen Umschliessungsperipherie der Gelenk- kapsel am Humerus und der Gelenkfls des Schulterblattes zur Fraktur kommen, niimlich da, wo tatsi~chlich die Fraktur erfolgt ist. Hier ist der Knoehen am wenigsten resistent, weil er frei vom umgebenden und ver- st~rkenden Bandapparate und yore umschliessenden Knochen der entsprechend ausgehShlten Pfanne ist und hier einerseits die Rindenschicht vom Schafte herkommend der AuflSsung entgegengeht und andererseits die auf dem Quer- schnitte entgegeneilende Knorpelsubstanz auf ein Minimum reduziert ist, w~hrend sie in der Mitte des Kopfes bis zu 2,2 mm betragen kann.

Die Bewegungsbeschr~nkung, fiber die Patient nach dem Falle zu klagen hat, ist weniger bedingt durch die anatomische Dislokation der Frag- mente. Dieselben sind ann~hernd gut verheilt, so dass kaum eine Ver- kiirzung des Armes resultiert. Sie beruht vielmehr auf einer Schrumpfung der Kapsel, wie wir diesen Zustand so hiiufig nach der u tier ty- pischen Radiusfraktur beobachten, auf vermehrter Kallusbildung und auf Verwachsung der Sehne des langen Bicepskopfes, die, wie erw~hnt, fiber den Humeruskopf durch das Gelenk verls und gute Gelegenheit findet, bei langer Anwesenheit eines Ergusses im tiefsten Punkte der GelenkhShle (Bursa bicipitis) mit der Kapsel zart zu verwachsen.

Hand in Hand mit diesen Vers gehen eine Atrophie und Atonie des Deltoides, die im Laufe der Zeit zur Bewegungseinschr~nkung noch mehr beitragen.

Die Zunahme der Bewegungseinsehr~nkung und Schmerzen namentlich bei Witterungswechsel wird durch die Ver~inderungen der Arthritis deformans hervorgerufen, mit der man stets bei Frakturen, die das Gelenk selbst treffen oder in der l~i~he des Gelenkes lokalisiert sind, zu rechnen hat. Deshalb muss man aueh nach der Yerheilung derartiger Frakturen bei der Begut- achtung i~usserst vorsichtig sein. P a t i e n t e n w e r d e n be i B r i i c h e n , d i e das G e l e n k o d e r in d e r Niihe des G e l e n k e s g e l e g e n e P a r t i e n b e t r o f f e n h a b e n , n u r u n t e r d e r B e d i n g u n g w i e d e r vo l lkommen a r b e i t s f ~ h i g s e in , w e n n s i c h zu den v e r h e i l t e n B r i i c h e n k e i n e A r t h r i t i s d e f o r m a n s g e s e l l t .