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Mit Credit Suisse #jugendbarometer #2016

CREDIT SUISSE Bulletin - ub.unibas.ch · N T D Bulletin N° 3 / 2016 — 5 — Digital /Analog — nicht nur in den alten Industrienationen, die sich in Wissens-gesellschaften verwandeln,

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Digitale Welt, analoges Leben

Grosses Gespräch mit Digitalpionier Sebastian �run Seite 22

Mit

Credit Suisse

#jugendbarometer

#2016

Mensch und Maschine – wie wir uns gegenseitig verändern

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— Editorial —

Bulletin N° 3 / 2016 — 1Cover: Foto: Mathew Scott; Illustration: Bryan Christie Design

 W ir erleben derzeit grosse Umbrüche in sämtlichen Bereichen der Wirt-schaft und der Gesellschaft. Neue

Technologien verändern Geschäftsmodelle nach-haltig. Branche um Branche wird digitali - siert, traditionelle Denkmuster werden überholt, neue Möglichkeiten entstehen. Dabei ersetzt die Digi talisierung jedoch nicht den Menschen durch die Maschine, sondern rückt ihn in den Mittelpunkt: «Technologie verleiht uns über- mensch liche Fähigkeiten», sagt Technologiepio-nier Sebastian �run (Titelbild), Senior Advisor der neu eta blierten Fintech Innovation Factory «Credit Suisse Labs», im Interview (Seite 22).

Das vorliegende Bulletin widmet sich dem Zusammenspiel zwischen dem analogen Wesen Mensch und den digi talen Technologien. Die Schweizer Wirtschaft wird durch die digitale Revolution vor eine immense Herausforderung gestellt. Aber die Chancen, diese erfolgreich zu meistern, stehen gut. In unserer KMU-Umfrage sagen bereits 21,9 Prozent der Teilnehmer, ihre Firmen seien schon stark oder sehr stark digita-lisiert (Seite 20). Unsere Research-Abteilung hat die Auswir kungen dieser Entwicklung auf den Schweizer Arbeitsmarkt untersucht (Seite 18).

 Zur Lektüre empfehlen möchte ich Ihnen auch die Reportage über die AltSchool in San Francisco, die einen Einblick

gibt, wie Bildung von morgen aussehen könnte. Auswendiglernen verliert an Bedeutung, Krea-tivität ist mehr denn je gefragt.

Wie sich die junge Generation fühlt, wie sie denkt und handelt, wurde im traditionellen Jugend barometer der Credit Suisse erforscht.

Die diesjährige Um frage hat Politik im Netz zum Hauptthema. Die Resultate stimmen mich positiv. Die Jugend lichen stehen dem, was sie online lesen, durchaus kritisch gegenüber. Sie sind versiert im Umgang mit digitalen Techno-logien, wissen aber auch um ihre Eigenverant-wortung im Netz und nehmen �emen wie die Privatsphäre und den Datenschutz ernst. Zur Jugend in der Schweiz ¦nden Sie eine Diskus-sion mit Flavia Kleiner (Co-Präsidentin Opera-tion Libero), Lukas Reimann (Nationalrat SVP) und dem Publizistikprofessor Otfried Jarren (Universität Zürich). Die Soziologin Sherry Turkle vom Massachusetts Institute of Techno-logy setzt sich mit den Resultaten der inter-natio na len Jugendbarometer-Umfrage – in der Schweiz, in den USA, in Singapur und in Brasilien – aus einander.

 I ch wünsche Ihnen eine anregende und erkenntnis reiche Lektüre! Und ja – auch die Bulletin-Ausgabe zur Digitalisierung

erscheint auf Papier. Ein hochwertiges Wirt-schaftsmagazin war vielleicht noch nie so wichtig wie im ªüchtigen digitalen Zeitalter.

Urs Rohner, Präsident des Verwaltungsrats, Credit Suisse Group AG

Der Mensch im Mittelpunkt

Am «Best of Content Marketing» (BCM), dem bedeutendsten europäischen Wettbewerb für Firmenkommunikation, hat das Bulletin Gold gewonnen. Und dies bereits zum dritten Mal. Aus diesem Grund wird das Bulletin nächstes Jahr in die Hall of Fame aufgenommen.

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Bulletin N° 3 / 2016 — 3

— Digital /Analog —

4 Stets zu Diensten Wir lernen gerade, auf dem digitalen Instrument zu spielen.

8 Revolution in 3-D Der 3-D-Druck wird Geschäftsmodelle grundlegend umkrempeln.

18 Vom Ende der Routine Erhöht die Digitalisierung den Druck auf den Mittelstand in der Schweiz?

20 Gegen Standortnachteile Die Bedeutung der Technologie für Schweizer KMU.

22 Sebastian �run Ein Vordenker der digitalen Welt über das Zeitalter und die Chancen der Technologie.

28 Wolken, Schatten … 19 Begri¬e der digitalen Zukunft, die man kennen sollte.

32 Versuch und Irrtum Besuch in der Schule der Zukunft – in Kalifornien.

40 Homo digitalensis Wie die Maschine den Menschen verändert.

42 «1 + 1 = 3» Digitalisierungschef Marco Abele erklärt, wie Bankberater und Computer sich ergänzen.

46 Salat aus dem Hochregal In Japan wächst die Landwirtschaft in die Höhe.

50 Formeln für die Liebe Können Algorithmen von Dating-Portalen wirklich Menschen zusammenbringen?

52 Leserbriefe/Impressum

Inhalt

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Credit Suisse # jugendbarometer # 2016

Fotos: Chris Keulen; David Magnusson; Jonathan Alcorn / Reuters; Illustration: QuickHoney

#1 Politik im NetzInternet macht Politik spannender. Terrorismus bereitet Sorgen. — S. 55

#2 Kommunikation Digital ist nicht gleich global: die regionalen Unterschiede. Online-Mobbing als neues Problem. — S. 58

#RoundtableWie funktioniert E-Politik? Gespräch mit Flavia Kleiner (Operation Libero), Lukas Reimann (SVP) und Otfried Jarren (Uni Zürich). — S. 60

#3 Trends und MedienHandy und Apps sind in, Drogen und Vereine out. Radio verliertan Bedeutung. — S. 65

#4 Beruf, Finanzen, KarriereEigenheim und Aktien statt Sparkonto. Handyschulden in der Schweiz wachsen. Selbstständigkeit und Home-Office beliebt. — S. 67

#InterviewForscherin Sherry Turkle warnt vor zu viel Internet und fordert Handy-Pausen für Eltern und Kinder im Alltag. — S. 69

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MACHT UNS DIE DIGITALISIERUNG ARBEITSLOS? ERGREIFEN BALD ROBOTER DIE MACHT? GEMACH! WIR LERNEN GERADE, AUF DEM DIGITALEN INSTRUMENT ZU SPIELEN.

VON WOLF LOTTER

ZU

S ETST

4 — Bulletin N° 3 / 2016

— Digital /Analog —

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IENS ENTD

Bulletin N° 3 / 2016 — 5

— Digital /Analog —

nicht nur in den alten Industrienationen, die sich in Wissens-gesellschaften verwandeln, weiter wächst. Vor vier Jahrzehnten wurde Apple Computer lanciert. Dessen junge Gründer, Steve Jobs und Steve Wozniak, träumten davon, jedem Menschen Zugang zu Informationstechnologie zu verscha¬en, die damals nur Konzernen und Militärs zur Verfügung stand. Apple ist längst zum Symbol der damals beginnenden Massencomputerisierung geworden, die auch die Voraussetzung für das Internet schuf. Das ist weit mehr als Google, Facebook und Snapchat: Der sagen-hafte Aufstieg der einstigen Armenhäuser China und Indien ist untrennbar an die dritte industrielle Revolution gebunden, welche die Globalisierung befördert und beschleunigt hat. Ohne Zweifel: Die digitale Universalmaschine Computer ist ein Segen und an sich bereits revolutionär genug. Aber das ist noch nicht genug.

Die Maschine wird erwachsenDie vierte industrielle Revolution geht einen entscheidenden Schritt weiter. Computer und Automaten, Roboter und Software sind so weit entwickelt, dass sie die Produktion nicht mehr nur massgeblich unterstützen, sondern übernehmen. Durch künst liche Intelligenz kommt es zu einer Superautomation, bei der die Maschine sich selbst organisiert, steuert, repariert und weiterent-wickelt. Die Maschine, die seit mehr als zwei Jahrhunderten unser Leben und unsere Kultur mehr als alles andere prägt, wird erwach-sen. Eine Digitalisierung durch die nächste, ultimative industrielle Revolution scheint eindrucksvoll. Bloss: Was heisst das für uns?

Hier ist es Zeit, wieder nach Cologny zurückzukehren, genauer in die Villa Diodati. Vor 200 Jahren war die industri-

Manchmal kommt auf kleinem Raum ziemlich viel zusammen. Nehmen wir mal den kleinen Ort Cologny. Etwas mehr als 5500 Einwohner leben hier am linken Ufer des Genfersees, wo sich auch der Sitz einer einªussreichen Stiftung be¦ndet: des World Economic Forum (WEF).

Dieses wiederum ist bis in den hintersten Winkel der Welt bekannt als Veranstalter des einªussreichsten Gesprächszirkels der globalen Ökonomie, des alljährlichen Weltwirtschaftsforums in Davos. Von Cologny aus wird das Klassentre¬en der Mäch - tigen – und damit gewissermassen auch die Agenda von Mil-liarden Menschen weltweit – organisiert.

Im Jahr 2016 ging es am WEF um das zentrale �ema der Transformation von der Industrie- zur Wissensgesellschaft, das uns auf Jahrzehnte hinaus beschäftigen wird: die sogenannte vier-te industrielle Revolution. Sie macht mit einem alten Mensch-heitstraum Ernst: Schweres Schuften, langweilige Arbeit, mono-tones Scha¬en – das sollen gefälligst Maschinen übernehmen. Wir haben Besseres zu tun.

Der Traum: Informationen für alleBereits die dritte industrielle Revolution, die mit den ersten Com-putern und bald auch elektronischen Steuer- und Regel anlagen in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg begann, hat Produktion und Fabriken massiv automatisiert. Roboter schweissen, löten und bohren, was das Zeug hält. Weit schneller und genauer als ihre menschlichen Kollegen.

Das Digitale ist längst selbstverständlich und allgegenwärtig geworden. Es trägt ganz massgeblich dazu bei, dass der Wohlstand

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RBEIT, DAS WAR

PLACKEREI, FÜR DIE MAN

KRAFT BRAUCHTE.A

6 — Bulletin N° 3 / 2016

— Digital /Analog —

6 — Bulletin N° 3 / 2016

elle Revolution noch jung, aber in ihrem Mutterland England stürmten mit Vorschlaghämmern bewa¬nete Weber die Fabriken, in denen die neuen Maschinen viel schneller, e²zienter und billi-ger Baumwolle zu wertvollem Tuch woben. Die nach ihrem An-führer Ned Ludd benannten Ludditen, die Maschinenstürmer, waren gefürchtet: Die einen verdammten sie als gefährliche Hin-terwäldler, die den Fortschritt der Welt aufhielten, die anderen verehrten sie als Helden, die gegen die künstliche Macht der Maschinen aufbegehrten.

zu verlassen, das ihnen von höheren Mächten zugedacht worden war. Aber Gott war nun nicht mehr der einzige Kreative im Raum. Der Schöpfer erhielt Konkurrenz durch seine Geschöpfe. Menschen begannen, künstliches Leben zu erzeugen, auch wenn es nicht anmutig war und so schön wie Adam und Eva, sondern grobschlächtig wie eine Dampfmaschine. Oder das Monster Frankensteins. «Der moderne Prometheus» nannte Mary God-win, die nun Shelley hiess, ihren 1818 erschienenen Roman, in dem sie ihre Grusel geschichte des Sommers von zwei Jahren zuvor ver arbeitete.

«Frankenstein» ist eine Dystopie des Maschinenzeitalters, eine negative Utopie. Die Moral der Geschichte: Die Rache für die Anmassung, selbst Schöpfer zu spielen, wird fürchterlich sein. Das sahen viele «kritische Intellektuelle» damals und heute so. Auch das: nicht neu. Bei den alten Griechen klaute Prometheus den Göttern im Olymp das Feuer und brachte es den Menschen. Die waren «erleuchtet», wurden selbstbewusst und kreativ. Dafür wurde Prometheus von seinen Verwandten an den Fels gekettet, wo ihm fortan ein Adler die Leber aufpickte. Und im biblischen Kontext ist es ein Apfel, den Eva für ihren Adam pªückt. So viel Eigeninitiative wird zum Sündenfall. Fortan müssen Menschen selber für ihr Auskommen sorgen und fürs Überleben schuften.

Dabei sind wir einerseits ganz gut vorangekommen, anderer-seits die geblieben, die wir waren: ängstliche Menschen. Die Auto mation hat in den vergangenen 200 Jahren Erstaunliches gescha¬t, aber hat immer noch einen schlechten Ruf.

Der Preis für zu viel FortschrittFast dreimal höher ist die Lebenserwartung eines Weltbürgers heute als zu Zeiten Mary Shelleys, der Wohlstand hat sich in Westeuropa zwischen 1800 und 2000 um das 44-Fache erhöht.

Aber Industrie 4.0 sorgt vor allem für Gruseln, besonders dort, wo die einªussreichen gesellschaftlichen Schichten leben: im Mittelstand und in der akademischen Oberschicht. Waren es bis-her stets Arbeiter und kleine Angestellte, die durch Automations-wellen arbeitslos wurden, geraten nun auch die Bessergebildeten ins Visier des «Geists der Maschine». Die Kritiker zitieren seit drei Jahren eine Studie der Forscher Carl Benedikt Frey und Michael Osborne mit dem Titel «�e future of employment». Die berüch-tigte Frey-Osborne-Studie geht von massiven Jobverlusten durch den Einsatz neuer digitaler Automationstechniken aus. Würde man diese ohne Rücksicht auf Verluste einsetzen, wäre nach heutigem Stand rund die Hälfte aller Jobs in den USA gefährdet. In Deutschland, wo eine Vergleichsstudie nach der Methode von Frey und Osborne durchgeführt wurde, sollen es sogar 59 Prozent aller Arbeitsplätze sein. Da ist er wieder, der Frankenstein-E¬ekt, der Preis für zu viel Fortschritt: Bis zu 86 Prozent aller Bürokräfte, einfachen Dienstleister und Verkäufer sollen überªüssig werden.

Gruselgeschichten aus dem Haus am SeeDie gebildete und bessere Gesellschaft, die in Cologny in der Villa Diodati im Sommer des Jahres 1816 zusammenkam, wusste von den Ludditen. Das grosse Haus am See mietete der englische Dichter George Byron, der dort mit seinem Freund sowie mit dem Dichter Percy Shelley und seiner jungen Geliebten Mary Godwin den Sommer verbrachte. Shelley und Byron waren Rockstars der Romantik, doch berühmt wurde die Villa in Cologny durch die junge Mary, die spätere Frau Shelleys.

Allabendlich erfanden die jungen Leute Gruselgeschichten. Mary Godwin liess sich bei ihrer Story vom Zeitgeist leiten. Sie übernahm das Bild der Maschine, die vielen als künstlicher Mensch galt – wir kommen noch dazu.

Arbeit, das war Plackerei, für die man Kraft brauchte, die bis dahin vorwiegend von Menschen und Tieren geliefert wurde. Die Dampfmaschine und die neue Arbeitsorganisation änderten das nun.

Bis heute glauben viele Menschen, wenn auch nur noch ins-geheim, an den «Geist in der Maschine». Damals, am Anfang der grossen technischen Veränderungen, dachte man das erst recht. Die zeitgenössischen Beschreibungen von Dampªoks und Ma-schinen reden von «zischenden» und «wütenden», «entfesselten» und «schnaubenden» Ungeheuern. Künstlichen Wesen mit mehr oder weniger Intelligenz. Gruselig. Anmassend. Und logisch.

Seit der Aufklärung hatten immer mehr Menschen die Dinge selbst in die Hand genommen, statt sich auf ihr Schicksal

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ARBEIT SCHAFFT ARBEIT.

DIE BEDÜRFNISSE DER

MENSCHEN SIND GRENZENLOS

Bulletin N° 3 / 2016 — 7

— Digital /Analog —

Bei Maschinenbedienern, die durch selbstlernende Systeme ersetzt werden, sind es laut Studie immer noch 69 Prozent. Aka-demiker kommen mit 12 Prozent noch glimpªich davon. Aber neue Studien prophezeien auch Unter nehmensberatern, Ärzten und Anwälten neue Konkurrenz durch kluge Maschinen.

Luft, um Besseres zu tunAber: Ist das möglich? Antwort: Ja, und das ist gut so. Denn was die Forscher gemessen haben, ist der bis heute sehr hohe Anteil an Routine und Normarbeit in unserer Arbeitswelt. Menschen machen immer wieder die gleichen Handgri¬e und führen die immer glei-chen Tätigkeiten aus. In digitalen Wissensgesellschaften aber liegt die Wertschöpfung nicht in der Routinearbeit, nicht in der mono-tonen Wiederholung, sondern in der originellen und originären Pro blemlösung. Das gilt für sogenannte einfache Dienstleistungen ebenso wie für sehr kni·ige Probleme. Menschliche Arbeit wird von monotoner Tätigkeit immer stärker befreit – Kreativität, Origina lität und individuelles Arbeiten bleiben für uns übrig.

Die Frage ist: Ist all das ein Drama? Die ersten drei indust-riellen Revolutionen haben die Menschheit zusehends von schwe-rer körperlicher Arbeit befreit. Die vierte Welle kümmert sich nun um monotone Routinen, die Maschinen günstiger und besser er-ledigen können als Menschen. Wir haben Luft, um Besseres zu tun. Zum Beispiel, um gute Übergangslösungen für jene zu schaf-fen, deren alte Routinearbeit nicht mehr gebraucht werden wird.

Was die Diskussion um Industrie 4.0, künstliche Intelligenz und neue, vermeintliche Gefahren der Automation zutage fördert, sind weniger kluge Roboter als vielmehr eine veraltete Arbeitskultur.

Schöpferisches, kreatives Arbeiten gilt immer noch als Frevel, auch unter jenen, die ihre politischen Motive scheinbar nicht religiös begründen. Müssen wir unser Brot im Schweisse unseres Angesichts verdienen? Oder wäre es nicht besser, die Plackerei den Apparaten zu überlassen?

Die entstehende Wissensgesellschaft, die nun zur neuen Normalität wird, zwingt uns, über uns und unsere Arbeit nachzu-denken – über die Rolle, die sie in unserem Leben hat, im Guten wie im Schlechten.

Der Geist in der Maschine ist unser Freund. Man muss nur genau hinhören. Er fordert uns auf, schlechte Arbeit links liegen zu lassen und gute, menschengerechte, dem Individuum entsprechende Arbeit zu entwickeln und zu fördern, wo immer es geht. Die Digitalisierung wird uns dabei unterstützen, voraus-gesetzt, wir gehen nüchtern und vorurteilslos mit ihr um. Maschi-nen stehlen uns keine Jobs. Natürlich, die meisten Berufe, die es im 19. Jahrhundert gab, existieren nicht mehr. Aber unterm Strich gibt es weit mehr Arbeit und Wohlstand als früher.

Arbeit und Tätigkeit verhalten sich wie eine Hydra, jenes viel köp¦ge Wesen aus der griechischen Mythologie. Schlägt man

ihm einen Kopf ab, wachsen zwei neue nach. Soziologen wie Manfred Füllsack von der Universität Graz bringen das so auf den Punkt: Arbeit scha¬t Arbeit. Menschliche Bedürfnisse sind gren-zenlos. Uns fällt immer noch etwas Neues ein. Dazu brauchen wir keine Maschinen.

Roboter denken nichtDie könnten das eh nicht. Roboter denken eben nicht. Intelligenz, Kreativität und die Fähigkeit zum eigenständigen Denken sind menschliche Monopole. Kein Forscher hat sie bis heute enträtselt, auch wenn oft das Gegenteil versprochen wurde.

Das bedeutet zweierlei: Maschinen und Systeme, die wir scha¬en, können nur so klug sein, wie wir ihnen das gestatten. Was wir nicht können, kann auch der Geist in der Maschine nicht – denn er ist unser Geschöpf. Darum führt das trendige Gerede von künstlicher Intelligenz auch auf die falsche Spur.

Es wäre klüger, statt von neuer künstlicher zu reden, auf vorhandene natürliche Intelligenz zurückzugreifen. Den alten Tipp von Immanuel Kant aufzugreifen etwa, mal «den Mut» zu haben, «sich seines eigenen Verstandes zu bedienen».

Dazu gehört, dass wir das Werkzeug Maschine – Auto ma-tion, smarte Produktion nach besten Kräften – ohne falsche Hem-mungen nutzen und ausnutzen. Denn dazu ist es da. Wir denken, wir lenken. Die Maschine erledigt das. Das ist eine Revolution, aber keine der Maschinen, sondern der menschlichen Kreativität und des Selbstbewusstseins.

Und es ist der Eintritt ins Wissenszeitalter. Mit mehr Möglichkeiten und einer besseren Zukunft für die meisten von uns. Klingt das gruselig? Nur, wenn wir das Instrument, das wir gescha¬en haben, nicht richtig zu spielen lernen. Aber wenn wir das richtig tun, merken wir: Das klingt verdammt gut.

Wolf Lotter ist Mitbegründer und Autor des Wirtschaftsmagazins «brand eins».

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8 — Bulletin N° 3 / 2016

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Bulletin N° 3 / 2016 — 9

Komplexe menschliche Organe, ganze Häuser oder auch nur ein T-Shirt: Der 3-D-Druck ermöglicht die Produktion von fast jedem Gegenstand an fast jedem Ort. Das wird Wertschöpfungsketten und Geschäftsmodelle grundlegend umkrempeln.Von Daniel Ammann und Ulrich Kaiser (Artikel)

Revolution in 3-D

MOTORRAD Die Airbus-Tochterfirma APWorks hat ein Elektromotorrad gebaut, das nur gerade 35 Kilo gramm wiegt. Der Rahmen des «Light Riders» ist nicht aus Rohren geschweisst, sondern besteht aus Milliarden Partikeln einer speziellen Aluminium-Legierung, die im 3-D-Drucker Schicht für Schicht von einem Laserstrahl verschweisst wurden. Das ist einer der bahnbrechenden Vorteile der neuen Technologie: Sie erlaubt komplexe Formen, die nur durch 3-D-Druck überhaupt herstellbar sind.

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10 — Bulletin N° 3 / 2016

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ARCHÄOLOGIE Nur gerade vier Helmmasken der westgermanischen Bataver sind der Nachwelt erhalten geblieben – und erst noch unvollständig. Das Museum Het Valkhof im niederländischen Nijmegen konnte nun mit einem Scanner und einem 3-D-Drucker erstmals einen vollständigen Helm rekonstruieren. Die Technik kann Kulturerbe retten: Dank ihr konnte etwa auch der Triumphbogen der syrischen Ruinenstadt Palmyra wiederhergestellt werden, der von der Terrormiliz Islamischer Staat zerstört worden war.

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Bulletin N° 3 / 2016 — 11

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PROTHESEN Viele Menschen in Entwicklungsländern haben keinen Zugang zu Prothesen oder anderen medizinischen Hilfsmitteln. Gründe dafür sind unter anderem lange Produktionszeiten, hohe Transport kosten oder Mangel an geschulten Fachleuten. 3-D-Scan und -Druck können einige dieser Probleme lösen – und machen für arme, entlegene Regionen bisher Unmögliches möglich. Im Bild: Prothesen von «3D PrintAbility», einem Projekt der kanadischen Non-Profit-Organisation Nia Technologies, das vor allem in Uganda aktiv ist.

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12 — Bulletin N° 3 / 2016

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Diese Produktionsform hat entscheidende ökonomische Vorteile gegenüber der bis-herigen industriellen Herstellung:

Ein Produkt, zum Beispiel ein Auto-ersatzteil, kann praktisch an jedem beliebi-gen Ort der Welt lokal angefertigt werden. Ein Drucker genügt dazu. Das spart Zeit, weil das Drucken auf Nachfrage und auf Abruf möglich wird.

So können Transportwege deutlich verkürzt werden, weil das Ersatzteil nicht mehr um die halbe Welt geschi¬t werden muss. Dies spart Transport- und Lager-kosten. Und schont gleichzeitig die Umwelt.

Es entsteht weniger Abfall, da nur so viel Material verbraucht wird, wie gerade benötigt wird.

«Demokratisierung» der IndustrieSetzt sich die additive Fertigung weiter durch, wird sie etablierte Liefer- und Wertschöpfungsprozesse sowie Geschäfts-modelle stark beeinªussen. Diese Methode spart aber nicht nur Zeit und Geld, sie hat auch das Potenzial, die Industrieproduk-tion sozusagen zu «demokratisieren». Die Konsumentinnen und Konsumenten kön-nen künftig vielleicht das Modell für ein Werkzeug oder einen Gebrauchsgegen-stand aus dem Internet herunterladen wie heute ein Musikstück oder einen Film und in einem 3-D-Drucker-Shop um die Ecke ausdrucken lassen.

Einer der wichtigsten Vorteile der Technologie ist nämlich die Möglichkeit, auch Einzelteile günstig herzustellen, weil dafür keine teuren Werkzeuge oder Proto-typen gefertigt werden müssen.

Wie sich diese Technologie global auswirken wird, lässt sich noch nicht end-gültig abschätzen. Einige Entwicklungen sind aber bereits absehbar: 1 — Da weniger Leute direkt an der Her-stellung eines Produkts beteiligt sind, sin-ken die Lohnstückkosten, also die Arbeits-kosten pro Produkteeinheit. Das könnte zu einer Re-Industrialisierung in den reichen Ländern führen. Es wird für sie lukrativ, industrielle Produkte bei sich zu drucken, anstatt sie in einem Tieªohnland herzu-stellen und durch die halbe Welt zu trans-portieren. Die Produktion, welche derzeit vor allem in die Niedriglohnländer ausge-lagert ist, könnte damit in absehbarer Zeit

wieder näher an den Markt rücken, auf dem die Produkte tatsächlich verkauft werden. 2 — Der 3-D-Druck könnte gleichzeitig aber auch eine Chance für Entwicklungs-länder werden. Diese sind heute oft, nicht zuletzt wegen hoher Transportkosten, von den internationalen Lieferketten ab-geschnitten. Künftig wird es für sie viel-leicht möglich, benötigte Teile vor Ort zu drucken und so eine eigene Industrie auf-zubauen. 3 — Es entstehen Hightech-Nischen, auch in kleinen Ländern. In der Schweiz hat sich zum Beispiel der Technologiekonzern Oerlikon zu einem führenden An bieter von Werksto¬en für 3-D-Druck in Indus-trieanwendungen entwickelt. 4 — Der Druck in 3-D ö¬net die Tür zu bisher undenkbaren Anwendungen: Organe aus dem Drucker könnten Spen-derorgane überªüssig machen, im All gefertigte Teile der Raumfahrt neuen Schub verleihen. Die Europäische Welt-raumorganisation ESA testet bereits ei-nen 3-D-Drucker für den Bau einer Mond station.

Noch ist der Markt begrenzt. Letztes Jahr wurden laut einem Report der Unter-nehmensberatungs¦rma Wohlers Asso-ciates knapp 5,2 Milliarden US-Dollar mit 3-D-Druckern und entsprechenden Dienstleistungen umgesetzt. Nach Be-rechnungen von McKinsey & Co. könnten es in zehn Jahren aber schon bis zu 550 Milliarden Dollar pro Jahr sein.

Ulrich Kaiser arbeitet im Global Equity and Credit Research der Credit Suisse.

Er ist eine technologische Inno-vation, die möglicherweise die Weltwirt-schaft umkrempeln wird: der 3-D-Druck. «Additive Manufacturing», wie die drei-dimensionale Drucktechnik in der Fach-sprache heisst, ist bereits dabei, sich in der Auto- und Flugzeugindustrie, in der Medi -zin oder im Maschinen- und Werkzeug- bau durchzusetzen. Diese Produktionstech-nik, so schreibt das britische Magazin «�e Economist», werde zu einer «vierten indu s-triellen Revolution» führen.

Um diese Revolution zu verstehen, muss man wissen, wie die additive Ferti-gung funktioniert. Beim 3-D-Druck wird ein Produkt nicht wie herkömmlich aus einem Materialblock geschli¬en, geschnit-ten, gebohrt oder gefräst. Vielmehr fügen 3-D-Drucker Material hinzu: Als «Tinte» nutzen sie Kunststo¬-, Keramik- oder Metallpulver. Dieses wird auf Basis digita-ler Konstruktionsdaten in dünnen Schich-ten aufgetragen, bis das gewünschte drei-dimensionale Objekt entsteht.

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Bulletin N° 3 / 2016 — 13

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INDUSTRIE Sie sieht aus wie eine normale Flammspritzpistole, wie sie seit Langem für Beschichtungen, zum Beispiel von Brücken, verwendet wird. Aber die Metco 16E des Schweizer Technologiekonzerns Oerlikon ist eine kleine Revolution: Teile von ihr sind 3-D-gedruckt. Oerlikon kann so Komplexität, Gewicht und Produk tions kosten des Geräts reduzieren. Das macht die 16E zum Paradebeispiel für additives Manufacturing: Es lohnt sich für westliche Firmen wieder, Industrieteile auch in kleinerer Stückzahl herzustellen.

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Bulletin N° 3 / 2016 — 15

HAUS Ein Hausbau ohne Maurerlärm, Maschinen, Kran oder Gerüst? Das ist bereits Realität: Ob in Amsterdam, wo derzeit ein Grachtenhaus Schicht für Schicht entsteht, in Dubai, wo ein 250 Quadrat meter grosses Bürohaus in 17 Tagen gedruckt wurde, oder in China, wo die Firma WinSun schon Villen und fünfstöckige Wohnhäuser druckte. Auf dem Bild sieht man den Prototyp eines Einfamilienhauses auf dem WinSun-Fabrikgelände in Suzhou, nahe Shanghai. Die Herstellung kostet weniger als 5000 Franken.

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KLEIDUNG Die niederländische Modedesignerin Iris van Herpen schickte 2010 das erste 3-D-gedruckte Kleidungsstück über den Laufsteg: ein weisses Top aus ihrer Kollektion Crystallization. Nicht nur die Haute Couture hat die Technologie entdeckt. Auch grosse Marken wie Nike oder New Balance arbeiten bereits damit. Sie könnte die Lieferketten völlig verändern: Massenware wie T-Shirts oder Turnschuhe würden dann nicht mehr in Tieflohnländern produziert und durch die halbe Welt geflogen, sondern vor Ort gedruckt. 16 — Bulletin N° 3 / 2016

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Bulletin N° 3 / 2016 — 17

ORGAN Forscher des amerikanischen Wake Forest Baptist Medical Center konnten ein Ohr in 3-D drucken. Als Material verwendeten sie dafür flüssige Kunststoffe und menschliche Zellen, die sie kultiviert hatten. Das Organ wurde erfolgreich bei Nagetieren transplantiert. Die Forscher sind überzeugt, dass es langfristig möglich sein wird, aus den Zellen eines Patienten auch komplexere Organe wie Nieren herzu stellen. Das würde das oft quälende Warten auf ein passendes Spenderorgan überflüssig machen.

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Vom Ende der RoutineDurch die Digitalisierung kommen vor allem mittlere Einkommensklassen unter Druck, heisst es in amerikanischen Studien. Tri¬t das auch für die Schweiz zu?Von Sara Carnazzi Weber

Für manche ist es reinste Faszination, für andere ein Schreckgespenst: Das Verhält - nis zwischen Mensch und Maschine war schon immer ambivalent. Bereits vor zwei Jahrhunderten entfachte sich zur Zeit der Industrialisierung der Kampf zwischen Fortschrittsglaube und Angst. Die einen strebten nach mehr E²zienz, die anderen fürchteten, Maschinen würden Arbeit überªüssig machen. Es kam nicht dazu, im Gegenteil. Anfang des 20. Jahrhunderts war die Arbeit vieler Menschen in der westlichen Welt durch Maschinen geprägt und der Wohlstand der Bevölkerung viel höher als zu Zeiten der Industrialisierung.

Inzwischen hat sich die Welt digita-lisiert. Automatisierung und künstliche In-telligenz erö¬nen Möglichkeiten, die eben noch Science-Fiction waren. Und wieder kommen Ängste auf, wird das Ende der menschlichen Arbeit prognostiziert. Die Technologie wird unser Leben und Arbei-ten massgeblich beeinªussen. In welchem Ausmass und mit welcher Geschwindigkeit sie das tut, ist jedoch kaum vorauszusagen.

Gewisse Folgen dieser Entwicklung sind heute aber schon sichtbar. Der techni-sche Fortschritt führt seit geraumer Zeit zu einer Verschiebung der Arbeitsnach-frage hin zu besser quali¦zierten Arbeits-kräften. Man spricht vom «quali¦kations-orientierten technologischen Wandel», der insbesondere die Produktivität hochquali-¦zierter Berufe erhöht. Seit den neunziger Jahren wird diese Entwicklung zudem durch eine Tendenz zur Polarisierung am Arbeitsmarkt überlagert: Die Nachfrage nach Berufen mit mittlerer Quali¦kation stagniert oder geht sogar zurück, jene nach Berufsgruppen sowohl mit niedriger als auch hoher Quali¦kation nimmt hingegen zu. Als Konsequenz davon steigen die Löhne an beiden Enden der Verteilung, während die Mitte leer ausgeht.

Beim Phänomen der Polarisierung geht es nicht mehr nur um die nötigen Quali-¦kationen für einen Beruf. In den Vorder-grund rücken die Tätigkeiten, die einen Beruf ausmachen. Diese beeinªussen die Anfälligkeit eines Berufes für Auto-matisierung. Eine zentrale Rolle spielen Tätigkeiten mit hoher Routine-Intensität, die so kodierbar sind, dass Computer, Roboter oder Algorithmen sie überneh-men können. Jüngste Fortschritte bei der künstlichen Intelligenz erö¬nen hier neue Möglichkeiten. Waren Maschinen in der Vergangenheit nur in der Lage, manuelle Routinetätigkeiten auszuüben, können sie heute auch kognitive Routinearbeiten durch führen, denn sie sind lernfähig.

Ein Arzt ist schwer zu ersetzenEin Vergleich der Routine-Intensität mit der notwendigen Quali¦kation innerhalb

eines Berufes zeigt, dass hohe Routine-Intensität weder in hochquali¦zierten noch in niedrigquali¦zierten Berufen kon - zentriert ist. Hochquali¦zierte Berufe er- fordern nicht nur Fachkenntnisse, sondern auch ein hohes Mass an Analyse- und Entschei dungsfähigkeit, das sich komple-mentär zur verwendeten Technologie verhält. Berufe mit niedriger Quali¦kation gehen ihrerseits oft mit manuellen, jedoch nicht repetitiven oder wiederum mit inter-aktiven Tätigkeiten einher, die nicht ohne Weiteres durch digitale Technologie er-setzt werden können. Demgegenüber brin-gen Berufe mittlerer Quali¦kation in vielen Fällen hohe Routine-Intensität mit sich. Ihre Tätigkeiten sind klar de¦niert und können somit relativ einfach auto-matisiert werden. Einige Beispiele: Bei einer Arzt-Patienten-Interaktion werden Maschinen noch lange nicht mit dem

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4 % 1 %

–4 % –1 %

–8 % –2 %

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Tief entlohnt Mittel entlohnt Hoch entlohnt

Abb. 1 Gewinner: Branchen mit hohem Lohnniveau

Jährliches Beschäftigungswachstum nach Branche 1995–2015 in Vollzeitäquivalenten. Jährliches Beschäftigungswachstum in der jeweiligen Lohnkategorie (rechte Skala)

Herstellung von Textilien, Bekleidung,

Leder, Lederwaren und Schuhen

Personal- vermittlung

Holz- und Papierindustrie

Sozialwesen

Informations - dienst leistungen

Mit Finanz- und Versicherungs-dienstleistungen verbundene

Tätigkeiten

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Bulletin N° 3 / 2016 — 19

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spruchsvollen Arbeiten, aber auch bei Tä-tigkeiten mit tieferem Anforderungsniveau deutlich besser entwickelt (Abbildung 2).

Mehr Einkommen für die MittelschichtAnzeichen einer Polarisierung am Arbeits-markt scheint es demnach auch in der Schweiz zu geben, diese sind aber nicht be-sonders ausgeprägt. Dies zeigt sich in der Solidität des Mittelstandes, der bisher von den Erosionstendenzen verschont geblie-ben ist, die insbesondere aus dem angel-sächsischen Raum bekannt sind. Nicht nur ist der Einkommensanteil der Mittel-schicht seit den siebziger Jahren ziemlich stabil, sie konnte in den letzten 10 bis 15 Jahren sogar ihre Erwerbseinkünfte und Haushaltseinkommen real steigern. Eine starke Abkopplung der obersten Einkom-men, wie sie zum Beispiel in den Vereinig-ten Staaten beobachtet werden konnte, fand in der Schweiz nicht statt.

Ob die Polarisierungstendenzen in Zukunft stärker werden, hängt von der tat-sächlichen Automatisierung von Routine-tätigkeiten ab. Denn Automatisierbarkeit heisst noch lange nicht, dass es auch zu einer Substitution kommt. Neben recht-lichen und ethischen Faktoren spielt auch die ökonomische Rentabilität einer Inves-tition eine Rolle. Entscheidend sind dabei die relativen Kosten von Arbeit und Kapital. Ein Unternehmen wird erst dann Arbeits-kräfte durch Maschinen ersetzen, wenn es dadurch günstiger produzieren kann. Sind die Lohnkosten verhältnismässig tief und die Kosten für eine Automatisierung hoch, lohnt sich ein Ersatz nicht unbedingt. So schnell geht uns die Arbeit also nicht aus. Routine-Jobs schon eher.

Menschen gleichziehen können, bei der Interpretation von Blutwerten oder Rönt-genbildern hingegen schon. Die Überset-zung eines Romans oder Gedichts wird ein Computer nicht zufriedenstellend be-werkstelligen können, die Übersetzung von üblicher Geschäftskorrespondenz schon. Nach dieser Logik sind auch Tätigkeiten in der Buchhaltung oder repetitive Dienstleis-tungen im Finanz sektor stärker bedroht als etwa die Arbeit von Coi¬euren.

Leichte Polarisierung in der SchweizDie Polarisierung des Arbeitsmarktes wur-de zunächst in den Vereinigten Staaten und Grossbritannien beobachtet. Inzwi-schen gibt es auch in einigen kontinental-europäischen Ländern Anzeichen einer zunehmend polarisierten Beschäftigungs-struktur. Zählt die Schweiz ebenfalls dazu? Wir haben versucht, anhand von Daten zur Lohnstruktur und Beschäftigungsentwick-lung eine Antwort auf diese Frage zu ¦n-den. Zu diesem Zweck haben wir die Be-schäftigungsentwicklung für verschiedene Branchengruppen nach dem Niveau ihrer Entlohnung betrachtet. Die Löhne werden als Annäherung an die zugrunde liegende Quali¦kation verstanden. In einem pola-risierten Arbeitsmarkt würde man ein u-förmiges Muster erwarten: hohe Be-schäftigungsgewinne bei den niedrig und den hoch bezahlten Berufsgruppen, bei Stagnation bzw. Rückgang der Löhne im mittleren Bereich zur selben Zeit.

Betrachtet man die Entwicklung in der Schweiz zwischen 1995 und 2015, so ergibt sich der Eindruck einer leichten, jedoch nicht eindeutigen Polarisierung (Abbildung 1). Klare Gewinner in der Beschäftigungsentwicklung sind Branchen mit hohem Lohnniveau wie Forschung und Entwicklung, die pharmazeutische Industrie oder Tätigkeiten im Bereich der Informationsdienstleistungen. Auch im Tieªohnbereich gibt es durchaus Branchen mit hohem Beschäftigungswachstum wie das Sozialwesen, die Personalvermittlung oder Tätigkeiten wie Gebäudebetreuung und Sicherheitsdienste. Auf der anderen Seite sind bei mittelhoch entlohnten Bran-chen Beschäftigungsverluste zu erkennen, so zum Beispiel in einigen Industriebran-chen, im Baugewerbe oder im Verlags-

wesen. Vergleicht man das durchschnittli-che Wachstum in den drei Lohnkategorien, ergibt sich zwar ein klarer Vorsprung der Branchen mit hohem Lohnniveau, welche zwischen 1995 und 2015 eine jährliche Beschäftigungszunahme von 2,1 Prozent verzeichnet haben. Die Beschäftigungs-entwicklung in den Branchen mit tiefem und mittlerem Lohnniveau unterscheidet

sich mit einem durchschnittlichen Wachs-tum von 0,5 Prozent bzw. 0,6 Prozent je-doch praktisch nicht.

Weitere Anhaltspunkte, die auf eine leichte Polarisierung hindeuten, liefert die Entwicklung der Reallöhne nach Anforde-rungsniveau des Arbeitsplatzes. So haben Tätigkeiten in der zweithöchsten Anforde-rungsstufe – selbstständige und quali¦zierte Arbeiten – seit Ende der neunziger Jahre einiges an Boden verloren. Hingegen haben sich die Reallöhne bei höchst an-

Sara Carnazzi Weber leitet das Fundamental Macro Research der Credit Suisse.

Repetitive Tätigkeiten in der Buchhaltung sind stärker bedroht als die Arbeit von Coi¬euren.

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Abb. 2 Unterschiedliche Lohndynamik

Realer Bruttolohn nach Anforderungsniveau des Arbeitsplatzes, Index 1998 = 100

2004

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20101998

Höchst anspruchsvolle Arbeiten Berufs- und Fachkenntnisse vorausgesetzt Einfache und repetitive Tätigkeiten Selbstständige und qualifizierte Arbeiten

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Patricia Feubli arbeitet beim Swiss Industry Research der Credit Suisse.

Credit Suisse KMU-Umfrage 2016 Die komplette Studie kann heruntergeladen werden auf: credit-suisse.com/research

Digital gegen Standortnachteile

Die Herstellung in der Schweiz ist vergleichsweise teuer. Umso wichtiger ist die technologische Entwicklung für die Firmen. Unsere Studie zeigt: Von 2000 Schweizer KMU sind bereits 21,9 Prozent stark bis sehr stark digitalisiert.

Von Patricia Feubli

Mit der EUR/CHF-Mindestkursaufhebung vom 15. Januar 2015 wurde die Debatte um die Zukunft der Schweiz als Wirt-schaftsstandort erneut angefacht. Obwohl die KMU den Werkplatz Schweiz in unserer jährlichen Umfrage unter 2000 Schweizer KMU als erfolgsfördernd be-zeichnen, sehen ihn viele unter anderem durch aufstrebende Schwellenländer be-droht. In unserer Umfrage haben wir die Teilnehmer deshalb unter anderem zu den Nachteilen des Standorts Schweiz im Vergleich zum Ausland und möglichen Lösungsansätzen befragt.

Auf die Frage, wie gross die Nach-teile des Standorts Schweiz gegenüber dem Ausland in den Bereichen Erstellungs-kosten, Verfügbarkeit von Fachkräften und Komplexität von gesetzlichen Vorschriften sind, fällt die Antwort klar aus: Vor allem bei den Erstellungskosten ist die Schweiz im Nachteil. 56,5 Prozent der befragten

KMU geben an, dass das Ausland hier deutliche Vorteile gegenüber der Schweiz hat. Bezüglich der Verfügbarkeit von Fach-kräften und der Komplexität von Gesetzen sieht die Mehrheit der befragten KMU (59,8 Prozent bzw. 63,0 Prozent) jedoch keine Vorteile im Ausland.

Trotz potenziell höherer Erstellungs-kosten sind viele Schweizer KMU sehr erfolgreich und behaupten sich auch im in-

ternationalen Wettbewerb. Wie gehen die-se KMU mit den Standortnachteilen der Schweiz um? Wir haben die Umfrageteil-nehmer gefragt, wie bedeutend für sie ver-schiedene Massnahmen zur Bekämpfung von Standortnachteilen sind. Von den fünf Massnahmen zur Auswahl ist die Einfüh-rung neuer Technologien für die KMU die wichtigste. Für 41 Prozent der KMU ist sie sogar eine sehr wichtige Massnahme gegen Standortnachteile. Danach folgen die Entwicklung neuer Produkte oder Dienstleistungen, Investi tionen in die Mit-arbeitenden, der verstärkte Import von Vorleistungen sowie Aus lagerung (in ab-steigender Reihenfolge).

Bei der Einführung neuer Techno-logien ist die Digitalisierung zentral. 77,5 Prozent der KMU ¦nden, dass Schweizer Unternehmen ihre interna-tionale Wet t bewerbsfähigkeit durch die starke Nutzung neuster digitaler Techno-

logien – wie Big-Data-Auswertungen oder sich selbst organisierende Produktionssys-teme – deut -lich erhöhen können.

Deren Bedeutung zeigt sich auch da-rin, dass bereits 21,9 Prozent der befragten KMU gemäss eigenen Angaben solche Technologien stark bis sehr stark ver-wenden. Am stärksten verbreitet sind diese Anwendungen naturgemäss in der ICT-Branche (Informations- und Kom-munikationstechnologie) und der Elektro-industrie. Ebenfalls stark digitalisiert sind KMU aus dem Verkehrs- und Transport-wesen. Hier ist die e²ziente Abwick - lung von Aufträgen in den letzten Jahren deutlich kom plexer geworden und ohne neuste digitale Technologien nur noch bedingt möglich.

Solche Technologien erfordern teil-weise hohe Investitionen in die Infra-struktur. So müssen zum Beispiel un- terschied liche Informationsarten wie digi-tale Maschinendaten, Produktezeichnun-gen, handschriftliche Notizen und per E-Mail geäusserte Kundenwünsche in ein-heitlicher Form zur Verfügung gestellt werden und für alle involvierten Maschi-nen, Computer und Mitarbeitenden ver-ständlich und verwendbar sein. Es erstaunt deshalb nicht, dass gemäss Umfrage grös-sere beziehungsweise umsatzstärkere sowie jüngere KMU tendenziell stärker digita-lisiert sind als die restlichen KMU. Junge KMU können neue digitale Technologien und ihre Anforderungen gleich bei der Unternehmensgründung implementieren und so eine spätere kostenintensive Um-rüstung vermeiden.

Junge KMU stärker digitalisiert

Anteil der antwortenden KMU, die neuste digitale Technologien stark bis sehr stark nutzen, nach Gründungsjahr

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Digitale Technologien erfordern teilweise hohe Investitionen in die Infrastruktur.

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«Techno logie verleiht uns über mensch liche Fähigkeiten»

Computer und Roboter nehmen uns repetitive

Tätigkeiten ab, wir können uns auf den interessanten Teil des

Lebens und der Arbeit konzentrieren. Das begann bei

der Er¦ndung des Pªuges und gilt besonders für das

Zeitalter der Technologie, sagt Sebastian �run, ein Vordenker

der digitalen Welt.Von Daniel Ammann, Simon Brunner (Interview),

Mathew Scott (Foto) und Bryan Christie Design (Illustration)

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Bulletin N° 3 / 2016 — 23

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24 — Bulletin N° 3 / 2016

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Der Begri� «künstliche Intelligenz» wurde 1956, vor exakt sechzig Jahren, geprägt. Seither waren die Erwartungen an diese neue Disziplin jeweils enorm, doch bis auf eine Handvoll Hollywood-Filme hat sie sich nie durchgesetzt. Ist das jetzt anders?Ja, es ist de¦nitiv anders. In der Ver-gangenheit versuchte man, einer Maschine Regeln beizubringen, indem man ihr möglichst jede denkbare Situation einprogrammierte. Das ist natürlich unmöglich. Heutzutage verfolgt man eine andere Methode: Man lässt den Computer selber lernen. Man programmiert ihn nicht mehr, indem man ihm Regeln vorgibt, sondern indem man ihm Beispiele gibt. Konkret: Man zeigt einem Computer hundert Millionen Websites und er extrahiert von sich aus die Regeln des guten Webdesigns.

Ist das so ein grosser Unterschied?Ja, das ist ein fundamental anderer Ansatz! Stellen Sie sich vor, Sie müssten Ihrem Kind jede Regel dieser Erde erklären, Sie wären ganz schön lange dran. Auch Computer kommen schneller voran, wenn sie selber lernen – genau wie wir. Das ist neu. Es gibt eine ganze Welle von selbstlernenden Systemen, wie beispiels-weise Watson von IBM, das sich bei-brachte, «Jeopardy!» zu spielen, ein in den USA populäres Quiz – und die besten Spieler der Welt schlug. Watson, AlphaGo von Google und andere solche Programme ziehen aus sehr grossen Datenmengen ihre eigenen Schlüsse. Sie können beispielsweise innert Sekundenbruchteilen 100 Millionen MRI-Bilder «anschauen» und so Ihr Kreuzband mit einer riesigen Sample-Gruppe vergleichen. Das kann kein Mensch.

Wie wird sich das Zusammenspiel zwischen Mensch und Maschine entwickeln?Da stehen wir erst ganz am Anfang. Schauen Sie vergangene Errungenschaf-ten an, ein gutes Beispiel ist die Landwirt-schaft. Der Pªug, der Mähdrescher oder der Traktor machten uns kräftiger. Der Geist des Menschen wurde sozusagen gepaart mit der physikalischen Stärke der Maschine. Gleiches galt später für Autos oder Flugzeuge. Heute kommen wir an

den Punkt, wo uns die Maschinen nicht mehr nur bei fehlender Muskelkraft oder motorischen Fähigkeiten ergänzen, sondern uns fast alle repetitiven Tätig-keiten abnehmen können. Denken Sie nur an das selbstfahrende Auto.

Können Sie ein weiteres Beispiel nennen, das Sie beeindruckt?Sehr grosse Fortschritte macht die Technologie etwa bei medizinischen Diagnosen. Künstliche-Intelligenz- Systeme können bestimmte Hautkrank-heiten bereits besser erkennen als Ärzte. Hoch interessant ist auch die synthetische Biologie, mit der man schon heute Zellen erscha¬en kann. Ich glaube, dass wir es scha¬en werden, die meisten Krebs- und Kreislauferkrankungen in den Gri¬ zu bekommen. Und wir werden in absehbarer Zeit unsere Lebenserwartung verdoppeln können. Dies ist erst der Anfang der Weltgeschichte! 99 Prozent der interes-santen Dinge sind noch nicht erfunden. Die künstliche Intelligenz wird uns von geistig anspruchslosen Tätigkeiten erlösen. Wir können uns künftig auf kreative Arbeiten konzentrieren. Auf das, was wirklich interessant ist.

Viele Menschen fürchten, Roboter bedrohten ihre Arbeitsplätze. Zu Recht? Schauen wir noch einmal in die Vergan-genheit. Noch vor 300 Jahren haben fast alle Menschen in Europa in der Land-wirtschaft oder im Haushalt gearbeitet. Sie haben Felder gepªügt, Kühe gemolken, gewaschen, geputzt und gekocht. Das verschlang unglaublich viel Zeit. Es gab keinen Strom und keine Motoren. Die Hygiene war miserabel und die medizinische Versorgung schlecht. Die Lebenserwartung betrug in Europa nicht einmal 30 Jahre. Wenn man sich diese Zeiten zurücksehnt, kann ich verstehen, dass einem der technologische Fortschritt Sorgen bereitet …

Das klingt ironisch.Dann ernsthaft: Ich glaube, die Geschichte unterstützt meine optimi s-tische Haltung, dass neue Technologien das Leben der Menschen einfacher machen. Sogar wenn man gefährliche

err �run, eine einfache Frage zum Einstieg: Was macht den Menschen aus?Sie meinen das natürlich ironisch – aber die Antwort ist tatsächlich überraschend einfach: Der Mensch ist das Zentrum unserer Welt. Kreativität und Werte-systeme machen uns aus. Und für jeden von uns sind die Mitmenschen die wichtigsten Elemente unseres Lebens.

Wenn wir über digitale Technologien wie etwa die «künstliche Intelligenz» nach denken, denken wir also auch über die Natur des Menschen nach?Ganz genau. Mit jeder Technologie sprechen wir auch über die conditio humana, die menschliche Existenz und das menschliche Selbstverständnis. Es geht immer um das Gleiche: den Menschen übermenschliche Kräfte zu verleihen. Noch vor 150 Jahren hätten wir nicht miteinander reden können, weil unsere Stimmen nicht von Amerika in die Schweiz gereicht hätten. Wir hätten auch nicht durch den Atlantik schwim-men können, so stark sind wir nicht gebaut. Heute aber telefonieren wir übers Internet – oder könnten in 12 Stunden von Los Angeles nach Zürich ªiegen.

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Sebastian �run, 49, gilt als einer der Technologiepioniere unserer Zeit. 2005 wurde der Deutsche eine ö¬entliche Figur, als ein Team unter seiner Führung mit einem modi¦zierten VW Touareg den wichtigsten Preis für selbstfahrende Autos in der Mojave- Wüste gewann. �run war ab 2007 bei Google für selbstfahrende Autos verantwortlich, sein Team erfand ausserdem Google Street View, und er gründete Google X, das geheime Entwicklungslabor, das den nächsten Mond ªug er¦nden sollte. �run ist Professor in Stanford, er hat über 370 wissenschaftliche Publikationen und 11 Bücher verö¬entlicht. Sein Spezialgebiet ist theoretische Robotik. �run war 2012 bis 2014 Verwaltungsrat der Credit Suisse, heute ist er Senior Advisor der «Credit Suisse Labs» im Silicon Valley.

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Bulletin N° 3 / 2016 — 25

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Ausbildung anbieten. Wir sehen Bildung nicht im Sinne einer teuren Rolex, sondern im Geist von Ikea: Wir wollen so viele Leute wie möglich richtig gut ausbilden.

Was ist Ihr schönstes Beispiel dafür? Da gibt es so viele. Wenn ich nur eines nennen darf, ist es die amerikanische Mutter, die zwanzig Jahre lang Hausfrau war und sich um ihre drei Kinder kümmerte. Sie machte bei Udacity einen

Programmier-Lehrgang – und konnte dann bei Google als Programmiererin einsteigen. Wir haben eine grosse Box mit Zuschriften von Menschen, die uns danken, dass wir ihr Leben positiv verändert hätten. Diese Briefe klingen immer sehr ähnlich: Es sind Leute, die ihre erste Karriere hinter sich haben und nun eine zweite anfangen wollen. Wir ermöglichen das.

Udacity wird heute auf einen Wert von einer Milliarde Dollar geschätzt. Am Anfang bezeichneten Sie Ihr eigenes Angebot als lausig. Wieso?

Technologien in die Gleichung aufnimmt, stimmt die Bilanz: Heute sterben viel weniger Menschen im Krieg als vor 100 Jahren. Weniger Leute leiden Hunger und die Lebenserwartung nimmt stetig zu. Natürlich, es gibt immer noch eine grosse Anzahl Menschen, die in Armut oder gar Sklaverei leben. Das wird sich nicht auf einen Schlag ändern. Aber durch das Internet wird mehr Leuten die Chance gegeben, am Fortschritt der Menschheit zu arbeiten – und auch davon zu pro¦tieren. Vor 500 Jahren konnten die meisten Menschen nicht einmal lesen und schreiben. Heute hat dank dem Internet zumindest die Hälfte der Menschheit Zugri¬ auf das gesamte, oder auf fast das gesamte, Wissen. Die Welt wird tatsäch-lich ªacher und ªacher.

Ihre Mission ist die «Demokratisierung des Wissens». Was meinen Sie damit? Es stört mich in meinem Gerechtigkeits-emp¦nden, dass exzellente Ausbildung

sehr ungleich verteilt ist. Einige wenige Menschen haben die Chance, an die besten Unis der Welt zu kommen; den allermeisten bleiben sie indes verwehrt. Dabei gibt es kaum etwas, was in der Wissenschaft so gut belegt ist wie die Wirksamkeit von Bildung: Wer besser gebildet ist, führt ein besseres Leben, hat mehr Geld, weniger Krankheiten, eine höhere Lebenserwartung und vieles mehr. Deshalb haben wir die Online-Bildungs-stätte Udacity gegründet, mit der wir Menschen eine Chance geben können, die zuvor keine Chance hatten, indem wir ihnen eine qualitativ hochstehende

Wir haben mit kostenlosen Online- kursen begonnen, sogenannten Massive Open Online Courses. Die Abschluss-raten waren allerdings sehr schlecht. Nur 5 Prozent der Teilnehmer beendeten die Kurse erfolgreich. Heute haben wir eine Erfolgsquote von 90 Prozent. Wir gingen bewusst den Weg, dass wir etwas Unfertiges lancierten. So spürten wir den Markt von Anfang an und konnten Udacity konsequent auf die Bedürfnisse der Menschen ausrichten.

Was haben Sie geändert?Wir sehen Ausbildung nicht mehr nur als Inhaltsvermittlung an, sondern als Service, zum Teil geben wir sogar eine Garantie ab: Findet der Absolvent keine Arbeit, erstatten wir die Kursgebühr zurück. Generell bieten wir heute mehr als nur Onlinekurse. Wenn man zu Udacity kommt, lernt man nicht nur durch Bücher oder Videos, sondern durch ganz konkrete Projekte aus der Praxis. Es geht darum, selber etwas zu machen, um learning by doing. Und unsere Experten geben dann für jede Arbeit ein individuelles Feedback. Es ist ein bisschen wie beim Sport: Man verliert kein Gewicht, wenn man anderen dabei nur zuschaut. Genauso wenig lernt man wirklich etwas, wenn man Professoren nur zuschaut, ohne selber aktiv zu werden.

Udacity hat eine soziale Mission, trotzdem möchten Sie damit Geld verdienen – warum eigentlich?Es mag komisch klingen, aber wir haben realisiert, dass es die Dinge einfacher macht: Wir verlieren keine Ressourcen beim Fundraising, müssen 100 Prozent auf unsere Kunden ausgerichtet sein und behalten auch die Kosten im Blick.

«Dies ist erst der Anfang der Weltgeschichte! 99 Prozent

der interessanten Dinge sind noch nicht erfunden.»

«Bildung im Geist von Ikea: Wir wollen so viele Leute wie möglich richtig gut ausbilden.»

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Wir geben uns aber grosse Mühe, das Angebot für unsere Kunden so billig wie möglich zu machen. Wir sind ungefähr fünfzigmal billiger als die Stanford- Universität.

Udacity ist rund um die Welt präsent – wie äussern sich die kulturellen Unterschiede zwischen den Studenten?In der Schweiz oder in Deutschland wird Bildung als fast oder ganz kostenlos angesehen, während es in den USA normal ist, dafür zu bezahlen. Und in Europa ist es im Unterschied zu Amerika noch nicht üblich, dass man in der Mitte der Karriere nochmals an die Uni zurück-geht, um einen weiteren Abschluss zu machen. Unsere Ableger in China und Indien sind erst gerade aufgegangen. Was ich dort sehe: Die Nachfrage ist unglaublich hoch. Die Menschen nehmen ihre Karriere in die eigene Hand und fragen weniger nach Staatshilfe. Sie bezahlen ihre Fortbildung selber, weil sie – zu Recht – denken, dass sie damit ihre Chancen erhöhen und sich das Investment lohnt.

Ihre Firma geht davon aus, dass das traditionelle Bildungsschema «Primar schule – Hochschule – lebenslange Arbeitsstelle» passé ist. Warum?In den USA ist es bereits so, dass sich 26 Prozent der Arbeitskräfte von Job zu Job bewegen, quasi on demand arbeiten. Der durchschnittliche Arbeitnehmer hält dort einen Job nur viereinhalb Jahre lang. Man wird sich auch in der Schweiz oder Deutschland noch stärker von der Idee lösen müssen, im Leben einen Job zu

haben. Firmen sind immer mehr gezwungen, sich dem Wandel der Zeit anzupassen.

Es kommt zu Stellenabbau.Ja. Aber es gibt auch einen positiven Teil: Die Menschen können sich immer weiterentwickeln; ihnen erö¬nen sich neue Gelegenheiten. Die Ausbildung wird mit der Arbeit einhergehen. Die Menschen leben länger und werden sich fortbilden müssen, während sie altern.

Das Prinzip der Universität ist von gestern. Es kann doch nicht sein, dass die beste Art, Menschen zu unterrichten, vor etwa tausend Jahren erfunden wurde, oder? Doch der Markt für Unis und andere Bildungsinstitutionen wird grösser, denn sie müssen nicht nur auf Gymnasium- Absolventen fokussieren, sondern auf die ganze Gesellschaft. In anderen Bereichen ist das genauso: Meine Versicherung, meine Wasser- oder Strom¦rma ist ein Leben lang für mich da – nur meine Universität nicht. Obwohl das Bedürfnis da ist, lebenslang zu lernen.

Sie haben einen achtjährigen Sohn. Was ist Ihnen in seiner Erziehung wichtig?Ich lege viel Wert auf das, was wir hier in Kalifornien ein growth mindset nennen. Wir begreifen das Gehirn wie einen Muskel, der trainiert werden und wachsen kann. Mir ist wichtig, dass mein Sohn die Fähigkeit hat, der Welt gegenüber neugierig zu sein und Neues auszu-probieren. Diese Fähigkeit und auch die Bereitschaft, seine Sicht auf die Dinge den sich wechselnden Umständen anzupassen,

«Bei allem, was ich tue, geht es darum, den Menschen zu befähigen und zu fördern; ihn zur Freiheit zu ermutigen.»

Die Projekte von Sebastian Thrun

UDACITY

Das U steht für Universität, «audacity» bedeutet Kühnheit oder Wagemut. Die Online-Bildungs stätte will «weiter-führende Bildung bereitstellen, die zugänglich, erschwinglich, ansprechend und hochaktuell ist». Die Themen der Kurse orientieren sich am Arbeits-markt, es gibt Vorlesungen für «Android Developer», «Ruby on Rails Developer» oder eine «Einführung in iOS-Entwick-lung». Die Kurse werden in Zusammenarbeit mit führen-den Technologie firmen wie Facebook, Amazon oder Google angeboten und dauern 6 bis 9 Monate. Das Diplom nennt sich «Nanodegree».

GOOGLE GLASS

Bei Google war Sebastian Thrun der «moon-shot man», also verantwortlich für grosse Erfindungen wie die Brille mit Minicomputer, die Street-View-Autos oder das Projekt Loon, welches das Internet mit gasgefüllten Ballonen in abgelegene Gebiete bringt.

STANLEY

Das Stanford Racing Team unter Führung von Professor Thrun entwickelte einen selbstfahrenden VW Touareg und gewann damit 2005 die DARPA Grand Challenge, ein 212 Kilometer langes Rennen in der Wüste bei Las Vegas. Das Preisgeld lag bei zwei Millionen Dollar, der bisher höchste Betrag bei einem Robotik-Wettbewerb.

PEARL

Während seiner Zeit an der Carnegie Mellon University (1998–2003) entwickelte Thrun einen Pflegerobote r namens Pearl.

RHINO

Als Teil seiner Doktorarbeit an der Universität Bonn (1995) baute Thrun einen Roboter, der unter anderem Museumsführungen gab.

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sind wichtiger als der jeweilige Wissens-stand. Der Mensch von morgen muss kontinuierlich lernen und sich verbessern. Das ist eine Denkweise, eine Mentalität, die ich meinem Sohn mitgeben möchte.

Funktioniert es?Jasper geht auf eine neue experimentelle Schule, die Projekte und das Lernen nach eigenem Rhythmus in den Vordergrund stellt. Er geht so gerne zur Schule, dass er Ferien nicht leiden kann.

Welche Jobs sind gefragt, wenn Jasper erwachsen ist?Mit Verlaub, diese Frage ist falsch gestellt, sie negiert die Entwicklung: Vor zwanzig Jahren war nicht abzusehen, dass heute zum Beispiel Suchmaschinenoptimierer, Mechatroniker oder Datenanalysten sehr gefragt sind. Und die Geschwindigkeit des Wandels nimmt zu! Man kann sicher sagen, kreative Menschen haben in Zukunft bessere Chancen. Technologie- Jobs werden eine grosse Rolle spielen, gerade auch in Bereichen, die klassisch nicht so viel mit Technologie zu tun haben. So hat sich die Biologie bereits stark in Richtung Datenwissenschaft verändert. «Big Data» wird auch die Medizin, das Rechtswesen, vielleicht sogar die Geschichtsforschung verändern. Für alle Bereiche gilt: Ohne Technologie-

A²nität hat man geringere Chancen auf dem Jobmarkt.

Deswegen sorgen sich nicht nur die Gewerk-schaften: Die Digitalisierung bedroht viele heutige Arbeitsmodelle. Steuern wir auf ein «technologiefernes» Proletariat zu, das aus dem Arbeitsmarkt fällt?Es ist sinnlos, den Fortschritt aufhalten zu wollen, das hat noch nie funktioniert. Viel wichtiger wäre es für die Gewerkschaften, die stetige Fortbildung ihrer Mit glieder zu fördern, damit die Leute für neue Techno-logien gewappnet sind. Man sollte nicht den Status quo zementieren wollen, sondern sich auf den immer schnelleren Wandel vorbereiten.

Mit der Digitalisierung wächst nicht nur die Angst vor Jobverlust, sondern auch die Angst vor dem Verlust der Privatsphäre. Das macht mir keine grossen Sorgen. Schauen Sie: Es ist doch nicht im Interesse irgendeiner Firma, das Wissen gegen den Willen ihrer Kunden einzuset-zen. Die grossen Technologiekonzerne basieren alle auf dem Vertrauen ihrer Kunden. Wird es missbraucht, sind die Kunden schnell weg. Ich sehe in viele dieser Firmen hinein. Mein Eindruck: Die Ethik dieser Konzerne ist viel entwickelter, als es von aussen dargestellt wird. Sie wollen ihren Kunden schliesslich gefallen.

«Stanley» in der Wüste: �run 2005 mit dem preisgekrönten selbstfahrenden Auto seines Teams.

Sie waren Verwaltungsrat der Credit Suisse, nun beraten Sie seit Kurzem die Fintech-Schmiede «Credit Suisse Labs» im Silicon Valley. Was wird dort entwickelt?Es geht nicht nur darum, neue Techno-logien auszuprobieren, sondern viel grundsätzlicher darum, den Innovations-gedanken zu stärken und neue Geschäfts-modelle zu entwickeln. Die Credit Suisse war schon immer eine progressive Bank. Sie möchte mit den Labs sicherstellen, dass sie bei der technologischen Entwick-lung führend bleibt.

Können Sie zwei, drei konkrete Beispiele nennen?Die Labs werden zurzeit aufgebaut, da wäre es zu früh für mich, aus dem Nähkästchen zu plaudern. Aber generell arbeiten wir an den grossen �emen Cyber-Sicherheit, mobiles Banking, neue Kreditmodelle und neue Datenbanken für Finanztransaktionen wie Blockchain. Durch digitale Systeme kann Banking viel transparenter, kostengünstiger und schneller werden. Davon werden auch die Kunden pro¦tieren. Ihnen wollen wir immer bessere Produkte anbieten können.

Eine persönliche Frage zum Schluss: Sie haben als Kind oder als Jugendlicher sicher gerne die grossen Science-Fiction-Romane gelesen. Von H. G. Wells über Isaac Asimov bis Philip K. Dick.Da täuschen Sie sich. Ich las lieber Heinrich Böll oder Max Frisch. Ich habe mich schon immer mehr für Menschen als für Technologien interessiert. Technologie ist nur ein Hilfsmittel. Letztlich geht es mir bei allem, was ich tue, um den Menschen; darum, ihn zu befähigen und zu fördern – darum, ihn zur Freiheit zu ermutigen.

Foto: Damian Dovarganes / AP Photo / Keystone

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— Digital /Analog —

Wolken, Schatten,

KriegsroboterDie Welt wird nicht komplizierter,

sie wird nur anders. 19 Begri�e der digitalen Zukunft, die man heute

für morgen kennen sollte.Von Ben Hammersley (Text) und QuickHoney (Illustrationen)

1Moores Gesetz 1965 beschrieb Gordon Moore, einer der Mitbegründer des Mikroprozessorenherstellers Intel, ein Phänomen: Jedes Jahr verdoppelte sich die Anzahl der Komponenten auf einem Chip, während der Preis gleich hoch blieb. Dieser Trend setzte sich ein Jahr-zehnt lang fort. 1975 über-holte er seine Prognose von jährlich auf zweijährlich: Die Leistung von Computern verdoppelt sich seither alle zwei Jahre. Anders gesagt: dieselbe Power zum halben Preis. Moores Gesetz ist die Grundlage für diesen Artikel und Symbol für die Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts.

2Die Cloud Konzeptionell gesehen ist dies der Ort, an dem man online ist. Der Ort, wo all die Informationen, die Kom-munikation, die Dinge sind. Es wird wahrscheinlich der Moment kommen, wo man im Rückblick erkennen wird, dass die Cloud der Beginn des 21. Jahrhunderts war. Technisch gesehen ist sie weniger poetisch. Es ist letztlich einfach ein Speicher mit einer genügend schnellen Verbindung ins Internet.

3Community-Management Für manche ist das Internet angstein¥össend und alltäglich zugleich. Die Gefahren einer Technologie, die man täglich nutzt, aber nicht wirklich versteht, sind o�ensichtlich. Hier hilft der Community- Manager: Er führt, steuert oder zensiert als Moderator Online-Diskussionen, er ist eine zivilisierende Kraft überall da, wo Leute in der digitalen Welt zusammen-kommen, zum Beispiel in Foren.

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Bulletin N° 3 / 2016 — 29

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4ShanzhaiKopien von Luxusgütern sind kein neues Phänomen. Aber im letzten Jahrzehnt ist der Markt für Nachahmer-produkte vor allem in China massiv gewachsen. Shanzhai, auf Deutsch Bergfestung, ist Ausdruck einer Art Robin- Hood-Selbstverständnis: Teure Luxus produkte werden von den Reichen genommen und für alle zugänglich gemacht. Kopiert werden vor allem Mobil telefone, aber auch Bekleidung und sogar Architektur.

53-D-Drucker Wenn Computer in der Lage sind, physische Objekte herzustellen, werden sie zum unverzichtbaren Teil der industriellen und kreativen Produktion. 3-D-Drucker arbeiten, indem sie Substanzen in Schichten auftragen, was als additive Fertigung bezeich-net wird. Zurzeit sind diese Drucker noch ziemlich teuer und unzuverlässig. Aber was dadurch in Zukunft möglich sein könnte, ist hochinteressant. Irgendwann soll etwa ein Haushalt mit seinem 3-D-Drucker im Keller jederzeit eine zerbrochene Scheibe ersetzen können. Siehe auch Bildstrecke ab Seite 8.

6Aufmerksamkeits-ökonomie Das Leben war einfacher, als es weniger auszuwählen gab. In den 1980er Jahren gab es an einem regnerischen Sonntag in einer Kleinstadt weniger als fünfzig Dinge, um einen zu unterhalten: ein paar Fernsehkanäle, ein Kino, ein paar Radiosender und Bücher oder Magazine. Heute liefert uns das Internet die Welt. Das heisst für Anbieter, dass sie neue Wege §nden müssen, um unsere stark geteilte Aufmerk-samkeit zu gewinnen.

9Memes Wenn wir in einer Welt leben, wo Ideen und Informationen wichtiger sind als physische Dinge, dann ist es eine gute Idee zu wissen, wie Ideen wirklich funktionieren. Es geht hier nicht um eine Regel für gute Ideen, eher darum, wie Ideen reisen, wie sie sich weiterverbreiten – von Mensch zu Mensch, Firma zu Firma, Land zu Land. Man sagt dem Erziehung oder Bildung, es gibt Mode, Klatsch, Geschichten, Predigten. All dies hat einen Kern: Memes – Ideen, die aufgenommen und weiter-verbreitet werden. Die Grundlage dafür ist heutzutage oft das Internet.

7Techno-Nomadentum Im letzten Jahrhundert schon entstand die Vorstellung, dass wir zukünftig dank neuen Kommunikationstechnologien im Pyjama zu Hause arbeiten können, um uns vom Büro zu befreien. Solange man Zugang zu Daten und Kommunikation hat, spielt es heute in vielen digitalisierten Berufen keine Rolle mehr, wo man arbeitet – die Lebensgrundlage für Techno-Nomaden, die noch etwas anderes suchen als diese Freiheit: eine neue Einfach-heit. Sie brauchen nicht viel mehr als einen Laptop.

8 Crowdsourcing Das wohl anerkannteste Beispiel für Crowdsourcing, wo aus kleinen Beiträgen Einzelner ein grosses Ganzes schnell und kostengünstig entsteht, ist Wikipedia. Eine genial einfache Idee, die zu der Autorität des Internets wurde. Sie zeigt, wie Menschen zusammenarbeiten können und wollen, wenn es Spass macht und einem über- geordneten Zweck dient.

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10 Weltraumreisen für alle. Am 21. Juli 2011 endete die letzte Space-Shuttle-Mission der US-Raumfahrtbehörde Nasa, das Shuttle wurde aus dem Verkehr gezogen, und man hätte meinen können, es gebe nun keine bemannten Flüge ins All mehr. Statt-dessen werden wir in den nächsten Jahren sehen, wie private Unternehmen die Raumfahrt dominieren: Virgin Galactic, SpaceX oder Bigelow Aerospace wollen Touristen das Erlebnis der Schwerelosigkeit bieten. Oder: Universitäten und kleine Firmen können heute im Internet für 8000 Dollar kompakte Satelliten bestellen, um nach Wunsch Daten aus dem Universum zu erhalten.

11 Datenschatten Ein durchschnittlicher Mensch hat vor hundert Jahren kaum mehr Spuren hinterlassen als einen Geburts- und Todesschein. Ein durchschnittlicher Mensch von 2016 hinterlässt an einem einzigen Nachmittag beim Einkaufsbummel im Supermarkt mehr Daten als sein Pendant von 1916 in einem ganzen Leben. Kein Wunder machen sich viele Sorgen wegen dieser «Über-wachungsgesellschaft». Auch wenn die meisten Daten-schatten banal sind, stellen sich viele Fragen, bei denen es um die Rechte des Individuums gegenüber den Bedürfnissen der Allgemeinheit geht.

12 Das quantifizierte IchIm Jahr 2008 fand eine Gruppe von Digitalpionieren heraus, dass sie ihre Gesund-heit optimieren konnten, indem sie über ihre Smart-phones Daten zur eigenen körperlichen und mentalen Verfassung sammelten. Über soziale Medien konnten diese Daten mit jenen von Freunden verglichen werden, und es ging nicht lange, bis eine ganze Industrie von Anwen-dungen und Apps entstand, die einem dabei hilft, sich selbst laufend zu ver messen und zu verbessern.

13 Informationsüberfluss Wir werden bombardiert mit mehr Information, als wir verarbeiten können. Das kann Stress verursachen und uns unglücklich machen. Ja, der durchschnittliche Büro-angestellte bekommt fünfzig E-Mails pro Tag. Und ja, einige Leute stellen sich laufend über Facebook dar oder teilen sich der Welt alle zehn Minuten über Twitter mit. Aber dazu wird niemand gezwungen. Und wir lernen, immer besser mit den Informationen umzugehen – wobei bestimmte Software uns natürlich dabei hilft.

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Ben Hammersley, 40, ist ein britischer Autor und Journalist. Der Experte für das Informationszeitalter hat unter anderen folgende Bücher publiziert: «Now for then – how to face the digital future without fear» und «A smart guide to Utopia».

Aus dem Englischen von David Schnapp

14 KriegsroboterSeit Jahren benutzen Armeen Drohnen (¥iegende Kriegs-roboter) für Aufklärung s-missionen in schwer zugänglichen Gebieten wie Afghanistan. Heute sind Drohnen nicht mehr Auf klärungs-, sondern Kampfwerkzeuge. Doch die Entpersonalisierung der Kriegsführung sorgt für eine Asymmetrie und wirft drängende ethische Fragen auf. Drohnen sind ein potentes Symbol für «Big Brother» im Himmel über uns.

15 Rückkehr zum Handwerk Das Internet feiert 2016 bereits seinen 25. Geburtstag. Die Leute, die es entwickelt und unser Leben verändert haben, sind heute mittleren bis fortgeschrittenen Alters, und viele wie Tim Berners-Lee haben sich handwerklichen Tätigkeiten zugewandt. Ist digitale Kreativität doch nicht so erfüllend? So einfach ist es nicht. Zum einen ist der Wunsch nach Hausgemachtem wohl eine Reaktion auf den Hyperkonsumismus, zum andern wird handwerkliches Wissen durch das Internet für alle zugänglich, und es entstehen neue Möglichkeiten, etwa durch 3-D-Drucker oder digitale Strickmaschinen.

16 Gameifizierung Auch ohne je ein Computer-game gespielt zu haben, bekommt man es mit Game-design zu tun, sobald man das Internet benutzt. Die Game-i§zierung der Welt macht jedes menschliche Tun zu einem Spiel. Der Grund dafür ist simpel: Viele, viele Leute spielen gern. Und diese Spiele werden von einer Kreativ-industrie gestaltet, die zu einer kulturellen und ökonomischen Macht herangewachsen ist.

17 Netzneutralität Das Internet kennt keine zentrale Autorität. Es ist auf dem Grundgedanken von Versuch und Irrtum aufgebaut und auf einfachen Prinzipien: Alle Daten sind gleich. Egal, ob daraus eine E-Mail ent- steht oder ein Videostream. Ihre E-Mail hat so gesehen dieselbe Wichtigkeit wie eine von US-Präsident Obama. Das ist Netzneutralität. Internet provider aber möchten manche Inhalte priorisieren, um sie teurer verkaufen zu können. Die Diskussion darüber läuft und ist äusserst politisch.

18 Dark Net Das Internet ist grösser, als man meint. Es wird geschätzt, dass etwa 90 Prozent der Inhalte für Suchmaschinen nicht sichtbar sind. Auf jeden Fall gibt es dunkle Stellen überall, die nur zu §nden sind, wenn man spezielle Programme und Codes verwendet. Und in dieser Dunkelheit gehen sehr merkwürdige Dinge vor sich. Aber wie immer in der digitalen Welt gibt es unend-lich viele Schattierungen. Viele Orte im Dark Net sind schiere Plätze des Friedens und keine unter irdischen Höhlen: etwa wissenschaft-liche Publikationen und Inhalte von Bibliotheken.

19 Anonymous Wenn es eine Gruppe gibt, die uns das Gefühl vermittelt, von gestern zu sein, dann ist es das Aktivisten- und Hackerkollektiv Anonymous. Es demonstriert, warum die digitale Welt so anders ist als die analoge. Anonymous hat keinen geogra§schen Sitz, keine zentrale Struktur, bis es eine bildet – und auch das nur für ein paar Minuten. Die Gruppe hat nicht einmal ein Ziel, bis sie eines de§niert. Aber wenn sie der Meinung ist, jemand habe gegen die Gesetze des Internets verstossen, entsteht sofort eine rücksichtslose und äusserst schlagkräftige Untergrund bewegung.

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Versuch und IrrtumDie AltSchool in Kalifornien ist ein Start-up für das Lernen von morgen. Mit Tablet-Computern, Robotern und Apps sollen die Schüler die Grundlagen des kreativen Arbeitens erwerben.

Von Ste�an Heuer (Text) und David Magnusson (Fotos)

Linke Seite: Fünf- bis achtjährige Schüler arbeiten an ihrem ersten Roboter- Prototyp. Die Schüler sollen lernen, ein Problem von verschiedenen Seiten her anzugehen.Rechte Seite: Technik und persönliche Betreuung stehen im Zentrum der AltSchool.

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Fast möchte man meinen, man habe sich in ein Start-up mit sehr, sehr jun-gen Mitarbeitern verirrt. Zwanzig Kinder sind in ihre Projekte vertieft. Ihr Ziel: Bis zum «Demo Day» einen funktionsfähigen Prototyp ihres Roboters fertigzustellen. Jeden Morgen setzen sie sich mit ihren zwei Managern zusammen, um zu bespre-chen, wie das P¥ichtenheft aussieht, wo Ver zögerungen auftreten und wer das nö-tige Know-how hat, um einen Engpass bei Hard- oder Software zu überwinden. Den Rest des Tages wird im kreativen Chaos geschraubt und getestet: Leuchtdioden, Batterien, Schaltkreise, Softwaremodule. Falls jemand nicht weiterweiss, kann er

oder sie auf einem grossen «Whiteboard» nachsehen, wer ein ausgewiesener Experte für ein bestimmtes Fachgebiet ist – etwa «Lesen und Schreiben», «Kunst» oder «Nähen».

Diese Fachleute für Robotik sind zwischen fünf und acht Jahre alt und ler-nen an der AltSchool in San Francisco, wie die Zukunft des projektorientierten und personalisierten Lernens aussieht. Sie absolvieren einen zwei Wochen dauernden Intensivkurs zu ±emen und Fertigkeiten, die Fachleute als Schlüsselquali§kationen für das 21. Jahrhundert identi§ziert haben: Design ±inking, um ein Problem anzuge-hen; Iteration, also die Bereitschaft, aus Fehlern schnell zu lernen und immer wie-der eine neue Version zu testen; konstantes Networking mit anderen Menschen und das Nutzen aller anderen Vorteile, die das Internet zu bieten hat.

«Es geht nicht darum, am Ende ei-nen fertigen Roboter zu präsentieren», sagt AltSchool-Lehrerin Kristin Uhlemeyer, die den Kurs leitet. «Sondern das Ziel ist, sich die Fähigkeit und die Motivation an-zueignen, ein Problem auf vielen unter-schiedlichen Wegen anzugehen. Das Be-wusstsein, dass Scheitern gut und nützlich ist, kann man auf alle möglichen anderen Fragen anwenden.»

Schulen müssen exibel seinSo könnte man auch das Credo der kalifor-nischen Privatschule zusammenfassen. Die

01 Im Roboterkurs interagieren die Schüler mit Experten – oder wie auf diesem Bild mit einem Audio-Video-Roboter.

02 Kameras zeichnen den Schulalltag auf, Lehrer können besondere Momente «markieren» und später wieder abrufen.

AltSchool betreibt ein ehrgeiziges und viel beachtetes Experiment, um das traditionelle Bildungsmodell «Lehrer vor der Klasse» mit Ideen, Strukturen und Werkzeugen abzulösen, die der Arbeitsweise des Silicon Valley entlehnt sind. Für diese Vision eines Netzwerks aus sogenannten Mikroschulen, Filialen mit nur ein bis zwei Klassen pro Standort, hat Schulgründer Max Ventilla 130 Millionen Dollar an Risikokapital gesammelt. So hat der ehemalige Google- Manager in den vergangenen drei Jahren

acht AltSchool-Standorte erö�net, die meisten in San Francisco, dazu Ableger in New York und Chicago. An der Alt-School sind derzeit 400 Schüler als soge-nannte Betatester von der ersten bis zur achten Klasse eingeschrieben. Sie werden von knapp 200 Lehrern, Programmierern, Designern und anderen Experten intensiv betreut. Das Ziel ist es, herauszu§nden, ob die Idee als landesweites Geschäft taugt.

Ventilla will aus seinem Experiment ein Vorzeigemodell machen, das andere,

«Herkömmliche Schulen können sich aus

unterschiedlichen Gründen nicht ändern.»

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Max Ventilla, 35, ist der Gründer der AltSchool. 130 Millionen Dollar Risikokapital hat der ehemalige Google-Manager gesammelt, um eine Schule aufzubauen, die erstens grösseren Lernerfolg verspricht und zweitens auch noch rentabel sein soll. Derzeit werden 400 Schüler als sogenannte Betatester von der ersten bis zur achten Klasse unterrichtet. Sie werden von knapp 200 Lehrern, Programmierern, Designern und anderen Experten intensiv betreut.

auch ö�entliche Schulsysteme kopieren und lizenzieren wollen, weil es mehr Lern-erfolg erzeugt und sich obendrein rechnet. «Herkömmliche Schulen können sich aus unterschiedlichen Gründen nicht ändern. Ihre Hierarchie blockiert Innovation und dynamische Entwicklung, doch genau das ist heutzutage gefragt», sagt der 35-Jährige. «Je schneller sich unsere Welt verändert, desto ¥exibler müssen Schulen sein. Das muss von der Basis kommen.»

Das Ungleichgewicht zwischen gut §nanzierten Erziehungsunternehmen, die neueste Technologien besitzen, und ö�ent-lichen Schulen, die ihren Betrieb dringend modernisieren wollen, kann gefährlich werden. So kommen die Experten des

National Education Policy Center der Universität von Colorado in Boulder in ih-rem jüngsten Jahresbericht zur Lage im Erziehungswesen zu dem Schluss, Schulen seien «leichte Beute» für Unternehmen, die die Vermarktung von Kindern und Jugendlichen im Visier haben. Dank der meist gratis angebotenen Software zum personalisierten Lernen schleiche sich eine «Überwachungskultur» ins Klassenzimmer ein, insbesondere weil Schulen unter wach-sendem Druck stünden, sich zu digitalisie-ren. Welche Folgen die Benutzung solcher Programme habe, sei den wenigsten Päda-gogen bewusst, sagen die Akademiker.

Ventilla strahlt das Selbstbewusstsein des Technologen aus, der schon im jungen

Alter erfolgreich war und für den es auf je-des Problem eine Antwort gibt, wenn man nur genügend Daten sammelt und dem Prinzip von Versuch und Irrtum folgt. Wie so viele im Silicon Valley trieb ihn ein per-sönliches Erlebnis an, das womöglich einer grösseren Nachfrage entspricht – in seinem Fall die Suche nach einer geeigneten Grundschule für seine Tochter. Nach drei Jahren ist es augenscheinlich noch zu früh, vom Erfolg oder Misserfolg der AltSchool zu sprechen, denn Kalifornien gewährt neuen Schulen eine fünµährige Probezeit. Noch haben zu wenige Kinder zu wenige Jahrgänge durchlaufen, als dass ein trag-fähiger Vergleich mit anderen Modellen gemacht werden könnte. Doch es lässt

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Playlists genannte Lehrpläne arbeiten, deren Lektionen oder «Karten» ihre Leh-rer individuell für sie zusammenstellen. So können drei Kinder in derselben Klasse drei Versionen desselben Buchs lesen, je-weils angepasst an ihren Wissensstand. In jedem Klassen zimmer laufen Kameras und Mikrofone, sodass Lehrer besondere Au-genblicke mit einem «Indexknopf» an der Wand markieren und den Clip später auf-rufen können. Noten gibt es hier keine. Den individuellen Stand bildet ein nach dem Ampelprinzip markierter «Lern-fortschritt» ab, dessen Balkengra§ken an die Business-Intelligence-Werkzeuge eines Unternehmens erinnern, das seinen Ver-trieb oder Cash¥ow optimieren will.

Eltern können das Geschehen an der Schule in einer App namens «Stream» ver-folgen – einer Art sozialem Netzwerk rund um ihren Sprössling. Heute später dran, oder Urlaub abseits der o¶ziellen Ferien? Ein Klick, und die Lehrer sind informiert. Das Fotoalbum vom Aus¥ug gefällt? Ein

Pädagogen regelmässig mit haus eigenen Softwarespezialisten zu «Hackathons» oder Programmiersitzungen tre�en, um genau die Technologie fürs Klassenzimmer zu bauen, die Lehrer sich wünschen. «Wir probieren vieles aus und geben freiwillig

zu, dass manches nicht funktioniert, doch Änderungen können wir in wenigen Wo-chen oder Monaten vornehmen», sagt Bauer.

Kinder an der AltSchool benutzen bereits mit fünf Jahren Tablets, später Chromebooks, auf denen sie sich durch

sich beobachten, dass die Mischung aus hochtechnisiertem Klassenzimmer und ausgiebiger persönlicher Betreuung die Schüler be¥ügelt. Den Eltern und Lehrern hingegen bringt sie auch neue Ängste und Ungewissheiten: Wenn im vernetzten Klassenzimmer jeder Handgri� und jede Äusserung aufgezeichnet oder gestreamt wird, entsteht nicht nur der Stress, jede neue Information verarbeiten zu müssen. Die von Kindesbeinen an gesammelten Informationsströme können auch zum Albtraum für Datenschützer werden.

Der Lehrplan heisst jetzt Playlist«Wir alle lernen erst noch, wie man mit all diesen wunderbaren technischen Werk-zeugen umgeht», sagt Annette Bauer. Die Deutsch-Amerikanerin arbeitete an inter-nationalen Schulen in aller Welt, bevor sie bei der AltSchool als Direktorin eines Standortes anheuerte. Sie war neugierig auf ein Modell, das die Lust am Lernen vermitteln will. Ein Modell, bei dem sich

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«Wir alle lernen erst noch, wie man mit all diesen

wunderbaren technischen Werkzeugen umgeht.»

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che Schulbezirke und ihren Umgang mit neuer Technologie untersucht. «Der grös ste Fehler bei vielen dieser Versuche besteht darin, zu glauben, dass man nur Hardware und Software anscha�en muss und dann verbessern sich die Leistungen.» In vielen Fällen, so Willingham, tut sich gar nichts.

Das liegt daran, dass Technisierung und personalisiertes Lernen nur klappen, wenn die Lehrer jedem Schüler nach wie vor weiterhelfen, sobald er auf Schwierig-keiten stösst oder schneller als die andern fertig ist. Ohne persönliche Betreuung sind auch die besten Programme auf einem iPad sinnlos. Und noch etwas sei ausserordent-lich wichtig beim Projekt Bildung 2.0, sagt Willingham: «Die Schule muss ehr-lich sein, wenn etwas nicht funktioniert, und eine Exitstrategie haben.»

4,5 Milliarden Dollar RisikokapitalFür viele Technologen und Bildungsrefor-mer sind Experimente wie die AltSchool die Neustart-Option für ein fehlgeleitetes

Bildungswesen. Traditionelle Schulen be-reiten Kinder nicht auf die Anforderungen des Wissensarbeiters von morgen vor, heisst es. So listet die Firma Reach Newschools Capital, die in Erziehungs-Start-ups in-vestiert, in ihrem jährlichen Bildungs report zehn Top-Fähigkeiten für 2020 auf, darun-ter kritisches Denken, emotionale Intel-ligenz, Verhandlungsgeschick und kogni-tive Flexibilität. All das, versprechen grosse wie kleine Technologieanbieter, kann die richtige Software jungen Geistern bei-bringen. Vom massiven Kapital¥uss in die «EdTech» genannte Branche pro§tiert nicht nur Ventillas Unternehmen.

Im vergangenen Jahr ¥ossen nach Erhebungen der Boston Consulting Group weltweit rund 4,5 Milliarden Dollar in diese

Sparte, ein neuer Rekord. Fast die Hälfte dieser Summe ging an US-Firmen, gefolgt von Investitionen in China, England, Indien, Deutschland und Brasilien. Der Wunsch, schon die Bildschirme von Erst-klässlern einzunehmen, treibt auch die Grossen im Hightech-Geschäft um. 2015 gaben ö�entliche Schulen in den USA 4,9 Milliarden Dollar aus, um fast elf Millio-nen Computer und Tablets mit den Be-triebssystemen von Apple, Google oder Microsoft zu kaufen. Noch mehr lässt sich mit Software verdienen, die auf diesen Geräten läuft – beinahe doppelt so viel.

So ist es auch zu verstehen, dass Amazon einen Online-Marktplatz namens «Inspire» für Bildungsmaterialien einfüh-ren will, bei dem kostenloses Unterrichts-material für Lehrer zur Verfügung steht, um zukünftige Kunden zu ködern. Micro-soft sorgte für Schlagzeilen, als es bekannt gab, den Spiele-Hit «Minecraft» als Schul-version zu verö�entlichen. Google arbeitet mit Hochdruck an mehreren Bildungs-diensten.

Diese Programme, die fast alle in der Cloud laufen und jeden Handgri� und Tastenschlag erfassen, rufen Datenschützer auf den Plan. Wem gehören die Daten von Kindern und Jugendlichen, und

Klick, und die ganze Klasse weiss Bescheid. Lehrer laden ständig Kommentare und Bilder hoch und antworten auch spät nachts auf Fragen. Für dieses Bündel aus Gadgets und individualisiertem Lernen legt eine Familie im Schnitt 25 000 Dollar im Jahr hin, eine für amerikanische Privat-schulen normale Gebühr. Jeder fünfte Schüler erhält §nanzielle Unterstützung, was auch einkommensschwachen Familien den Zugang gewähren soll und womit man vermeiden will, dass eine Elite-Institution für Wohlhabende gescha�en wird.

Hard- und Software reichen nichtAber was bringt das Experiment AltSchool unter dem Strich – von der Mischung aus Unbehagen und Stolz, sein Kind hier lernen zu lassen, einmal abgesehen? «Eltern und Pädagogen sollten sich gedul-den. Zwei, drei Jahre reichen nicht, um ein Urteil abzugeben», sagt der Erziehungs-forscher Daniel Willingham von der University of Virginia, der grosse ö�entli-

01 Stand der Dinge bei der Entwicklung des ersten eigenen Roboters.

02 AltSchool-Lehrerin Kristin Uhlemeyer zeigt einem ihrer Schüler die Funktionsweise einer Leuchtdiode.

03 – 05 Gefördert werden die Schlüssel quali§kationen des 21. Jahr hunderts, die zukünftige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben sollten: Design ±inking, um ein Problem anzugehen; Iteration, also die Bereitschaft, aus Fehlern schnell zu lernen und immer wieder eine neue Version zu testen; konstantes Networking mit anderen Menschen; und generell sollen die Schülerinnen und Schüler alle Vorteile nutzen, die das Internet zu bieten hat. 04

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«Die Schule muss ehrlich sein, wenn etwas

nicht funktioniert, und eine Exitstrategie haben.»

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wer hat neben den Pädagogen Zugri� auf sie, sobald ein kommerzieller Anbieter in Schulen vorstösst? Familien, die ihre Kin-der auf die AltSchool schicken, stimmen zu, dass der Nachwuchs mit Wort, Bild und Ton aufgenommen wird und dass die-se Daten für einen unbestimmten Zeit-raum gespeichert und ausgewertet werden. Einerseits, um den Lernfortschritt zu dokumentieren, und andererseits, um den Service der Schule für alle Kunden zu ver-bessern. Denn die AltSchool ist ein mit Venturekapital §nanziertes Unternehmen, das Gewinn abwerfen und seinen rund zwei Dutzend Investoren – der Crème de la Crème des Silicon Valley, angefangen bei Facebook-Chef Mark Zuckerberg und der

Witwe von Steve Jobs – eine Rendite be-scheren soll. Am Pro§tprinzip einer Schule hat auch Gründer Ventilla nichts auszuset-zen: «Wir müssen massiv ins Bildungswe-sen investieren, um Dinge zu verändern. Das können nur Firmen leisten, die ent-sprechende Finanzmittel einsetzen und ein Risiko eingehen», sagt er.

Zurzeit ist keineswegs klar, dass die Personalisierung des Lernens tatsächlich dem traditionellen Unterricht überlegen ist. Anders ausgedrückt: Ein iPad in Schüler-händen macht noch kein Genie. «Ich ma-che mir angesichts des Investoren- Hypes und der unternehmerischen Betriebsamkeit Sorgen, dass Personalisierung als neues All-heilmittel für die Probleme des Bildungs-

Annette Bauer, eine Direktorin der AltSchool: «Unser Modell ist ein noch lange nicht fertig durchdachter Versuch, den Weg durch die Schule von einem kerzengeraden Pfad von A nach B in eine ¥exible Routenplanung zu ändern.»

01 Der Geist des Silicon Valley: Hauptquartier der AltSchool in San Francisco.

02 Die Schule der Zukunft ist bis ins Detail digital, Absenzen werden per Mausklick gemeldet und News gibt es in einem eigenen sozialen Netzwerk.

03 Pädagogen, Experten und Programmierer arbeiten eng zusammen.

wesens betrachtet wird», sagt die ehemalige Lehrerin Jennifer Carolan, die heute beim Bildungsfonds Reach Newschools Capital arbeitet. Wer sich von den falschen Ver-sprechungen der Technologen einwickeln lasse, warnt sie, tausche das alte Klassen-zimmer gegen eine stumme Gruppe ein, in der jedes Kind an seinem Gerät hängt und von den Altersgenossen isoliert ist.

Was wirklich zähle, das sagt auch AltSchool-Direktorin Bauer, sei das Er-lernen von sozial-emotionaler Intelligenz, also wie man auf neue Fragen reagiere und beim kreativen Prozess mit anderen Men-schen zusammenarbeite. Dabei kann Tech-nologie, so neu sie sein mag, nur eine be-grenzte Rolle spielen. Das gilt auch für die

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Eltern. Unmengen an Daten über jede Hausaufgabe zu haben, ist nicht nur erbau-lich. Wer sein Kind plötzlich rund um die Uhr verfolgen und vermessen kann, erhält eine Einladung zum Mikromanagement, das allen Beteiligten das Leben zur Hölle machen kann: Ältere Kinder fühlen sich überwacht, Lehrer stehen unter ständigem Rechtfertigungszwang in Echtzeit.

Angst der Erwachsenen«Viele dieser Neuerungen sind von der Angst der Erwachsenen getrieben. Wer weiss schon, welche Jobs unsere Kinder in 30 oder 40 Jahren haben werden?», sagt Julie Lythcott-Haims, die jahrelang als Dekanin an der Stanford-Universität für Neuzugänge zuständig war. «Wir schulden ihnen mehr Freiheit, Dinge auszupro-bieren, statt noch mehr Überwachung und Kontrolle aus falsch verstandener Vor - sorge.» Sie kritisiert zu viel Einmischung der Eltern oder sogenanntes Snowplow Parenting, bei welchem Erwachsene ihren Kindern aus Angst vor der Zukunft alle

Hindernisse wie ein Schneep¥ug aus dem Weg räumen wollen. «Dabei kommen win-delweiche, unselbstständige Menschen her-

aus, die nichts alleine zustande bringen», sagt die Akademikerin, die zum ±ema ein Buch mit dem Titel «How to raise an adult» geschrieben hat.

AltSchool-Direktorin Annette Bauer sagt: «Unser Modell ist ein noch lange nicht fertig durchdachter Versuch, den Weg durch die Schule von einem kerzen-geraden Pfad von A nach B in eine ¥exible Routenplanung zu ändern.» Man komme auf jeden Fall zum Ziel, doch welchen Weg man nimmt, sollte von jedem einzelnen

Kind abhängen. Das könne eine normale Schule nicht leisten. «Bei uns müssen Leh-rer, technische Werkzeuge und Eltern hel-fen. Aber eins ist sicher: Freiräume sind enorm wichtig», sagt Bauer. «Die Freiheit, auszuprobieren und aus Fehlschlägen zu lernen, die sollten Kinder verinnerlichen.»

Sie denkt dabei an ihre eigene Kind-heit in New York zurück. «Jeden Samstag fuhren wir aufs Land, und ich konnte – mit einer Trillerpfeife um den Hals – im Wald herumstreunen.» So sollte eine Schule aus-sehen, die Kinder auf eine ungewisse Zu-kunft vorbereitet. Nur dass die Trillerpfeife heute eine App ist.

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«Wer weiss schon, welche Jobs unsere Kinder in

30 oder 40 Jahren haben werden?»

Ste�an Heuer ist Technologiejournalist und US-Korrespondent des Wirtschaftsmagazins «brand eins». Er lebt in San Francisco, seine Tochter geht seit der ersten Klasse auf die AltSchool.

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42 — Bulletin N° 3 / 2016

— Digital /Analog —

Möglichkeiten. Wichtig scheint mir, dass dieser trotz Digitalisierung Dreh- und Angelpunkt der Kundenbeziehung bleibt. Jedoch wird er von repetitiver Administra-tion befreit, kann sich somit mehr Zeit für seine Kunden nehmen und diese besser be-raten, denn er ist viel präziser und schneller informiert. Es ist also ein Gewinn für alle Beteiligten.

Wie sieht der Tag einer Kundenberaterin in der Zukunft aus?Sie kann das tun, was alle Kundenberater der Welt am liebsten tun: ihre Kunden-beziehungen p¥egen. Dazu helfen ihr der mobile Arbeitsplatz und die grössere E¶zienz dank Robotersupport. Sie bietet ihren Kunden eine schnelle, computer-unterstützte und sehr persönliche Bera-tungsleistung.

Können Sie konkrete Beispiele geben?In Kundenmeetings wird das Tablet per Sprachaufnahme die ganze Dokumentation übernehmen. Dadurch kann sich die Bera-terin ganz dem Kunden widmen und ihm einen persönlicheren Service bieten. Zu-dem bringt sie auf ihrem Tablet virtuell Experten mit, die bei Fragen jederzeit di-gital herbeigezogen werden können. Für Kundentelefonate weist die automatisierte Portfolioanalyse die Beraterin in Echtzeit auf Chancen und Risiken hin, beispiels-weise auf eine exponierte Position im Port-folio. Somit kommt ihre eigene Expertise

Herr Abele, wenige Industrien bewegen sich zurzeit so genau auf der Nahtstelle zwischen analog und digital wie der Finanzsektor. Einerseits sind Bankinstitute von der Digitalisierung erfasst worden, andererseits funktioniert das Finanzgeschäft über persönliche Beziehungen, Diskretion und bedarfsorientierte Beratung. Wie lösen Sie diesen Kon�ikt? Dies ist für mich die falsche Fragestellung. Digital und analog sind nicht Gegensätze, sondern entsprechen einer 1 + 1 = 3-Glei-chung: Die neuen Technologien unterstüt-zen den Bankberater und geben ihm mehr

«1 + 1 = 3»«Digital oder analog?» ist die falsche Frage in der Finanzindustrie: Dank neuen technischen Errungenschaften haben Bankberater mehr Zeit für ihre Kunden und beraten sie erst noch besser, sagt Marco Abele, Digitalisierungs-Chef der Credit Suisse Schweiz.Von Simon Brunner (Text) und Mathilde Agius (Fotos)

viel schneller beim Kunden an. Am Ende ihres Arbeitstages übernehmen die Analy-se-Roboter bereits die Nach- und Vorbe-reitungen für den nächsten Tag. Auch hier wird die Beraterin stark von heutigen ad-ministrativen Aufgaben entlastet.

Und welche digitale Plattform steht dem Kunden zur Verfügung?Genau die gleiche wie der Beraterin, aber mit weniger Funktionen. Damit rücken Kunde und Berater noch näher zusammen.

Wann setzen Sie diese Innovationen um?Die ersten Kundenberater haben diesen Sommer mit der Pilotierung begonnen. Das Spezielle daran ist, dass wir nicht eine §xfertige Lösung ausgerollt haben, sondern eine, welche die Kundenberater selber mitgestalten können. Letztlich wollen wir, dass die Technologie unsere Berater per-fekt unterstützt.

Sie möchten den Kundenberater stärken, gleichzeitig jedoch diskutiert die Branche darüber, wie Roboter diesen ersetzen könnten. «Robo Advisors» sind Finanz berater, die online Portfolios managen – meist mit wenig oder keinem menschlichen Zutun. Was wird deren Rolle sein?Dass Computer im Investmentbereich un-terstützen, ist nicht neu. Seit vielen Jahren nutzen Hedge Funds computerbasierte Modelle für ihre Anlageentscheide. Diese sogenannten Quant Hedge Funds

Venture Lab von AccionDie Credit Suisse unterstützt im Rahmen ihrer Mikrofinanz Capacity Building Initiative das Venture Lab von Accion. Das Venture Lab stellt Startkapital für innovative Start-ups zur Verfügung, die Menschen, die in Armut leben, den Zugang zu Finanzdienstleistungen erleichtern. Gegenwärtig hat das Venture Lab knapp 10 Millionen US-Dollar investiert in 24 Start-ups rund um die Welt. Investiert werden Beträge zwischen 100 000 und 500 0000 US-Dollar, ausserdem werden die Start-ups eng betreut. Die Portfolio-Firmen sind in Ländern wie Indien, Kenia, Mexiko oder Tansania angesiedelt. Ihre Aktivitäten konzentrieren sich auf mobile Zahlungsarten und verschiedene Formen von Kreditbewertung und -vergabe.

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Marco Abele, 47. Der Innovationsspezialist ist seit 2006 bei der Credit Suisse und leitet die Abteilung Platform Management & Digitalization.

«Am Ende des Arbeitstages übernehmen Analyse-Roboter die Nach- und Vorbereitungen für den nächsten Tag.»

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44 — Bulletin N° 3 / 2016

— Digital /Analog —

Die sogenannten Fintechs sind kein kleines Phänomen: Ihre weltweite Finan-zierung hat sich in den letzten drei Jah - ren versiebenfacht und 2015 ungefähr 20 Milliarden US-Dollar erreicht. Es bleibt aber abzuwarten, ob diese Fintechs Banken wirklich ablösen können.

Warum?Keine dieser Firmen konnte bisher einen kommerziell durchschlagenden Erfolg ver-zeichnen. Die Fintechs versprechen ein-fachere, e¶zientere und günstigere Dienst-leistungen, die auf die Bedürfnisse neuer, mit Smartphones und Tablets ausgerüste-ter Kundengenerationen zugeschnitten sind. Im Unterschied zu einer Grossbank decken diese digitalen Plattformen jedoch immer nur einen Teil der gesamten Wert-schöpfungskette ab. Ausserdem gehen die Finanzinstitute schon länger Kooperatio-nen mit Fintechs ein. Beiden Seiten ist klar, dass man gemeinsam am meisten er-reichen kann. Deshalb unterstützen wir unter anderem den Impact Hub in Zürich, wo viele Start-ups aus diesem Bereich an-gesiedelt sind [auch dieses Gespräch fand

Junge Wilde: Im Impact Hub in Zürich sind viele Start-ups aus dem Fintech-Bereich angesiedelt. Die «unternehmerische Community» umfasst nach eigenen Angaben «über 500 Innovatoren, Start-ups und Gross§rmen, die zusammenkommen, um die Zukunft der Wirtschaft zu gestalten».

der meisten Kunden, ihr Vermögen in die USA zu transferieren.

2020 werden Robo Advisors gemäss einer Studie 450 Milliarden US-Dollar verwalten.Das glaube ich gerne. Schweizer Privat-banken sollten sich deshalb nicht auf ihre heutigen Vorteile verlassen, denn automa-tisierte Berater werden die genannten Be-schränkungen eher früher als später über-winden. Doch auch hier sehe ich für Schweizer Privatbanken eher den Weg der Integration als die Verdrängung des Kunden-beraters. Denn hierdurch werden sie einer breiten Bevölkerungsschicht Zugang zu Analysetools geben können, die bis anhin vermögenden Kunden vorbehalten waren.

Pulitzerpreisträger �omas L. Friedman nannte es die «Demokratisierung der Technologie»: Brauchte eine Firma früher gewisse �nanzielle Mittel und eine Anzahl Mitarbeiter, um ein Produkt herzustellen, braucht es heute scheinbar nicht viel mehr als Computer und etwas Risiko kapital. Werden gerade in der Finanzwelt Start-ups irgendwann Banken ersetzen?

machten im letzten Jahr die Hälfte der 25 reichsten Hedge Funds aus. Auch von den Banken werden computergesteuerte Invest - mentmodelle seit Jahren genutzt, bislang eben nur im Hintergrund. Dass diese Fä-higkeiten den Kunden direkt zur Verfü-gung gestellt werden, ist ein logischer nächster Schritt. Allerdings steht diese Entwicklung noch sehr am Anfang: Die im Markt auftretenden unabhängigen Robo Advisors verwalten heute global erst 20 Milliarden US-Dollar.

Warum setzen sich die Robo Advisors nicht richtig durch? Zum einen braucht es einfach Zeit. Zum anderen ist ihr Investment-Universum noch sehr limitiert. In der Regel ver wenden sie Algorithmen, um Portfolios fast aus-schliesslich aus Exchange-Traded Funds (ETFs) zu erstellen. Dies kann den komplexen §nanziellen Bedürfnissen der Private-Banking-Kunden oft nicht gerecht werden. Überdies sind die Robo Advisors in erster Linie lokal verankert, viele davon in den Vereinigten Staaten – und es ent-spricht nicht den Sicherheitsbedürfnissen

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Bulletin N° 3 / 2016 — 45

«Wir müssen den Millennials die beste Lösung anbieten, sonst gehen sie anderswohin.»

dort statt, Anm. d. Red.]. Und letztlich können die jungen Wilden die jahrelange Erfahrung und Expertise der traditio-nellen Banken nicht über Nacht ersetzen.

Man muss sich also nicht um traditionelle Banken sorgen?Doch. Die Digitalisierung verändert alle Branchen von Grund auf – auch die Fi-nanzindustrie. Es gibt immer weniger Kunden, die für Zahlungen die Bank§li-ale aufsuchen, ausgedruckte Kontoaus-züge wünschen und kein Online Banking verwenden. Unsere zukünftigen Kunden, die Millennials, kennen wenig Marken- loyalität: Die Generation der heute 15- bis 35-Jährigen sucht das Angebot, das ihnen am besten passt. Ob das von einer 160-jährigen Bank oder einem sozialen Netzwerk kommt, spielt keine Rolle. Wir müssen ihnen die beste Lösung anbieten, sonst gehen sie anderswohin.

Ein grosses �ema innerhalb der Digitalisierung ist die sogenannte Accessibility: Menschen mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen können dank neuen Technologien ihren Bewegungsradius erweitern. Auch im Bankensektor?Ja, das ist einer der grössten Vorteile der neuen Technologien. Hier wird sich noch einiges tun. Auch Dinge, die wir uns noch kaum vorstellen können. Schon seit einigen Jahren sind Bankomaten im Einsatz, die mit Blinden und Sehbehin-derten über Kopfhörer kommunizieren. Unser Online-Banking-Angebot wurde nach nationalen und internationalen

Vorgaben bestmöglich barrierefrei ge-staltet. Sehbehinderte Menschen können dank Hilfsmitteln wie Screen-Reader, Braillezeile oder Vergrösserungssoftware unser Angebot nutzen. Aber auch Men-schen mit anderen körperlichen, sen-sorischen oder technischen Einschrän-kungen können heute von überallher Bankgeschäfte abwickeln. Als nächster Schritt steht die Kontoerö�nung via Video identi§zierung an, der Weg in die Filiale wird über¥üssig.

Mit der Digitalisierung ist der Finanzplatz Schweiz im globalen Wettbewerb noch stärker exponiert. Kommt er dadurch noch stärker unter Druck?Vielleicht, aber primär ist es eine un-glaubliche Chance: In einer digitalen, vernetzten Welt ist der Weg zum Kun-den viel kürzer. Setzen wir uns als Finanzplatz mit dem besten digitalen Angebot durch, können die hiesigen Banken viel schneller wachsen als auf dem analogen Weg. Seit Jahrhunderten beweisen unsere Finanzinstitute, wie si-cher sie sind und wie gut sie die Privat-sphäre schützen können. Das sind genau die Werte, die digital ziehen: Kunden möchten einen starken Datenschutz und Sicherheit vor Cybercrime.

Was macht den modernen

Kundenberater aus?«Ich unterstütze und berate 300 Kunden in sämtlichen Bereichen rund um ihre Finanzen und bin erste Ansprechperson für alle Anfragen.

Über die letzten Jahre hat der Um-fang der Aufgaben eines Kundenberaters stark zugenommen. Vor allem administrati-ve ±emen wie die Dokumentation und das Erfassen von Kundeninformationen haben an Bedeutung gewonnen. Und die her-kömmlichen Aufgaben sind auch nicht we-niger geworden: Anlagevorschläge schnell umsetzen, Hypothek gemäss Kunden-wunsch verlängern, jährliches Beratungsge-spräch organisieren, Kunden bei speziellen Ereignissen proaktiv kontaktieren.

Tatsächlich ist es heute aber möglich, einen grösseren administrativen Aufwand zu bewältigen und gleichzeitig eine bessere Beratungsleistung zu bieten als vor 30 Jahren. Im Vergleich zu damals sind wir viel produktiver geworden dank unseren digita-len Hilfsmitteln.

Eine grosse Unterstützung ist für mich mein Tablet. Die Vorbereitung auf ein Kundengespräch dauerte früher über eine Stunde, das Zusammenstellen und Ausdru-cken von Kundenunterlagen, Produktebro-schüren und Vertragsunterlagen brauchte viel Zeit. Heute sind sämtliche Dokumente online über mein Tablet verfügbar. Und auch bei der Nachbearbeitung spare ich ungefähr eine halbe Stunde pro Gespräch. Diese Neuerungen gehen auf unsere Initia-tive «66 % Client Time» zurück. Wie der Name sagt: Das Ziel ist, mehr Zeit für die Kunden zu haben, denn letztlich kann kei-ne App und kein System die persönliche, analoge Betreuung ersetzen.»

Robin Stadler, 31, ist Kundenberater bei der Credit-Suisse-Filiale Aussersihl in Zürich.

Foto rechts: zVg

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Saubere Arbeit: Der Salat des Elektronikkonzerns Fujitsu wächst in einem Reinraum.

Zukunft der Landwirtschaft: Salatköpfe wachsen beim «vertical farming» sensorgesteuert.

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Bulletin N° 3 / 2016 — 47

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Salat aus dem HochregalJapanische Elektronikkonzerne suchen nach neuen Chancen. Einige haben dabei die Landwirtschaft entdeckt. Ausserdem soll die Digitalisierung das Nachwuchsproblem der Bauern lösen. Von Sonja Blaschke

Als sein Chef ihn vor drei Jahren zu sich rief, war Haruyasu Miyabe besorgt. Von mehreren Hundert Mitarbeitern war die Fertigung für Halbleiter in der japanischen Stadt Aizu-Wakamatsu auf wenige Dutzend geschrumpft. Die Stimmung war gedrückt. Vom Callcenter über ein Rechenzentrum bis hin zur Fischzucht hatte man viele Lösungsmöglichkeiten im Geiste durchge-spielt. Doch auf das, was dann kam, war der ausgebildete Elektroingenieur Miyabe, der bis dahin für den Konzern Fujitsu die Fer-tigung am Standort überwacht hatte, nicht vorbereitet. «Ab morgen bauen Sie Salat an!», habe sein Chef zu ihm gesagt.

Hatten sie mit Sensoren vorher Computerchips überwacht, sollten sie die jetzt nutzen, um in Nährlösung aus Samen Salat zu züchten, unter LED-Licht, auf 450 raumhohen Regalen in einem riesigen Reinraum. Zu Beginn hatten weder der 52-Jährige noch seine 23 Abteilungskollegen Erfahrung im Gemüseanbau, geschweige denn im «vertical farming» auf Regalen.

Doch Erfahrung brauchten sie gar nicht. Denn eigentlich sei das Ziel der Salatfabrik weniger der Anbau von Blatt-gemüse als ein Realitätstest sowie der Ver-kauf der eigenen cloudbasierten Software Akisai, sagt Fujitsu-Sprecher Rishad Marquardt. Die Software soll wenig erfah-renen Menschen über leicht verständliche Gra§ken und Tipps den Einstieg in die «smarte» Landwirtschaft ermöglichen und das Bauernleben attraktiver machen. Japans Landwirte sind im Durchschnitt 67 Jahre alt, Tendenz steigend. Nachwuchs ist vie-lerorts nicht in Sicht. Durch die Nutzung von Informationstechnologie in der Land-wirtschaft wolle man die Last der Bauern reduzieren und den Anbau e¶zienter machen, sagt der Fujitsu-Sprecher.

Auch andere Elektronikriesen wie Panasonic, Sharp und Toshiba sind bei der

nehmen und Organisationen gestiegen. Waren es im März 2015 erst 79 Läden, die den «funktionellen», weil besonders kalium-armen Fujitsu-Salat im Angebot hatten, seien es gut ein Jahr später schon 240.

Panasonic hingegen setzt auf eine Kombination aus traditioneller Landwirt-schaft und neuen Methoden. In smarten Gewächshäusern bestellen die Landwirte zwar den Boden und säen auf altherge-brachte Weise. Während die P¥anzen wachsen, messen Sensoren die Tempera- tur und die Luftfeuchtigkeit. Wird es im Gewächshaus zu heiss, schliesst das Panasonic-System automatisch die Vor-hänge, um die Sonne abzuhalten, und ö�-net Fenster, um Wind hineinzulassen, und umgekehrt, wenn die Temperaturen fallen.

Die Konzerne bemerkten unter ihren neuen Kunden viele Firmen und Organi-sationen, die bisher nichts mit Obst- und Gemüseanbau zu tun hatten. Dank spezi-eller Hard- und Software können diese mit relativ wenig Personal und Know-how in kurzer Zeit Erfolge – sowie Salat, Tomaten oder Erdbeeren – ernten.

Eine Firma, die sich so ein zweites Standbein in der Landwirtschaft aufgebaut hat, ist ausgerechnet ein Abfallent sor-gungsunternehmen. Die Firma Toyama Kankyo Seibi in Zentraljapan verarbeitet pro Jahr 300 000 Tonnen Müll und macht etwa aus Plastik Paletten. Weitere Abfälle werden in Sonder mülldeponien entsorgt oder verbrannt.

Nur die Bestäubung ist natürlichMit der Zeit bemerkten die Verantwortli-chen, dass man nicht alle Ressourcen aus-schöpfte – etwa Hitze und Dampf, die bei der Müllverbrennung entstehen. Nun wird überschüssiger Dampf über ein cleveres System mit wärmespeichernden Con-tainern und Wärmetauschern in Ge-

Suche nach neuen Produktzweigen und Absatzkanälen auf den Salat gekommen. Sie begannen in den letzten Jahren, leerste-hende Fabrikhallen zu digitalisieren oder in Plantagen umzuwandeln.

Computer gegen den WelthungerDie Vereinten Nationen schätzen, dass die Weltbevölkerung bis 2050 von gut 7 auf 9,6 Milliarden Menschen wachsen wird. Die Mittelklasse, die ein grosses Budget für Lebensmittel hat, wird stark wachsen. Um die steigende Nachfrage zu decken, wird weltweit mit Nachdruck nach schnell umsetzbaren und gleichzeitig nachhaltigen Lösungen gesucht.

Zukunftsforscher rufen eine tektonische Verschiebung von der Industrialisierung der Landwirtschaft vor 100 Jahren zu ihrer Automatisierung und Digitalisierung aus. Der digitale Acker wird zum Ho�nungs-träger: In Afrika soll er den Hunger be-kämpfen, in Industriestaaten die Arbeit verbilligen. In Japan soll er ausserdem die fehlenden Bauern ersetzen. Das Nomura Research Institute schätzt, dass bis 2035 Roboter in Japan knapp die Hälfte aller Jobs in den «nichtkreativen» Sektoren wie Dienstleistung, Warenlieferung und Land-wirtschaft verrichten können.

Das Experiment zeigt erste Erfolge: Seit die Fujitsu-Software Akisai 2012 erst-mals auf den Markt kam, sei die Zahl der Nutzer laut Fujitsu auf rund 400 Unter-

«Wird es im Gewächshaus zu heiss, schliesst

das System automatisch die Vorhänge.»

Fotos: Sonja Blaschke

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Sonja Blaschke ist freie Ostasien-Korrespondentin und Fernsehproduzentin für deutschsprachige Medien. Sie lebt seit 2005 in Japan.

wächshäusern weiterverwendet. Die darin benötigte Energie, knapp 10 Millionen Kilowattstunden pro Jahr, stellt Toyama Kankyo Seibi selbst her. Derzeit bauen 85 Mitarbeiter jährlich bis zu 500 Tonnen Tomaten, 1,4 Millionen Blumen und im kleineren Umfang Erdbeeren an. Der Umsatz damit macht etwa ein Siebtel des gesamten Unternehmensumsatzes aus.

Ein Anreiz für den Abfallentsorger, das schon seit 16 Jahren im Kleinformat betriebene Projekt 2015 schliesslich im grossen Umfang umzusetzen, dürfte auch eine grosszügige Geldspritze des Staates gewesen sein. Zwei Drittel der jährlichen Betriebskosten des Gartenbauprojekts trägt das Ministerium für Landwirtschaft, Forstwesen und Fischerei, das zukunfts-trächtige Formen der Landwirtschaft fördert. Davon pro§tiert auch die lokale Wirtschaft: Rund 70 Prozent der Mitar-beiter wohnen in Toyama-Stadt, die meis-ten stammen aus der Region.

Zwar haben einige Mitarbeiter Er-fahrung im Gartenbau, Voraussetzung ist das nicht. Denn alles ist mithilfe von In-formations- und Kommunikationstechno-logie bis ins Kleinste durchdacht. Sensoren auf fahrbaren Untersätzen im Gewächs-haus übermitteln ihre Daten regelmässig

an eine Kontrollsoftware. So lassen sich stabile Anbaubedingungen sicherstellen, «auch ohne den Instinkt eines Landwirts», sagt Masafumi Takata, der im Gewächs-haus arbeitet. Die richtige Temperatur, die richtige Luftfeuchtigkeit – alles ist soft-wareüberwacht. Takata hebt eine Tomaten-rispe an und zeigt, dass die P¥anzen nicht direkt in der Erde wachsen, sondern auf speziellen Folien. Diese simulieren einen Wassermangel, was die P¥anze dazu anre-ge, besonders süsse Früchte zu produzieren. Sensoren prüfen den Zuckergehalt. Nur die Bestäubung der P¥anzen bleibt der Natur überlassen: Durch jedes Gewächs-haus summen 200 Bienen.

Unterdessen erö�nen sich neue Per-spektiven für die vom Arbeitskräfte- und Nachwuchsmangel bedrohte japanische Landwirtschaft. Mitte 2017 soll in Ka-meoka bei Kyoto auf 4400 Quadratmetern die erste Roboter-Salatfabrik ans Netz ge-hen. Menschen setzen nur die Samen ein, den Rest erledigen Industrieroboter. In-nerhalb von fünf Jahren sollen bis zu einer halben Million pestizidfrei angebaute Sa-latköpfe täglich auf den Regalen spriessen. Um Kosten und Ressourcen zu sparen, wurden LED-Lampen installiert; 98 Prozent des Wassers wird wiederverwen-

det. «Unsere neue Farm könnte ein Modell für andere werden. Aber unser Ziel ist es nicht, menschliche Landwirte zu ersetzen, sondern ein System zu scha�en, in dem Menschen und Maschinen zusammenar-beiten», sagte Spread-Marketing-Manager J.J.Price der britischen Zeitung «±e Guardian».

Kurzfristig wird es bei den digitalen Farmen jedoch genau darauf hinauslaufen, dass menschliche Arbeitskräfte ersetzt werden, denen die zunehmende Komplexi-tät der «Präzisionslandwirtschaft» Probleme bereitet. Bevor es dazu kommt, müssen die Konzerne erst noch einige Probleme wie den hohen Energieverbrauch lösen. Der vom Elektro ingenieur zum Salatzüchter umgeschulte Miyabe möchte lieber nicht verraten, wie hoch Fujitsus jährliche Strom-rechnung für die smarte Salatfabrik ist.

Die wirtschaftliche Situation Haitis hat sich nach dem Erdbeben von 2010 noch nicht erholt. Dabei stellt der fehlende Zugang zu Bankdienst-leistungen für viele Menschen eine grosse Hürde auf dem Weg zur Selbstständigkeit dar, so auch für Bauer Auguste Jean Soliny (Bild). Bis anhin musste er die Schulgebühren für seine Kinder vor

Ort entrichten, was viel Reisezeit beanspruchte. Auch der Kauf und die Finanzierung von Saatgut oder Maschinen waren sehr umständlich.

Das Netzwerk der Mikro§nanzinstitution Finca setzt unter anderem Mobile Banking und halbautomatisierte Kreditbewertung ein, um Bauern die benötigten §nanziellen Zugänge und Kredite zu ermöglichen. Und ihnen dadurch die Chance zu geben, ihre wirtschaftliche Zukunft selber zu gestalten.www.�nca.org

167 Dollar für Seidenraupen und PilzeDie Anzahl Hungerleidende in Uganda hat sich seit den 1990er Jahren mehr als verdoppelt. Um die wirtschaftliche Entwicklung der ländlichen Gebiete voranzutreiben, ist die Bereitstellung von klassischen Finanzdienstleistungen notwendig. Aidah Nahunkuma erhielt 2012 von Opportunity International einen Mikrokredit von 167 US-Dollar. Diesen investierte die Bäuerin in den Aufbau einer ¥orierenden

Seidenraupen- und Pilzzucht. Mit den Ein-nahmen §nanziert sie nicht nur den Leben s-unterhalt ihrer achtköp§gen Familie, sondern auch die Ausbildung der Kinder.

Opportunity International ermöglicht Menschen mithilfe moderner Technologien, Bankdienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Neuerdings kann Aidah Nahunkuma ihr Smartphone für den mobilen Zahlungsverkehr nutzen und so sämtliche Ein- und Auszahlungen tätigen, ohne dass sie dafür einige Stunden zur nächsten Bank§liale laufen muss.www.opportunity.org

Die Credit Suisse unterstützt Finca International und Opportunity International im Rahmen ihrer Micro�nance Capacity Building Initiative.www.credit-suisse.com/micro�nance

Haiti und Uganda: Aus wenig mach viel

Foto: zVg

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Formeln für die Liebe

Dating-Portale im Internet versprechen, mit Computerprogrammen den idealen Partner zu §nden. Kann ein Algorithmus wirklich die Liebe vorhersagen?Von Christian Heinrich

Foto: Karen Rosetzsky, aus dem 2015 erschienenen Buch «Young Love»50 — Bulletin N° 3 / 2016

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dass ihre Mitglieder durchschnittlich fünf Zentimeter grösser und 20 Prozent reicher sind als der Durchschnittsbürger.

Dass Algorithmen keinen Vorteil bieten bei der Partnersuche, zeigt auch eine Studie des Psychologen Eli Finkel von der amerikanischen Northwestern University in Illinois, die erschien und viel Aufsehen erregte. «Es gibt keine überzeugenden Be-weise, dass die Resultate der Algorithmen merklich besser sind als Zufallsbegegnun-gen», folgern die Autoren. Der Grund liege nicht nur in der oft mässigen Qualität der Algorithmen, sondern auch darin, dass die Programme, selbst wenn sie bestmöglich optimiert sind, einfach nicht vorhersagen können, ob zwei Menschen zueinander passen. Denn eine längerfristige Beziehung basiere vor allem auf drei Dingen.

Erstens: individuelle Charakteristika. Hierzu zählt beispielsweise, wie intelligent jemand ist oder welche Erfahrungen er/sie mit Beziehungen bislang hatte.

Zweitens: die Qualität der Interakti-on. Damit ist gemeint, wie zwei Menschen in einer Beziehung kommunizieren und wie sie sich miteinander verhalten.

Drittens: die Begleitumstände. Dazu gehören unter anderem die Gesundheit oder der §nanzielle Status einer Person. Die Komplexität und die Vielfältigkeit, die lediglich aus diesen drei Punkten entste-hen, können nicht mit Fragen wie «Sehen Sie gerne Horror§lme?», «Ist Ihnen Ord-nung besonders wichtig?», «Kochen Sie mehr als jeden zweiten Tag zu Hause?» er-fasst werden. Meist beschränken sich die eingeholten Informationen auf die Persön-lichkeit. Die Algorithmen haben gar keine Chance, gute Ergebnisse zu liefern, ihnen fehlt der richtige Input.

Wie gross muss die Auswahl sein?Trotzdem spricht viel dafür, den Computer für die Partnersuche einzuschalten. «On-line-Dating bietet einen bequemen Zugang zu vielen potenziellen Partnern, was beson-ders für Singles hilfreich ist, die sonst wenige oder keine Singles kennenlernen», schreibt Finkel in der Studie. Während es viel Mut braucht, im realen Leben jemanden anzu-sprechen, und man nicht mal sicher ist, ob die Person auf der Suche ist, erschliesst das Online-Dating einen riesigen Markt an Gleichgesinnten. Es ist eine triviale Wahrheit, aber lernt man niemanden ken-nen, verliebt man sich ganz sicher nicht. Besteht aber die Möglichkeit, mit Leuten in Kontakt zu treten, steigen die Chancen.

Doch mehr ist nicht einfach besser. Ein zu grosses Angebot kann auch zum Nachteil werden oder einen hindern, eine Entschei-dung zu fällen. Während man früher Menschen getro�en und kennen gelernt hat, listet die Dating-Plattform zunächst Dinge über den potenziellen Partner auf. Erst dann braucht er/sie sich für oder gegen ein Tre�en zu entscheiden. «Das re duziert dreidimensionale Menschen zu zweidimensionalen Darstellungen von In for - mationen», schreibt Finkel in seiner Stu-die. Die Auswahl und die Vergleichsmög-lichkeiten könnten dazu führen, dass man kaum noch bereit ist, sich auf eine Person wirklich einzulassen.

Kein Wunder, dass es inzwischen einen Gegentrend gibt. Die App Once aus Frankreich setzt nicht auf Algorithmen, sondern auf handverlesene Vorschläge von Mitarbeitern. «Jeden Tag erhält der User einen einzigen Vorschlag, mit dem er sich 24 Stunden auseinandersetzen kann», sagt Gründer Jean Meyer. «Man hat Zeit, sich auf jemanden einzulassen.» Dann bekommt man den nächsten Vorschlag. Klicken beide Seiten «Kennenlernen», wird ein Kontakt ermöglicht. Erst vor einigen Monaten ist Once in Deutschland und der Schweiz ge-startet. «Das wirkt dem sogenannten Choice Overload, der Überforderung durch eine zu grosse Auswahl, entgegen, das ist gut», sagt Wissenschafter Hassebrauck, der Dating-Dienste auch berät. Dass man keine Computerberechnungen nutzt, hält er je-doch für falsch, weil schon in den 1990er Jahren Studien gezeigt hätten, dass das menschliche Auswählen nicht erfolgrei-cher ist als eine zufällige Auswahl und da-mit gar keinen E�ekt hat. «Da sind gute Algorithmen wenigstens noch eine Spur erfolgversprechender», sagt Hassebrauck.

Trotz aller Unzulänglichkeiten, einen Verdienst bescheinigen fast alle Wissen-schafter dem Online-Dating: Es wird viel einfacher, neue Menschen kennenzu - lernen. Und das funktioniert bestens. Eine unabhängige Umfrage des Pew Research Center zeigt: In den USA entsteht inzwi-schen jede sechste Beziehung online.

Formeln für die Liebe

Die Geschichte der Mensch-heit ist die Geschichte der Liebe. Ohne sie gäbe es keine Literatur, kein Hollywood

und natürlich keine Fortp¥anzung. Sozio-logen sagen, viel menschlicher Fortschritt sei nur zustande gekommen, weil jemand einen Mann oder eine Frau beeindrucken wollte. Was für eine Erleichterung – und was für ein Markt! –, wenn die Liebe mit einer Formel berechnet werden könnte.

Das versprechen Online- und Mobile- Dating-Portale: Mann/Frau meldet sich bei einem Dienst an, gibt einige Informa-tionen über sich preis und schon erhält er oder sie eine Liste mit den potenziellen Lieben des Lebens. Ist das möglich?

Die Mitgliederzahlen beweisen, dass zumindest sehr viele Singles darauf setzen. Die Vermittlungsplattform Parship.ch hat in der Schweiz fast 500 000 Mitglieder, die Dating-App Tinder zählt weltweit 25 Millionen Mitglieder, 9,6 Millionen von ihnen wischen täglich Partnervorschläge auf ihren Telefonbildschirmen nach rechts («Kennenlernen») oder links («Leider nein»).

Der Schlüssel zum Erfolg bei der Partnervermittlung, so die Dienste, liege in den mathematischen Algorithmen, Berechnungen also, auf deren Basis zwei Menschen als besonders geeignet fürein-ander bestimmt werden können. Diese Methode nennt sich Matching.

Neurotikerin passt nicht zu Neurotiker«Kein Matching-Portal gibt seine Algo-rithmen vollständig preis. Aber wir hatten schon einige Einblicke und leider basieren die meisten Algorithmen kaum auf wissen -schaftlichen Grundlagen», sagt Manfred Hassebrauck, Professor für Sozialpsycho-logie an der Bergischen Universität Wuppertal und Experte für Online- Dating. Oft würden vor allem Persönlich-keitsmerkmale erhoben. «Wir wissen aber längst schon, dass die Ähnlichkeit von Persönlichkeitsmerkmalen kein Vorhersa-gewert für eine gelingende Partnerschaft ist: Zwei Neurotiker werden nicht unbe-dingt ein glückliches Paar», sagt Hasse-brauck. Abgesehen davon tendieren die Menschen dazu, ihre Angaben zu beschö-nigen. Eine US-Datingagentur fand bei der Analyse ihrer Kundendateien heraus,

Christian Heinrich ist freier Journalist in Deutschland. Seiner Frau begegnete er oÀine bei einem Journalistenkongress.

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ReaktionenBulletin «Gottardo», 2/2016

Heilige FreudeDass im Zusammenhang mit der Erö�nung des Gotthard-Basistunnels auch der Aufsatz «Der Heilige und der Teufel» mit St. Godehard in Hildes-heim seinen Platz im Bulletin �ndet, ist für mich Hildesheimer eine grosse Freude! Die Kirche, von Papst Paul VI. zur Basilika erhoben, zeigt mit ihrer Apsismalerei das Bild des Weltgerichts am Ende der Zeiten aus dem Matthäus- Evangelium. Es fordert die Bereitschaft und Wachsamkeit der Menschen ein. Leider verliert dann die in dem Aufsatz gezeigte Statue des Heiligen bei den Besuchern der Kirche seine Wirkung. Sie ist im Querschi� der Kirche angebracht und zieht vielleicht beim Hinausgehen aus der Kirche die Blicke an sich.Manfred Glombik, D-Hildesheim

Mehrmals gelesenGratuliere, das Bulletin ist super. Alles ist perfekt, Berichte, Bilder, Gra�ken, Layout. Manche Beiträge habe ich sogar mehrmals gelesen, damit die Inhalte länger im Gedächtnis erhalten bleiben.Leo �ums, Kleinandel�ngen

Ein �ema, viele BlickwinkelIch �nde ihre Herangehensweise, ein Kernthema aus verschiedensten Blickwickeln zu beleuchten, spannend und lehrreich. Hans Christen, Reichenburg

Seit 40 JahrenDanke für «Gottardo», die wiederum vorzügliche Ausgabe. Seit mehr als 40 Jahren darf ich Ihr Bankmagazin erhalten und lesen. Ich freue mich stets auf jede neue Ausgabe.Dr. Peter Bratzel, D-Stutensee

Nicht nur alt, sondern auch gutIhre Publikation ist für mich nicht nur das älteste, sondern auch das beste Bankenmagazin der Welt (und ich erhalte einige). Auch meine Partnerin (Gra�kerin) schätzt es sehr, wenn auch (und ich möchte ihr damit ausdrücklich nicht zu nahe treten) vielleicht weniger wegen des redaktionellen Inhalts, sondern berufsbedingt mehr wegen dessen sehr ansprechender gra�scher Aufbereitung. Sie dürfen sich jedenfalls sicher sein, dass ich die von Ihnen publizierten Artikel auch in Zukunft lesen werde.Urs Geppert, Zürich

Impressum: Herausgeberin: Credit Suisse AG, Projektverantwortung: Christoph G. Meier, Mandana Razavi, Mitarbeit: Jessica Cunti, Schirin Razavi, Yanik Schubiger, Simon Staufer, Inhaltskonzept, Redaktion: Ammann, Brunner & Krobath AG (www.abk.ch), Gestaltungskonzept, Layout, Realisation: Cra�t Kommunikation AG (www.cra�t.ch), Fotoredaktion: Studio Andreas Wellnitz, Berlin, Druckvorstufe: n c ag (www.ncag.ch), Druckerei: Stämp�i AG, Au�age: 110 000

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Seit . Das älteste Bankmagazin der Welt. N° 2 / 2016

Freie Sicht . . .

C R E D I T S U I S S E

Bulletin

GottardoVom schweizerischen Mythos zum längsten Tunnel der Welt

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Credit Suisse

# jugendbarometer # 2016

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Inhalt

#1 Politik im NetzInternet macht Politik spannender. Sorgen um Terrorismus. Abnehmende Zuversicht. — S. 55

#2 Kommunikation Digital ist nicht gleich global: die regionalen Unterschiede. Online-Mobbing verbreitet. — S. 58

#RoundtableWie funktioniert E-Politik? Das Gespräch mit Flavia Kleiner (Operation Libero), Lukas Reimann (SVP) und Otfried Jarren (Universität Zürich). — S. 60

#3 Trends und MedienHandy und Apps sind in, Drogen und Vereine out. Radio verliert an Bedeutung. — S. 65

#4 Beruf, Finanzen, KarriereEigenheim und Aktien statt Sparkonto. Mehr Handyschulden in der Schweiz. Selbstständigkeit und Home-Office beliebt. — S. 67

#InterviewProfessorin Sherry Turkle warnt vor zu viel Netz und Handy. — S. 69

Für das Credit Suisse Jugendbarometer 2016 wurden jeweils rund 1000 16- bis 25-Jährige in den USA, Brasilien, Singapur und der Schweiz befragt. Die Umfrage wurde vom Forschungsinstitut gfs.bern zwischen April und Juni 2016 online durchgeführt. Das Jugendbarometer wird im Auftrag der Credit Suisse seit 2010 jährlich erhoben. Die Auswertung für das Bulletin erfolgte durch die Redaktion (Simon Brunner), die Illustrationen stammen von Timo Meyer.

In diesem Dossier finden Sie die wichtigsten und interessantesten Ergebnisse sowie Interpretationen von Experten. Die vollständige Studie können Sie einsehen unter:

#jugendbarometerwww.credit-suisse.com/jugendbarometer

USA (US)

Brasilien (BR)

Schweiz (CH)

Singapur (SG)

Generation Stress? – Der Jugend gehört die Welt, sagt der Volksmund. Betrachtet man die Resultate des Credit Suisse Jugend barometers 2016, kommt dieses Gefühl der Freiheit nicht richtig auf. Eher machen die heute 16- bis 25-Jährigen den Eindruck einer «Generation Stress». Die befragten Jugendlichen in der Schweiz, in Brasilien, Singapur und den USA wollen alles haben im Leben: Karriere machen, aber gleichzeitig eine ausgewogene Work/Life-Balance p�egen, selbstständig sein und bei einer inter nationalen Firma arbeiten, weniger sparen, aber auch ein Haus kaufen. Und bei allen Aktivitäten sind sie ständig online, kommunizieren miteinander, gamen und entdecken neue Plattformen – dieses Jahr ist Snapchat der Senkrechtstarter.

Weil es politisch aktive Zeiten sind, haben wir den Fokus der Umfrage auf «Politik im Netz» gelegt. Diesem ¬ema widmen sich das erste Kapitel und das Schwerpunkt gespräch mit den Politikern Flavia Kleiner (Operation Libero) und Lukas Reimann (SVP) sowie Professor Otfried Jarren (Universität Zürich). Über digitale Entwicklungen spricht auch die US-Soziologin Sherry Turkle. Sie macht sich Sorgen um die Handy-Generation, die in einem Zustand der «Aufmerksamkeitsverwirrung» feststecke.

Ihre Redaktion

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Die jüngere Vergangenheit war politisch sehr intensiv, gerade in den untersuchten vier Ländern: Wahlen in Singapur (Sep-tember 2015), Wahlen in der Schweiz (Oktober 2015), Amts-enthebungsverfahren gegen Präsidentin Rousse� in Brasilien und Wahlkampf in den USA.

So unterschiedlich die nationalen Umstände und ¬e-men – was die Politikerinnen und Politiker rund um die Welt seit ein paar Jahren eint, ist die gemeinsame Kommunikations-form. Sie benutzen immer häu�ger das Internet und soziale Medien, um ihre Nachrichten zu verbreiten. Doch erreichen sie den jungen Teil des Elektorats so auch? Und kommen die Botschaften an? Eine Mehrheit der Jugendlichen in allen un-tersuchten Ländern bewertet die Möglichkeit positiv, politi-sche ¬emen online zu kommentieren und zu diskutieren. Das sei ein Vorteil für die Politik in ihrem jeweiligen Land. Ausser in der Schweiz gibt es auch breite Zustimmung zur Aussage «Facebook, Twitter und Online-Kommentare machen

Politik spannender und lebensnaher und motivieren, mich stärker poli-tisch zu engagieren».

Zudem machen Internet und soziale Medien, so die Befragten, Politik und Wirtschaft volksnaher: «Dank Online-Kommentaren und Posts beachten Organisationen und Unternehmen heute genauer, was die Leute wirklich wollen.» Dieser Aussage stimmen in den USA, Brasilien und Singapur mehr als 62 % der Befragten zu, nur die Schweizerinnen und Schwei-zer sind etwas weniger überzeugt (51 %). Dank den vielen Wahlen und Abstimmungen stehen ihnen vielleicht auch sonst genügend Wege zur Verfügung, ihre Meinung kundzutun.

Einer grossen Mehrheit der Befragten weltweit ist be-wusst, dass Beiträge auf Facebook, Twitter und Co. mani-

#1Politik im Netz

Internet macht Politik spannender, volksnaher, aber ist mani pulierbar. Sorgen um Terrorismus und Gesundheitsversorgung. Zuversicht nimmt etwas ab.

82% sehen die Vorteile von Posts/Kommentaren für die Politik in Brasilien. US 58 % SG 70 %

CH 50 %

Facebook, Twitter und Online-Kommentare sind ehrlich und unverfälscht.

US 47 % BR 42 % SG 52 % CH 19 %

# 1.1 Online-Politik

Spannend, transparent … ausser die Trolle!

Es ist möglich, dass Inhalte auf Facebook und Twitter teilweise

manipuliert sind.US 58 % BR 66 % SG 70 %

CH 70 %

76

84

74

88

Es gibt Trolle im Internet, die mit ihren Kommentaren und Posts nur provozieren wollen.

62

75

70

51

Dank Online-Kommentaren und Posts beachten Organisationen und Firmen heute genauer, was Leute wirklich wollen.

49

59

64

30

Facebook, Twitter und Online-Kommentare machen Politik spannender und lebensnaher.

1000 Zustimmung in Prozent

US BR SG CH

@CreditSuisse #jugendbarometer #2016

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puliert werden können. Im Umkehrschluss meint ausser in Singapur nur eine Minderheit, diese Kommentare seien ehr-lich und unverfälscht. Die Schweizerinnen und Schweizer sind hier besonders kritisch. Nur 19 % glauben, die wahre Natur der Menschen zeige sich in den sozialen Medien. Überall ist be-kannt, dass es online sogenannte Trolle gibt, die keinen ehrli-chen Beitrag zur Diskussion leisten, sondern nur provozieren wollen (mehr zum Zusammenspiel von Internet und Politik in der Gesprächsrunde auf Seite 60).

Unabhängig vom Internet, was sehen die Jugendlichen als die grössten Probleme in ihrem Land an? Besonders in Brasilien bereitet eine Reihe von Problemen seit Jahren Sor-gen. Korruption und Arbeitslosigkeit werden auch 2016

von über zwei Dritteln der 16- bis 25-Jährigen als grosse Probleme ge-nannt – eine solche Einstimmigkeit gibt es in keinem anderen Land.

Arbeitslosigkeit ist ein Top- Problem in allen Ländern. In drei Ländern ist sie unter den Top 5, in der Schweiz bezeichnen sie 21 % als grösstes Problem des Landes, und auch bei den Erwach s e nen im

Credit Suisse Sorgenbarometer steht Arbeitslosigkeit seit Jah-ren ganz oben (siehe www.credit-suisse.com/sorgenbarometer). Die hiesigen Jugendlichen beschäftigen ausserdem Fragen

des Zusammenlebens respektive der Aufnahme und Integra-tion von Ausländern. Die Flüchtlingsthematik wurde im ers-ten Jugend barometer (2010) von 22 % der Befragten als Prob-lem bezeichnet, heute sind es 46 %. (Die grössten Probleme der Schweizer Jugend 2010 und heute �nden Sie auf Seite 62.)

Terrorismus hat – wenig erstaunlich – über die Jahre an Bedeutung gewonnen. In Singapur steht er an erster, in den USA an zweiter und in der Schweiz an sechster Stelle der Sor-genrangliste: 2010 nannten 13 % der Schweizer und Schweize-rinnen Terrorismus als Problem, heute sind es schon 23 %.

In den USA, Brasilien und Singapur sorgt man sich zu-nehmend um das Gesundheitssystem respektive die Kranken-kasse und deren Prämien. In der Schweiz ist dieses ¬ema nicht einmal in den Top 10. Ein anderes Sozialwerk bereitet seit Jahren mehr Sorgen: die AHV, aktuell auf dem dritten Rang der Probleme.

Allen Sorgen zum Trotz sehen die Jugendlichen zuver-sichtlich in die Zukunft, wenn auch ein bisschen weniger als in früheren Jahren. Dass die jungen Schweizerinnen und Schweizer am meisten Optimismus zeigen (59 %), erstaunt wenig, aber auch die Jugend in Brasilien (54 %) geht immer noch mehrheitlich davon aus, die Zukunft werde gut. 2010 waren allerdings noch 67 % der Befragten dieser Meinung. In den USA �ndet diese Aussage seit Jahren eine knappe Mehrheit, in Singapur sind es jeweils ein bisschen weniger als 50 % der Jugendlichen, die ihr zustimmen.

2010 fanden 13 %, Terrorismus sei ein

Problem für die Schweiz, heute sind es

23%.

# 1.2 Die grössten Probleme

Was die Jugend beschäftigt

«Auf dieser Liste sehen Sie einige Themen, über die in der letzten Zeit viel diskutiert und geschrieben worden ist: Sehen Sie sich bitte die gesamte Liste an, und wählen Sie dann aus dieser Liste jene fünf Punkte aus, die Sie persönlich als die fünf wichtigsten Probleme Ihres Landes ansehen.», in Prozent

74→

44↘

32→ 28

↗28→ 26

38↗

67↗

37→

32↗

33↗

27→

31→27

↗27↘

# 1.3 Meinung zur eigenen Zukunft

Die Zuversicht schwindet leicht

«Wie sieht Ihrer Meinung nach Ihre eigene Zukunft aus?», Antwort «eher zuversichtlich», in Prozent

2010 2016

59

67

52

62

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2012 wurde die Lage in Brasilien noch als weniger gravierend

wahrgenommen: Korruption 50 %,

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Grosse Unzufriedenheit in Brasilien. Im Bild: Proteste gegen Präsidentin Rousseff an der Copacabana in Rio de Janeiro (April 2016).

Jugendliche in den USA sorgen sich wegen Arbeitslosigkeit, Terrorismus und Gesundheitsfragen. Im Bild: Teilnehmer

einer Kundgebung des Präsidentschaftskandidaten Donald Trump in Iowa im Januar 2016.

@CreditSuisse #jugendbarometer #2016

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Will man etwas über die Jugend erfahren, muss man schauen, wie sie kommuniziert. Wenig erstaunlich: «Mal oµine sein» wird nur von einem Viertel (Schweiz) oder knapp einem Fünftel der Jugendlichen (USA, Brasilien, Singapur) als in bezeichnet und auch wirklich praktiziert.

Eine Erklärung könnte sein, dass Jugendliche noch in jeder Epoche fürchteten, etwas Interessantes zu verpassen. Die englische Umgangssprache kennt sogar einen Begri� für die-ses Gefühl: FOMO («fear of missing out» oder eben die «Angst, etwas zu verpassen»).

Eine tieferschürfende Begründung könnte sein, dass die Befragten gar nicht zwischen online und o�ine unterscheiden. Diese Generation, die 1991 und später geboren ist, kennt die Welt ohne Internet nicht. Dementsprechend sind die analoge und die digitale Welt für sie schon längst verschmolzen. Ein Beispiel für diese ¬ese ist das Handy-Spiel Pokémon Go

#2Kommunikation

Das Smartphone dominiert das Leben der Befragten. Im Bild: Jugendliche spielen das Handy-Game Pokémon Go auf dem Casinoplatz in Bern (Juni 2016).

Offline sein unbeliebt. Digital nicht gleich global – markante regionale Unterschiede. Senkrechtstarter: Snapchat. Viele Jugendliche wurden schon online gemobbt.

25% Nur wenige finden, «offlin e sein» sei in, und tun es tatsächlich: US 18 %, BR 19 %, SG 19 %, CH 25 %.

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(Bild unten links). Dass man dort in der realen Welt virtuelle Fantasie�guren sammelt, �nden nur die Eltern seltsam.

Was sich im ganzen Jugendbarometer zeigt: Obwohl «digital» keine Grenzen kennt und man es gerne gleichsetzt mit «global», gibt es grosse Unterschiede zwischen den Län-dern. Gerade in der Kommunikation wird das sichtbar. Die SMS gewinnt in den USA und in Singapur immer noch an Bedeutung, in Brasilien und der Schweiz wird sie nur von einer Minderheit benutzt. Zumindest in den USA hat das damit zu tun, dass sich das – notabene amerikanische – WhatsApp nie durchgesetzt hat, wohl, weil die SMS schon immer mehrheit-lich gratis war. In der Schweiz und in Brasilien hingegen domi-nieren WhatsApp.

Facebook übernimmt immer mehr Funktionen im Le-ben der Jugendlichen. Der Facebook-Messenger liegt in der Hitparade für Kommunikationsmittel in allen Ländern auf den vordersten Rängen (in Singapur auf Rang 4), man braucht das soziale Netzwerk aber auch, um News zu konsumieren, und es gilt seit Jahren als in (beides im Kapitel #3 besprochen). Auch WhatsApp gehört zum Facebook-Konzern, der folgende Nutzerzahlen verö�entlicht. Facebook: 1,6 Mrd. jeden Monat aktive Mitglieder, WhatsApp: 900 Mio., Messenger: 800 Mio.

Doch die Jugendlichen kennen bei digitalen Technolo-gien wenig Markenloyalität, und gemäss ihren Aussagen könn-ten Facebook und WhatsApp bald unter Druck kommen, denn die Jugendlichen haben einen Favoriten auserkoren:

# 2.2 Trends

Senkrechtstarter Snapchat# 2.1 Kontaktmöglichkeiten mit Freunden

SMS nur noch in den USA beliebt

Snapchat aus Los Angeles, gegründet 2011. Den Kommunika-tionsdienst, der Fotos und Videos stärker in den Mittelpunkt stellt als WhatsApp und mehr Privatsphäre bietet (die Nach-richten werden nach einer gewissen Zeit gelöscht, und man wird infor-miert, wenn ein Empfänger etwas archiviert), nutzen bereits 52 % der Befragten in der Schweiz und auch für die Mediennutzung wird in allen Ländern immer mehr auf Snapchat zurückgegri�en. Laut Bloomberg ist Snapchat bereits 18 Mrd. Dollar wert. Wie viele Nutzer es hat, wird nicht kommuniziert.

Zuletzt eine weniger erfreuliche Nachricht: Viele Ju-gendliche haben schon negative Erfahrungen bei der Kommu-nikation im Internet gemacht. 40 % von ihnen in den USA, 25 % in Brasilien, 33 % in Singapur und 39 % in der Schweiz geben an, auf Facebook lästig angemacht oder richtiggehend gemobbt worden zu sein. In der Schweiz hat dieser Wert stark zugenommen, 2010 berichteten erst 11 % von solchen Erleb-nissen. Das könnte ein Grund sein, warum jene Kommuni-kationsdienste in den letzten Jahren an Popularität gewonnen haben (WhatsApp, Snapchat, Facebook-Messenger), bei de-nen sich besser als auf der Facebook-Pinnwand steuern lässt, wer was lesen und kommentieren darf.

39% Mobbing auf Facebook ist weit verbreitet: US 40 %, BR 25 %, SG 33 %, CH 39 %.

«Welche Möglichkeiten nutzen Sie, um mit Ihren Freunden in Kontakt zu treten?», Anteil wichtigstes und zweitwichtigstes Kontaktmedium addiert, in Prozent

«Wie lange nutzen Sie die folgenden Medien an einem durchschnittlichen Tag für private Zwecke?», Antwort «mindestens 1–2 Stunden», in Prozent

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Snapchat: ein Kommunikationsdienst aus den USA, der Fotos und Videos in den Mittelpunkt

stellt und wo sich empfangene Medien nicht speichern lassen.

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«Soziale Medien sind wie ein Pausenplatz»

Zwei Politiker und ein Publizistikprofessor diskutieren die Resultate des Jugendbarometers, die Rolle der sozialen

Medien im politischen Prozess, E-Voting und den US-Wahlkampf.

Von Simon Brunner und Michael Krobath

Politik ist spannend. Im Bild: die traditionelle Jugendsession im Nationalratssaal in Bern, am Samstag, 29. August 2015.

#Roundtable

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Spielen das Internet und die sozialen Medien in der Schweizer Politik heute schon eine relevante Rolle?FLAVIA KLEINER (FK) Ja, ich würde sagen, eine immer relevantere. Aber es besteht noch viel Luft nach oben.LUKAS REIMANN (LR) Da haben Sie recht, aber schon heute erreichen die sozialen Medien andere und deutlich mehr Menschen als beispielsweise die herkömmlichen Höcks in den Beizen. Zudem erlauben sie im Gegensatz zur Kommunikation via traditionelle Medien einen noch intensiveren Dialog mit der Bevölkerung. Und sie ermög-lichen die direkte Mobilisierung von Wählern, man kann themenspezi�sch gezielt Unterstützer ansprechen. Das ist viel direkter als ein Zeitungsinterview.OTFRIED JARREN (OJ) Ich denke, insbesondere bei der ¬emensetzung und bei der schnellen Reaktion auf Ereignisse können die sozialen Medien die Meinungsbildung beein�ussen.

Inwiefern unterscheidet sich der E-Wahlkampf von einem klassischen Wahlkampf? LR Es gibt weniger direkte Auseinan-dersetzungen zwischen politischen Kontrahenten. Der Wahlkampf konzentriert sich wohl zu sehr auf die Mobilisierung und Aktivierung der eigenen Sympathisanten. Man predigt dadurch zu bereits Bekehrten. FK Die Kommunikation und die Geschwindigkeit sind anders, die Inhalte müssen pointierter portiert werden. Politische Kampagnen auf sozialen Medien sind eine 24/7-Angelegenheit. Wer jedoch denkt, dies sei einfach ein bisschen nebenbei zu machen, während er Podien besucht und Plakate aufhängt, sollte es lieber sein lassen.

Lediglich 19 % der Jugendlichen in der Schweiz glauben, Facebook, Twitter und Online-Kommentare seien ehrlich, dafür meinen 70 %, diese Kanäle könnten manipuliert sein. Was bedeutet diese geringe Glaubwürdigkeit für die Politik beziehungsweise für Politiker? OJ Das Manipulationspotenzial und die geringe Glaubwürdigkeit der sozialen Medien im Bereich der politischen Information führt den Politikern die grosse Bedeutung der traditionellen Massenmedien vor Augen,

«Wie im richtigen Leben gibt es auch

online eine starke Interessen-

vertretung.» Otfried Jarren

LR Die Hemmungslosigkeit der Trolle aufgrund ihrer vermeintlichen Anonymität ist teilweise schon sehr heftig. Andererseits kann man sie nicht gänzlich ignorieren: Sie sind auch ein Barometer für die wirkliche Stimmung und innerste Überzeugung der Menschen. Daher müssen sie auch beachtet werden. So unangenehm dies sein kann, gerade für Politiker.

Nur 35 % der jungen Schweizer glauben, Facebook, Twitter oder Online-Kommentare hälfen, Verschwörungen von mächtigen Konzernen, Politik oder Militär aufzudecken. In den USA, Brasilien und Singapur sind es viel mehr. Warum?OJ Ein interessantes Phänomen. Vermutlich wird den Nutzern von sozialen Medien zunehmend bewusst, dass auch dort dauerhaft keine gemeinsamen Ziele verfolgt werden, sondern allenfalls immer nur Ziele von bestimmten Gruppen. Wie im richtigen Leben gibt es auch online eine starke Interessenvertretung! FK Soziale Medien sind zwar global, müssen aber immer auch im lokalen Kontext gesehen werden. Sie werden in anderen Ländern teilweise viel intensiver und auch politischer genutzt als bei uns. In Südamerika mag dies der geeignetste Ort sein, um seine Meinung zu äussern: Politik wird dort zu einem Online- Happening und zu einem -Statement. In Venezuela beispielsweise posteten die Menschen ihren farbigen Daumen, um zu zeigen, dass sie wählen waren. Die politische und mediale Arbeit auf sozialen Medien hinkt in der Schweiz noch hinterher.LR Gleichzeitig wurde die Meinungs-vielfalt in den USA, Brasilien und Singapur durch das Netz sicher stärker ausgebaut als in der Schweiz. Hier gab es dank der direkten Demokratie und den Volksinitiativen bereits im Vor- Internetzeitalter eine grosse Vielfalt an Bürgerinitiativen, und auch kleine Gruppen konnten eine grosse Wirkung erzielen.

Immer mehr Jugendliche berichten von Mobbing auf Facebook. 2011 waren es 11 %, 2016 waren es bereits 39 %. Muss der Staat hier eine stärkere Rolle übernehmen?

vor allem der SRG-Kanäle, aber auch der Presse. Es zeigt sich ja an anderer Stelle im Jugendbarometer, dass die Jugendlichen dem Schweizer Radio und Fernsehen, der «NZZ» und dem «Tages-Anzeiger» am meisten vertrauen. Unabhängigkeit und journalistische Professionalität sind wichtige Merkmale für die gesellschaftliche Kommunikation und unterscheiden sie von der Individual- oder Gruppenkommunikation.LR Als Politiker beruhigt es mich, dass die Jugendlichen derart skeptisch sind. Im Internet lässt es sich noch einfacher manipulieren als in der sonstigen Politikszene, etwa durch den Kauf von Likes oder das anonyme Absetzen von Kommentaren. Es ist positiv, dass die Jungen dies erkannt haben …FK … Und es erinnert uns daran, dass eine tiefe Glaubwürdigkeit überall im

Leben ein Problem ist. Wir sollten sie alle im Netz mitbekämpfen, indem wir uns ausschliesslich authentisch äussern.

88 % der Befragten meinen, es gäbe viele Trolle im Internet, die nur provozieren und nichts Positives bewirken wollen. Wie schafft man es, trotzdem eine sachliche und anständige Diskussion zu führen? FK Wer Trollen das Feld überlässt, hat verloren. Gegen Trolle helfen zwei Dinge, und diese nur in Kombination: Fakten und Follower-Power. Wir setzen Liberas und Liberos ein – Sympathisan-ten unserer Bewegung –, welche extra die sozialen Medien durchforsten und Trollen faktenbasiert antworten, ihre falschen Aussagen kontern, eine deutliche Sprache sprechen, dabei aber nie unhö�ich werden.

@CreditSuisse #jugendbarometer #2016

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Flüchtlinge/Asyl

AusländerInnen/Zuwanderung

AHV/Altersvorsorge

Umweltschutz

Rassismus

Terrorismus

Arbeitslosigkeit*

Jugendarbeitslosigkeit*

Soziale Sicherheit

EU/Bilaterale

FK Soziale Medien sind ein ebenso realer Raum wie ein Pausenplatz und entsprechend ist auch dort jegliches Mobbing zu verurteilen. Der Staat kann aufklären und strafbare Handlungen verurteilen. Aber ich denke, dass auch hier – genau wie im nicht digitalen Leben – die «Community» eine wichtige Rolle übernehmen muss. Freunde, NGOs und ö�entlicher Druck müssen Querulanten zurechtweisen und Anstand einfordern. LR Das sehe ich ähnlich. Der Staat soll nicht zur Internet-Polizei werden und Bussen für Facebook-Posts aussprechen. Aufklärung ist aber wichtig. Und strafrechtlich relevante Posts sollen selbstverständlich zur Anzeige gebracht werden. OJ Ich gehe davon aus, dass sich soziale Regeln und Normen etablieren. Einerseits durch Interventionen der Nutzer selbst, andererseits durch den Markt, denn die Anbieter wollen ja «zufriedene» Nutzer. Allerdings bestehen massive Normkon�ikte, etwa wenn Anbieter der amerikanischen Kultur

in den sozialen Medien ab. Also muss man diese potenziellen Wähler genau dort abholen, neue Kommunikations-wege gehen und die Inhalte Social- Media-gerecht verbreiten. Ausserdem sollte man sich bewusst sein, dass bei sozialen Medien die Interaktion zählt. Es ist keine One-Way-Kommunikation, wie sie sonst bei politischer Arbeit oft praktiziert wurde. LR Und die Jugendlichen müssen auch sprachlich abgeholt werden. Die Easyvote-App ist ein gutes Beispiel dafür. Politik wird hier einfach und verständlich, aber neutral und sachlich erklärt und das Abstimmen für junge Menschen so vereinfacht.OJ Meiner Meinung nach sind die Gründe für eine Beteiligung oder Nichtbeteiligung an Abstimmungen und Wahlen vielfältig und haben allenfalls am Rande mit Medien zu tun. Das politische Institutionensystem mit seinen Intermediären muss auch im politischen Alltag präsent sein. Das ist immer weniger der Fall. Vor allem die Schweizer Parteien haben eindeutig Akzeptanzprobleme.

Sind die sozialen Medien tatsächlich so wichtig im US-Wahlkampf oder ist das ein Medien-Hype?LR Es war ein geschickter Aspekt von Obamas Präsidentschaftskampagne, ihn als Star der sozialen Medien zu verkaufen. Aber die Milliarden an Unterstützung wurden nicht online gespendet. Gerade zuvor wenig bekannte Kandidaten wie Ron Paul konnten dank sozialen Medien ihren Ein�uss tatsächlich stark ausbauen.

Sollte das E-Voting eingeführt werden? LR Nur für Auslandschweizer! Die Manipulationsmöglichkeiten sind zu gross und die Systeme zu wenig ausgereift. Immer wieder kommt es im Ausland zu gravierenden Problemen, was das Vertrauen in die Demokratie zerstören kann. FK Ich verfolge die Versuche in Estland und in einigen Gemeinden der Schweiz mit grossem Interesse, habe mich aber noch nicht entschieden.OJ E-Voting bedarf eines institutionellen Vertrauens. Politische Institutionen «leben» aber auch von ihrer Sichtbarkeit, von kollektiven Akten

«Der Staat soll nicht zur Internet-Polizei werden und Bussen

aussprechen.» Lukas Reimann

CH: Grösste Probleme

Entwicklung der grössten Sorgen

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«Auf dieser Liste sehen Sie einige Themen, über die in der letzten Zeit viel diskutiert und geschrieben worden ist: Sehen Sie sich bitte die gesamte Liste an, und wählen Sie dann aus dieser Liste jene fünf Punkte aus, die Sie persönlich als die fünf wichtigsten Probleme der Schweiz ansehen.», in Prozent * Bis und mit 2014 wurden Arbeits- losigkeit und Jugendarbeitslosigkeit zusammen abgefragt. Entsprechend datiert der ältere Wert bei Jugend- arbeitslosigkeit (12 %) von 2015.

verp�ichtet sind und in europäischen Märkten aktiv werden. Formen der Co-Regulierung machen Sinn, also der Mitwirkung unabhängiger Regulierungsbehörden an der Regel- und Normausbildung sowie an deren Durchsetzung. Dazu bedarf es eines rechtlichen Ordnungsrahmens. Die privaten Unternehmen wollen sich keinen ö�entlichen Instanzen unter-werfen. Gleichzeitig fehlt es aber auch an Selbstregulierungsinstanzen. Insofern ist der Staat gefordert.

Kann das Internet ein jüngeres Elektorat zurück an die Urne bringen? FK Absolut. Ein Teil des Lebens von jüngeren Menschen spielt sich nun mal

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LUKAS REIMANN (LR), 33, ist Jurist, National-rat (SVP), Mitglied der Rechtskommission des Nationalrats und Präsident der Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz

(Auns). Ausserdem arbeitet er in einer Anwaltskanzlei in Wil SG.

OTFRIED JARREN (OJ), 62, ist Professor für Publizistik und Abteilungsleiter «Medien & Politik» an der Universität Zürich sowie Präsident der Eidgenössischen

Medienkommission. Jarren hat mehrere Bücher und Essays zu Journalismus und Medien veröffentlicht.

FLAVIA KLEINER (FK), 25, ist Geschichts-studentin an der Uni Freiburg und Co-Präsidentin des Vereins Operation Libero, der gesell-schafts- und wirt-

schafts liberale Ziele auf Bundesebene verfolgt. Bekannt wurde sie durch die NGO-Kampagne gegen die Durchsetzungsinitiative.

setzen. ¬ematisierung bedeutet aber keineswegs, dass damit politische Entscheidungen getro�en werden. Zudem nimmt durch die Kanalvielfalt auch die Sichtbarkeit einzelner Äusserungen wieder ab.LR Es stimmt, dass es auch in der analogen Welt immer schon Politiker

gab, die lauter waren als andere. Aber Internet-aºne Politiker erkennen die wirklichen Probleme der Menschen oft schneller und genauer als solche, die dem Internet keine grosse Bedeutung zumessen. Wenn sie daraus etwas machen, kann dies ihr entscheidender Vorteil sein.FK Klar belohnen soziale Medien jene User, die Aufmerksamkeit generieren. Ich bin jedoch überzeugt, dass man auch Aufmerksamkeit bekommen kann mit guter politischer Kommunikation, die kurz, eingängig und ehrlich ist.

Das Credit Suisse Jugendbarometer eruiert seit 2010 die zehn grössten Probleme der Schweiz, wie sie die Jugendlichen wahrnehmen (siehe Grafik links). Was fällt Ihnen dabei auf?LR Einwanderung, mangelnde Inte-gration und Überfremdung sind für die Jugendlichen zu Recht ein Dauer brenner und sind noch mehr in den Fokus gerückt. Die Jungen bekommen diese Probleme hautnah und als Erste direkt zu spüren: in der Schule, im ö�entlichen Verkehr, im Ausgang oder bei der Lehrstellensuche. Viele Junge verstehen nicht, warum die Mehrheit der Politik nicht mit einer restriktiveren Ausländer- und Einwanderungspolitik reagiert.

OJ Die «Sorgen» variieren gemäss den grossen ¬emen auf der politischen Agenda. Die Verschiebungen zeigen auf, dass das politische Klima mit seinen Aktualitäten wahrgenommen wird. Zugleich aber bleiben auch ¬emen anhaltend auf der Problemagenda. Es wird eher pragmatisch auf manche der vom politischen System stark erhitzten «Probleme» wie EU, Flüchtlinge, Migration oder Ausländerinnen und Ausländer reagiert. FK Mir fällt auf, dass die Alters-vorsorge nach wie vor als grosses Problem wahrgenommen wird: Die mittel- und langfristige Finanzierung unserer Altersvorsorge ist tatsächlich gefährdet. Es liegt auf der Hand, dass hier rasch vernünftige Vorschläge erarbeitet werden müssen. Ausserdem fällt auf, dass europäische Fragen nicht sehr zentral sind – vielleicht gerade, weil die Jugendlichen mit den Vorteilen einer Schweiz mitten in Europa gross geworden sind und sich der aktuellen Gefährdung dieser Errungenschaft nicht voll bewusst sind.

«Soziale Medien sind keine One-Way-Kommunikation wie

sonst oft in der politischen Arbeit.»

Flavia Kleiner

und wirken durch ihre Unmittelbarkeit. Sie sind in keiner Weise anonym, das kennzeichnet ein demokratisches System.

Produziert das Internet einen neuen, lauteren, holzschnittartigen Politikertyp?OJ Wohl kaum. Es gab aber immer Persönlichkeiten, die versucht haben und versuchen, die politischen ¬emen zu

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@CreditSuisse #jugendbarometer #2016

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Nichts ist mehr in als das Handy. Im Bild: Ein Mädchen posiert an der Kunstausstellung «Future World» in Singapur im März 2016. Fo

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Die Jugend hat sich schon immer über in und out de�niert – über Dabeisein und Nicht-Dabeisein. Und das Internet hat diese Dichotomie noch verstärkt: Like oder Daumen hoch, wenn’s gefällt. Kein Like oder Daumen runter, wenn’s nicht gefällt. Das Jugendbarometer untersucht diese Trends. In ist, was mit dem Smartphone zu tun hat. Dieses selbst belegt

Platz 1 in Singapur und den USA und Platz 2 in der Schweiz. Auch WhatsApp, Facebook und YouTube werden oft ge-nannt – alles Plattformen, die als Smart-phone-Apps genutzt werden können oder müssen.

Der Videodienst YouTube hat – ausser in den USA – das Fernsehen verdräng t, analoge Likes vergeben die Jugendlich en nur vier Mal: «Ins Kino gehe n» (Brasilien), «Ferien im Ausland»

(Schweiz), «Freunde tre�en» (Brasilien und Schweiz). Ein Blick zurück zeigt, wie schnelllebig diese Trends sind. 2010 sah die in-Rangliste in der Schweiz noch ganz anders aus: 1. SMS, 2. italienisches Essen, 3. E-Mail, 4. Ferien im Ausland, 5. sich selber sein.

Out sind heute Handy ohne Internet und das Festnetz – beides leuchtet ein. Out sind aber auch Drogen, Rauchen und leistungssteigernde Substanzen. Das dürfte die Eltern freuen. Oft sind aber auch, vor allem in Singapur und der Schweiz, verschiedene soziale Gemeinschaften wie Jugendorganisa-tionen oder politische Parteien unbeliebt.

Der Bedeutungsverlust der klassischen Religion äussert sich direkt bei der Frage: «Welcher Glaubensgemeinschaft gehören Sie an?» Zwischen 22 % und 34 % der Jugendlichen in den vier untersuchten Ländern bezeichnen sich heute als Agnostiker/Atheisten/konfessionslos. Noch vor zwei Jahren waren es erst zwischen 5 % und 13 %.

#3Trends undMedien

Handy und Apps sind in, Drogen und Vereine out. Radio verliert an Bedeutung. SRF, «NZZ», «Tages-Anzeiger» wird mehr vertraut als sozialen Medien.

2010 sah die in-Rangliste für die

Schweiz so aus: 1. SMS

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4. Ferien im Ausland 5. sich selber sein

# 3.1 Trends

Digital ist in, Vereinsleben und Drogen sind out

«Wir haben hier eine Liste von ganz unter schiedlichen Dingen des Lebens aufgelistet. Beurteilen Sie, ob diese in Ihrem privaten Umfeld in oder out sind, und gleichzeitig, ob Sie diese nutzen.», in Prozent

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Likes für analoge Sachen verteilen die Jugendlich en nur vier: «Ins Kino gehe n» (Brasilien),

«Ferien im Ausland» (Schweiz), «Freunde

treffen» (Brasilien und Schweiz).

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Di�erenzierter, als man gemeinhin annehmen könnte, ist das Medienverhalten der Jugendlichen, hier am Beispiel der Schweiz. Die Gratiszeitungen sind immer noch für 62 % der 16- bis 25-Jährigen das wichtigste Medium für den News-konsum, 2010 wählten aber noch 75 % diese Antwort. Die Konkurrenz durch Internet-Zeitungsseiten und News-Apps nimmt stark zu. Im Fall von «20 Minuten» und «Blick am Abend» dürfte es einfach ein Kanalwechsel sein: Statt der ge-druckten Zeitung liest man den Titel nun digital.

Fernsehen verlor wenig überraschend über die letzten sechs Jahre an Popularität. Interessant ist, dass nun auch das Radio erstmals an Beliebtheit einbüsst: Jahrelang gab rund die Hälfte der Befragten in der Schweiz an, Radio zu hören, jetzt sind es noch 42 %. Eine Erklärung könnte das Aufkommen von Streamingdiensten sein, durch die jeder seine eigene Mu-sik zusammenstellen kann. In den anderen Ländern ist dieser Trend nicht zu beobachten, wobei das Radio dort nie dieselbe Bedeutung wie in der Schweiz erreichte. Facebook wird dafür immer mehr zu einem Newskanal; 2010 nutzten erst 35 % der Jugendlichen die Plattform als solchen, heute sind es 47 %.

Leicht zugängliche Medienprodukte wie Gratiszeitun-gen sind beliebt bei den Befragten. Das bedeutet aber nicht, dass sie kein Qualitätsbewusstsein haben. Gefragt, welchen Medien sie vertrauen, nennen sie zuerst SRF, «NZZ» und «Tages-Anzeiger». Rein digitale Kanäle stehen am Ende der Rangliste: YouTube, Facebook und Twitter.

# 3.2 CH: Information über Tagesgeschehen

Facebook etabliert sich als Newskanal# 3.3 CH: Vertrauen in Medien

Traditionsbewusst

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34% Viele bezeichnen sich als Agnostiker/Atheisten/ konfessionslos: US 34 %, BR 28 %, SG 29 %, CH 22 %.

«Wie stark vertrauen Sie den folgenden Informationsquellen?», erste und letzte drei, in Prozent«Wie informieren Sie sich über das Tagesgeschehen?», in Prozent

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#4Beruf, Finanzen und Karriere Eigenheim und Aktien statt

Sparkonto. Mehr Handyschulden in der Schweiz. Beruf: Selbstständigkeit und Home-Office gewünscht. Eigenheim wichtig, v. a. für Frauen.

US BR SG CH

94 % möchten ein

Eigenheim in Brasilien. US 89 % SG 91 % CH 83 %

Das angespannte wirtschaftliche Umfeld der letzten Jahre hin-terlässt Spuren. Das Eigenheim ist in allen Ländern der gröss-te Wunsch in Geldangelegenheiten – das könnte mit einem ge-stiegenen �nanziellen Sicherheitsbedürfnis zusammenhängen und/oder mit tiefen Zinsen: Hypotheken sind «billig», Geld anders gewinnbringend anzulegen, ist schwieriger geworden.

Für diese ¬ese spricht auch ein weiteres Resultat. Ge-fragt, was die 16- bis 25-Jährigen mit geschenkten 10 000 Einheiten ihrer Landeswährung machen würden, geben sie an, viel weniger auf ihr Sparkonto einzuzahlen als 2015. In den USA 1338 Dollar weniger, in Singapur –1536 Singapur- Dollar, in Brasilien –1483 Reais, in der Schweiz – 98 Franken. In allen Ländern ist das immer noch der grösste Betrag, aber andere Sachen sind wichtiger geworden: Für ein Haus auf die Seite legen (US, SG), Aktien und Fonds kaufen (US, BR, SG), Ferien machen (BR, SG, CH) und in die Familie investieren (US, BR, SG).

Ebenfalls eine grössere Veränderung gibt es beim Schulden-niveau in der Schweiz. Mehr Jugendliche geben an, gegenüber einem Mobilfunkbetreiber im Zahlungsrückstand zu sein. Letztes Jahr waren es 3 %, heute sind es 7 %. Das ist mehr als eine Verdoppelung, aber im Vergleich noch immer wenig: US 20 %, BR 28 %, SG 19 %. In keinem anderen Land hat diese Art von Schulden allerdings so stark zugenommen wie in der Schweiz, und gleichzeitig geben auch 33 % der Befragten hier an, ihre �nanziellen Verp�ichtungen seien eine grosse oder sehr grosse Belastung (12 Prozentpunkte mehr als 2013).

Zu den Berufsvorstellungen und -wünschen: Die Er-folgsgeschichten von Mark Zuckerberg und anderen Start-up- Millionären und -Milliardären scheinen die Jugendlichen stark zu beein�ussen. Nach dem Lieblingsarbeitgeber gefragt, sagen viele, sie möchten selbstständig sein – ausser in der Schweiz. Vielleicht hat das damit zu tun, dass hier diese Vorbilde r (noch) fehlen oder wenig in der Ö�entlichkeit auftreten.

# 4.2 CH: finanzielle Verpflichtungen

Schulden belasten und nehmen zu

«Sind die finanziellen Verpflichtungen für Ihr Leben eine Belastung?», Antworten «grosse» und «sehr grosse Belastung» addiert, in Prozent

«Haben Sie persönlich finanzielle Verpflichtungen bei Mobilfunkanbietern?», in Prozent2013 2016

# 4.1 Finanzen

Weniger aufs Sparkonto einzahlen

«Angenommen, Sie erhalten 10 000 Einheiten Ihrer Währung geschenkt, wie würden Sie das Geld verteilen?», Antwort «auf mein Sparkonto einzahlen»

Belastung finanz. Verpflichtungen

Handyschulden

USA Brasilien Singapur Schweiz

Vergleich 20152311 2417

21672468

33

7

21

5

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In der Schweiz ist der Wunscharbeitgeber Google, das kalifor-nische Internetunternehmen, das seit 2004 auch in Zürich an-gesiedelt ist und hier den grössten Entwicklungsstandort aus-serhalb von Nordamerika betreibt. Dahinte r folgt die SBB,

vielleicht weil sie anlässlich der Erö�nung des Gotthard-Basis-tunnels im Befragungszeitraum oft positiv in den Medien darge-stellt wurde. Rang 3 bis 5 belegen drei der grossen internationalen Schweizer Firmen: Novartis, Roch e und die Credit Suisse.

Arbeiten von zu Hause, das sogenannte Home-Oºce, wird immer gefragter: USA

+ 6 Prozentpunkte (pp) seit 2010, Brasilien +15 pp, Schweiz + 14 pp. Nur in Singapur ist der Wunsch konstant geblieben, er liegt dort aber bereits auf dem höchsten Niveau aller be-fragten Länder. Interessanterweise gibt es hier zwischen den Geschlechtern nur wenige Unterschiede. Betrachtet man die Resultate zu Beruf und Arbeit geber, könnte man zusammen-fassen, dass die Jungen auf der Suche nach einem �exiblen, modernen, internationalen Job sind.

# 4.4 Alle Länder: Ziele im Leben

Wir wollen alles! # 4.3 CH: Anstellungswunsch

Die Job-Hitparade

Gefragt, was sie im Leben anstreben, geben die Jugendlichen eine lange Liste an; Ziele, die nicht alle leicht zu vereinbaren sein dürften. 50 % und mehr Zustimmung erhalten in allen Ländern: Freizeit und Beruf im Gleichgewicht halten, eigene Träume verfolgen, Eigenheim, den eigenen Talenten nachge-hen, viele verschiedene Dinge ausprobieren und entdecken, Karriere im Beruf, Familie mit Kindern, viele Länder und Kul-turen kennenlernen. Schaut man diese Ziele nach Unterschie-den bei den Geschlechtern an, stechen zwei Fakten ins Auge: Frauen ist das Eigenheim in allen Ländern wichtiger als den Männern. Dafür geben Männer in allen Ländern häu�ger als Ziel an, «in den Kreis der VIPs aufzusteigen».

Die Jugend 2016 ist nicht schlechter oder besser als ir-gendeine Generation vor ihr. Der grösste Unterschied zu an-deren Jahrgängen liegt wohl darin, dass die Befragten nach der digitalen Revolution aufgewachsen sind. Ein Leben ohne Internet und Smartphone kennen sie nicht. Wie wir alle müssen sie aber noch heraus�nden, wie der optimale Um-gang mit den neuen Technologien aussieht. Die Soziologin Sherry Turkle äussert sich dazu eher kritisch (siehe nebenste-hendes Interview). Sie plädiert dafür, dass man die Handys zur Seite legt und miteinander spricht. Sie meint nicht nur unsere Kinder.

#1 «Selbstständig» liegt in

den USA, Brasilien und Singapur auf

Platz 1 oder 2 der Wunscharbeitgeber.

«Für welches Schweizer Unternehmen würden Sie spontan am liebsten arbeiten?»

1 Google2 SBB3 Novartis4 Roche5 Credit Suisse6 Apple7 Migros8 Schule9 UBS

10 Bund11 Nestlé12 Spital

«Wenn Sie an Ziele in Ihrem Leben denken: Was streben Sie an?», Antworten «strebe unbedingt an» und «strebe tendenziell an» addiert, Durchschnitt aller Länder, in Prozent

Freizeit und Beruf im Gleichgewicht halten

eigene Träume verfolgen

eigenes Haus/eigene Wohnung

den eigenen Talenten nachgehen

viele verschiedene Dinge ausprobieren und entdecken

Karriere im Beruf

Familie mit Kindern

viele Länder und Kulturen kennenlernen

0 100

>50% Diese Lebensziele streben über die Hälfte der Befragten in allen Ländern an.

81

82

79

72

72

70

65

59

US BR SG CH

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Foto

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«Zustand der Verwirrung»

Obwohl wir permanent online verbunden sind, verlieren wir die Fähigkeit, miteinander zu reden, sagt Soziologin Sherry Turkle. Sie war eine

der ersten Forscherinnen, die die Digitalkultur untersuchten. Heute sieht sie die Auswirkungen der steigenden Vernetzung kritisch.

von Helene Laube

#Interview

Frau Turkle, das Jugendbarometer zeigt, dass sich die Mehrheit der 16- bis 25-Jährigen in den USA ihrer Online-Community enger verbunden fühlt als etwa der US-Gesellschaft oder religiösen Gruppen. Wie kommt das?Das ist eine natürliche und durchaus positive Folge davon, dass man via soziale Medien Kontakt halten kann, wenn man andere Verbindungsarten verkümmern lässt. Aus meiner Sicht sollten wir soziale Medien aber in erster Linie dazu nutzen, die Begegnungen von Angesicht zu Angesicht aufzuwerten.

Warum?Manche Leute nehmen fälschlicher-weise an, dass der Austausch in sozialen Medien die gleiche emotionale und gesellschaftliche Qualität hat wie tatsächliche Begegnungen. Das birgt Risiken. Leuten, die wir nur online kennen, bringen wir nicht das gleiche Commitment und Verantwortungs-gefühl entgegen. Man kann sich einer Gruppe zugehörig fühlen, ihre Ansichten teilen und stolz sein, dass man dazugehört – und sich trotzdem nicht für die anderen Mitglieder verantwortlich fühlen.

In allen Ländern – ausser in Brasilien – sagen die Befragten, sie seien für ihre Online-Sicherheit selber verantwort-lich. Sind sie verantwortungsbewusster, als man es ihnen zutraut?Die Jugendlichen wissen zu Recht, dass sie verantwortlich sind, da sonst

Jugendliche sollen auch mal auf das Handy verzichten und etwas miteinander erleben, sagt Professorin Turkle. Im Bild: Besucher des Paléo Festivals in Nyon, im Juli 2015.

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46 CH

52 SG

69 BR

58 US

Internetnutzen

Surfen, surfen, surfen

«Nutzen Sie das Internet für private Zwecke über zwei Stunden an einem durchschnittlichen Tag?», in Prozent

Mehr als zwei Stunden privat online

jeden Tag

keiner auf sie aufpasst oder diese Verantwortung übernimmt. Das heisst aber noch lange nicht, dass die Befragten verantwortungsbewusst handeln. Wir wissen, dass sie es oft nicht tun. Autofahrer beispielsweise können sagen, dass sie beim Fahren nicht simsen sollten, sodass also nicht der Autoher-steller dafür verantwortlich ist, ihr Handy automatisch zu sperren. Das heisst aber nicht, dass die Fahrer verantwortungsbewusst handeln und beim Fahren auch tatsächlich nicht simsen.

Sie waren eine der ersten Wissenschafterinnen im Bereich computervermittelter Kommunikation und waren begeistert von der Vernetzung. In den letzten Jahren sind Sie viel kritischer geworden. Was ist passiert?Eine Entwicklung im Besonderen hat mein Denken beein�usst. Früher setzten wir uns an den Computer, wenn wir für eine gewisse Zeit online sein wollten. Jetzt haben wir Handys, die immer eingeschaltet sind und die wir immer auf uns tragen. Wir sind im Grunde genom men permanent online. Wir teilen ununterbrochen unsere Aufmerksamkeit zwischen den Menschen auf, die wir per Handy erreichen können, und den Leuten, mit welchen wir im

Auseinandersetzung mit uns selbst –, die der Grundstein für unsere Entwicklung ist und die sich während des ganzen Lebens fortsetzt.

Und diese Entwicklung wird von den mobilen Geräten gestört?Unbedingt. Wir sind so weit, dass wir das Leben als einen permanenten «Feed» verstehen, einen Fluss an Informationen, SMS, E-Mails, Chats, Fotos, Videos, Facebook-Posts, Tweets, Instagrams. Wir ertragen das Alleinsein immer weniger. Untersuchungen zeigen: Menschen halten es nicht einmal sechs Minuten alleine mit ihren Gedanken aus. Dann wird ihnen unwohl. Bei einem Experiment vor zwei Jahren wurden College-Studenten dazu angehalten, 15 Minuten lang alleine dazusitzen, ohne ihr Handy. Die Teilnehmer wurden vor Beginn des Experiments gefragt, ob sie sich jemals Stromstösse verpassen würden, um Langeweile zu unterbrechen. Auf gar keinen Fall, sagten alle, sie würden sogar Geld bezahlen, um Elektroschocks zu verhindern. Aber in dem kurzen Zeitraum alleine mit ihren Gedanken und ohne Mobiltelefon verabreichten sich 67 Prozent der männlichen und 25 Prozent der weiblichen Studenten doch Elektroschocks, anstatt kurz mit ihren Gedanken alleine zu sein.

Datenschutz

Wer ist verantwortlich? Ich selber!

gleichen Moment zusammen sind. Wir be�nden uns in einem Zustand der Aufmerksamkeitsverwirrung.

Welche Auswirkungen dieser «Auf-merksamkeitsverwirrung» bereiten Ihnen am meisten Bauchschmerzen?Wo fange ich an? Unsere Mobiltelefone unterbrechen uns ständig. Sie beein-trächtigen dadurch unsere Fähigkeit, alleine zu sein. Aber wir müssen zwischendurch alleine sein. In der Einsamkeit �nden wir uns selbst, dort bereiten wir uns darauf vor, in Gesprä-chen mit anderen Menschen wirklich wahrzunehmen, wer sie sind. Nicht nur, wie wir sie gerne hätten oder bräuchten.

Die meisten Befragten geben im Jugendbarometer an, neben der Schule oder dem Job noch zwei Stunden und mehr online zu sein pro Tag: Sie wollen nicht allein sein!Die Fähigkeit zum Alleinsein ist grundlegend für die Fähigkeit zur Empathie. Wir müssen mit uns selbst zufrieden sein, um hören zu können, was andere Leute sagen. Alleinsein ist ausserdem wichtig, um eine Grundlage für Selbstbesinnung zu scha�en. Wenn wir lernen, anderen zuzuhören, lehrt uns das, uns selbst zuzuhören. Unsere Gespräche mit anderen Menschen fördern die Selbstre�exion – also

USA Brasilien Singapur Schweiz

1Jeder

Einzelne selbst

1Anbieter

internetbasierter Services

1Jeder

Einzelne selbst

1Jeder

Einzelne selbst

2Anbieter

internetbasierter Services

2Anbieter

von Internet

2Anbieter

internetbasierter Services

2Schulen /

Ausbildungs-stätten

3 Anbieter von

Internet

3Unternehmen

3Anbieter von

Internet

3Staat / Politik

«Wie wichtig schätzen Sie die Rolle der folgenden Akteure beim Schutz des Individuums und seiner personenbezogenen Daten ein?», in Prozent

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SHERRY TURKLE, 68, ist Professorin für «Social Studies of Science and Technology» am Massachu-setts Institute of Technology (MIT). Sie hat verschiedene Bestseller veröffentlicht, darunter ihr jüngstes Buch

«Reclaiming conversation: The power of talk in a digital age». Ihre Forschung konzentriert sich auf die Beziehung von Menschen zur Technologie, insbesondere zu Computern.

Hat Sie der Ausgang des Experiments überrascht?Nicht wirklich. Man muss sich nur Menschen ansehen, die alleine in der Schlange an der Supermarktkasse stehen oder im Auto vor einer roten Ampel sitzen. Sie geraten fast in Panik und holen ein Gerät aus der Tasche. Und dort beginnt das Problem: Wenn wir uns selbst keine Beachtung schenken, fällt es uns schwer, anderen Menschen Beachtung zu schenken.

Ist das bei Jugendlichen besonders ausgeprägt, da sie mit digitalen Geräten aufgewachsen sind?Digitale Geräte wirken auf Jugendliche nicht anders als auf uns alle. Die Beachtungskrise hat zu einer Empathiekrise geführt.

Aber haben Jugendliche nicht eine andere Beziehung zu digitalen Geräten?Halbwüchsige sind möglicherweise eine spezielle Kategorie, da sie mit der Technologie aufgewachsen sind. Sie kennen keine Welt ohne diese Techno-logie. Aber alle sind abgelenkt, das Alter ist ziemlich egal: Studenten simsen während des Unterrichts, Eltern simsen beim Abendessen mit der Familie oder während sie mit den Kindern im Park sind. Die Kinder wiederum simsen einander lieber, anstatt dass sie mitein-ander reden oder in den Himmel starren und Tagträumen nachhängen. Wir wol len zwar mit anderen Menschen zusammen sein, aber gleichzeitig per Handy mit anderen Menschen und Orten verbunden sein. Mittlerweile ist die Kontrolle, wem oder was wir unsere Beachtung schenken unser höchstes Gut.

Welche grundsätzlich neuen Verhaltensweisen entstehen denn dadurch?Ein Beispiel: Selbst die Präsenz eines Smartphones verändert die Atmosphäre. Es ist bedenklich, wenn neue Unter-suchungen ergeben, dass sogar ein auf dem Tisch liegendes Handy den Gesprächssto� beein�usst. Sogar wenn es ausgeschaltet ist. Es führt dazu, dass wir uns über seichtere ¬emen unterhalten und weniger einfühlsame Beziehungen mit anderen Menschen knüpfen. Es überrascht also nicht, dass

wir in den letzten 30 Jahren bei College-Studenten einen Rückgang ihrer Empathie um 40 Prozent fest-gestellt haben. Die Forscher bringen die rückläu�ge Entwicklung mit dem Aufkommen digitaler Kommunikation in Verbindung.

Wie schaffen Geräte es, solch fundamentale Auswirkungen auf den Menschen zu haben?Unsere Smartphones geben uns drei Versprechen. Erstens, dass wir unsere Aufmerksamkeit dorthin lenken können, wo immer wir sie hinlenken wollen. Zweitens, dass wir nie allein sein müs sen. Und dass wir drittens immer gehört werden. Aber wie gesagt, wenn wir unsere Aufmerksamkeit überallhin lenken können, beachten wir einander nicht mehr. Die Fähigkeit zum Allein-

sein ist wichtig, um die Fähigkeit zur Selbst re�exion und Empathie entwickeln zu können. Wir sind aber so darauf fokussiert, gehört zu werden, dass es uns zunehmend schwerfällt, anderen zuzuhören.

Wie bringt man Kindern das Alleinsein bei?Indem man mit ihnen «alleine» ist. Früher gingen die Eltern mit dem Kind in der stillen Natur spazieren. Irgend-wann lernt das Kind, sich alleine in der Natur wohlzufühlen. Heute ist meist das Handy dabei. Kinder erfahren nicht, wie es ist, alleine mit einem Elternteil zu sein, geschweige denn mit einem stillen Elternteil, der dem Kind den Respekt für stille Re�exion vorlebt. Ich befrage so viele Kinder, die mir erzählen, dass sie kein einziges Mal mit der Mutter oder dem Vater einen Spaziergang gemacht hätten, ohne dass diese ihr Handy dabei gehabt hätten und dieses das Gespräch unterwegs unterbrach.

Wie sieht das bei Ihnen zu Hause aus? Welche Regeln gab es für Ihre Tochter? Die gleichen, die ich jedem ans Herz lege. In der Küche und im Esszimmer bleibt das Smartphone ausgeschaltet in der Tasche. Andersrum gesagt: kein Smartphone während des Essens. Oder auch nicht im Auto. Diese Orte sollte jeder für Gespräche nutzen.

Gibt es noch andere Regeln? Das Durchschnittsalter, in dem Kinder ihr erstes Handy bekommen, sinkt laufend und liegt in Amerika bei zehn Jahren.Kinder unter dreizehn Jahren sollten nachts nie das Handy in ihr Zimmer nehmen. Die Versuchung, wenn man mitten in der Nacht aufwacht, zu simsen, ist enorm. Danach schlafen Kinder nur schwer wieder ein. Der grösste Gefallen, den jeder seiner Familie tun kann? Jedem einen altmodischen Wecker schenken.

Was halten Sie von Handy-Verweigerern?Ich sage nicht, dass wir vor unseren Geräten davonrennen sollen. Ich plädiere für eine selbstkritische Beziehung dazu. Ich bin optimistisch, weil wir widerstandsfähig sind. Nur wenige bildschirmfreie Tage reichen und Kinder lernen wieder, die Gefühle anderer zu identi�zieren, also empathisch zu sein.

Aus der Technologie-Optimistin ist also nicht die -Pessimistin geworden?Ich bin nicht gegen Technologie, sondern für Gespräche. Das Gespräch und die Begegnung sind die Grundlage des menschlichen Seins. Also: Einfach öfter mal einander anschauen und ein Gespräch beginnen.

«In der Küche und im Esszimmer bleibt

das Smartphone ausgeschaltet.»

@CreditSuisse #jugendbarometer #2016

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Facebook, Twitter und Online-Kommentare machen Politik spannender und lebensnaher, meinen 64 % der Jugendlichen in Singapur. 

#jugendbarometer www.credit-suisse.com/jugendbarometer

Von geschenkten 10 000 Dollar würden Amerikanerinnen und Amerikaner 1338 weniger ins Sparkonto legen als letztes Jahr. Zugenommen haben unter anderem «für ein Haus sparen» und «in Aktien/Fonds investieren».

75 % der Brasilianerinnen und Brasilianer sorgen sich wegen der Korruption in ihrem Land. Vor vier Jahren waren es erst 50 %.

Allen Sorgen zum Trotz sehen die Jugendlichen positiv in die Zukunft. 59 % der jungen Schweizerinnen und Schweizer meinen, es kommt gut.

@CreditSuisse #jugendbarometer #2016

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blog.oerlikon.comwww.oerlikon.com

The strong adhesive nature of the gecko’s feet is known to have inspired superglue. Borrowing this feature, coatings from Oerlikon are powerfully adhesive to metal surfaces, enabling tools to withstand extremely high friction, pressure, usage and heat.

INSPIRED BY NATURE

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