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Das brasilianische Innovationssystem: Ansatzpunkte für die österreichische Internationale FTI-Politik Transnational Lecture and Workshop Series on the Internationalization of Science, Technology and Innovation 02. & 03./10/2014 Gast/Vortragender: Dr. Thomas Stehnken Moderation: Mag. a Nina Witjes Adresse: oiip, Berggasse 7, 1090 Wien Teilnehmer: 20 Zusammenfassung: Nina Witjes, Philipp Olbrich, Jörg Thiele

Das brasilianische Innovationssystem: Ansatzpunkte … · Die Akteure im brasilianischen Innovationssystem . Das wichtigste Ministerium für die Gestaltung und Umsetzung der FTI-Politik

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Das brasilianische Innovationssystem:

Ansatzpunkte für die österreichische Internationale FTI-Politik

Transnational Lecture and Workshop Series on the

Internationalization of Science, Technology and Innovation

02. & 03./10/2014

Gast/Vortragender: Dr. Thomas Stehnken

Moderation: Mag.a Nina Witjes

Adresse: oiip, Berggasse 7, 1090 Wien

Teilnehmer: 20

Zusammenfassung: Nina Witjes, Philipp Olbrich, Jörg Thiele

Das brasilianische Innovationssystem: Ansatzpunkte für die österreichische internationale FTI-Politik Österreichisches Institut für Internationale Politik - oiip

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Zusammenfassung

In seinem Vortrag stellte Dr. Thomas Stehnken die innovationspolitische Ansätze und Strategien der

brasilianischen Regierung auch im Hinblick auf die aktuelle Rezession dar. Er stellte zentrale Akteure

und Kooperationsmöglichkeiten v.a. in der angewandten Forschung vor, insbesondere in den

Bereichen Mobilität, Green Technologies, IKT & Produktion. Abschließend nannte Stehnken

Ansatzpunkte und Empfehlungen für die österreichische FTI-Politik wie die Einrichtung eines

langfristigen FTI-Attachés in Brasilien.

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Zusammenfassung des Vortrags

Das brasilianische Innovationssystem im politischen Kontext

Traditionell besteht in Brasilien ein sehr starker Föderalismus. Dies trifft auch auf die

Technologiepolitik zu. Viele Entscheidungen werden auf subnationaler Ebene getroffen, weshalb

nicht von einem zentral gesteuerten System gesprochen werden kann. In jedem Bundesstaat gibt es

einen Minister für Technologie, der entweder dem Ministerium für Forschung, Technologie und

Innovation oder dem Bildungsministerium angehört. Auf die Frage eines Teilnehmers, wie realistisch

eine Kooperation mit Forschungseinrichtungen in den verschieden Bundesstaaten sei, antworte

Stehnken, dass die Finanzierung aufgeteilt ist zwischen Ländern und Bund und die Bundestaaten

weitreichende Autonomie besitzen. Je nach Eigenschaft und Lage der Forschungseinrichtungen

gelten die nationalen Vergaberegeln.

Die brasilianische Wirtschaftsstruktur ist geprägt von einer starken Diversifizierung, starker sozialer

Ungleichheit und einem Süd-Nord-Gefälle. Dieses Gefälle bestimmt auch die Forschungs- und

Technologielandschaft Brasiliens. Die stark entwickelten Bundesstaaten Rio Grande do Sul, Sao

Paulo, Minas Gerais und Rio de Janeiro befinden sich im Süden des Landes - hier sind die

international konkurrenzfähigen Industrien und Forschungsinstitutionen angesiedelt. Der Norden

und Nordosten, insbesondere die Gebiete um den Amazonas und dessen Hinterland, sind hingegen

durch recht traditionelle Wirtschaftsstrukturen und eine relativ hohe Armut geprägt.

Historische Entwicklung des brasilianischen Innovationssystems

Relevante Forschungsinstitutionen, wie der Nationale Rat für Wissenschaftliche und Technologische

Entwicklung (Conselho Nacional de Desenvolvimento Científico e Tecnológico CNPq) 1 oder die

nationale Entwicklungsbank (Banco Nacional de Desenvolvimento Econômico e Social, BNDES)2

existieren bereits seit den frühen 1920er Jahren, die Universität von Sao Paolo ist noch wesentlich

älter. Historisch betrachtet existierten diese Institutionen lange Zeit in Isolation voneinander. Eine

systematische Technologiepolitik entstand erst unter der brasilianischen Militärdiktatur zwischen

1964 und 1985. Sie musste zu Beginn weniger Ressourcen für Aufgaben der Gefahrenabwehr oder

der Abwendung einer außenpolitischen Bedrohung aufwenden und konnte so einen

Entwicklungsanspruch vor allem in der Wirtschaft verfolgen. Den Grundsätzen einer

importsubstituierenden Industrialisierung folgend, wurden jene Bereiche gefördert, in denen die

1 http://www.cnpq.br

2 http://www.bndes.gov.br

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Importabhängigkeit Brasiliens am stärksten war. Dazu zählten vor allem die verarbeitende Industrie,

der Maschinenbau und die Konsumgüterindustrie.

Im Bereich der Technologiepolitik verfolgte die Militärdiktatur eine lineare Strategie. Massive

Investitionen in den Aus- und Aufbau von Forschungsinstitutionen sollten zur Produktion

kommerzialisierbarer Produkte führen. In dieser Phase wurden Industriekomplexe errichtet, die

oftmals wenig zusammenpassten, sodass die Interaktionen zwischen Forschung und Industrie eher

rudimentär blieben. Brasilianischen Unternehmen hätten sich eher daran gewöhnt, dass das

notwendige Wissen für Innovationen von staatlichen Institutionen zur Verfügung gestellt wird.

Eigenständige Versuche, neue Produkte am Markt zu etablieren seien eher selten. Aus dem Publikum

kam die Frage ob, es aktuelle Trends zur Umkehr dieser Situation in den F&E Strategien der

Unternehmen gebe. Laut Stehnken ist dies nicht der Fall: Die brasilianischen Unternehmen sind bei

Produkt- oder Prozessinnovationen weiterhin sehr zurückhaltend. Durch die FTI-Politik der

Militärdiktatur wurden zwar einzelne Industrien substantiell ausgebaut, jedoch blieb die

internationale Wettbewerbsfähigkeit brasilianischer Unternehmen ebenso gering wie die Interaktion

zwischen den Teilbereichen des Innovationssystems.

Die Akteure im brasilianischen Innovationssystem

Das wichtigste Ministerium für die Gestaltung und Umsetzung der FTI-Politik ist das Ministerium für

Wissenschaft, Technologie und Innovation (Ministério da Ciência, Tecnologia e Inovação; MCTI)3,

lange Zeit ohne "I" am Ende, da das Innovationssystem in Brasilien eher forschungs- und nicht

innovationsgetrieben war. Das MCTI ist verantwortlich für die Ausarbeitung von Strategien zur

Umsetzung der FTI-Politik. Im Förderbereich gibt es zwei Agenturen, die von großem Interesse sind:

Die brasilianische Innovationsagentur (Financiadora de Estudos e Projetos, FINEP)4 und die bereits

angesprochene CNPq. Diese beiden decken die gesamte staatliche Förderung ab. FINEP ist für die

Förderung privater Unternehmen verantwortlich; CNPq für die Forschung an öffentlichen

Forschungseinrichtungen wie Universitäten.

3 http://www.mcti.gov.br

4 http://www.finep.gov.br

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Das Bildungsministerium (Ministério da Educação, MEC)5 ist für den gesamten Hochschulsektor

verantwortlich. Dieser ist einer der größten und wichtigsten Adressaten staatlicher

Forschungsförderung . Hochschulprojekte und Förderprogramme werden vom MEC und der Stiftung

zur Koordinierung der Fortbildung von Hochschul- und Forschungspersonal (Coordenação de

Aperfeiçoamento de Pessoal de Nível Superior, CAPES)6 abgewickelt.

Das Ministerium für Entwicklung, Industrie und Außenhandel (Ministério do Desenvolvimento,

Indústria e Comércio Exterior, MDIC)7 wird von Stehnken als eine der interessantesten Einrichtungen

in Brasilien beschrieben. Das MDIC ist mit der Abwicklung aller Projekte und Maßnahmen vertraut,

die dazu beitragen sollen, Brasiliens Position in internationalen Wertschöpfungsketten zu steigern.

Dieselben Ministerien und Agenturen finden sich aufgrund des starken Föderalismus auch auf

bundesstaatlicher Ebene. Diese sind mit unterschiedlichen Schwerpunkten ausgestattet und werden

von Stiftungen zur Forschungsförderung (FAP)8 ergänzt.

Stehnken verweist darauf, dass das größte Problem der brasilianischen FTI-Politik die mangelnde

Koordinierung ist. Dies macht es auch für internationale Akteure schwierig, geeignete

Kooperationspartner zu finden. Mit wem letztlich kooperiert wird hängt häufig davon ab, in welchem

Bereich und mit welchem Ziel die Kooperation angelegt ist.

Das brasilianischen Innovationssystem unter Lula da Silva und Dilma Rousseff

Sowohl die FTI-Politik von Lula da Silva (2003-2011) als auch von Dilma Rousseff (seit 2011) legen den

Fokus auf den Binnenmarkt. Die meisten Mittel werden in diesem Sektor mit dem Ziel verteilt,

heimische Akteure für den internationalen Wettbewerb zu stärken. Das Ziel der FTI-Politik bleibt die

Steigerung des Mehrwerts bei Exporten - Brasilien möchte langfristig höherwertig verarbeitete

Produkte exportieren. Darüber hinaus haben Lula und Rousseff versucht, die lineare

Technologiepolitik aufzubrechen und sie systemischer und dynamischer zu gestalten.

Beide führten zunächst das relativ traditionelle System fort, in dem weniger Unternehmen als

öffentliche Forschungseinrichtungen unterstützt wurden. Nichtsdestotrotz ist ab 2005 ein Prozess zu

erkennen, der Innovation stärker in den Blick nimmt. Es erscheint häufiger in öffentlichen

Strategiepapieren und es kam zu einer Ausweitung staatlicher Programme für Unternehmen im Sinne

von steuerlichen Anreizen.

5 http://www.mec.gov.br

6 http://www.capes.gov.br

7 http://www.desenvolvimento.gov.br

8 http://confap.org.br

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Das Herzstück der FTI-Politik unter Lula war der "Nationale Aktionsplan", der einen Umfang von ca.

16 Milliarden Euro zwischen 2007 und 2010 hatte. Stehnken weist darauf hin, dass diese Summe im

internationalen und europäischen Vergleich zwar klein erscheint, es war jedoch das bisher größte

Fördervolumen Brasiliens war und – anders als bei früheren Förderprogrammen – nahezu gänzlich

ausgeschöpft wurde. Ziel des Aktionsplanes war die Expansion, Modernisierung und Konsolidierung

des nationalen Innovationssystems mittels einer Systematisierung und besseren Koordinierung sowie

einer Erweiterung um zusätzliche FTI-Bereiche. Unternehmerische F&E wurden durch die FINEP

abgewickelt und beinhalteten Steueranreize, Abschreibungsmöglichkeiten für Forschungs- und

Entwicklungsprogramme und eine vereinfachte Kreditvergabe. Dies betraf vor allem die

strategischen Sektoren wie Energie, Raumfahrt, und Soziales.

Die aktuelle FTI-Politik unter Rousseff konzentriert sich auf strategische Zukunftssektoren (IKT,

Arzneimittel, Öl und Gas, Verteidigungsindustrie, Luft- und Raumfahrt und Nukleartechnologie),

Grenzforschung (Biotechnologie und Nanotechnologie), Green Growth (Biodiversität, Anpassung an

den Klimawandel, Ozeane und Küstengebiete) und FTI für soziale Entwicklung. Green Growth ist ein

neues Thema, welches unter Lula noch nicht im Fokus stand. Vor allem das brasilianische Interesse

an internationaler Zusammenarbeit im Bereich Ozeane und Küstengebiet wurde von Stehnken

hervorgehoben. Im Bereich FTI für soziale Entwicklung konzentriert man sich weitgehend darauf,

Technologien für die Armutsbekämpfung nutzbar zu machen.

Einschätzungen zum brasilianischen Innovationssystem

Viele Einschätzungen über Brasilien, so Stehnken, bedürfen eines kritischen Blickes. Brasilien

investiert immer noch vergleichsweise wenig in Forschung und Entwicklung - optimistische

Schätzungen liegen zwischen 1,1% und 1,3% des BIP. Damit ist Brasilien zwar ein „Big Player“ in

Lateinamerika, im internationalen Vergleich sind die F&E Ausgaben auf einem niedrigen Niveau.

Anders als China und weitere Länder im asiatischen Raum, ist Brasilien in Bezug auf das

Wirtschaftswachstum kein dynamisches Land. Das Hauptexportgut Brasiliens sind Mineralien und

Erze, welche mit Petrobas größtenteils von einer einzigen Firma produziert werden. Ähnliches gilt für

Transportmaterialien; vor allem Flugzeuge werden von einer Firma produziert – EmbraAir. Danach

folgen Soja, Zucker, Fleisch und Kaffee, die von Großgrundbesitzern im brasilianischen Hinterland

hergestellt werden.

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Ansatzpunkte für die österreichische FTI-Politik & Empfehlungen

Der Vortragende ist der Ansicht, dass die österreichische „Beyond Europe“ Strategie9 für Brasilien

sinnvolle Ansatzpunkte enthält. Vor allem eine gezielte Nutzung von EU-Maßnahmen,

Austauschprogrammen wie „Science Beyond Borders“ (gemeinsame Aktion von FINEP und CNPq)

und die Einsetzung eines FTI-Attachés sind vielversprechende Zielsetzungen. Ein Teilnehmer fragte

danach, in welchem Zeitumfang ein FTI- Attaché eingesetzt werden sollte und ob auch eine

kurzfristige Entsendung sinnvoll wäre. Aus Stehnkens persönlicher Erfahrung macht der Einsatz eines

FTI-Attachés nur auf längerfristiger Basis Sinn, da es sehr zeitintensiv sein kann,

Kooperationsvereinbarung in Brasilien effektiv umzusetzen.

Bezüglich der Grand Challenges im Bereich Energie, Urban Technologies, Luft- und Raumfahrt und

Umwelt ist Brasilien ein aussichtsreicher Partner für Österreich. Zentral ist hier vor allem eine

fundierte Einschätzung des Kooperationspartners bezüglich Thematik und Zielsetzung. Hier könnte

ein FTI-Attaché wertvolle Vorarbeit leisten. Als wichtige Ansprechpartner im brasilianischen

Innovationssystem hob Stehnken das Institut für Angewandte Ökonomie (Instituto de Pesquisa

Econômica Aplicada IPEA)10 , die brasilianische Agentur für landwirtschaftliche Forschung (Empresa

Brasileira de Pesquisa Agropecuária, EMBRAPA)11 und das Forschungslabor von Petrobras12 hervor.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Brasilien noch nicht die ökonomischen und

forschungspolitischen Voraussetzungen erfüllt, um mit den global führenden FTI-Ländern zu

konkurrieren. Das Land befindet sich jedoch auf einem guten Weg. Erfolge sind insbesondere im

Bereich des Binnenmarkts sowie bei sozialen Entwicklungen zu verzeichnen, allerdings fällt das

brasilianische FTI-System gegenüber der Konkurrenz aus Asien eher weiter zurück. Der Impact und

die Ergebnisse internationaler FTI-Kooperation mit Brasilien sind stark abhängig von langfristigen

persönlichen Beziehungen, was „einen langen Atem“ im Aufbau von erfolgreichen Kooperationen

voraussetzt.

9 Beyond Europe. Die Internationalisierung Österreichs in Forschung, Technologie und Innovation über Europa

hinaus. Online: https://www.zsi.at/object/news/2786/attach/FTI_AG7a_Brosch__re_Druck.pdf 10

http://www.ipea.gov.br/portal/ 11

https://www.embrapa.br 12

http://www.petrobras.com.br/en/our-activities/technology-innovation/

Das brasilianische Innovationssystem: Ansatzpunkte für die österreichische internationale FTI-Politik Österreichisches Institut für Internationale Politik - oiip

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Dr. Thomas Stehnken ist Politikwissenschaftler und

wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der deutschen

Akademie der Technikwissenschaften (acatech) in

Brüssel. Zuvor war er Projektmanager/Forscher am

Fraunhofer Institut. Er hat u.a. die Weltbank, die

EU und die deutsche Entwicklungszusammenarbeit

zu Innovationspolitischen Fragen bezüglich

Lateinamerikas und insbesondere zu Brasilien

beraten. Kontakt: [email protected]

DAS BRASILIANISCHE INNOVATIONSSYSTEM - ANSATZPUNKTE FÜR DIE ÖSTERREICHISCHE INTERNATIONALE FTI-POLITIK

1

Gliederung 2

¨  Genese des brasilianischen Innovationssystems ¨  Ansätze und Strategien der Regierungen Lula da

Silva und Dilma Rousseff ¨  Dynamik und Strukturprobleme ¨  Ansatzpunkte für die österreichische FTI-Politik

gemäß der „Beyond Europe“-Strategie ¨  Akteure und Kooperationsmöglichkeiten in der

angewandten Forschung ¨  Fazit

-  Fünftgrößte Staat der Welt, 190 Mio. Einw.

-  Relativ junge Demokratie (Militärdiktatur 64-85)

-  Traditionell starker Föderalismus

-  Diversifizierte Wirtschaftsstruktur

-  soziale Ungleichheit

-  Starkes Süd-Nord-Gefälle

Genese des brasilianischen Innovationssystems

4

¨  Lange Geschichte einzelner wichtiger forschungs- relevanter Organisationen (USP, CNPq, BNDES, etc.)

¨  Erste nennenswerten technologiepolitischen Ansätze fanden unter der Militärdiktatur statt (1964 – 1985)

¨  Dirigistisches Modell der Wirtschaftsentwicklung, importsubstituierende Industrialisierung

¨  Lineare Technologiepolitik mit dem Ziel, technologische Eigenständigkeit zu erlangen

è Substanzieller Aufbau von Industrien, aber geringe internationale Wettbewerbsfähigkeit und keine systemische FTI-Politik

Genese des brasilianischen Innovationssystems

5

¨  Schuldenkrise 1982 als Ende des Models, „verlorene Dekade“

¨  Konsequenz: graduelle Strukturanpassungsmaßnahmen ¨  Die staatliche Förderung von F&E kam völlig zum

Erliegen ¨  Privatisierungen und Firmenschließungen führten zu

einem erheblichen Wissensabfluss ¨  Ab 2000 ergaben sich neue Handlungsspielräume ¨  Ziel der FTI- und Außenhandelspolitik: höhere

Eingliederung in internationale Wertschöpfungsketten

Genese des brasilianischen Innovationssystems

6

¨  Bedeutsame Ministerien für die Gestaltung und Umsetzung der FT&I-Politik ¤ Ministerium für Wissenschaft, Technologie und Innovation

(Ministério da Ciência, Tecnologia e Inovação MCTI) n  Finanzierungsagentur für Studien und Projekte (Financiadora de

Estudos e Projetos, FINEP) n  Nationale Rat für wissenschaftliche und technologische Entwicklung

(Conselho Nacional de Desenvolvimento Científico e Tecnológico, CNPq)

¤  Bildungsministerium (Ministério da Educação, MEC) ¤ Ministerium für Entwicklung, Industrie und Außenhandel

(Ministério do Desenvolvimento, Indústria e Comércio Exterior, MDIC)

Genese des brasilianischen Innovationssystems

7

•  Vielzahl öffentlicher Forschungsinstitutionen (staatl. Bereitstellung von Wissen)

•  Wenig Koordinierung zwischen Akteuren

Quelle: Internationales Büro des BMBF

Zentrale Akteure im Mehrebenensystem

Strategien der Regierungen Lula da Silva und Dilma Rousseff

8

¨  Lula bei seinem Amtsantritt: „There will be no magic in the economy“

¨  „Use Globalization as an instrument for development“

¨  Fortführung vieler Politiken unter Dilma Rousseff, Fokus auf den Binnenmarkt

¨  Ziel der FTI-Politik bleibt: Steigerung des Mehrwerts bei Exporten, höherwertige verarbeitete Produkte, Eintritt in dynamische Exportsektoren

¨  Zarte Versuche, lineare Ansätze aufzubrechen

Strategien der Regierungen Lula da Silva und Dilma Rousseff

9

¨  Die wichtigsten Adressaten waren weniger die Unternehmen, sondern eher öffentliche Forschungseinrichtungen und vor allem die Universitäten.

¨  Ab Programme des MCT (Ministério da Ciência e Tecnologia) einen etwas systemischeren Charakter. “Innovation” ist eine zentraler Begriff geworden.

¨  Herzstück der FTI-Politik unter Lula war der „Nationale Aktionsplan für Wissenschaft, Technologie und Innovation für nationale Entwicklung“ (PACTI) (2007-10: ca. 16 Mrd. €, 2000-10: 500% Steigerung der F&E Ausgaben

Strategien der Regierungen Lula da Silva und Dilma Rousseff

10

¨  Leitlinien der FTI-Politik ¤  Expansion, Modernisierung und Konsolidierung des NIS ¤ Gewährleistung besserer Rahmenbedingungen für

Unternehmen , Förderung unternehmerischer F&E, Steueranreize

¤  Förderung von FT&I in strategischen Sektoren z.B. Energie, Raumfahrt, Amazonas

¤ Gewährleistung eines umfassenden Zugangs zu wissenschaftlichen Institutionen und verstärke Diffusion von Technologien, um die Lebensbedingungen der Bevölkerung zu verbessern (FT&I für soziale Entwicklung)

Strategien der Regierungen Lula da Silva und Dilma Rousseff

Strategische Zukunftssektoren ¨  Informations- und

Kommunikationstechnologien ¨  Arzneimittel und

Gesundheitsindustrie ¨  Öl und Gas ¨  Verteidigungsindustrie ¨  Luft- und Raumfahrt ¨  Nukleartechnologien Grenzforschung ¨  Biotechnologie ¨  Nanotechnologie

Stärkung von Green Growth ¨  Biodiversität ¨  Anpassung an den Klimawandel ¨  Ozeane und Küstengebiete FTI für die soziale Entwicklung ¨  Verbreiterung der Wissensbasis ¨  Verbesserung der

wissenschaftlichen Ausbildung ¨  Inklusion i ¨  Technologien für nachhaltige

Städte

11

Thematische Schwerpunkte der Estratégia Nacional de Ciência, Tecnologia e Inovação (ENCTI) 2012 – 2015

Dynamik und bestehende Strukturprobleme

12

¨  Geringe Ausgaben für F&E (positive Schätzung: 1,1 % vom BIP)

¨  Die Innovationsneigung der Unternehmen ist nur schwach ausgeprägt

¨  Transfer von Forschungsergebnissen von Universitäten zu Unternehmen hochgradig problematisch (geringe Nachfrage, unpassendes Angebot)

¨  Innovationssystem ist eher als virtuell-normatives ex-ante Konstrukt zu sehen: geringe Interaktion, Import von Institutionen, geringe Legitimität von F&E)

Dynamik und bestehende Strukturprobleme

13

100

150

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100,00

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300,00

2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012

BRAZIL

Mexico

Chile

China

India

South Africa

Indonesia

Russian Federation

OECD

Quelle: OECD Economic Surveys: Brazil 2013

Wirtschaftswachstum im internationalen Vergleich

Dynamik und bestehende Strukturprobleme

14

Land 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011

South Africa - 0,73 - 0,79 0,85 0,90 0,93 0,92 0,93 0,87 - -

Germany 2,47 2,47 2,50 2,54 2,50 2,51 2,54 2,53 2,69 2,82 2,80 2,88

Argentina 0,44 0,42 0,39 0,41 0,44 0,46 0,50 0,51 0,52 0,60 0,62 0,65

Brazil 1,02 1,04 0,98 0,96 0,90 0,97 1,01 1,10 1,11 1,17 1,16 1,21

China 0,90 0,95 1,07 1,13 1,23 1,32 1,39 1,40 1,47 1,70 1,76 1,84

United States 2,71 2,72 2,62 2,61 2,55 2,59 2,65 2,72 2,86 2,91 2,83 2,77

France 2,15 2,20 2,24 2,18 2,16 2,11 2,11 2,08 2,12 2,27 2,24 2,24

Japan 3,00 3,07 3,12 3,14 3,13 3,31 3,41 3,46 3,47 3,36 3,25 3,39

Mexico 0,34 0,36 0,40 0,40 0,40 0,41 0,38 0,37 0,41 0,44 0,46 0,43

Russia 1,05 1,18 1,25 1,29 1,15 1,07 1,07 1,12 1,04 1,25 1,13 1,09

F&E Ausgaben, in %/ BIP

Quelle: www.mcti.gov.br

Dynamik und bestehende Strukturprobleme

15

Produkt Wert (in Mio. US$) ∆ % 2011/2010 % Anteil an

Gesamtexporten

Mineralien und Erze (Eisen) 44,217 43.4 17.3 Öl und Antriebsstoffe (Petrobras) 31,008 35.5 12.1 Transportmaterial (Embraer) 25,120 15.5 9.8 Soja und verw. Produkte (Großgrundb.) 24,154 41.1 9.4 Metallverarbeitung 17,387 34.3 6.8 Zucker & Ethanol (Großgrundb.) 16,432 19.3 6.4 Chemikalien 16,234 20.5 6.3 Fleisch (Großgrundb.) 15,357 15.5 6.0 Maschinen & Ausrüstung 10,457 27.7 4.1 Kaffee (Großgrundb.) 8,700 51.6 3.4 Papier & Pulp 7,189 6.2 2.8 Elektronik 4,811 - 0.1 1.9

Wesentliche Exportgüter Brasiliens 2011, in Mio. $

Dynamik und bestehende Strukturprobleme

16

¨  Mehrzahl der KMU verfügen nur über eine eingeschränkte Wettbewerbsfähigkeit, Exportgewinne erzielen meist nur die Großunternehmen

¨  Aktive Technologiepolitik unter Lula führte zu einem massiven Anstieg der öffentlichen Ausgaben für F&E à Wirkungen noch offen

¨  Massive staatliche Infrastrukturprogramme (PAC 1, PAC 2) à Wirkungen auf Innovationsfähigkeit?

¨  Neu für das Entwicklungsmodell des „Neo-Desenvolvimentismo“ ist dessen soziale Orientierung

Ansatzpunkte für die österreichische FTI-Politik

17

¨  Beyond Europe Strategie für Brasilien ¤ Gezielte Nutzung von EU-Programmen ¤  Innovationsschutzprogramme für Unternehmen ¤ Adressierung der GC in den Bereichen Energie, Urban

Technologies, Umwelt ¤ MoUs in Bereichen der Infrastrukturtechnologien (Luft- und

Raumfahrt, Umwelttechnologien) ¤ Ausbau von Austauschprogrammen („Science without

borders“) ¤  Entsendung eines FTI-Attachees

Ansatzpunkte für die österreichische FTI-Politik

18

¨  Mobilität (CAPES, Ciencias sem fronteiras) ¨  Gemeinsame Ausschreibungen (FINEP und CNPq) ¨  Forschungskooperationen: staatliche Hochschulen und

nationale Forschungszentren ¨  Konzentration auf exzellente Institutionen

à Bedarfsgerechte Portfolioanalyse der in Brasilien vorhandenen Kompetenzen

Kooperationsmöglichkeiten in der angewandten Forschung

19

¨  Strategische brasilianischen Themen entsprechen der der ENCTI 2011-15

¨  Vorschlag für potenzielle Partner im Bereich der angewandten Forschung: ¤ Konzentration auf nationale und bundesstaatliche

Hochschulen ¤ Große nationale und bundesstaatliche Forschungs-

einrichtungen

Kooperationsmöglichkeiten in der angewandten Forschung

20

¨  MCTI: Raumfahrt (AEB und INPE), Technologie- entwicklung allgemein (INT)

¨  Planungsministerium: Institut für Angewandte Ökonomie (IPEA)

¨  Ministerium für Bergbau und Energie: Technologiezentrum CEPEL

¨  Landwirtschaftsministerium: Brasilianische Agentur für Landwirtschaftliche Forschung - EMBRAPA

¨  Forschungslabor von Petrobras

Kooperationsmöglichkeiten in der angewandten Forschung

21

¨  In São Paulo: IPT (Institut für Technologieforschung), anwendungsorientierte Auftragsforschung

¨  In Rio Grande do Sul: CIENTEC (Wissenschaft- und Technologiestiftung des Bundesstaates)

¨  Hochschulen: Universität São Paulo (USP), UNICAMP (Campinas), Universität des Bundesstaates São Paulo (UNESP), nationale Universitäten in Rio de Janeiro (UFRJ), Belo Horizonte (UFMG), Porto Alegre (UFRGS) und Recife (UFPE)

Fazit 22

¨  Dem Anspruch, in der „ersten Liga“ zu spielen, wird Brasilien noch nicht gerecht. Gerade gegenüber den Konkurrenten aus Asien hat man Boden verloren.

¨  Geringe Innovationsneigung der Unternehmen, Vertrauen auf statische Vorteile

¨  Politischer Wille als größte Herausforderung, Innovationspolitik ist nicht die höchste Priorität

¨  Outcomes und impacts von FTI-Kooperationen mit Brasilien sind oft abhängig von langfristigen persönlichen Beziehungen

¨  Man braucht einen langen Atem!

23

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!

Kontakt:

Dr. Thomas Stehnken

acatech – Nationale Akademie für Technikwissenschaften

[email protected]

Für weitere Informationen zu Brasilien siehe:

de la Fontaine/Stehnken (2012), Das politische System Brasiliens,

VS Verlag, Wiesbaden.