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CODICES E VATICANIS SELECTI QUAM SIMILLIME EXPRESSI IUSSU IOANNIS PAULI PP II CONSILIO ET OPERA CURATORUM BIBLIOTHECAE VATICANAE, SERIES MAIOR VOL. XLIV COMMENTARIUM Biblioteca Apostolica Vaticana

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CODICES E VATICANIS SELECTI

QUAM SIMILLIME EXPRESSI IUSSU

IOANNIS PAULI PP II

CONSILIO ET OPERA CURATORUM BIBLIOTHECAE VATICANAE, SERIES MAIOR VOL. XLIV

COMMENTARIUM

Biblioteca Apostolica Vaticana

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DAS LORSCHER EVANGELIAR Biblioteca Documentarä Batthyäneum, Alba Iulia, Ms R ii t

Biblioteca Apostolica Vaticana, Codex Vaticanus Palatinus Latinus So

Kommentar

Katharina Bierbrauer " Götz Denzinger " Anton von Euw

Matthias Exner " Hermann Fillitz " Angelika Häse " Theo Jülich

Hermann Schefers " Josef Semmler - Vera Trost

Herausgegeben

von Hermann Schefers

Faksimile Verlag Luzern

0-(/60 0

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Angelika Häse

Liturgische Handschriften in Lorsch um die Mitte des 9 . Jahrhunderts

D as im Jahr 764 im südlichen Oberrheingau ge- stiftete Kloster Lorsch entwickelte sich rasch zu

einem wichtigen Faktor des Karolingerreichs. Hoch-

adelige und -gebildete Äbte wie Richbod (784-804),

Adalung (804-837) und Samuel (837-856), beim Aus- bau der Reichskirche mit vielfältigen Aufgaben be- traut, ' waren Garanten der Nähe zum Herrscherhaus,

zugleich sorgten sie - mit kräftiger Unterstützung des Klosterpatrons Nazarius - für die Errichtung

eines Wirtschaftsimperiums in den Händen der Abtei? Über den Alltag in Lorsch zur Zeit Karls des Großen (768-814) und seiner Nachkommen ist

gleichwohl wenig bekannt; Klostergeschichten wie die so anschaulich schildernden Casus sancti Galli3 hat die Mönchsgemeinschaft an der Weschnitz nicht hinterlassen. Erhalten sind drei der Schrifterzeug-

nisse, die als Hilfsmittel tagtäglicher Praxis in ver- schiedenen Bereichen des Klosterlebens Verwen- dung fanden: der sogenannte Codex Laureshamensis

aus dem späten 12. Jahrhundert, der eine kurze Chro-

nik mit wichtigen Begebenheiten in und um Lorsch bis etwa 1i 8o und die Abschriften von mehr als 3 800 Schenkungsurkunden und -notizen enthält, { das

große Nekrologium mit weiteren Schenkungsver-

merken, das erst von den Prämonstratensern, die Lorsch 1248 übernahmen, in der zweiten Hälfte des

13. Jahrhunderts angelegt und fortgeführt wurde' und wohl das gesamte Totengedenken des Klosters

1 'Wobei man auch vor einer Übertragung mehrerer Ämter

nicht zurückschreckte: So stand Richbod zugleich der Diözese Trier vor, %Vährend Samuel das Bistum Worms an- vertraut -wurde; vgl. die Kurzbiographien von KNÖPP 1973, sowie GENSICKE 1973. Adalung leitete von So8 bis zu seinem Tod 837 auch die Abtei St-Vaast in Arras; vgl. BISCHOFF 1989, S. 44 nütAnm. 58f. Vgl. hierzu den kurzen Abriß von SELZER 1 1964. Ausführ- liche Darstellungen der Lorscher Besitztümer in den ein- zelnen Gauen des Reichs und darüber hinaus finden sich von Friedrich Knöpp, Meinrad Schaab u. a. in: KNÖPP (Hrsg. ) 1973, S-367-65S- Im Überblick vorgestellt in: URL 1969. Heute'Würzburg, Staatsarchiv, Mainzer Bücher verschiedenen Inhalts 72. - Eine verläßliche Edition erstellte mit ausführlicher Einleitung zur Handschrift Karl Glöckner = CL 1-111. Heute Würzburg, Universitätsbibliothek, M. p. th. f. 132; eine Ausgabe liegt nicht vor.

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umfaßt, ' und schließlich vier Kataloge der Lorscher Bibliothek, die um die Mitte des 9. Jahrhunderts ent- standen, somit im Gegensatz zu dem zuvor Genann-

ten genuin karolingischen Ursprungs sind. Sie sollen zur Beantwortung der hier gestellten Frage konsul-

tiert werden, welche liturgischen Handschriften in

einem so wohlhabenden und bedeutenden Konvent der Karolingerzeit vorhanden waren' - Handschrif- ten neben dem prachtvollen Lorscher Evangeliar,

von eher schlichtem Gebrauchscharakter, die heute

zumeist vernichtet sind. Wie andernorts produzierte auch in Lorsch jede Reform ihre Makulatur.

Die Inventare der Lorscher Bibliothek

Obwohl keine schriftlichen Zeugnisse vorliegen, scheint es spätestens mit dem dritten Jahrzehnt des

9. Jahrhunderts zu einer Übereinkunft zwischen den Vorstehern der großen Abteien8 des karolingischen Herrschaftsbereichs über eine Verzeichnung des In- halts ihrer teilweise bereits umfänglichen Bibliothe- ken gekommen zu sein. ' Die Reihe der erhaltenen

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a Vgl. zu den älteren und weit weniger umfangreichen Auf- zeichnungen SELZER 2 1964, hier v . a. S. 93f. (leider sehr fehlerhaft! ), sowie GUGUMUS 1958-196o. Auch der Lorscher Codex und das Lorscher Nekrolog ent- halten Notizen über liturgische Bücher, die durch Scheu- kung in den Besitz der Abtei gelangten. Da diese Traditio-

nen jedoch entweder nicht datiert werden können oder aus späterer Zeit stammen, die geschenkten Codices nicht ge- nauer gekennzeichnet wurden oder als Ausstattung von Eigenkirchen (vgl. Anm. 119) vermutlich niemals Teil der Lorscher Bibliothek waren, bleiben sie in den nachfolgen- den Ausführungen unbeachtet. Prof. Franz Staab sei aber für

seinen Hinweis auf diese Quellen gedankt. An den Domstiften läßt sich eine ähnliche Entwicklung be-

obachten, die hier jedoch zunächst außerhalb des zu Be-

trachtenden bleiben soll. Die sicher auch der Erfassung des Vorhandenen als Informa-

tion nach außen, vorrangig aber wohl der Bestandssicherung dienen sollte: (... ) man inventarisierte bis in die spätesten Jahr- hunderte des Mittelalters in der vorherrschenden Absicht nicht ein Verzeichnis der vorhandenen literarischen Werke zu liefern, sondern die in der Bibliothek in der Form der einzelnen Codices enthaltenen Schätze zu verzeichnen und damit zu sichert. (... ) Tatsächlich ist Sicherung der Bücher überall da die Begründung, ivo im Mittelalter

eine Registrierung verlangt wird (SCHREIBER 1927, S. 3).

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Buchkataloge aus ostfränkischen Niederlassungen

setzt mit dem Brevis librorum der Reichenau aus dem Jahr 822 ein; '° in St. Gallen, " sowie in Fulda"

und im elsässischen Kloster Murbach" wurde später mit der Inventarisierung begonnen. Die Arbeit der

Lorscher Bibliothekare und ihrer Gehilfen ist in die-

sem kulturpolitischen Rahmen zu sehen, die förmli-

che �Katalogisierungswut" aber, mit der sie ansWerk gingen und die zu oft seitenlangen Beschreibungen

einzelner Codices führte, fand im 9. Jahrhundert

nicht ihresgleichen" und sollte erst mehr als ein halbes

Jahrtausend später von den mit wissenschaftlicher Akribie geführten Inventaren der großen Bibliothe- ken' des bücherfreudigen Kartäuserordens'6 übertrof- fen werden. Insgesamt über Soo Bände sind auf diese

Weise als Eigentum des Klosters Lorsch erfaßt, die

im eigentlichen Bibliotheksraum, dem Armarium, "

Herausgegeben von LEHMANN 1918, Nr. 49,5.240-252. " LEHMANN i9i8, Nr. i6, S. 66-8z. Lehmanns Datierung

Mitte g. Jahrlu adert muß aufgrund paläographiseher und in- haltlicher Gegebenheiten in dieJahre 884 bis 888 korrigiert

werden; vgl. BERSCHIN 1987, S. i 32f. Aus Fulda liegt kein vollständiger Katalog dieser Zeit vor, anhand ausführlicher Verzeichnisse des 16. Jahrhunderts kann jedoch auf den Bibliotheksbestand des 9. Jahrhunderts

zurückgeschlossen werden. Vgl. SCHRIMPF/LEINWEBER/ MARTIN (Hrsgg. ) 1992 sowie CHRIST x933" Der Murbacher Büchervorrat, der gleichwohl sorgsam kon-

trolliert und planvoll erweitert wurde, war insgesamt nicht sehr groß; vgl. MILDE 1968, sowie GEITH/BERSCHIN

1972, S. 65-87. Waren die Inventare dennoch als Vorbilder, als �Muster- kataloge" gedacht? Der enorme Aufwand, mit dem in Lorsch Registrierungen aller Art betrieben wurden, recht-

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fertigt eine solche Erklärung. So in Basel, Erfurt, Mainz und anderen Städten. Das Ver- i5

zeichnis der Erfurter Kartause Salvatorberg vom Ende des

15. Jahrhunderts etwa füllt in der Ausgabe von LEHMANN

1928, über 350 (! ) Druckseiten (als Nr. 14 auf S. 239-593). Vgl. hierzu LEHMANN 1960. Sein Standort in Lorsch ist unbekannt. Die spärlichen Zeug-

nisse des 9. Jahrhunderts - etwa der St. Galler Klosterplan (Cod. Sang. 1092) aus der Zeit um 820/830, der eine biblio-

theca im Obergeschoß des nördlichen Gegenstücks zur Sa- kristei vorsieht, oder die Baubeschreibungen der Gesta ab- batum Fontanellensium (= St-Wandrille), verfaßt nach 833. in denen ein freistehender Bibliotheksbau im Hof des Kreuzgangs erwähnt ist (u. a. ediert in: LOHIER/LAPORTE (edd. ) 1936,5.107: Donnen vero, qua litronrnt copia cotuer- varetur, quae Graece pyrgiscos dicitur, ante refectorhon collocavit), lassen vermuten, daß die allgemeine Büchersanunlung in

einem Raum am Chor der Kirche oder im Bereich des Kreuzgangs, in jedem Fall aber in einzelnen Schränken oder Kisten aufbewahrt wurde. Wandregalsysteme waren dem Früh- und Hochmittelalter unbekannt. -

Überlegungen,

die Lorscher Königshalle könne als Bibliothek (MERKEL

1992-1993) gedient haben, sind allein aufgrund der Tat-

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Angelika Häs,, L-

in Kirche und Sakristei und in der Klosterschule

verwahrt wurden. Trotz oder vielleicht gerade wegen ihres unge-

wöhnlichen Umfangs stand die Erforschung dop Lorscher Kataloge lange Zeit unter einem unglüclk_ lichen Stern. Die bislang einzige Ausgabe wurdet vor der Mitte des letzten Jahrhunderts durch den Palimpsestforscher und Präfekten der Vatikanischen Bibliothek, Kardinal Angelo Mai, unternommen, '- der das Kunststück fertigbrachte, drei der vier Inven- tare so mit- und ineinander zu einem geschlossezn wirkenden Text zu vermengen, daß die handschrift- liche Grundlage vieler Einträge nicht mehr auszu- machen ist. Gleichwohl druckte der Bonner Biblio- thekar Gustav Becker dieses Phantomgebilde ein zweites Mal nahezu unverändert ab` - und trug damit zur Verbreitung der äußerst hartnäckigen An- sicht, nur ein einziges LorscherVerzeichnis habe sich erhalten, bei. Arbeiten von August \Vilmanns, a Theodor Gottlieb, " Paul Lehntann"' und Chauncey E. Finch" konnten hieran nur wenig ändern; erst Bernhard Bischoff legte mit seiner für Skriptoriuni

und Bibliothek des Klosters grundlegenden Unter- suchung`` auch neue, gesicherte und allgemein be- achtete Erkenntnisse zu dessen Buchinventaren vor.

Bischoff zufolge sind alle vier Lorscher Biblio- thekskataloge in dem Zeitraum von etwa Sao bis etwa S6o, also unter den Äbten Adalung, Samuel's und Eigilbert (856-863) entstanden. Sie liegen heute in der Biblioteca Apostolica Vaticana, wohin sie als Teil der Heidelberger Bibliotheca Palatina'b

sacht, daß sich diese weit außerlhalb der eigentlichen Klau- sur befand, als abwegig zurückzuweisen. Abgedruckt in: MAI 1841, S. 161-200. BECKER (cd. ) 1885, Nr. 37 (S. Sz-tzo), in seinem Sanuncl- w"erk, das insgesamt auf heftige Ablehnung durch die Be- rufskollegen stieß. WILMANNS 1868.

_' GOTTLIEB 1S9o. 23 LEHMANN 1959. 21 FINCH 1968.

BISCHOFF 1989. Der somit nicht nur als der Plünderer der Lorscher Büchcr- sammlung zu gelten hat, als den ihn der Klosterchronist atn Ende des 12. Jahrhunderts bezeichnet (CL I c. 26 = S. 30Sf. ); Ubi [Worms] {rtitsian beati Ciriati, quc appolatur Nmuhuscu, a

K

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fuadamnuis cxrtnrnu, arinariuru Judas laxi e paar etuarat ir (.. ). Die Lorscher Büchersanurilung war Mitte des i6. Jahrhun- derts mit der Aufhebung des Klosters durch den Pfilzer Kurfürsten Ottheinrich (t55(i-t559) in dessen Residenz Heidelberg verbracht worden. Die genauen Unutindc diesesTransfers, der aus indirekten, dazu widersprüchlichen Quellen erschlossen werden muß, sind bislang nicht ausrei- chend untersucht.

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Liturgische Handschriften in Lorsch um die Mitte des 9. Jahrhunderts

in den Wirren des Dreißigjährigen Kriegs gelang- ten. " Drei der Verzeichnisse wurden - vermutlich erst in Rom - mit einem nurmehr bruchstückhaft

erhaltenen Fuldaer Inventar vergleichbaren Aufbaus

und Alters" zu einem unscheinbaren Codex in Kleinfolio vereint, der bei seiner Neuaufstellung im Vatikan die Signatur Palatinus latinus'9 1877 erhielt; das vierte Inventar ist dem Codex Biblioteca Apo-

stolica Vaticana, Pal. lat. 57 mit einer Lorscher Ab-

schrift der Paulusbriefe aus der ersten Hälfte des

9. Jahrhunderts nachträglich vorgebunden. Verzeichnis A3° aus der Zeit um 830 macht den

letzten Faszikel (fo1.67`-79`) des Pal. lat. 1877 aus; am Anfang unvollständig, umschreibt es den Inhalt

von 129 Codices. Die verlorenen Blätter der ersten Lage, die vermutlich -, vie die restlichen mit dem

, jüngeren Lorscher Stil"; ` einer regelmäßigen, ge-

übten Hand zweispaltig gefüllt waren, enthielten Werke der Kirchenväter Origenes (um 185-253), Ambrosius (333/34-397) und Augustinus (354-430),

mit dem Einsetzen der zweiten Lage, inmitten der Schriften des Bischofs von Hippo, scheint die In-

ventarisierung dann lückenlos erhalten. Die einzige erkennbare Abteilung dieses ältesten der Lorscher Buchkataloge ist die der patristischen Autoren, deren Reihe bis hinauf zu dem fast schon zeitgenössi- schen Leiter der Hofschule Karls des Großen, dem Angelsachsen Alkuin (um 730-804), reicht. Den Abschluß bilden fünf Seiten (fo1.77V-79`), auf denen keine feste Ordnung vorhanden ist: Die in großen Abständen von anlegender Hand eingetragenen Titel wurden nach und nach und zunehmend will- kürlich mit den Ergänzungen von etwa zehn ver- schiedenen, nur wenig späteren Lorscher Schrei- bern durchsetzt und aufgefüllt. Vor allem aufgrund dieser Nachtragsseiten ist es naheliegend, in Katalog A das Handexemplar des oder der Lorscher Biblio- thekare zu sehen, das über einen längeren Zeitraum

Rund i 5o ehemals Lorscher Handschriften und Hand- schriftenfragmente werden ini Vatikan ver-, ahrt. Vgl. hierzu SCHRIMPF/LEIN\VEBER/MARTIN (Hrsgg. ) 1992, S. 14-56 (ntit einer Edition des Fragments). Als ein Hinweis auf die Herkunft des geschlossen verwahr- ten Fonds. Abweichend von den von Bischoffvorgeschlagenen Siglen, jedoch im Rückgriff auf die ältere Forschung werden die Lorscher Inventare hier in chronologischerAbfolge mit den Buchstaben A bis D versehen. Eine der vier Schriftepochen, die Bischoff für Lorsch er- mittelte. Sie setzt in etwa mit der Regierungszeit Abt Adalungs ein und markiert das Ende der forciert betriebe- nen Lorscher Buchproduktion in den sechziger Jahren des 9. Jahrhunderts.

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hinweg um die Neuzugänge der Büchersammlung

erweitert wurde. 32 Der verlorene Beginn von Katalog A kann an-

hand des Verzeichnisses B rekonstruiert werden, das

mit fo1.44`-66" den dritten Teil des Pal. lat. 1877 be-

streitet und nur wenig später entstand. Gleiche Spalten- und Zeilenzahl und der fast identische Wortlaut gemeinsamer Einträge lassen einen engen Entstehungszusammenhang beider Inventare ver- muten, doch wurde Verzeichnis B von nicht in Lorsch geschulten Schreibern gefertigt. Buchstaben- formen und Schriftduktus der beiden kalligraphisch

tätigen Hände verweisen nach Bernhard Bischoff

auf ein nicht näher bestimmtes nordfranzösisches Skriptorium" - wohl ein Indiz dafür, daß auch an- dere Klöster am Inhalt der Lorscher Bibliothek

oder an der dort entwickelten Form der Verzeich-

nung interessiert waren. 34 Katalog B ist ebenfalls unvollständig erhalten;

nach der Erfassung von 205 Bandeinheiten35 bricht

er inmitten der Schriften des Beda Venerabilis (um 673-735)' ab, wodurch der sicher aufschlußreiche Vergleich mit den Nachtragsseiten von Inventar A

entfällt. Die Verzeichnisse C und D dokumentieren eine

zweite Aufnahme des Lorscher Buchbestands in der Zeit zwischen 85o und 860, die jedoch auf höchst

unterschiedliche Weise wiedergegeben wurde. 36

32 Auch Marginalien wie die Notiz Non inveni auffol. 76` machen eine praktische Verwendung des Inventars wahrscheinlich. Vgl. BISCHOFF 1989, S. 26; S. 2i heißt es noch vager: Man

würde sie eher als westlich ansprechen. An St-Vaast in Arras schien Bischoff aus paläographischen Gründen nicht zu denken. AbtAdalung, unter dem auch die Lorscher Inventarisierungstätigkeit begann, könnte trotzdem vermittelt und einen Austausch mit Westfranken initiiert haben. Warumjedoch Katalog B Kloster Lorsch nicht verließ oder aber bald in dessen Bibliothek (zurück)gelangte, ist damit nicht erklärt. Oder sollte die zweite Hand, die an seiner Herstellung beteiligt war, doch einem Lorscher Mönch

gehören? Dies würde die Sachlage vollkommen ändern.

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Das Verzeichnis B enthielt deutlich mehr Handschriften als Inventar A, was nicht allein auf den raschen Ausbau der Lorscher Bibliothek zurückgeführt werden kann. So auch BISCHOFF 1989, der S. 26 schreibt: (... ) die Verwehrung wird der starken Aktivität des Skriptorinnu verdankt, doch sind auch vorher übergangene ältere Handscluiften at fgenonnnen.

'b Denkbar ist auch, daß Katalog C als direkte Vorlage des In-

ventars D diente, da beide Verzeichnisse in den gemein- samen Textpassagen fast wortwörtlich übereinstimmen. Bi-

schoff schließt dies aus, indem er die Entstehungszeit des Katalogs D (uni 85o) rund zehn Jahre vor das Inventar C (um 86o) setzt; vgl. BISCHOFF 1989, S. 25 f. Es fragt sich, ob eine derart genaue Datierung allein aufgrund eines paläographi- schen Befunds wirklich möglich sein kann.

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Während der Schreiber von Katalog D eineArt Kurz- inventar des Armariums erstellte und in Beschrän- kung auf den jeweils ersten Titulus von 265 Codices

ganze sieben Blätter eines Quaternio füllte, " bildet

Katalog C, in ähnlicher Ausführlichheit36 wie die VerzeichnisseA und B von einer Hand geschrieben, heute die ersten 34 Blätter des Pal. lat. 1877. Doch

auch dieses Inventar besitzt seine Besonderheit: Es ist der Beweis für das Vorhandensein mehrerer Biblio-

theken in Kloster Lorsch um die Mitte des 9. Jahr- hunderts.

Zumindest drei Bücherstandorte wurden in Kata- log C geschieden. Auf einem ersten, etwa zeit- gleich vorgebundenen Doppelblatt39 stehen unter der Überschrift Breviariuin librornni saucti Nazarii in formschönen Capitalis quadrata- und Unzial-Buch-

staben - die Beherrschung derAuszeichnungsschrif-

ten ist ein Merkmal der Lorscher Schreibschule - die Handschriften in Sakristei und Kirche. Der Bestand des Armariums wurde auf fol. 3`-3o` des Pal. Iat. 1877 verzeichnet; er umfaßt, mit den Bibelausgaben be-

ginnend, 4° rund 300 Codices. Unter ihnen stellen die patristischen Schriftsteller die weitaus größte Abteilung; doch auch historiographische Werke, dogmatische und kirchenrechtliche Schriften, antike Autoren und eine beachtliche Gruppe von Brief-

sammlungen sind hier eingetragen. Die Überschrift

granunatici auf fo1.3o` des Inventars C markiert den Beginn der Schulhandschriften. Es ist jedoch frag- lich, ob alle der nachfolgenden, noch knapp 9o Co- dices tatsächlich als Separatum im Bereich der Klo-

sterschule verwahrt wurden: ` Nach einer Vielzahl

von grammatischen und metrischen Schriften, die für eine Unterweisung in den Fächern des Triviums

geeignet und erforderlich waren, sind aufdrei letzten Seiten die Collationes Cassiani, Bibelkommentare,

Das letzte Blatt der Lage ist verlorengegangen oder entfernt worden, das Verzeichnis scheint jedoch vollständig zu sein. Vgl. dagegen BISCHOFF 1989, S. 25.

;8 Bei den Predigtsammlungen etwa des Augustinus wurde die Thematik eines jeden Sermo, die Bibelstelle einer jeden Homilie genannt; Verzeichnungen von Briefcorpora sind durch die Angabe von Absender, Adressat und Incipit der

einzelnen Stücke angereichert. So wird es möglich, selbst verlorene Lorscher Abschriften in die erhaltene Überliefe-

rung einzuordnen und die Verbindungen des Klosters im Austausch von Textvorlagen näher zu beleuchten. Das heute falsch eingebunden ist, da das zunächst freie und erst später beschriftete zweite Blatt ursprünglich als Schmutzblatt diente. So schon BISCHOFF 1989, S. 23. Ohne die liturgisch gebrauchten Psalter und Evangeliare. Vgl. hierzu etwa LESNE 1940, v. a. S. 563 f., sowie BISCHOFF

4 198 i. Vgl. auch ein Teilverzeidutis mit Schulbüchero, späteres io. Jalirhwndert, in: GLAUCHE 1979, Nr. 75, S. 626.

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Angelika Hase:

Canonessammlungen, der Besitz der Abtei an Leges

und schließlich die Hagiographica des Klosters ge- nannt.

Auf diese Weise erfaßt Katalog C bis zum Ende von fo1.33` insgesamt 476 Bandeinheiten, die von einer großzügigen, ausdrucksstarken Lorscher Hand in Langzeilen zumeist fortlaufend eingetragen . wr- den. Vom selben Schreiber stammt auch die zwei- seitige Liste, die dem Hauptinventar angehängt ist_ Ihre Überschrift

- Hos libros repperiuuu in Cannneuia [Gent bei Nijmegen], quos Cenn'ardus ibidcin reliquir, ei ab rode luic illos transtui n us - erweist die folgenden

27 Bände, unter denen erlesene Stücke zu finden waren, '' als Vermächtnis des Gerard, Lorscher Mönch und später Pfalzbibliothekar Ludwigs des Frommen (814-840), {' der auch an anderer Stelle als Wahltäter des Klosters in Erscheinung trat. " Sein Legat, das offenbar ebenfalls für sich, vielleicht als Teil des Armariums verwahrt wurde, rundet deti Buchbestand von Kloster Lorsch in Katalog C ab.

Die Liturgica der Lorscher Bibliotheksinventare

Cuncta eis netessariaas tau in alimeutis quarr iu ceteris subsidiis gab Erzbischof Chrodegang von Metz (754- 766){6 - nach dem Bericht des Chronisten'- seinem Bruder Gundeland's und sechzehn Mönchen aus Kloster Gorze mit auf den Weg in das ihm anver- traute Lorsch. Unter den wenigen Habseligkeiten

Erhalten ist hiervon kaum etwas. Sicher zugmiesen wer- den kann der Codex Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. 1at. 21o, ein in Italien um 600 entstandener Unzialco- dee, der u. a. über zo kleinere Schriften desAugustinus ent- hzlt. Auffol. i' wurde im 8. Jahrhundert eine kleine Buchli- ste in angelsächsischer Majuskel eingetragen, die fast am Beginn der Gattung Bibliothekskatalog steht. Vgl. zur Handschrift Bibliothcca Palarina, Bd. r, Nr. C 7.2, S. 131 und Bd. 2. S. to6f. (W lter Berschin). Mit der Geschichte des Pal. lat. zto im Kontext des Gerwardschen Bücherver- mächtnisses befaßt sich besonders LEHMANN 1959. Neue, umfassende Erkenntnisse zu seiner Person erbrachte die ausführliche Untersuchung von LÖWE t95o, der für Gerard die Verfasserschaft der Xantener Annalen und damit das Todesdatum 86o wahrscheinlich macht. Das ge- samte Inventar C erhilt damit einen Terminus post quert. Im Jahr S14 ließ er eine Landschenkung an sein Heimat- kloster beurkunden; vgl. CL 1 101 = S. 381 f.

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Vgl. die ganz ähnliche Formulierung in Kapitel 33 der Be- nediktinerregel, hier zitiert in Anm. 8z. Vgl. zur ersten Orientierung über diesen bedeutenden Kirchenmann SEMMLER. 2 1973-

47 Vgl. CL1c. 3=S. 271. I' Abt von Lorsch 765-778.

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Liturgische Handschriften in Lorsch um die Mitte des 9. Jahrhunderts

des gar nicht so kleinen Gründungskonvents waren gewiß auch einige Handschriften, das geistige Rüst- zeug zur Begründung einer neuen Niederlassung des Benediktinerordens. Von den ersten Lorscher Codices Gorzer oder Metzer Provenienz ist offenbar nichts erhalten, ` doch hat es den Anschein, als ließe sich über ein halbes Jahrhundert nach der Einrich- tung des Klosters noch eine Spur dieser Grundaus- stattung finden. Im ältesten der Lorscher Bücherver- zeichnisse5° wurde nämlich in der rechten Spalte der ersten Nachtragsseite (Pal. lat. 1877, f01- 7A von an- legender Hand folgende, geschlossen wirkende Gruppen' von sieben Codices eingetragen (Abb. 3): Regula sancti Benedicti et hyuuni in uno codice. Concordia canonuun. Liber annalis. Antefonariunn. Lectionariuun. Orationes diversas [sic! ] in vi quaternionibus. De cursu lunae. 52

Ein Exemplar der Ordensregel, eine Zusammen- stellung kirchenrechtlicher Verordnungen, ein ka- lendarisches \Verk und eine Art Computus sind ge- nannt, dazu die gesungenen und die gesprochenen Teile der Messe, die zur privaten Andacht der Mön- che gehörenden Hymnen und eine ungebundene Sammlung von Gebeten, die vermutlich zudem die Kapitel und Versikel des Offiziums in der Ordnung des Kirchenjahrs enthielt: ` Mit diesen Texten war der religiöse Alltag von Lorsch abgesichert. Auf einer zunächst freien Zeile fügte die jüngste der an Inventar A beteiligten Nachtragshänden; noch eine Regula sancti Basilii in uno codice hinzu, " also ein Ex- emplar der Admonitio ad filium spiritualem bzw. des Asceticon parvum des Basilius von Caesarea

" So BISCHOFF 1989, S. 59. Die nachfolgenden Ausfiihrungen basieren auf der An- nahme, daß auch in Katalog A- wie in Verzeichnis C- der vollständige Lorscher Buchbesitz der Zeit festgehalten «erde, eine Überlegung, die letztendlich nicht verifiziert werden kann. In der jedoch eine Zeile nachträglich radiert wurde, deren Beschriftung auch unter UV-Licht nicht mehr zu rekon- struieren ist.

sj Nr. 37,531 (S. I15), 483 (S. 112) (nach Katalog C), 466 (5.111) und Nr. 38,103 (S. 124) (nach Katalog C), 533 (S-115), 534(S-115), 535 (5.115) und 536, ersterTeil (S. 115) in derAusgabe von BECKER (ed. ) 1885. -Alle Zitate aus den Lorscher Buchinventaren wurden einer Reproduktion des Codex Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. lat. 1877 entnommen, die grammatischen und orthographischen Eigenheiten der Vorlage dabei stets beibehalten. Bei vielen Verzeichnungen ist ein liber

�mitzudenken". 3r Als Kollektar, der Vorläufer des heute gebräuchlichen Bre- viers.

54 BISCHOFF 1989, S. 2o: (... ) von einer ein wenig derberen Hand im äußersten Falle ein paarjahcelwite später.

ss BECKER (ed. ) 1885, Nr. 37,532 (S. 1 i i; dort fälschlich 523! ).

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(329/30-378), das in der Ubersetzung des Rufinus

von Aquileja (etwa 345-411/12) gleich mehrfach im Kloster Lorsch vorhanden war. 56

Sehr viel mehr liturgische Handschriften scheint die Abtei an der Weschnitz zunächst nicht besessen

zu haben; unter den rund 5o Nachträgen des Ver- zeichnisses A befinden sich nur zwei Bände mit Texten gottesdienstlicher Verwendung. Der erste dieser Codices, die ebenfalls auf fo1.77" des Pal. lat. 1877 verzeichnet wurden, verdient Beach- tung weniger aufgrund der zweiten Sammlung von Hymnen, die mit ihm in Kloster Lorsch zur Verfü-

gung stand, als vielmehr durch jene �Ergänzung" der Benediktregel, die Abt Richbod verfaßtes' und

die, wie das meiste aus Lorscher Produktion, ver- lorenging: Item regula sancti Benedicti et adunatio Rig- bodonis episcopi et hymni et amialis in uno codice. s$ Ein Eintrag drei Zeilen weiter, der gleichfalls von jener auffällig breiten und ungelenken Hand geschrieben wurde, die das Exemplar der Basiliusregel nachtrug, bezeugt eine erste Predigtsammlung für Lorsch, die

als Kompilation verschiedener Autoren nach dem Verlauf des Kirchenjahres angeordnet wvar: 59 Omeliae patrum de adventis domini usque in septuagessima in uno codice. Auch die anderen Teile dieses offenbar stattli- chen, vierbändigen Homiliars führt die Parallelver- zeichnung in Katalog B an: Omeliae sive sermones sanctorturº patrum ab adventu usque iu Lxx in uno volu- mine. A LM usque in pascha in alio codice. A pascha usque in: festivitatem sancti Petri in tertio codice. A festivitate

sanuti Petri usque in adventumi domini in quarto codice. A0 Neun Codices sind somit als Lorscher Besitz an

Liturgica um das Jahr 83o nachzuweisen; rund drei Jahrzehnte später füllte der Buchbestand der Abtei

56 Und in zumindest einem Fall als Teil des gesamten Codex

regularum Benedikts vonAniane (um 750-82 i) - eine Tatsa-

che, auf deren kirchenpolitische Bedeutung Josef Semmler bereits 1973 hingewiesen hat: SEMMLER i 1973,5.113, mit Anm. 72. Der Eintrag auf fol. 28" des Pal. lat. 1877 lautet: A nt- ntonitio sancti Basilü et regula Columbani necnon et alionun pa- tnuu et onteliae sancti Cesarii uumero xu et sermo adusdaat de vita actuali et qualiter a cena domini usque in pascha divinun ofcimn agatur in ecclesia Romana in two codice; BECKER (ed. ) 1885, Nr. 37,356, dritterTeil (S. io8, jedoch als admonitio sancti Be-

nedicti! ). Vermutlich unter Berücksichtigung der speziellen Verhält-

nisse in seinerAbtei. Vgl. ähnlich auch Josef Semmler in die-

sem Band, S. 18, während BISCHOFF 1989, S. 61 und S. 89, Anm. 5 (mit weiterer Literatur) unbestimmt bleibt: ein Werk-

zur Benediktinerregel (S. 61).

BECKER (ed. ) 1885, Nr. 37,536, zweiter Teil (S. 115). Weitere Predigtcorpora wurden unter ihrem jeweiligen Autor verzeichnet. Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. lat. 1877, fo1.44`.

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in Sakristei und Kirche zwei ganze Seiten des In-

ventars C (Pal. lat. 1877, f01.1' und i'; Abb. i und 2). Die in den älteren Verzeichnissen genannten Bände

finden sich hier wieder - soweit eine eindeutige Zuordnung möglich ist. Dies gilt für das viertei- lige Homiliar, das mit einem ganz ähnlichen Wort-

laut wie in Katalog B, nun jedoch begrenzt auf die Sonn- und Feiertage, verzeichnet wurde: Ome-

liae sanctorum patrum de diebus dominicis ei diversis fest-

ivitatibus: Prima pars ab adventu domini usque in septu-

agessima. Secunda pars a septuagessima usque in pascha. Tertia pars a pascha usque ad festivitatem sancti Petri. Quarta pars a festivitate sancti Petri usque in adventum domini. 6i Eine dreibändige Sammlung, die Traktate

Papst Leos des Großen (440-461), die sich vielleicht nur kurze Zeit in der Sakristei befanden, und spe- zielle Predigten zu den Festen des Kirchenjahrs kamen neu hinzu: Item omelice smutorum patnun in

tribes codicibus divisae. Item omeliae sancti Leon is in uao codice. Item omelia [sic! ] de resurrectione domini ei ceteris festivitatibtis. 62 Die Handschrift, in der das Regel-

werk des Benedikt von Nursia (480/490-um 547) mit der Ergänzung durch Richbod kombiniert

wurde, ist ohne die folgenden Texte verzeichnet: Item regula sancti Benedicti ei coadunatio eiusdem regulae in two codice; 6; die Arbeit des Lorscher Abts lag nun auch in einer zweiten Kopie vor: Item coadunatio re- gulae. 64 Weitere Sex regula sancti Benedicti S lassen an eine Ausgabe des Textes zur Lektüre durch die Kon-

ventsmitglieder denken; ein letztes Exemplar der Ordensregel, das wiederum mit Hymnen und An-

nalen zusammengestellt war, 66 enthielt zudem eine Lebensbeschreibung des als Wundertäter hochver-

ehrten Einsiedlers und Bischofs von Lindisfarne, Cuthbert (t 687), 67

- also eine Handschrift, die aus dem angelsächsischen Bereich oder aus dem nicht weit entfernten deutsch-insularen Gebiet auf dem Kontinent nach Lorsch gelangt sein könnte: Itettt re- gula sancti Benedicti et vita sancti Chutberti et hynnti ei amnales [sic! ] in uno codice. GB

61 BECKER (ed. ) 1885, Nr. 37,21-24 (S. 82). 62 BECKER (ed. ) 1885, Nr. 37,25-27,28 und 29 (S. 82). 67 BECKER (ed. ) 1885, Nr. 37,36 (S. 8z). bq BECKER (cd. ) 1885, Nr. 37,37 (S. 82). 63 BECKER(ed. ) t885, Nr. 37,30-35 (S. 82). Beieinemzweiten

Nachzählen waren anscheinend nur noch fünf von ihnen

vorhanden, da über der Zeile die Korrektur " V" angebracht ist (vgl. Abb. z).

66 Offenbar eine beliebte Kombination für die private Lektüre. 67 Vielleicht die Prosa-Vita et miracula sancti Cuthberti des

Beda Venerabilis. 68 BECKER (cd. ) 1885, Nr. 37,38 (S. 82). - Ein Codex ver-

gleichbaren Inhalts wurde auf fo1.21` des Pal. lat. 1877 unter die Schriften Bedas in Katalog C eingeordnet: BECKER

Angelika Häse

Auch bei den anderen liturgischen Büchern, die

schon früh im Kloster Lorsch vorhanden waren, zeigt sich der Bestand deutlich vermehrt. So werden für den Vorrat an Gebeten nun Collcctarii in ge- nannt `9 Die Zahl derAntiphonare ist auf insgesamt

vier angewachsen, von denen jedoch nur eines - das Exemplar aus KatalogA: - alle Gesänge enthielt: An- tifontarium integnnm umuni. Gradatom [sic! ] ununn. A: ai- fonarios [sic! ] u de cantu noctuntali. '° Bereits zuvor wurden sechs Lektionare unterschiedlicher Zusam-

mensetzung" eingetragen, unter denen eines mit einem Prachteinband aus Elfenbein geschmückt war: Lectiomarium anum cum talibus [sic! ]'' ebunneis. Item lectiomarium in alio codice. Item in 111. Lectionariumc et eval: gelh n simul in two todirr. lien: in alio shniliter. Item in m. si: nliter. 73 Eine weitere Prachthandschrift mit Elfenbeintafeln und in Goldtinte geschrieben' führt nicht nur die Gruppe der hier erstmals er- scheinenden Evangeliare an, sie wurde auch für wert befunden, als �Spitzenstück"

des Lorscher Buch- bestands ganz am Beginn seiner Verzeichnung in Katalog C zu stehen. Zumeist wird das Lorscher

(cd. ) 1885, Nr. 37,280 (S. too) und Nr. 38,24 (S. 121): Vita saun Cuthbeti ei regula sanai Benediai ei annalis irº uno radirr. Oder sollte es sich uni denselben Band handeln?

" BECKER (cd. ) t 885, Nr. 37, t S-2o (S-82)- , BECKER (cd. ) 1885, Nr. 37,39,4o und 41-42 (S. Sz). - Die

Einträge zeigen eine sprachliche Unbeholfenheit des ver- zeichnenden Mönchs, für die int folgenden noch krassere Beispiele zu finden sein werden. Vergleichbare Befunde in Bibliothekskatalogen des 9. Jahrhunderts, die zu den weni- gen umfangreicheren Texten nichtkopialer Überlieferung der Zeit gehören, relativieren den Erfolg karolingischer Bildungsbestrebungen. Gelehrsamkeit wir wohl auch in den Klöstern Karls des Großen kein Allgemeingut. Die Terminologie ist an dieser Stelle nicht ganz klar. Anton von Euw schlägt vor, unter deniTyp

�Lektionariunt + Evan- gelium" die Zusammenstellung der Episteltcxte und der Evangelienperikopen zu einem Lektionar zu verstehen. In der Konsequenz müßte dann aber urtterderriTyp �Lektiona- rium" ein Epistobrverstanden werden, unter �Evangelium ein Evangelistar, wsas zumindest für das erste der eingetra- genen Evangeliare nachweislich nicht stimmt. Vielleicht führt die richtige Interpretation derAnordnung auffol. t' des Pal. lat. 1877 hier weiter - vgl. auch die Übersicht zur Be- zeichnung von Perikopenbüchern ! LAUSER 193 5, S. xix.

's Erst einer der gelehrten Bibliothekare der Heidelberger Pa- latina besaß genug Sprachwitz, diesen gelungenen Silben- verdreher von tabulis zu talibus in seine richtige Form zurückzudrehen (vgl. Abb. i). Oder sollte das Verzeichnis C zuvor keinen aufmerksamen Leser gefunden haben?

'r BECKER (cd. ) 1885, Nr. 37,6,7.8,9, to und 1i (S. 82). " DieserEintraglauterinderEditionunterVertauschungder

Partizipien ganz unsinnig- Etungcliunº scripnrrrº nnn aunt pic- trun haben tabulas ebuaºeas: MAI 1841, Nr. 1.1 = BECKER (cd. ) 1885, Nr. 37, t (S. 82).

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Liturgische Handschriften in Lorsch um die Mitte des 9. Jahrhunderts

Evangeliar, ein Codex aureus in Unzialschrift, mit diesem Eintrag identifiziert. Alle fünf Evangeliare, die das Kloster nun sein eigen nannte, sind wie folgt

eingetragen: Evangelium" pictunº, ann auro scr(ipt)umj6 haben tabulas eburneas. Item quattuor evangeliunº [sic! ] in alio codice. Item in tertio similiter. Item in quarto. Item in V' Ein Codex mit Auszügen aus den Evangelien kann wohl als Evangelistar begriffen werden: Item

evangeliunº cxcerptum. 's Kein liturgisches Buch war in Lorsch um 86o so

häufig anzutreffen wie das Sakramentar, das in dieser frühen Quelle schon durchgängig als giber) missalis bezeichnet ist; insgesamt 17 Codices wurden bei der Aufnahme gezählt und ihre Gesamtzahl ausdrück- lich vermerkt: Duo libri missales in altario iacentes. Iteºn liber missalis decani T7ºeotnºari, Heimrichi, Erkaºfridi, Ruodhardi, Isangari, Runzolvi, Alarici, Otberti decani, Adahºoti, Selinºanni. Item missales, qui fttentnt Satnuelis, Baboni, Randulf. Item missales duo Gelasiani: in totunº numero xvn. i9 Zwei Meßbücher lagen aufAltären der Klosterkirche oder in einer der Kapellen auf, $° zwei andere sind ausdrücklich als �gelasianisch"

bezeich-

net und stellten wohl Vor- oder Nebenformen des

gebräuchlichen Gregorianums dar. ̀ Größeres In-

75 So die Wortwahl des Schreibers für �Evangelia" oder

�Evangeliarum", vgl. auch den folgenden Eintrag. Ein dunkelbrauner Fleck (Rost? ) hat sich an dieser Stelle durch mehrere Blätter gefressen und den Text zerstört. BECKER (ed. ) 1885, Nr. 37,1, z, 3,4 (S. 82); die Eintragung des vierten Exemplars felrlt. Dagegen ist in der Handschrift derVernierk des fünften Evangeliars, der vermutlich erst spä- ter zugesetzt wurde, auclr wieder ausradiert (vgl. Abb. i). BECKER (ed. ) 1885, Nr. 37,5 (S. 82). BECKER (ed. ) 1885, Nr. 37,12-13,14,15,16-17 (S. 82). An-

gelo Mai löste in seiner Ausgabe die beiden Namen- kolunmen auf fol. t` des Pal. 1at. 1877 (vgl. Abb. i) so auf, daß er die genannten Personen je zeilenweise nebeneinan- der wiedergab. Die höchst eigen willige Bandzählung bei Gustav Becker, der die Gesamtzahl �17" auf alle Einträge ab Beginn des Verzeichnisses C bezog, trug zur endgültigen Entstellung derTextpassage bei, an der Interpretationen des Inhalts scheitern mußten. Vgl. etwa SEMMLER 1 1973, der S. 114 schreibt: Das L orsdur Büchen'er-eichnis berichtet von einerMissale-Handschrift, die den sich folgenden Dekanen des Klosters ton lheotmar bis Lsangar, Samuel und Babo überlassen worden uur. DISCHOFF 1959, druckte S. 23 den Text erstmals in seiner richtigen Reihenfolge ab und gab eine unifas- sende Erläuterung zur Stelle. Und wurden bei der Verzeichnung nicht vergessen! Es verbockt, jene zwei Exemplare des sogenannten Missale Gallicanum vetus aus deni 8. Jahrhundert, die heute im Codex Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. lat. 493 zusammengebunden wiederholt für Lorsch reklamiert wurden, mit diesem Eintrag gleichzusetzen - auch wenn dies BISCHOFF 1989, S. I24 f., offenbar nicht so sah. Vgl. zur Handschrift auch DOURQUE 1958, Nr. 19, S. 397-399"

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to Is

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teresse verdienen jene 13 Exemplare, die mit Namen

von Mitgliedern des Lorscher Klosterkonvents ver- bunden wurden, somit als zumindest zeitweiliger Besitz" dieser Mönche zu verstehen sind. 83 Die aufge- führten Personen finden sich in einer Liste der Lor-

scher Gemeinschaft unter Abt Samuel im Reiche-

nauer Verbrüderungsbuch8q wieder; die zusätzliche Trennung zwischen bereits verstorbenen (ftiernnt)

und offenbar noch lebenden Konventsmitgliedern

gibt - neben dem Büchervermächtnis des Gerward - den zweiten Hinweis für eine Datierung von Kata- log C. 85

Zwei letzte Handschriftentypen wurden auf dem

verbleibenden Rest von fol. i' des Pal. lat. r 877 als der Sakristei zugehörig verzeichnet. Ein vier- bändiges Passionale war den Predigtsammlungen

vergleichbar nach den Festtagen des Kirchenjahrs

geordnet und stand daher nicht unter den Heiligen-

eD Den die Benediktregel nur mit ausdrücklicher Erlaubnis durch den Abt zuließ (c. 33): (... ) ne quis praesumat aliquid dare auf accipere sine iussionem abbatis neque aliquid labere pro-

priuni, aullant oamino reut, neque codicem neque tabulas neque

graphitnn, sed nihil omnino, quippe quibus nec corpora sua nec

voluntates licet habere in propria voluntate. Onmia vero necessaria a patre sperare n: onasterii nec quicquam liceat labere, quod abbas

non dederit auf permiserit. - In Lorsch scheint man es jedoch

mit dem Verbot persönlichen Besitztums gegenüber den oft

adeligen Konventsmitgliedern aus wohlhabenden Familien

nicht allzu genau genommen zu haben, vgl. SEMMLER 1

1973, S. 109-111: Obwohl Erzbischof Chrodegang v. Metz (... )

in der Gründungsurkunde des Lorscher Mutterklosters Gorze sei-

nen Mönchen die Benedikt-Regel als Norm vorAugen stellte, nach der der Mönch a, f jedes private Eigentum verzichten müsse, schei-

net: seine Jünger in Lorsch diesen, Kernpunkt monastisch- benediktinischen Ideals kaum jenen Wert beigelegt zu haben, den

erftir Chrodegang besaß (S. 109). e' Es wäre denkbar, daß einzelne Sakramentare nicht nur auf

Lebenszeit an höherstehende und damit mit dem Lesen der Messe betraute Konventsmitglieder vergeben wurden, son- dern diese selbst Exemplare auf eigene Kosten erstellen ließen, die nach ihrem Tod in den Fundus der Abtei über-

gingen. Vgl. hierzu auch den Beginn einer nur vierzeiligen Buchliste aus dem Umfeld des Klosters Fulda, ebenfalls noch aus dem 9. Jahrhundert: DeAhahustntt Alatnanniae allati surrt libri Otolti, qui occisus est. Id est missalis, qui datus est Sattdrato: SCHRIMPF/LEINWEBER/MARTIN (Hrsgg. ) 1992, S. 24, mit Kommentar zu den genannten Personen. - Der Besitz eines eigenen Sakramentars - und dies scheint die wichtigste Er- kenntnis aus dieser Textstelle in Katalog C- war um die Mitte des 9. Jahrhunderts für bestimmte Mönche der Lor-

scher Gemeinschaft offenbar geradezu ein �Muß". Zürich, Zentralbibliothek, Ms. Rh. hist. 27, p. LIV; vgl. MGH Libri memoriales et necrologia N. S. 1. - Vgl. auch die detaillierte Erörterung im Vergleich beider Quellen bei

BISCHOFF 1989, S. 24. ss Für Abt Samuel etwa, der unter den Verstorbenen genannt

wird, ist das Todesjahr 856 bezeugt.

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leben in der hagiographischen Abteilung der Klo-

sterbibliothek: Passiones sanctorum martyrum per tohun

anni circulum in codicibus im divisae. 86 Und den Ab-

schluß bildet schließlich jener Teil des Alten Testa-

ments, der nach den Evangelien und Briefen des

Neuen Testaments die häufigste liturgische Verwen- dung fand: " Salteria [sic! ] u. 88

Die Annahme, Sakramentare89 könnten sich - als zunächst einziger Buchtyp liturgischer Verwendung

- unter der persönlichen Habe bestimmter Geist- licher befunden haben, erhält durch das Verzeichnis

mit Büchern des ehemaligen Lorscher Mönchs Gerward unverhofft Bekräftigung; 9° allein zwei Meß- bücher sind hier an Liturgica in die fünftletzte Zeile

auf fo1.34` des Pal. lat. i 877 eingetragen (Abb. 4): Missalem [sic! ] Hr. ' Sie wurden wie zwei andere No-

tierungen der Liste nachträglich wieder ausgestri- chen, doch scheint in keinem der drei Fälle ein spä- terer Verlust des Verzeichneten die Ursache der Tilgung gewesen zu sein. Eine inhaltlich unpräzise Erfassung ist wohl für die erste Streichung auf f01.33° verantwortlich zu machen, 9' die anderen

86 BECKER (cd. ) 1885, Nr. 37,43-46 (S. 82). 87 Psalmen und Evangelien fehlen daher auch unter den

Bibelausgaben in der ersten Abteilung des Armariums, nicht jedoch die Paulusbriefe, die dort gleich in mehreren Kopien verwahrt wurden.

88 BECKER (ed. ) 1885, Nr. 37,47-48 (S. 82). 8y Und nicht eine Textsammlung für die private Andacht der

Mönche! In einem weiteren kurzen Buchinventar Lorscher Proveni- enz, das noch im 9. Jahrhundert unter dem Titel Breve de libris, que [sic! ] Heilradi fuermit auf fol. 66v des Codex Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. lat. 175 nachgetragen wurde, sieht dies ganz anders aus: Liber evangelionun. Liberco- miti [sic! ]. Missalis. Antefonarius. Item gradal et penitentialis in uno volmnine. (... ) Quaterniones [-nes ergänzt] de reddendis de- cimis et omelie. Alia [sic! ] de antifonario. (... ) Quarta [sie! ] de baptisterio. (... ) Item penitentialis. (... ) De Missale. (... ); vgl. den kompletten Abdruck bei GOTTLIEB 1890, S. 39, Anm. 1, und dazu BISCHOFF 1989, S. i9 mitAnm. 9. - Ob- wohl auch Heilrad in Urkunden des Codex Laureshamen- sis als Lorscher Mönch bezeugt ist, weist der Inhalt seiner kleinen Bibliothek doch eher auf die Leitung einer Pfarr- kirche in Klosterbesitz hin. Bei einer formal korrekten Auflösung des Nasalstrichs;

go

91

BECKER (ed. ) 1885, Nr. 37,582-583 (S. 119). 91 Für Hieronimi expositionis in propketas volrunen I sind von ande-

rer Hand auf dem freigebliebenen Rest der Zeile die Worte Liber onuniurn propbetarmn als Ersatz eingetragen: BECKER (ed. ) 1885, Nr. 37,569 (S. 119) - der Bibeltext der kleineren Propheten des Alten Testaments wurde also als seine Kom-

mentierung durch Hieronymus angesehen, ein Irrtum, der

durch den Prologus duodecim prophetarum in der Bibelü- bersetzung dieses Kirchenvaters, mit dem vermutlich auch der Gerwardcodex begann, leicht unterlaufen konnte.

Angelika Häse

Bände aber wurden bewußt aus der kleinen, sepa- rierten Buchsammlung herausgenommen - die bei- den Meßbücher für Kirche und Sakristei oder als Leihgabe an einzelne Konventsmitglieder, die Ortho-

graphie des Beda Venerabilis, 93 deren Eintrag eben- falls getilgt wurde, als wichtige Schrift für die Bi- bliothek der Klosterschule.

Auch Katalog C enthält einige wenige Ergänzun-

gen, die im späten 9. Jahrhundert9' auf die Rück-

seite des ursprünglich leeren ersten Blatts` des Pal. lat. 1877 eingetragen wurden. Hier steht an oberster Stelle ein Liber expositionn a lectianmi ei'an- gelii et ceteranrni lectionunn per totnnJ auunuu, 96 wohl die etwas umständlich geratene Beschreibung eines Homiliars, das als Auslegung der Evangelien- und Epistellesungen der Messe nach dem Verlauf des Kirchenjahrs zusammengestellt war. Eine weitere Predigtsammlung beschließt damit die Reihe der für Kloster Lorsch im 9. Jahrhundert nachweisbaren Liturgica.

Der Blick durch die Lorscher Bibliothekskataloge

zeigte ein rasches Anwachsen der liturgischen Handschriften in einem Zeitraum von rund drei Jahrzehnten; um das Jahr 86o konnte in dem Kloster an der Weschnitz bereits auf 52 Codices mit gottes- dienstlicher Verwendung zurückgegriffen werden. Die Meßbücher stellten dabei den deutlich größten Anteil, doch auch Antiphonare, Evangeliare, Evan- gelistare, Homiliare, Kollektare und Lektionare

waren mit je drei bis fünf Ausgaben ausreichend vertreten. Diesem einstmals Vorhandenen stehen neun erhaltene Handschriften oder Handschriften-

reste aus der Gruppe der Evangeliare und der Sa- kramentsre gegenüber, für die eine Entstehung oder Aufbewahrung in Lorsch während des 9. Jahr- hunderts gesichert ist 97 Die hohe Zahl von sieben vollständig bewahrten Evangeliaren, die den in Ka- talog C verzeichneten Bestand von fünf Exempla- ren übertrifft, erklärt sich aus der Tatsache, daß die-

91 Ortographia in der vorletzten Zeile auffol. 34` des Pal. lat. 1877 (vgl. Abb. 4) = BECKER (ed. ) 1885, Nr. 37,587 (S. 119) und Nr. 38.119 (S. 124).

" So BISCHOFF 1989, S. 24. 9s Heute fol. z'. -Vgl. auch oben, Anm. 39. 9, BECKER (ed. ) 1885, Nr. 37,49 (S-82)- 97 Nach der Tabelle bei BISCHOFF 1989, S. 102-135. - Die-

jenigen Codices, die nach Bischoff nicht in Lorsch entstan- den und dort im 9. Jahrhundert auch noch nicht nachweis- bar sind, blieben mit Ausnahme des Lorscher Evangeliars unberücksichtigt, obwohl sie natürlich bereits dort gelegen haben könnten. Die genannte Übersicht ermöglicht eine rasche Orientierung über diese Kandidaten.

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Liturgische Handschriften in Lorsch um die Mitte des 9. Jahrhunderts 31

ser Buchtyp angeregt durch den Formenschatz des Lorscher Evangeliars auch für den Export produ- ziert wurde. Neben dem Codex aureus sind fol-

gende Evangelienhandschriften aus Lorsch zu nen- nen: Bamberg, Universitätsbibliothek, Msc. Bibl. 93; 9$ Darmstadt, Hessische Landes- und Hochschulbi- bliothek, Hs 1957; ' Los Angeles, J. Paul Getty Mu-

seum, Ms. Ludwig is t; '°° Manchester, John Rylands University Library, MS. 9; '°' Nürnberg, Stadtbiblio-

thek, Cent. V, App- 43b'°i und Orleans, Bibliotheque

municipale, Ms. 20 (17). 1 ' Fragmente zweier Sakra-

mentsre mit Lorscher Herkunft liegen heute in Augsburg, Universitätsbibliothek, Cod. 1.2.4°1 und Erlangen, Universitätsbibliothek, Ms. 2000,104 sowie in Solothurn, Zentralbibliothek, Codex S 716. '°5

Vergleiche mit den liturgischen Beständen ande- rer geistlicher Gemeinschaften des 9. Jahrhunderts

erweisen sich aufgrund der uneinheitlichen Quel- lenlage als äußerst schwierig; dem Verzeichnis der Handschriften in Sakristei und Kirche, mit dem der Lorscher Buchkatalog C begonnen wurde, ist kaum

etwas Ähnliches zur Seite zu stellen. Lediglich eine Inventarisierung taut in thesauro ecclesiae qumn in bonis

forensibus, die im Jahr 831 dem Kloster St-Riquier

abverlangt wurde, io6 enthält neben zwei Homili-

aren'°' und sieben Exemplaren des Psalters, "' die

sich unter den 195 codices libronun claustralium, also in der allgemeinen Büchersammlung befanden, auch eine Abteilung Dc libris sacrarii, qui ministerio altaris deserviunt: Alissales Gregoriani tres. Ilissalis Gregorian us et Gelasianus modemis temporibus ab Albino ordinatus i. Lectionarii epistolanum et evangelionun mixtim et ordinate cornpositi v. Missales Gelasiani m. Textus evangelii iv.

aureis litteris scriptus totes i. Lectionaries plenaries a sup-

radieto Albino ordinates. Antiphonarii sex; qui suet libri

nuniero xxxv. '°9 Das Bücherverzeichnis des Benedik-

tinerklosters Staffelsee von etwa 811 war wohl eben- falls auf Vollständigkeit hin angelegt; es erwähnt unter anderem: Liber lectionaries, tabulas lanuninis ce-

prinis deauratis habeas paratas i. Liber onieliarum diver-

sorum auctorum i. (... ) Libri sacramentorem iii. Libri lec-

tionarii ii. (... ) Liber quatteor evangeliorum vetustus I. Libri antefonarii ii. 1O Gewaltige Zahlen bietet der Bi- bliothekskatalog der Reichenau aus dem Jahr 822, die dennoch nicht unbedingt alles Dagewesene er- fassen: Libri sacramentorem LvIII. Lectionarii xrr. Anti-

phonarii x. Officia vii. Psalteria L. "' Ein Bücherver-

zeichnis des Kölner Domkapitels, aufgezeichnet im Jahr 833, nennt verstreut unter den anderen Buch-

titeln die folgenden Liturgica: Psalteria m. (... ) Evan-

geliorum volumina viii. (... ) Lectionarios vi. Lectionarios,

qui dicuntur libri comitis iii. Sacramentorum Gregorii vo- lumina viii. Gelasii volumina v. Benedictiones super popelem II. Item sacramentorem Gregorii clan evangeliis et lectionibus I. Ceteros veteres missales II. Antephonarios III. (... ) Collectaria diversorum anni circuli legenda, volumina Irr. (... ) Liber diversorum patruni per annum legendes I. (... ) Ojciorum volumina III. (... ) Poenitentiales II. Praedicatiomun diebus festis et cotidianis volumina u. "Z

Einen im Gegensatz hierzu geringen liturgischen Bestand weist der Gesamtkatalog der Abtei St. Gal- len aus den achtziger Jahren des 9. Jahrhunderts

'°9 BECKER(ed. ) 1885, Nr. iI, 2o8-210,211,212-216,217-235,

236,237 und 238-243 (S. 28). 110

9t Vgl. LEITSCHUH 1966, S. 76f. Vgl. EIZENHÖFER/KNAUS 1968, Nr. 23, S. 90-93, sowie: ZINIMERAMANN/STAUB 19So, S. 12f. (mit Abbildung).

10O Vgl. VON EUIV/PLOTZEK 1979, S. 147-149 (mit Abbil- dung).

101 Vgl. TAYLOR (Hrsg. ) 19So, S. 10 und S. 26f. '°' Vgl. NESKE 19S7, S. 71f. undAbb. i8. 10j Vgl. CUISSARD 1889, S. 17, mit veraltetem Forschungs-

stand, deshalb auch BISCHOFF 1989, S. 45, S. i iof. und Abb. 12.

'' Zwei Doppelblätter mit der Pfingstmesse und dem �Te

igitur `. - Vgl. DOLD 1936, S" 3 59-374. sowie: LUTZE 1936, S. 172f. und Abb. 85.

'°' Ein Doppelblatt. -Vgl. SCHÖNHERR 1964, S. IOI. 1O` Abgedruckt bei BECKER (cd. ) iSS5, Nr. ii (S. 24-29). 107 Honjiliarius sanc1onun painuu anni dmdi Hicrony: ni, Augustiui,

Crcgorii, Orienis, Leonis, loannis, Fulgentii, Bedac in 1 volu- mine. Item hotniliae santtonun patnun super anni c mtlunj in ni

trobjnjinibju: BECKER (ed. ) ISS5, Nr. II, iti und 112-114 (S. 27)-

'08 Psalteria I'lt: BECKER (cd. ) iSSS, Nr. 1 i, 166-172 (S. 27).

III

Unter anderem abgedruckt in: RUF 1932, Nr. 54, S. 164 f. Zitiert nach: LEHMANN 1918, Nr. 49, hier S. 248. Zudem finden sich über den Katalog verstreut Quatuor evangeli- onun voluunina viii und Epistolannn Pauli apostoli voluuiina Iv, deren liturgische Verwendung nicht sicher ist (ebd., S. 244), und eine Abteilung De libris Itomeliannn mit Ho-

melianmm vel sermonum sanctonun collectanun [sie! ] ad legen- dem per singulas festivitates in anno volmnina n1, einer zwei- ten dreibändigen Ausgabe, sowie: Brevis explanatio in mines epistolas Pauli in codice i. Item de eadeni re volmnen. Quae-

stionum in evaugelia excerptus Tiber de opusculis sancti Augu-

stini, Hieronymi, Gregorii, Ambrosii, Eudterii, volumen I (ebd., S. 25o£). Vgl. auch die weiteren Reichenauer Buch- listen des 9. Jahrhunderts ebd., Nr. 50-53, S. 252-262, v. a.: De libris abbatis Erlebaldi: Liber sacramentonun Gregorii,

ummn volumen. Liber sancti evangelii ad legendem, m: um. Lec-

tionarimn anum similiter ad legendem. Antiplionarium 1. Pae-

nitentiale i de canone scarpsatutu. Missale anum Gregorii, in

quo publlea missa canitur. Antiphonariettt unum plenarimn (S. 254).

"' Vgl. DECKER 1895, hier S. 224-227. Die Kürzel wurden aufgelöst.

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auf, "3 was jedoch durch Neuzugänge unter den Äbten Grimalt (841-872) und Hartmut (872-883)"4

schnell und mit zum Teil kostbaren Handschriften

aufgeholt wurde: Lectiones evangelii, quer: libnun [Hart-

mut] auro et argento ac lapidibus pretiosis ornavit. Lectio-

narium eleplianto [sic! ] et auroparatum. "S Keinerlei Li-

turgica finden sich im Buchinventar des Klosters

Murbach sowie im Hauptkatalog der Abtei Fulda. i6

Informationen über liturgische Handschriften

können auch den Schatzverzeichnissen und Schen-

kungsurkunden einer Niederlassung` entnommen

werden, die sich - bereits ab dem 8. Jahrhundert

überliefert - jedoch zumeist auf die naturgemäß

eher geringe Ausstattung"8 von Eigenkirchen bezie-

hen. " Für den Kirchenschatz des Domstifts Würz-

burg sind durch eine solche Quelle um 830/840 tt

oraria. v niisales. iii coniiti [sic! ]. ii psalteria bezeugt,

sowie zwei Predigtsammlungen, die mit ihren An-

fangsworten zitiert werden. `

'' Etwa: Collectarii ntagni 11111: otnelianun sen sertnonnm sanctonun patnun per singnlas festivitates in anno oder Antiphonarii III ei veteres 11, jedoch bereits Psalteria xvi plena ei v excerpia in er- gänzenden Nachträgen bis 880; zitiert nach: LEHMANN 1918, Nr. 16, S. 77 und S. 80.

"4 Vgl. LEHMANN 1918, Nr. 17-20, S. 82-89. "5 LEHMANN 1918, S. 85. 16 Dem jedoch einige Sonderverzeichnisse Fuldaer Depen-

dancen auf (01.35` des Pal. lat. 1877 vorgeschaltet sind, die

eine Reihe von liturgischen Buchtypen enthalten. Eines von ihnen lautet: (... ) Misalem i. Contitent 1. Psalterium 1. Otnelias in 11 libris sancti Agustini [sic! ] per totunt cirndum anni. Antipharimn [sic! ] I. Regulatn sancti Benedicti; vgl. SCHRIMPF/LEINWEBER/MARTIN (Hrsgg. ) 1992, S. i8, S. 20 (mit der zitierten Textstelle), S. 21 f. und S. 24.

"' So erhielt etwa die Benediktinerabtei St. Emmeram in Regensburg in der 2. Hälfte des 9. Jahrhunderts neben zwei Leibeigenen und sechs Pferden auch: Lectiottaria Il. Missalia 11. Libero ontelianun. Gradalia ii. Nocturnalia 11. (... )

Psalteritun I. Passionalia 11. OJciale I. Collectaritun I. Paeniten-

tiale i; vgl. INEICHEN-EDER 1977, Nr. 24,5.142£ Vgl. wei-

tere Beispiele in: GLAUCHE 1979, Nr. 82a, 82b und 83a,

S. 64o f. 118 Als Grundausstattung der Pfarrkirchen erweist sich die

Versorgung mit einem Lektionar und einem Missale - und

mit zwei Glocken! - doch konnte der Buchvorrat einer

einzelnen Kirche stattlichen Umfang annehmen (Thann-

kirchen, 855): (... ) Hoc est: Missales Ili. Lectionarios Ni. (... )

Collectaritun I. Plenarium I. (... ) Psalteriuttt in tribus codicibus.

Angelika Häse

Der Lorscher Bestand an Liturgica ordnet sich zwanglos in das Gesamtbild der Zeit ein. Der Zah- lenvergleich bietet jedoch auch die Gelegenheit, bislang errechnete Angaben über die Größe der Mönchsgemeinschaft an der \Veschnitz zu Beginn des 9. Jahrhunderts noch einmal neu zu überden- ken; Schätzungen von bis zu 300 Mönchen, die vor- liegen, ` sind danach fraglos zu revidieren. Die Konventsstärke der Reichenau, die mit deutlich

mehr liturgischen Handschriften ausgestattet war, erreichte nach jüngst veröffentlichten Berechnun-

gen ausgangs des 8. Jahrhunderts nicht mehr als 6o bis 8o Mönche, um 825 etwa i io und uni 855 etwa 130 Personen. ' Mit der Annahme, Lorsch habe - trotz der politisch, wirtschaftlich und kulturell hohen Bedeutung der Reichsabtei - zur Zeit Karls des Großen nicht mehr als Go Mönchen eine Hei-

mat geboten, ''' wird ihm ganz sicher kein Unrecht

getan.

119

Izo

Ill

Antefonaritun I. (... ) 4llissales 11. Lectionarios 11. XL omclias. OJcialem I. Penitentialent I. Alias omclias. Psalteria 11. Ruto-

rale 1. Antefonaritmt I. (... ); vgl. GLAUCHE 1979, Nr. S3b, S. 641 f. Vgl. die frühen Inventare in: BISCHOFF (cd. ) 1967, v. a. die Nrn. 12 (Bergkirchen, 842/843), 13 (Bibereck, 842), iS (Bubach, 882), 19 (Tradition einer Eigenkirche in Dürr-

menz an Lorsch, 835), 27 und 28 (Gent, um 80o und nach 851), 33 (Tradition einer Eigenkirche in Holzheini an Lorsch, 793: ), 49 (Mauern, 899), 56 (Milz, 799/800), 6S (Passau, 788/789), 66 (Pfävers, 3. Viertel 9. Jahrhundert), So (Reichenau, Mitte 9. Jahrhundert), 82 (Sint Truiden, 870), 85 (Staffelsee, 811, ohne die Bücherliste), 89 (Thann- kirchen, 85S, vgl. Anm. 118), 97 (Villip, 886), 107 (Tradition

einer Eigenkirche in Wieblingen an Lorsch, 790), 110 (Würzburg, 830/840, vgl. die folgende Annl. ). Vgl. BISCHOFF (cd. ) 1967, Nr. 1 to, S. 1o9; erneut abge- druckt in: KNAUS 1979, Nr. 127, S. 979f. Ein Katalog der Dombibliothek um 80o enthält lediglich ein Episcopal (sic!

= Pontificale), ein Official (sic! = Kollektar) und Lectionari [sic! ] duo; vgl. KNAUS 1979, Nr. 126, S. 977-979. Vgl. zu den frühen Würzburger Katalogen insgesamt HOFMANN

1952. S-141-151-

Etwa von GLÖCKNER 1964, S. 36, der mit Berufung auf die Listen des Reichenauer Verbrüderungsbuchs von 2-300 Insassen um das Jahr Soo spricht. Vgl. WEHLT 1970, S. 14, Anm. 6, Wo auch von i 20-i So Personen die Rede ist. Vgl. RAPPMANN/ZETTLER 1998,5.242-244. So Josef Semmler auf S. 21 in diesem Band.

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