Upload
volodeatis
View
219
Download
0
Embed Size (px)
DESCRIPTION
Das Gedächtnis Der Kulturwissenschaften Und Die Klassische Tradition
Citation preview
7/21/2019 Das Gedächtnis Der Kulturwissenschaften Und Die Klassische Tradition
http://slidepdf.com/reader/full/das-gedaechtnis-der-kulturwissenschaften-und-die-klassische-tradition 1/30
Springer is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to International Journal of the Classical
Tradition.
http://www.jstor.org
Das Gedächtnis der Kulturwissenschaften und die Klassische Tradition: Erinnern und Vergessenim Licht interdisziplinärer ForschungAuthor(s): Dietrich Harth
Source: International Journal of the Classical Tradition, Vol. 2, No. 3 (Winter, 1996), pp. 414-442
Published by: SpringerStable URL: http://www.jstor.org/stable/30222224Accessed: 12-11-2015 21:38 UTC
Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at http://www.jstor.org/page/ info/about/policies/terms.jsp
JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content
in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship.For more information about JSTOR, please contact [email protected].
This content downloaded from 83.137.211.198 on Thu, 12 Nov 2015 21:38:12 UTCAll use subject to JSTOR Terms and Conditions
7/21/2019 Das Gedächtnis Der Kulturwissenschaften Und Die Klassische Tradition
http://slidepdf.com/reader/full/das-gedaechtnis-der-kulturwissenschaften-und-die-klassische-tradition 2/30
RESEARCH
REPORT
a s Gedichtnis d e r
Kulturwis
senschaften
u n d i e Klassische
Tradition:
rinnern
u n d
Vergessen
im
i c h t
interdisziplin rer
Forschung
DIETRICH
HARTH
Memory
and
forgetting
are
key
subjects
of
current historical and
sociological
research.
Their
meaning
embraces
passive
as well as active forms
of
collective
recollection
and
oblivion,
activities
of retentionas
well
as of
dynamic shifting
n
the broad field of
symbol-
ic
representation.
Applied
to
Rezeptionsgeschichte
nd
Wirkungsgeschichte
n
the
perspective
of the
Classical
Tradition,
hose
key
terms
signify
the
complex
interplay
between
change
and
continuity.
The materialsdiscussed under
this
assumption
mainly
range
from
theo-
ries and
practices
of
memory
n
Antiquity
and
the
Middle
Ages
to Renaissance
systems
of
architecture
and
art,
from the
early
emergence
of
advanced
civilizations
to a
modern
conceptualized
history
of cultural
change.
The
connecting
element is the
theoretically
defined concept of "culturalmemory"not only comprisingtextualityand literarytech-
niques
of
memory
but also
image
production
and ritual activities n non-literate ocieties.
At the end the
question
will
be
asked,
whether there are
any
alternative
ways
of culture-
investigation ying
hidden
within
cultural
memory
tself.
...
nam et omnis
disciplina
memoriaconstat.
Quintilian
ie
Altertumsforschung
der letzten
Jahre
wendet sich
mit zunehmender Intensitait
den
Perspektiven
und Interessen
zu,
die der
Rezeption,
ja
'Konstruktion' der
antiken Literatur
und Kultur
zugrunde
liegen.1
Die
folgende
Studie
geht
anhand eini-
Vgl. Vgl.z.B.folgendeSammelbinde:
R.
Herzog,
R. Koselleck
(Hg.):Epochenschwelle
nd
Ephochen-
bewtuftsein,
Miinchen
1987
(hier
nsbes. die
Beitrage
von
M.
Fuhrmann,
R.
Herzog,
C.
Meier),
W.
Vofkamp(Hg.):
Normativitait
nd
Historizitiit
uropdiischer
lassiken,
tuttgart/Weimar
1993;
H. Flashar
Hg.):Altertumswissenschaft
n den
20er
Jahren.
eue
Fragen
nd
Impulse,
Stuttgart
1995.
Dietrich
Harth,
Universitit
Heidelberg,
Germanistisches
eminar,
Hauptstrage
207-209,
D-69117
Heidelberg, Germany.
International
ournal
f
the
Classical
Tradition,
ol.
2,
No. 3
Winter
996,
pp.
414-442
This content downloaded from 83.137.211.198 on Thu, 12 Nov 2015 21:38:12 UTCAll use subject to JSTOR Terms and Conditions
7/21/2019 Das Gedächtnis Der Kulturwissenschaften Und Die Klassische Tradition
http://slidepdf.com/reader/full/das-gedaechtnis-der-kulturwissenschaften-und-die-klassische-tradition 3/30
Harth 415
ger ausgewahlter
Neuerscheinungen
den theoretischenund
methodologischen
Voraus-
setzungen
nach,
von denen
diese
Forschungsrichtung
ich
leiten
1i13t.
ie
versteht
sich
nicht
ausschlietlich
als
Forschungsbericht,
ondern
versucht,
Gewinn und
Verlust ab-
zuwagen und Alternativenwenigstens anzudeuten. Die meisten der
ausgewihlten
Arbeiten
beziehen
sich
auf antike
Quellen
und deren
kontextabhiingigen
Funktions-
wandel,
wenige
auf die Praktiken
kollektiven
Erinnerns
n
auf3ereuropiischen
Kul-
turen. Diese
zuletztgenannten
Studien bieten
Gelegenheit,
auf
mogliche
Grenziiber-
schreitungen
zwischen
Kulturgeschichte
nd
Kulturanthropologie
ufmerksam
zu ma-
chen.
>The
ast
is
a
foreign countryo
Wie
zahlreiche
andere
begrifflicheMiinzen
im
okzidentalen
Gedankenkommerz
zeigen
"Erinnerung"
und
"Gedachtnis"
-
reminiscentia t memoria
unterm
Ver-
groi8erungsglas
der
historischen
Semasiologie Spuren
altester
Pragung.
Es
ist
nicht
uiberraschend, a1 friihschon das Gedachtnisals eine Erfindung inventio)des anthro-
pologischen
Diskurses
und
als
ein
von der Natur dem
tierischen
Organismuseinge-
pflanztes
Orientierungsvermogen
erstanden worden ist. Der
Begriff
-
nicht
nur der
deutschsprachige
-
evoziert
beides: das
Denken
(Subjekt)
und das Gedachte
(Objekt).
"Schon unsere
Sprache
gibt
dem
Gediichtnis",
chrieb
Hegel,
"die
hohe
Stellung
der
unmittelbaren
Verwandtschaft
mit
dem Gedanken."2
Aristoteles
nannte
"Gedichtnis"
mn"me)
in
elementares,
aturwuichsiges
Merkver-
mogen,
"Erinnerung"
andmnesis)
ine allein
dem menschlichen
Bewuitsein
eigene,
den
Zeitsinn
einschlieigende
ognitiveReproduktions-
nd Retentionskraft.
eide durch
gemeinsame
Grenzen vereinte
Konzeptionen,
fiber
deren intrikates
Verhiltnis
noch
heute
-
in
Psycho-
und Neuro-Wissenschaftenunter
empirischen
Vorzeichen
-
geriit-
selt
wird,3
unterscheidensich indessen von einer
ilteren,
n
mythologischen,
poeti-
schen,
hermetischen
Symbol-
und
Bildkomplexen
aufbewahrten
Uberlieferung.
Die
in
diesem KontextauftretendenZeichenund Bilder zielen zum einen auf das
Vermogen
der
Anamnese,
as
gleichsam
archiologische
Ausgraben
atenten
Wissens,
zum
andern
-
unter
dem Namen
Mnemosyne
auf
ein
produktives,
on der
Einbildungskraft
imagi-
natio)
unterstiitztes
Vermogen,
friiher
Erlebtes m Licht
spaterer
Erfahrungen
um-
bzw.
neuzugestalten.
Mnemosyne
st nicht nur die Mutterder
Historiographie
Klio),
sondem
aller
symbol-,
bild- und
zeichentriichtigen
Kiinste.
Erst das
Zusammenspiel
von
Ana-
mnese
und
Mnemosyne
legt
es
nahe,
im
absichtsvollenAkt der
re-cordatio
inen
Akt
der
Bedeutungsbildung
u
sehen,
der sich
bewutt
auf
gegebenes
Wissen
und
kulturelle
Artefakte
zuriickbeugt.
Das
beriihrt
die formalen
Bedingungen
kultureller
Prozesse,
die ich unter
dem
Begriff
der
Rekursivitlit
usammenfassen mochte:
Jedes
kulturelle
System
bildet
im Verlauf seiner
Entstehung
ein Inventar
standardisierter,
materiell
verfiigbarer
Elemente und Normen
aus,
das es
erlaubt,
eine schierunendliche
Menge
variabler,gleichwohl einem relativ einheitlichen KulturstilentsprechenderMuster zu
entwickeln.
2.
G.
W.
F.
Hegel:
Enzyklopdidie
er
philosophischen
issenschaften,
464.
Zum
Funktions-
nd
Bedeutungswandel
er
thematischen
Konzepte gl.
die von
mir
hrsg.
Anthologie
Die
Erfin-
dung
des
GediichtnissesFrankfurt/M.
991)
nd
meinenArtikel
"Erinnerung
Gedaichtnis",
in:
Handbuchistorische
Anthropologie,g.v.
C.
Wulf
erscheint
996).
3.
I.
Rosenfield: he nvention
f
Memory.
New
View
f
the
Brain,
ew
York 988.
This content downloaded from 83.137.211.198 on Thu, 12 Nov 2015 21:38:12 UTCAll use subject to JSTOR Terms and Conditions
7/21/2019 Das Gedächtnis Der Kulturwissenschaften Und Die Klassische Tradition
http://slidepdf.com/reader/full/das-gedaechtnis-der-kulturwissenschaften-und-die-klassische-tradition 4/30
7/21/2019 Das Gedächtnis Der Kulturwissenschaften Und Die Klassische Tradition
http://slidepdf.com/reader/full/das-gedaechtnis-der-kulturwissenschaften-und-die-klassische-tradition 5/30
Harth
417
fiir
Um-Schreibungen
offen steht.6 Es ist
trivial,
aber die
unablaissig
ortschreitende
Arbeitsteilung
und
Spezialisierung
n
den modemen
kulturwissenschaftlichenDiszi-
plinen
hat die Kontexte
der
Erinnerungs-
und
Gedaichtnisbegriffe
ervielfacht. Zwar
erschwertdiese Entwicklungdie Ubersicht, ie er6ffnetaberdie Chance,die historische
Erinnerungsarbeit
als
ein
Operationsfeld
semantischer
Konstruktionen
ausfiihrlicher
als bisher
theoretisch
zu
explizieren.
Die Dialektik
von
Erinnern
und
Vergessen
mufi
der
bewahrenden und
interpre-
tierenden,
sprich:
der
historisch-philologischen
Gedichtnispflege
von
ihren
frdihesten
Anfaingen
an
vertraut
gewesen
sein. Denn
schon
die
erste,
im
Auftrag
eines
Herr-
schers
gegriindete
Bibliothek
war
nichts anderes als
ein
mnemotechnischer
Apparat
der
Bewahrung,
an den
je
verschiedene
Kanonstiftungen
ankniipfen
konnten.
Daran
hat
die
Verwissenschaftlichung
zunaichst
nur
wenig
geandert.
Denn
die
Auswahl,
Verwaltung
und
Auslegung
des Traditionswissensund die
im
19.
Jahrhundert
vor-
angetriebene
Professionalisierung
der
Erinnerungsarbeit
tanden im
Dienst
nationaler
Identititen.7
Die dort
geuibte
Kanonbildung
hat
nicht selten eine
puristische, ja
exklu-
siv-feindseligePolitikverfolgtund in die Archivedes Vergessensverbannt,was nicht
zum
normativen
Richtmat
der
Modemisierung passen
wollte.
Doch wie so
oft
in
der
Geschichte
hat auch dieser Akt kultureller
Normierung
einen
potenten
Gegner
ins
Leben
gerufen:
die Kritik
des
falschen bzw.
verzerrten,
fiber
sich selbst
getfiuschten
Bildungsbewuftseins.8
Diese Kritik
brachte
in
unserm
Jahrhundert
gegen
manchen
Widerstand
-
allmihlich eine
Forschung
n
Gang,
die
sich
mehr
und
mehr der
Kehr-
seite des
Erinnerns,
dem
natiirlichen
Vergessen,
nach und
nach
auch
dem
pathologis-
chen Schein eines
hegemonialen
kulturellen Gedichtnisses
und
zugleich
damit
den
vielfailtigen
Formen
kollektiver
Verdriingung
zugewandt
hat.
Dieser
Wandel
hat die
Archive
des
Vergessens
geoffnet
und
das Volumen der
wissenschaftlich
organisierten
Denkmalspflege
um
die
Phainomene
er
gelebtenErinnerung
Alltag,
privates
Leben,
MentalitAten,
Minderheiten-und
Randgruppenkulturen
erweitert.
Irgendwo
-
so lau-
tet die
Annahme
-
hat
das,
was
vergessen schien,
eine
Spur hinterlassen,
die
der
Historiker als
geschulter
Spurenleser
wieder ins
Gedichtnis
rufen kann. Die
Vergan-
genheit
ist
ein
fremdes
Land,
eine
virtuelle Realitat
unterhalb
der
Verdringungs-
schwelle.
Die
steigende
Konjunktur lobaler
Migrationsbewegungen
und
des
digitalisierten
6.
"Wissenschaftlichesedichtnis"
erwende ch n
der
Bedeutung
on
"kontrapraisentischer
Erinnerung"
nach
G.
Theissen: "Traditionund
Entscheidung.
Der
Beitrag
des biblischen
Glaubens
zum
kulturellen Gedichtnis",
in:
Kulturund
Gediichtnis,
g.v.
J.Assmann
/
T.
H61scher,
Frankfurt/Main
1988.Theissen
spricht
zwar die
"kontrapraisentische"
unktion
dem
zu,
was er das "kulturelle
Gedichtnis"
ennt:"Kulturelles
edaichtnis
ailtkontra-
praisentisch
est,
was
ohne die bewuftte
Anstrengung
der
Erinnerung
verlorenginge.
Das
von
ihm
Erinnerte
mufl
nicht
aktuell
ein,
kannaber mmer
wieder
aktuell
werden"
S.171).
DieseBeschreibung 6chtech abernurfurdieArt derGedaichtnisbewahrungelten as-
sen,
die
im
Sinnedes
historischen ewugtseins en Zeitenabstand
wischen
Vergangenheit
und
Gegenwart
eflektiert.
7.
Hinweise
auf die kultur-
zw.
sprachwissenschaftlichen
eitrige
ur
'Erfindung'
on
Na-
tionalismen
bei
B.
Anderson:
Imagined
Communities.
eflections
n
the
Origin
and
Spread f
Nationalism,
ondon
983.
8.
Vgl.
zur Geschichte
ieses
Deutungsmusters
ie
Untersuchung
on G.
Bollenbeck:
Bildung
und
Kultur. lanz
nd
Elend
ines
eutschen
eutungsmusters,
rankfurt/Main
994.
9. The
past
s
a
foreign
ountry
autet
derTitel
eines
Buches on David
Lowenthal
(Cambridge
1985).
This content downloaded from 83.137.211.198 on Thu, 12 Nov 2015 21:38:12 UTCAll use subject to JSTOR Terms and Conditions
7/21/2019 Das Gedächtnis Der Kulturwissenschaften Und Die Klassische Tradition
http://slidepdf.com/reader/full/das-gedaechtnis-der-kulturwissenschaften-und-die-klassische-tradition 6/30
418
International
ournal
f
the
Classical
radition Winter
996
intra- wie transkulturellen nformationsaustauschs
eraiindert
ndes
das
traditionelle
SelbstverstAndnis
der
historisch
verfahrenden
Archiv- und
Inventarwissenschaften.
Nicht
die
eine
geschlossene,
reine
und in
sich
ruhende
Kultur
-
ohnehin
eine
Fiktion
-
soil ihr nun als einziges RichtmaB elten, sonderndas zusammengesetzte,grenziiber-
schreitende,
im
flieBienden
Ubergang
zwischen Grenze und
Zentrumsich
konsolidie-
rende
und
zugleich
dekomponierende ragile
Gebilde
symbolischer
Repraisentationen.
Die
Lage
ist
paradox.
Denn nichtnur die
Kulturwissenschaften,
uch die
lebensweltli-
chen
Erfahrungen,
hr
eigentliches
Fundament,
scheinenheute
stirker
denn
je
die
von
der "Furie
des Verschwindens"
(Hegel)
verschuldete
kollektiveAmnesie zu
fiirchten.
Die
jiingsten
und aktuellen
Erfahrungen
er
Weltkriege,
der
Vertreibungen,
es
atoma-
ren
Holocaust,
des
V61kermordes,
der
Kommunikationsentropie,
es
linguistischen
und
biologischen
Artenschwunds
etc.
sind
die
Kehrseite
der
oben skizzierten
Entwick-
lung.
Nicht
alles
ist
friedlicher,
Ressourcenund
Traditionen chonender
Umbau,
nicht
weniges
Wandel
durch
Gewalt und
Zerst6rung.1o
uch
die
Konsequenzen
sind
para-
dox: einerseits
eine
fast schrankenloseKommunikationzwischen
Gesellschaften
und
Kulturen, andererseitseine planvoll betriebene Exterminierungganzer V61ker;ein-
erseits
das
schnelle
Verschwinden raditionaler
Lebensformen,
ndererseitsderen
nicht
weniger
rasche
Kartierung
n
immer
subtiler
ausgetiiftelten
kiinstlichen Gedichtnis-
sen.
Eins
wie
das andere
beriihrt
die
beschrinkte
Kapazitat
des
Gedichtnisses
und
das
selektive
Spiel
der
Erinnerung.
Erfahrungen,
die
gemeinsam
mit
andem,
weniger
of-
fensichtlichen
Motiven
for
die
aktuelle
Konjunktur
des
wissenschaftlichen
Gedicht-
nisdiskurses
verantwortlich
ind.11
"Gedichtnis"
und
"Erinnerung"
ind vor allem
im
interdisziplinaren
Wissen-
schaftsdiskurs
laingst
zu
Leitmotiven der historischen
Forschung
geworden.
Auch
in
jener
ficheriibergreifendenDisziplin,
die
sich
der Anamnese es
Unvordenklichen
"an-
amnesi
dell'immemorabile")
erschrieben
hat,
in der
Philosophie,
feiern
altehrwiirdige
Topoi
des
Gedichtnisdiskurses
sonderbare
Urstdind.12
ie
wissenschaftlichen
Fragen
haben sich
jedoch
vom
Inhalt und
Kanon
auf
Methode und
ProzeB
verschoben:
Nicht
nur was ins
Gedichtnis geh6rt,
sondem
wie
erinnert wurde und
wird,
beschiftigt
in
zunehmendem
Magi
die methodisch
disziplinierteNeugier.
Die
mannigfachen
Hinter-
lassenschaften
zu
konservieren,
st eine
Sache;
eine
andere,
ob und
wie sie
in
lebendi-
ge
Erinnerung
ibergehen
konnen.
Vor diesem
Hintergrund
m6chten die
folgenden
Betrachtungen elesen
werden.
Sie
gehen
zunichst
-
in
der
Art
kurzer
Fallstudien
-
anhand einzelner
Neuerscheinun-
10. Zur
egitimatorischen
unktion ulturellerMuster firdie
Anwendung
nd
Aufrechterhal-
tung physischer
nd struktureller
ewalt
vgl.
den
systematischen
ufriS
on
J.
Galtung:
"Cultural
iolence",
ournal
f
Peace
Research
7/3
(1990),
.291-305,
nd
den
Beitrag
onA.
und
J.
Assman:"Kultur nd Konflikt.
Aspekte
iner
Theorie es
unkommunikativen
an-
delns",
n:
J.
Assmann
D. Harth
Hg.):Kultur ndKonflikt,rankfurt/Main990,S.11-48.
11.
Vgl.
auch
den
interessanten,
om
Generationenabstand
usgehenden
rklairungsversuch
.
Assmanns
n
seiner
unten
genannten
ntersuchung
Anm.13,
.21ff.).
12.
"Quali
nterrogativi
a
scienza
pone
alla
filosofia?Conversazioneon
Massimo
Cacciari",
in:
P. Alferi
/
A. Pilati
(Hg.):
Conoscenza
complessita,
om/Neapel
1990,
S.164.Zur
perma-
nenten
Um-Schreibung
des kulturellen
Gedichtnisses
in der
modernen
Philosophie vgl.
den Sammelband
Philosophical
magination
nd
Cultural
Memory.
Appropriating
istorical
Tra-
ditions
(hg.v.
P.
Cook,
Durham/London
1993),
dessen Titel und
Einleitung
hinter
der
niitzli-
chen,
von Theissen
(Anm.6)
vorgeschlagenen Unterscheidung
zwischen
"Tradition"
und
"kulturellem
Gedichtnis"zuriickbleibt.
This content downloaded from 83.137.211.198 on Thu, 12 Nov 2015 21:38:12 UTCAll use subject to JSTOR Terms and Conditions
7/21/2019 Das Gedächtnis Der Kulturwissenschaften Und Die Klassische Tradition
http://slidepdf.com/reader/full/das-gedaechtnis-der-kulturwissenschaften-und-die-klassische-tradition 7/30
7/21/2019 Das Gedächtnis Der Kulturwissenschaften Und Die Klassische Tradition
http://slidepdf.com/reader/full/das-gedaechtnis-der-kulturwissenschaften-und-die-klassische-tradition 8/30
420
International
ournal
f
the
Classical radition
Winter996
Part IV
Aristotleneo-Platonised:
herevival
of
Aristotle nd the
development
f
scholastic
heories
of memory
Part V
Later
medievalheories
of
memory:
hevia
antiqua
and thevia modemna
Die Uberschriften
der
Unterkapitel
nennen meist
die
Namen
der
interpretierten
Autoren;
in Teil
I
z.B.
Platon, Aristoteles, Cicero,
Plotin,
Augustinus.
Diese
Art
der
Gliederung
empfiehlt
das
Buch,
zusammen
mit
einem ausfiihrlichen
Index,
auch
als
Nachschlagewerk;
andere Autoren
mit
eigenen Kapiteln
sind
Gregor
der
Groge,
St.
Benedikt,
St.
Bernhard,Beda, Anselm,
Abelard,
John
of
Salisbury,
John
Blund,
Aver-
roes, Albertus
Magnus,
Thomas
von
Aquin,
Duns
Scotus,
William of
Ockham,
Petrar-
ca.
Die
Namen
deuten
an,
daB
es
in diesem
Buch vor
allem
um theoretische
Fragen
geht.
Eine Besonderheit
der
Darstellung
sind
die
(gleichsam
als Motti
zahlreichen
Kapiteln
vorangestellten)
langen
Zitate
aus
der modemen
poetischen
und wissen-
schaftlichen
Literatur.
Hier finden sich
neben
Shakespeare-Zitaten usziige
aus
Proust,
Luis
Bufiuel,
Gertrude
Stein und
nicht zuletzt
zahlreiche
Textstellenaus der Literatur
zur Neurobiologie, Psycholinguistik, Kognitions-und Experimentalpsychologie.Es
entsteht so
ein
moderner
Subtext aus
Fragmenten,
an
dessen
Aussagen
der
Leser,
wenn er
mag,
Analogien
und
Differenzen
zum
dargelegten
historischenProblemstand
ablesen
kann.
Das erste
Kapitel
des
dritten Teils
ist
Abelard
iberschrieben.
Mit dessen
Nomina-
lismus
nimmt
die traditionelle
Theoriebildung,
was die
Zentralstellung
dieses Teils in
der
Gesamtkomposition
es Buches
unterstreicht,
ine
auf die Moderne
vorausweisende
Wende:
Abelard
-
schreibt
Coleman
(S.232)
bemiihte
sich
als
einer
der
ersten
um
eine
"Theoriehistorischen
Verstehens".
Diese
Aussage
schligt
das auch
im
Untertitel des
Buches
genannte
Leitthema
an: die Funktiondes Gedachtnisses
n der
methodischen
Rekonstruktion
der
Vergangenheit.
Coleman
hat dieses
Thema zu ihrem
eigenen
Verfahrensprinzipgemacht.
Sie
rekonstruiert
nicht
nur,
sondern
legt
eine
Tradition
rei,
von
der
sie
fiberzeugt st, daB
sie
zum
verborgenen
kulturellen
Gedaichtnis
er Moderne
gehort.
Couragiert
ormuli-
ert sie daher
als
Leitmotiv:
"Ancient
nd medieval
memories
et the
agendaor modernity"
(S.
541).
Modeme
Psychologie
und
Hirnforschung
haben
erkannt,
daS3
m ProzeBdes
Erinnerns
nicht
nur eine
isolierbare
Hirnregion,
sondem
alle mentalen
Funktionen
beteiligt
sind.Coleman
olgt
dieser
Einsicht,
vermeidet
aber
die
simplifizierende
Gleich-
setzung
von
Gehirn
(brain)
und
Geist
(mind).
hr
Interesse st
vor allem
epistemologis-
cher,
dann
erst
geschichtstheoretischer
Natur,
und
sie konzentriertsich daher meist
auf
die
spekulativen
Kontexte
der anamnetischen
(methodischen)
Gedaichtnisarbeit
(reminiscence),
hne
die
Grenzziehung
zwischen
dieser
und
dem
spontanen
Erinnern
(remembering)
u
vernachliissigen.
Es sind vorab
drei
Schliisseldiskurse
des
griechischen
und lateinischen
Altertums,
die von den
Theoretikem
wie Praktikern er methodischen
Gedichtnisarbeit
n
Spitan-
tike und Mittelalter mmer wieder aufgegriffenund hin und her gewendet worden
sind:
Erstens:
Platons
Kritik
an der technisch
(rhetorisch)
und zeichenhaft
(schriftlich)
undierten
Erinnerung,
in
notdfirftiges
Erinnern,
das in Wahr-
heit das
Vergessen jener
reinen Formendes
Seins,
der
Ideen,
zur
Folge
hat,
die allein der Anamnese
zugainglich
ind.
Zweitens:Aristoteles'
Unterscheidung
wischen der
interpretierenden,
a-
This content downloaded from 83.137.211.198 on Thu, 12 Nov 2015 21:38:12 UTCAll use subject to JSTOR Terms and Conditions
7/21/2019 Das Gedächtnis Der Kulturwissenschaften Und Die Klassische Tradition
http://slidepdf.com/reader/full/das-gedaechtnis-der-kulturwissenschaften-und-die-klassische-tradition 9/30
Harth 421
her
wahrheitsfiihigen,
rhetorisch bzw.
poetisch gestalteten
Vergangen-
heitskunde
auf der
einen
und der
kontingenten
Darstellung
der
gelebten
Vergangenheit
in der
Historiografie
auf der anderen
Seite.
Eine
Position,
die ausdruicklich ie dem Gedichtniseingepraigtematerielle konischeSpur
der
vergangenen
Erfahrunggegen
Platons
Kritik
verteidigt
und das Erin-
nern mit
rationalen
Operationen
verbindet.
Drittens:Die Rhetorikals
pragmatisches
Organon
der
Textproduktion
und der
Mnemotechnik,ein
die
Vergangenheitskunde
nd
-darstellung
(hi-
storia)
modellierendes
und
lange
Zeit
beherrschendesLehr- und
Lernsy-
stem.16
Nicht zu
vergessen
die in
diesem
Diskurs kultivierte
erkenntnisthe-
oretische
Skepsis,
fir die der Name
Ciceros
gleichsam
das Codewort
liefert.
Diese drei Schlisseldiskurse
haben,
wie
Colemans
extnahe
Analysen
zeigen,
iiber
die
patristischeRezeption
Eingang
in die
christlichen
Gedichtnis-
und
Geschichtsthe-
orien des
Mittelalters
gefunden.
Fiir
eine
Theologie,
deren
praktische
und
theoretische
Bemiihungeneinem sakrosanktenschriftlichenKanonverhaftetsind, scheint es un-
m6glich,
Platons
Kritik
an
der
schriftgestiitztenErinnerung
ernst
zu
nehmen.
Und
dennoch hat
der
Neoplatonismus
hier eine
Bruicke
onstruiert,
die es
manchen scho-
lastischen
Denkern des Hochmittelalters
rlaubte,
Aristotelesund Platon zu
harmoni-
sieren. Diese
Bruicke
iet3
paradoxerweiseVergessen.
Wo
immer eine unmittelbareoder
mystische
Gotteserkenntnis ur
Debatte
stand,
ging
es
darum,
fiber
die 'Leiter'der
Worter,
Bilderund
Zeichen den
Weg
in
die
innere,
bild-
und
zeichenlose
Anschauung
des
Ineffabile
zu
bahnen.
Plotin hat
das
Gedichtnis
nicht als
passiven,
Eindriicke
speichemden Rezeptor
verstanden,
sondem
mit
einer
seelischen
Aktivitit
identifiziert,
die aus
eigener
Kraftund unter
Vergessen
der
AIuler-
lichen
Sinnesobjekte
eine
"intellektuelle
Ordnung"
hervorzubringen
vermag
-
"a
kind
of
illuminationism"
S.76ff.).
Augustinus
hat zwar
-
im Sinne
der
rhetorischen
Mnemo-
technik
-
das
Gedichtnis als
Behiltnis jener
"Bilder"
gedeutet,
die
der
Geist von
den
bestimmten
Sinneswahrnehmungen
abzieht
und
nach
eigenen
Gesetzen
mnemonisch
ordnet. Aber die
unmittelbare,
die
"spirituelle"
Gotteserfahrung
kniipfte
er an
die
Bedingung
des
Selbstvergessens
S.110f.).
Esist vor
allem
die
augustinische,
hetorische,
aristotelische,
neoplatonische
und
schriftexegetische
Theoreme
eklektisch ver-
schmelzende
Konzeption,
ie die
Ausbildung
des christlichen
Gediichtnisdiskurses
n
den
folgenden
Jahrhunderten
maf3geblich
estimmen
wird.
So
praktizieren
die
monastischenZentren
-
die
Klister
der
Benediktinerund Zi-
sterzienser eine
Kulturdes
Vergessens
und der
Gedichtnis-Reinigung,
ie
den
sakralen
Schriftkanonals
einziges
grammatisch-rhetorisches
Muster
und
Medium der
Gottes-
anniherung
anerkennt.In diesem Rahmen
wird die Meditation
der
Schrift
-
in
der
Bedeutunghalblauten
Lesens
-
zur
maTgebenden
Technikdes
Erinnerns
und die Gram-
matikzum
exegetischen Schlissel,
der das Tor zur
"g6ttlichen
Weisheit" 6ffnen soll
(S.143).Colemanzeigt, daBdie in den K1ostern ntstehendefriihmittelalterlicheGe-
schichtsschreibung
ein
Beispiel
ist die Historia
cclesiastica
entis
Anglorum
bis 731)
Bedas
-
streng
secundum
itteram
erfuhr.Diese Historie
erzihlt
im Vertrauen
auf eine
wirklichkeitssubstituierendeKraft des schriftlichen
Zeichens,
die nicht im modernen
Wortsinn das
Vergangene
als
solches
'erinnert',
ondem
den Leser in
den
Status des
16. S. meinen
Forschungsartikel
Geschichtsschreibung",
n:
Historisches orterbuch
er
Rhetorik,
hg.v.
G.
Ueding,
Tuibingen,
d.III
erscheint
996).
This content downloaded from 83.137.211.198 on Thu, 12 Nov 2015 21:38:12 UTCAll use subject to JSTOR Terms and Conditions
7/21/2019 Das Gedächtnis Der Kulturwissenschaften Und Die Klassische Tradition
http://slidepdf.com/reader/full/das-gedaechtnis-der-kulturwissenschaften-und-die-klassische-tradition 10/30
422
International
ournal
f
theClassical radition
Winter
996
gleichzeitigen
Augenzeugen
versetzen
will
(S.276ff.)
Denn die
Buchstaben
ind
"Anzei-
chen" des
gesprochenen
Wortes und der
Dinge,
die durch
die Fenrter
der
Augen
und
stimmlos
zur
Seele der Leser
'reden'.17
n
diesem Kontext st
der
Begriff
historiaden-
tisch mit einer Schreib-und Lesart,die den wortlichen,den Litteralsinnzur Sprache
bringt
und daher
nur die
propaideutische
prosse
auf
jener
Leiter
der
Exegese,
die in
die
figurativ-theologischen
Stockwerke
des
mehrfachen
Schriftsinnes iihrt.
Die
Verbreitung
und
Verfeinerung
der Schriftkultur nd der rationaleUmbau
des
theologischen
Lehrsystems
m 12. und 13.
Jahrhundert
eriindem
den
Geddichtnisdis-
kurs und
mit
ihm
die
Historiographie,
die in
Klistem
und
Klerikerschulenbald
eine
erste
Bluitezeit
rlebt. Coleman
erliutert
ausfilhrlich
die
physio-
und
psychologischen
Neuansfitze.
Das
Vergessen
erscheint nun
den
Scholastikem
als
Verdunkelung
der
Traditionund
"fraudatrix
cientiae".18er
niichste
Schritt
st die
Proklamation
der
The-
ologie
als
selbstlindige
Wissenschaft.Die Sententiae
es Petrus
Lombardus
verdriingen,
was
Coleman
nicht
erwahnt,
den
biblischen
Kanon
als
Grundlagentext
or
die
theolo-
gische Spekulation.19
ie Herrschaftdes
neoplatonischen
Augustinismus
wird
-
verein-
fachend gesagt - von der des aristotelischenSystemdenkens abgelost.Der christliche
Gott
ist
nicht allein
der
Liebe,
sondem wird
nun
auch
und
vor allem der
metaphysis-
chen Konstruktion
zugainglich.
Im
Lauf
dieser
Entwicklung
nehmen
Dialektik,
Logik
und
theologische
Moral-
lehre den
Gedaichtnisdiskurs
n
Besitz,
und das
historiographische
wie
theoretische
Nachdenken
fiber
Zeitsinn
und Sinn der Zeit st6fMtuf
die
ersten
Spuren
einer
qualita-
tiven Differenz
zwischen
dem,
was
ist,
und
dem,
was
war.
Dennoch
kreisen die
Be-
miihungen
der meisten
Neuerer noch um
das
alte
Problem,
wie
der
-
mit Paul
Ricoeur
zu reden
-
"MiBklang"
wischen endlicher
und
kosmischer
(Heils-)Zeit
zu fiberwind-
en
ist.20
Coleman
vertritt
die
These,
die
hierzu
n6tige Vermittlung
sei nicht
in
der
Erzaihlung,
sondem
in
der
exegetischen
Harmonisierung
des
Ungleichzeitigen
zu
suchen.
Ungleichzeitig
sind
nicht nur die
Zeugnisse fiber
vergangene
und
gegenwa~r-
tige Ereignisse,Ungleichzeitigkeitpraigt
auch
das Verhaltnis zwischen den
philoso-
phischen
Texten der
Antike
(an
ersterStelle
Aristoteles)
und dem
sakrosankten
Kanon
der
christlichen
Uberlieferung,
dessen
zeitresistente
Geltung
ohnehin nicht
in
Frage
stand.
Unwiederholbarkeit
und
Einmaligkeit
der
Ereignisse
und ein
evolutionairer
Zeit-
rahmen
waren
ffir
die Theoretikerdes Hochmittelalters
kein
Thema.
Deren
Vorstellun-
gen entsprachen
eher den
ritualisiertenZeitformender
Liturgie,
waren also
zyklischer
Natur
(S.303).
Wenn
ein
arabischer,
von
manchen
christlichen
Theologen
geschaitzter
Aristoteliker
wie Avicenna auf
die
Wechselhaftigkeit
und
Kontextabhiingigkeit
des
Erinnerns
zu
sprechen
kam
(S.361),
so hatte
das
keine
Folgen
ffir
die
Auseinanderset-
zung
mit
dem
Traditionswissen.
Gewi
mit der
Expansion
des Handels und der
stiAdtischen
Kulturen erwachte
allmaihlich
in
BewufBtsein
iir
unterschiedliche
Erfahrungswelten
und zeitliche Diffe-
renzen. Doch in der Theorieblieb die Macht der Synchronie angenoch ungebrochen.
17. Carruthers
Anm.15),
.222ff.
18.
John
of
Salisbury:
Policraticus,
g.v.
C. C.
J.
Webb,
Oxford
1909,
Prolog.
Vgl.
auch
die
(von
Coleman
icht
erwAhnte)
usfiihrliche
ntersuchung
on
P.
von
Moos:
Geschichtels
Topik.
Das
rhetorische
xemplum
onderAntikezur
Neuzeitund
die
historiae
m
Policraticus
Johanns
von
Salisbury,
Hildesheim
1988.
19.
M.-D.Chenu:
La
Th"ologie
omme
cience u
XIIIkmeiecle,
Paris
1957,
SS.15ff.,
37ff.
20. P. Ricoeur:
"Le
temps
racont6",
Revuede
Mitaphysique
t deMorale
9/4
(1984),
S.448.
This content downloaded from 83.137.211.198 on Thu, 12 Nov 2015 21:38:12 UTCAll use subject to JSTOR Terms and Conditions
7/21/2019 Das Gedächtnis Der Kulturwissenschaften Und Die Klassische Tradition
http://slidepdf.com/reader/full/das-gedaechtnis-der-kulturwissenschaften-und-die-klassische-tradition 11/30
Harth 423
Was
zeitlich
fern
und vielleicht fremd
erschien,
lieI3
ich mit den theoretischen
und
praktischenBediirfnissen
der
Gegenwart
durch
die
Applikation
eines formalen
Ausle-
gungsschemas
versohnen,
das mit
sprachlichen
Universalien
und
Analogieschlfissen
operierte.Unter dieser Voraussetzungkonntez.B.Thomas von Aquin das kiinstliche
Gedichtnis
der
rhetorischen
Mnemotechnik
Cicero)
mit
der
psychologischen
Gedicht-
nistheorie
des
Aristoteles
fusionieren,
um die
praktisch-ethische,
d.h.
exemplarische
Funktion
der
Historie
fiir
gegenwartiges
und
zukiinftiges
Handeln
zu
rechtfertigen.
"The
aggregation
f
past
phenomena",
autet
Colemans
einschlagiger
Kommentar,
"into
a
meaningful
ystem
s
coextensive
with
mind,
t is
prudence
n action"
S.460).
Hinter
der
"rationalen
Konstruktion"
der
Historie
(S.455)
stand,
wie ich
erganzend
hinzufiigen
m6chte,
die
Absicht,
Glauben
und
Wissen
zu
versohnen. Denn der Glaube hielt
sich
an die auctoritas
jenes
Gedichtnisses,
dessen Inhalt sich aus den
Exempeln
und
Lehr-
sitzen
der anerkannten
Textiiberlieferung
usammensetzte.Diese
Uberlieferung
meth-
odisch zu
formalisieren,
ie
-
mit
anderen Worten
-
in die
Gewitiheitdes Wissens
zu
iiberfiihren,
war
aber
Sache
der
ratio,
enes
anderen
Grundpfeilers
der
thomistischen
Wissenschaft.Die Texte und Zeichendes Glaubensgaltengleichsamals das apriorisch
Gegebene.
Die
Vernunft
as
darin
wie
der
Leser
m
Buch,
und in
dem
MaiB,
n dem
sie
sich
der
iibernatiirlichen
Wahrheit
assimilierte,
steigerte
sie die
Glaubensdoktrin
bis
zur
Gewil3heit
iner
metaphysischen
Erkenntnis.
Colemans historische
Recherche
schlielBt
mit
der
Darstellung
der
im
Spitmittel-
alter einsetzenden Kritik
an der
thomistischen
Harmonisierung
on
Glauben und
Wis-
sen: mit dem Nominalismusder
Antiqui
(Scotisten)
und
Modemi
(Ockhamisten).
Aus-
fiihrlich
erliutert
sie
die erkenntniskritischePosition Ockhamsund
spricht
ihr
eine
Vorliuferrolle
in der
Geschichte
der
neuzeitlichen,
der
intuitiven
Erkenntniszu.
Ock-
ham
geht
von
einer isto
statu
(nach
dem
Fall)
gegebenen
kontingenten
Wirklichkeit
aus. Diese
zu
erkennen,
ist nicht
Sache der nach
Maggabe ogischer
Universalien
ver-
fahrenden intellektuellen Abstraktion.
Wirklichkeitserkenntnisst
vielmehr
unmittel-
bar: intuitives Auffassen der konkreten
Einzeldinge, abhaingig
von
Erfahrung
und
daher
entsprechend
fehlbar.
Die Zeichen der
Sprache,
der
Rede,
der Schrift
enthalten
nichts von der
Substanz
dieser
Erfahrungen,
sind
bestenfalls,
weil
allein in
mente,
deren
unvollkommene
Substitution.Entzieht
sich
die
Wirklichkeit
der
logischen
De-
monstration,
so bleibt dennoch die
SpracheGegenstand ogischer
Analysen.
Es ist eine
Philosophie
der
Differenzen,
die
dieser,
iibrigens
n
sich selbst
widerspriichliche
Nomi-
nalismus
propagiert.
Denn er trennt
entschieden
zwischen
Glaube und
Wissen,
zwi-
schen
empirischer
und
linguistischer
Erfahrung
und
nicht
zuletzt
zwischen der
raum-
zeitlich
situierten Praxis und ihrer
Reprisentation
in
schriftlichen
(z.B.
erzAhlenden)
Texten.
Es
ist
vor
allem dieser
letzte
Punkt,
der die
Einschitzung
und
Auslegung
des
historischen
Gedachtnisses
beriihrt,
soweit dieses
sich
aus
schriftlichen
Zeugnissen
zusammensetzt. Erinnert werden
nur
eigene
Erfahrungen.
Die
schriftlich
festgehal-
tenen
vergangenen Erfahrungen
anderer,
gerade
auch die des
sakralen
Schriftkanons,
sind - was fiir die Erbendes historischenBewuttseins trivial ist - dem spiteren Inter-
preten
als
solche
nicht
zuginglich.
Und
so
st6gt
der
Nominalist,
der
sich auf
der
Grenze
zwischen erlebterund beredeterWelt
eingerichtet
hat,
auf
einen
weiteren,
den
Formalismus
der scholastischen
Textauslegung
iberwindenden
Unterschied;
mit
Cole-
mans
Worten: "the
distinction between
ubject
matter
and
expression,
etween
hetorical
formulation
nd its
object"
S.528).
Eine
Unterscheidung,
die den
theologischen
Sockel
der
Kanonpflege
unterminiert und
bald die
historisch-philologische
Kritik auf den
Plan rufen wird.
This content downloaded from 83.137.211.198 on Thu, 12 Nov 2015 21:38:12 UTCAll use subject to JSTOR Terms and Conditions
7/21/2019 Das Gedächtnis Der Kulturwissenschaften Und Die Klassische Tradition
http://slidepdf.com/reader/full/das-gedaechtnis-der-kulturwissenschaften-und-die-klassische-tradition 12/30
424
International
ournal
f
theClassicalradition
Winter996
Die nominalistische
Anerkennung
der
Kontingenz
und
die
implizierte
Aufwer-
tung
der
Empirie
konnen
als Antwortenaufdie
historischen
Erfahrungen
des
Spitmit-
telalters
-
Schwichung
des
Papsttums
und
der Idee eines christlichen
Imperiums,
Pestepidemien und Bauernrevolten,zunehmende KonkurrenznationalerInteressen
etc.
-
verstanden werden.
Innertheologisch
wollte der
Nominalismus
Ockham'scher
Priigung
aber den Glauben
starken,
ndem
er der
weltlichen
Unsicherheit
ein
Gottes-
bild
entgegenhielt,
das
vom
Glaiubigenunbedingtes
Vertrauen n die
ordnende
Kraft
der Providenz
verlangte.
Es
ist daher
verwunderlich,
daB Coleman der mit
dem Nom-
inalismus
gleichzeitigen
Reorganisation
der
praktischen
und
theoretischen Dis-
kurse
im
Zeichen
der
Wiedergeburt
Renaissance)
ntikenWissens
den
innovatorischen
Charakterbestreitet.21
ie
betont
die
inhaltlichen
Kontinuitaten
und
interpretiert
den
Ubergang
vom
Mittelalter
zur
Renaissance
lediglich
als
"Genrewechsel"
(genre hift:
S.573ff.).
Nun ist die humanistische
Rezeption
des
Nominalismussicherunbestreitbar. ben-
so unbestreitbar
st aber
auch
die Kritik nsbesondere der
italienischen
Friihhumani-
sten - Petrarca,Coluccio Salutati,Leonardo Bruniu.a. - an der leeren Dialektikder
Moderni
'
la
Ockham.22
Diese
gewi3
oft
polemische
Kritik
allein
als
Ausdruck eines
literarischen
Formenwandels
abzutun,
wird dem
Paradigmenwechsel,
den
die huma-
nistische
Bewegung
einleitete,
nicht
gerecht.
Nur
weniges
sei
hier
in
Erinnerung erufen:
Erstens:
Grundlegend
ist die
humanistische
Abl6sung epistemologischer
Interessen
durch eine
Praxeologie,
die den
Begriff
aktiven
Handelns
gesell-
schaftlich
definiert.
Das allein markiert
eine
wesentliche
Differenz
zur
no-
minalistischen
Reduktionder
Tathandlung
auf
die
inneren
ErfAhrungen
es
Individuums.
Zweitens:
Mit
ahnlicher
StoBrichtung
auen die Humanisten den
Gegen-
satz zwischen
Rhetorikund
Logik
aus.
Die
von ihnen
propagierte
Lebens-
form der
vita activa
gewinnt
erst
die
politische
Gestalt
einer
vielstimmigen
und
vielfiAltigen
ita
civilis durch offentliche
Rede und
Gegenrede.
Rede
und Wort
unterscheiden sich wie
der
Text
vom
Lexem. War die
nominali-
stische
Logik
aufs
Wort,
auf den
"terminus",
ixiert,
so bedenkt
die
Rhetorik
den
ganzen
kommunikativen
Redeakt
unter
allen
nur
m6glichen
Bedingun-
gen
seiner
situativen
Anwendung
und
seines
intendierten
Erfolgs.
Drittens:
Die humanistische
Erkenntnislehre
uickt
ie Kultur
im
weitesten
Sinne
des
Worts
-
in
den
Mittelpunkt.
Nur
das,
was
der Mensch
geschaffen
hat,
ist
auch
seinem
Erkenntnisverm6gen
uganglich.
Damitist eine Aufw-
ertung
der Poiesis
verbunden,
die
zugleich
das
BewuBtsein
der
kreativen
Selbsttitigkeit
und der
subjektiven
Erfahrung
u
steigern vermag.
Viertens:
Kiinstlern
und Gelehrten
der
Renaissance
wird eine Distanz
zwischen
Gegenwart
und Altertum
bewutt,
auf die sie mit der Suche nach
der unverfiilschten,der wahrenErinnerung eagieren.Diese Suchefiihrtsie
durchden Zweifel am ProzeBder
Uberlieferung
hindurch auf
die
Erosions-
spuren
des
Vergessens.23
m Licht des Distanzbewui3tseins
rscheint den
21.
S. Colemans
Kritik n den
ThesenPeterBurkes:
p.
cit.,
S.563ff.
22.
Vgl.
P.
Kondylis:
Die neuzeitliche
Metaphysikkritik,
tuttgart
1990,
S.45ff.
23.
Dazu S. Settis:
"ContinuitA,
istanza,
onoscenza.
re
usi
dell'antico",
n: S.
Settis
(Hg.):
Memoria ell'antico ell'arte
taliana,Bd.III,
Turin
1986,
S.373-486.
This content downloaded from 83.137.211.198 on Thu, 12 Nov 2015 21:38:12 UTCAll use subject to JSTOR Terms and Conditions
7/21/2019 Das Gedächtnis Der Kulturwissenschaften Und Die Klassische Tradition
http://slidepdf.com/reader/full/das-gedaechtnis-der-kulturwissenschaften-und-die-klassische-tradition 13/30
Harth
425
Humanisten
die
Uberlieferungs-
als
Verfallsgeschichte.
Diese
durch
die
Wiederherstellung
restauratio)
es verlorenenGedichtnisses zu heilen
und
das Geheilte
auf
lebenspraktische
ragen
anzuwenden,
wird zum
Programm
einerneuen Mnemonik.
Dennoch,
eines
scheint
sicher: Die
theologischen Bemiihungen
des
christlichen
Mittelalters
haben
dem Erinnern
und der Gedichtniskunst eine
normative
Valenz
verliehen,
die
es
in den Gesellschaftender
griechisch-romischen
ntike
in
dieser Weise
vermutlich
nicht
gab.24
Erscheintdie Kultur des christlichen
Mittelalters
dem
Histori-
ker unter dem
Bild einer "Erzihl- und
Erinnerungsgemeinschaft",
ann
muJf
er sich
fragen,
was
diese
von
andem
Epochen
und
andern
Kulturenunterscheidet.
Denn der
mnemonische
Sinn
der
Gemeinde sollte nicht nur
-
wie
Kierkegaard
chrieb- "nach
riickw~rts", ondem
auch
"nach
vorn",
auf die
Parusie,
schauen:25
Memoria
eschatologi-
ca
-
ein dritter,ein
proleptischer
ypus
des
Eingedenkens,
dessen
Eigensinn
sich
krass
vom
spontanen
und
anamnetischenErinnern
unterscheidetund dennoch
-
paradoxer-
weise - an die Botschaftder iiberliefertenTexteankniipft.Alltags-und Religionskultur
dieser
Epoche
standen
unter dem
biblisch-patrimonialen mperativ:
"Tut
dies zu
meinem Gedichtnis "
Zur
Konditionierung
eines
entsprechenden
Kollektivgedicht-
nisses
gehorten
das
ritualisierte
Eingedenken
-
Eucharistie,
Heiligenkult,
Kalender
und
religiose
Feste des
Kirchenjahres,
otenmesseetc.
-
und der
stindige
Umgang
mit
einer
reichhaltigen
schriftlichen,
auch
piktoralen
Gedichtniskunst,
die
alles,
vom
Lay-
out der
Buchseite
bis zur architektonischen
Raumgestaltung,
m Geist der
Mnemotech-
nik
ausgefiihrt
hat.
Um
einige
konkrete
Dinge
zu
nennen:
Chroniken,Glossare,
Enzy-
klopidien,
Stadte-
und
Liinderbeschreibungen,
enealogien,
Bilderbibeln,
Kirchenfen-
ster,
Fresken,
Tapisserien;
kurz alles
das,
was
sich nach
numerischenund
topographi-
schen
Ordnungsprinzipien
organisieren
und
mit
sinnlich wahrnehmbaren
Zeichen,
Bildern,
Symbolen
verknuipfen
ieg.26
Mary
Carruthers
hat in TheBook
ofMemory
ie vormodeme
Kultur,
zumal
die des
Mittelalters,
als eine der
Erinnerung
von der "dokumentarischen" ulturder Moderne
abgegrenzt.
Aber
auch sie ist
bereit,
den mittelalterlichen
Memorialismus
als ein
Kapi-
tel
aus
der
Vorgeschichte
des
modernen
Denkens
zu
deuten.
Assoziiert
man
versuchs-
weise,
was
der
wortliche
Sinn der
Begriffenahelegt,
mit
dem
Begriff
der
Memorialkul-
tur
den
des Monuments
(=
Erinnerungszeichen),
o
riicken
die
Konzeptionen
von
Coleman
und
Carruthers
n
einen
Gegensatz
zu
Michel
Foucaults
Konzeption
der
Kulturanalyse,
der zu
denken
gibt.
Foucault
hat
versucht,
dem
Erinnerungspathos
der
Kulturwissenschaften ntschlossen
den
Riicken
zu kehren.
Denn
Erinnerung
n dem
von
ihm
inkriminierten
Sinn ist das Medium
historischer
Kontinuitaitsbildung,
as
aus
Furchtvor der
Briichigkeit
kulturellerNormen die
Spur
eingeschliffener
Lesarten
und
24.
Zur
Sakralisierung
ines
verpflichtenden
Kanons durch
die
Kirche
s.
Assmann
(Anm.13),
S.116ff.
25.
Zit.nach
.
B.Metz:
Erinnerung",
n:
Handbuch
hilosophischer
rundbegriffe,
g.v.
H.
Krings
H.
M.
Baumgartner
C.
Wild,
Bd.2,
Miinchen
973,
S.388.Zahlreiche
ibel-Belege
ir
die
imperativische
Mnemonikder
jiidisch-christlichen
Glaubensdoktrin
itiert
J.
Le
Goff:
"Me-
moria",
n:
Enciclopedia
inaudi
VIII,
Turin
1979,
S.1081ff.
Vgl.
allgemein
J.
Le
Goff:Histoire
et
mbnoire,
aris 1986.
26.
Zur
sozialen und
politischen
Funktion
der
Gedichtniskultur
m
Mittelalter .
die Einzelstu-
dien
in: Memoria
n
der
Gesellschaft
es
Mittelalters,
g.v.
D.
Geuenich und
0.
G.
Oexle,
G6ttingen
1994.
This content downloaded from 83.137.211.198 on Thu, 12 Nov 2015 21:38:12 UTCAll use subject to JSTOR Terms and Conditions
7/21/2019 Das Gedächtnis Der Kulturwissenschaften Und Die Klassische Tradition
http://slidepdf.com/reader/full/das-gedaechtnis-der-kulturwissenschaften-und-die-klassische-tradition 14/30
426
International
ournal
f
the
ClassicalTradition
Winter
996
Rezeptionen
nicht
verliiBt:
Die Kulturwissenschaftler
nterpretieren
die
vergangenen
Erscheinungen
als
"Dokumente"
ines
Sinnzusammenhangs,
dessen
gesteigerter
Form
sie selber
angehoren.
Das kulturelle
Gediichtnis,
o
konnte
man Foucaults
Kritik
um-
schreiben,ist unter diesen Voraussetzungennichts anderes als ein Zauberspiegel, n
dem die
kurzsichtige
Gegenwart
nur den
Konstitutionsprozeg
hres
Zusichselbstkom-
mens zu
entziffern sucht.
Es komme aber
darauf
an,
fordert
Foucault,
das
Archiv
der
iberlieferung
mit dem
Blick
des
Ethnologen
durchzumustern,
der das
Vergangene
als
Diskontinuum
und
im
Eigenen
auch
das
Andere
wahmimmt.27
Wie viele andere
vergleichbare
kulturhistorische
tudien
verfahren
auch die Cole-
mans
hermeneutisch,
indem sie
den
subjektiv
vermeinten
Sinn
ihrer
Dokumente im
Rahmen
eines
retrospektiv
auszumessenden
Kontinuums historischerTheorien
und
Praktiken
rekonstruiert.
hr
Gegenstand
st,
um
es noch
einmal
anders zu
formulieren,
ein kulturelles
Gedaichtnis,
dem
so
geartete
Studien
angehoren
und das sie
deshalb
nur von innen
her
-
eben
mit hermeneutischen
Mitteln
-
explizieren
k6nnen.
Nicht die
Berechtigung
dieses
Verfahrens
steht hier zur
Debatte. Es
geht
mir
vielmehr
um
die
Suche nach einer kulturanalytischenAlternative,die auch das Ausgeschlossene,die
vergessenen
und
verdriingten
Diskurse,
zu
thematisieren
vermag,
die
das still-
schweigend
als Dominante
ultureller
Ordnungvorausgesetzte
Gedichtniskonzept
aus-
zuschlief3en
droht.
Imitation
und Variation
als
Prinzipienproduktiver
Erinnerung
Der
Begriff
des
kulturellen Gedaichtnisses cheint
eine
normative
Geltung
des zu
Erinnemden
einzuklagen.
Auswahl
und
Gewichtung
dessen,
was
im
Gediichtnis
haften
soll
und
die Methodedes
imitativen
Lernens
bedingen
einander.
Quintilian
hat in der
Institutio
oratoria
Buch
X.1)
einen literarischen
Kanon
festgeschrieben,
aber er
hat den
Rhetorikschiiler
nicht nur
zur
Imitatio,
sondern
auch zum
Wettbewerb
aemulatio)
mit
den
groi3enMustem aufgefordert.
Die
sklavische
Nachahmung,
st darauszu
schliegen,
wiurde
ebenso
wie das sklavische
Auswendiglernen
ein
lebendiges
Erinnern
rsticken.
Schon
Quintilian
spielt,
der scholastischen
Pedanterie
seines
Werkes zum
Trotz,
auf
eine
Kunstiibung
an,
die
der mnemotechnischen
nstanz der
imitativen
Aneigung
den
Zugang
zur
Variation
nicht
versperrt.
Vielleicht bedarf
es
nur
einer anderen
Lesart,
um
auf
Spielraume
in den klassischen
Texten
zu
stofen,
die es
nahelegen,
die Kul-
turgeschichte
als einen
rekursiven
Prozef3 u
verstehen,
n dem
Imitation
Kontinuitit)
und
Variation
(Wandel)
zusammenwirken.
Eine
Vermutung,
die im
folgenden
an
Beispielen
aus
der
Renaissance-Forschung
u
fiberpriifen
st.
Zwischen
Kanon
und Konventionbestehtein
enger Zusammenhang.
Dieser steht
zur
Disposition,
sobald
ein
alter
Kanon
zugunsten
eines
neuen
verworfen wird.
Im
spitmittelalterlichen
Italien
begann
der
sch6pferische
Umbau
konventionellerkanoni-
27. Zur theoretischen
Grundlegung
M.
Foucault:
L'archiologie
u
savoir,
Paris 1%9. Paradoxer-
weise
greift
Foucault
ur
Kennzeichnung
er wissenschaftlichen
egenstandskonstitution
jenseits
on
Text- owie
hermeneutisch
erschlie3baren
inngestalten
="document")
uf den
Begriff
"monument"uruick,
m
das
Forschungsobjekt
us der konventionell
nterstellten
geistesgeschichtlichen
Dienstleistung
zu entlassen.
Zu den
Schwierigkeiten,
mit denen
diese
Konzeption
zu
kAmpfen
hat,
vgl.
M. Frank:
"Ein
Grundelement
der historischen
Analyse:
die
Diskontinuitit
-
Die
Epochenwende
von 1775in Foucaults
ArchAologie'",
n:
Herzog
/
Koselleck
(Anm.
1),
S. 97-130.
This content downloaded from 83.137.211.198 on Thu, 12 Nov 2015 21:38:12 UTCAll use subject to JSTOR Terms and Conditions
7/21/2019 Das Gedächtnis Der Kulturwissenschaften Und Die Klassische Tradition
http://slidepdf.com/reader/full/das-gedaechtnis-der-kulturwissenschaften-und-die-klassische-tradition 15/30
Harth
427
scher Kunstformen
zuerst
im
Bereichder
architektonischenKiinste.28
Vielfiltig
waren
die Motive: Sie
schlossen
die
polemische
Abkehr vom Baustil
der-Gotikund
die Suche
nach
einer
Formensprache
ein,
die
den
Bediirfnissen
nationaler
Identitit
entsprach.
Die Wahl fiel auf die Baudenkmilerund Ruinen der romischenAntike.MarioCarpos
StudieMetodo d ordininella teoria rchitettonica
erlaiutert
iesenKanonwechsel an
Tex-
ten von
L.
B.
Alberti,
Raffael,
S. Serlio und
G.
D.
Camillo.
Sein
Ausgangspunkt
sind
jene Fragen,
die mit der Lehrmethode auch die Praxis der Baukunst
beriihren:
In
welchem
Verhiiltnis tehen
Regeln
und
Exempel?
Welche
Moglichkeiten
und
Grenzen
hat die altbewihrte
Methode
der Imitatio?
Was
niitzen
Modelle?
Was
ist
eine
Kompo-
sition?
Welche
Funktion
erfiillt ein
Fragment,
ein
Zitat?
Welche
Beziehungen
bestehen
zwischen
Theorieund Praxis?
Welche
zwischen
Grammatik,
Rhetorik,
Topik,
Poetik?
-
Alles
Fragen,
die
auch
im
Kontext
anderer
zeitgenossischerLehrsysteme
der
Poesie,
der
Malerei,
der
Musik
-
von
Bedeutung
waren.9
Zwar
gaben
die
italienischen Au-
toren der
Architekturlehreverschiedene
Antworten,
doch einte
sie die
Suche
nach
einer
Richtschnur,
d.h.
einem
Kanon,
der
nicht 'nordischen'
Gotik)
oder
'griechischen'
(Byzanz), sondern genuin
romischen
Ursprungs
sein sollte.
Ein wohlgemeintes
Pro-
gramm,
das
in
der
Praxis
jedoch
zu
einem neuen
Stil
gefiihrt
hat,
in dem
sich
iltere
und
jiingere
Bautraditionen
fiberlagern.
Vitruvs
zur Zeit des
Augustus
entstandener
TraktatDe
architectura ar
auch
dem
Mittelalter
bekannt,
zum Kanon avancierte er
aber erst in der
Traktatliteratur er
italienischen
Humanisten.3"Die
humanistischen Kommentare
diskutierten vor
allem
die
architektonische,
anthropometrisch
undierte
Ordnungs-
und
Proportionenlehre
des
R6mers.31An
erster Stelle
ist hier
-
nicht zuletzt
wegen
der weit
uiber
Vitruv
hinausfiihrenden Systematik
Leon
BattistaAlbertis
De re
aedificatoria
u
nennen,
ein
Traktat,
dem
Carpo
das
Kapitel
"Regole
ed ordini"
gewidmet
hat.
Alberti
verzichtet in
seiner
Abhandlung
auf
jede
bildliche
Illustration,
konzentriert
sich auf
die
von
der
klassischen Baukunst
abgeleiteten
Regeln
und arbeitet
mit
Methoden,
die
teils
der
scholastischen
Traktatliteratur,
ells
der
rhetorischen nventio nahestehen.
Sein Ziel ist
nicht der imitierbarevisualisierteKanon, sondern eine architektonischeTopik, die
dem
Benutzer
die
Freiheit
1iiBt,
die
abgeleiteten
formalen
Regeln je
nach
Gusto in
plastische
Baukonstruktionen
umzusetzen. Hielt sich die
friihhumanistische
Imitatio
naiv
an die
Betrachtung
der "stummenTexte" tradierter
exemplarischer
Werke,
zeigt
nun die
Theorie,
daf
diese
Werke einem
ProzeB
rationaler
Konzeption
und
Planung
zu verdanken sind
(S.44f.).
Der
humanistische
Traktat etzt
zunaichst
uf
theoretischer
Ebene das
Prinzip
der
Variation
gegen
die
Erstarrung
es
imitatorischen
Konventiona-
lismus
und bereitet damit
-
so
paradox
das
klingen
mag
-
die
Entmachtung
des
soeben
erst kanonisierten
Vitruvius
vor.
So
empfiehlt
Alberti
seinen
Lesern,
nicht
nur den
28.
Vgl.
P.
Burke:
Tradition
nd
Innovationn Renaissance
taly.
A
Sociological
pproach,
o.O.]
1974,
S.340.
29.
Zur
Verschiebung
der ars
musica
on der mittelalterlichenZahlenlehre
ur
humanistischen
Poetik,von der imitatio um ingeniumrn,gl. K. W. Niem6ller:"ZumParadigmenwechsel n
der
Musik der
Renaissance.Vom
numerus
onorus
ur musica
poetica",
n:
Literatur,
Musik
und Kunst
im
libergang
om
Mittelalter ur
Neuzeit,
hg.v.
H.
Boockmann
et
al.,
G6ttingen
1995,
S.187-215.
30.
L. A.
Ciapponi:
"I1
De
Architectura'
di
Vitruvio
nel
primo
Umanesimo",
Italia
medievale
umanistica
(1960),
S.95ff.
Vgl.
L.
Callebat,
"La
TraditionVitruvienne
au
Moyen Age
et
a
la
Renaissance.
E1lments
d'
Interpretation,"
nternational
ournal
f
the
ClassicalTradition
IJCT)
1.2
(Fall
1994),
S. 3-14.
31.
F.
Z611ner:
itruvs
Proportionsfigur.
uellenkritische
tudien
ur
Kunstliteratur
es 15. und 16.
Jahrhunderts,
orms 1987.
This content downloaded from 83.137.211.198 on Thu, 12 Nov 2015 21:38:12 UTCAll use subject to JSTOR Terms and Conditions
7/21/2019 Das Gedächtnis Der Kulturwissenschaften Und Die Klassische Tradition
http://slidepdf.com/reader/full/das-gedaechtnis-der-kulturwissenschaften-und-die-klassische-tradition 16/30
428
International
ournal
f
theClassical
raditionWinter
996
schwerverstaindlichenVitruv,
sondern
auch die sichtbaren
Monumente
der
r6mischen
Baukunst
zu
studieren.32
Der
kontraprasentische
Riickgriff
auf
das
'Gedichtnis'
der
r6mischen
Architektur
- so m6chte ich
Carpis
Befunde
verallgemeinem
-
ist
nicht
imitatiom Sinne der Wiederholung, ondernmethodischund zugleichdurchAnschau-
ung
vermittelt. Albertis
Traktat
st
exemplarisch
ir
diese
Spielart
der
literarisch
und
wissenschaftlich
verfahrenden
Erinnerungsarbeit.
hn
interessiertnicht die
Zweckge-
bundenheit
der
Baukunst,
sondern
der
Moglichkeitssinn
verschiedener
Losungen:
das
Prinzip
der varietas"als
Ausdruck
menschlicher
Individualitat".33
Zwischen
1450,
dem
Entstehungsdatum
von De re
aedificatoria,
nd
1544,
dem
Erscheinungsjahr
on
Giulio
Camillos
Trattato
ell'imitazione,
erschieben sich
-
wie
Carpo zeigen
kann
-
die
Schwerpunkte
der
baukiinstlerischen
wie
auch
die
anderer
Lehrmethoden
weiter ins Gebiet wissenschaftlicherReflexion.
Dieser
Wandel
ist aufs
engste
mit
der
Aufwertung
der
rhetorischen nventiound ihrer
Seitendisziplin,
der
Topik,
verkniipft.
Wer
den literarischen
Diskurs
iber
die
Konventionenhinaus
erweitern
will,
der
imitiert
und
variiert
zugleich
auf
der
Grundlage
des
Studiums
der
Quellen
und Monumentedie klassischenMuster. mitatio,historischeRetrospektion nd Modell-
abstraktionen
werden
kompatibel;
n allen
Kiinsten verwandeln
sich
die
Schablonen
(exempla)
n
Modelle,
die
Modelle
in Bilder
(S.35).
Carpo
beschreibtdiesen
Wandel
als
Versuch,
die
eingeschliffenen
Lehrmethoden bzulosen und die
Beziehungen
zwischen
Grammatik,
Rhetorik und
Dialektik- nicht
zuletzt
in der
Baukunst
-
pragmatisch
zu
reorganisieren
S.34ff.).
Das Resultat
dieser
Entwicklung
st
zunaichst
in Bruch
zwis-
chen
Norm
und
Nachahmung,
zwischen
"System
und
Exempel"
(S.52).
Die
Normbil-
dung
abstrahiert,
das
Regelsystem generalisiert.
Die
schopferische
Imitation
aber ver-
schreibtsich der Intuitionund
beguinstigt
den freien
Umgang
mit
den
vorgefundenen
Mustern. Es entsteht
jener 'abgeleitete
Stil'
U.
Burckhardt)
er
Renaissancekunst,
der
-
nur von der Architektur
u reden
-
weltweite
Verbreitung
inden
wird.
Um
die mit
dieser
Entwicklung
verbundenen Konfliktezwischen
Herkommen
und
Neuorientierung
zu
16sen,
versuchen
sich
die
PAdagogen
und Theoretiker
des
Cinquecento
an einer "wissenschaftlichen"Methodeder
empirischen
Analyse,
die
Carpo
mit seinen
Autoren als
induktive
"tecnica
della
divisione"
bzw.
"metodo
divisivo"be-
zeichnet
(S.55).
Auch
diese
neue
Methode hat
ihre
Vorformen
n
Antike
und
Scholas-
tik.34
Aber sie
verf'ihrt,
anders als
diese,
weder deduktiv noch
logisch-demonstrativ.
Eher
steht
sie
jenen
empirischen
Verfahrender Anatomie
nahe,
die
Niccolb
Leoniceno
in
seinen Galen-Kommentaren
on 1508
dargelegt
und
als
methodisch-mnemotechni-
sches
Organonempfohlen
hat.35
Kerndieses Verfahrens st die
anatomische
Zerlegung
32. L.B. Alberti:Dere
aedificatoria,g.v.
M. Finoli
und
P.
Portoghesi,
Mailand
1966,
Bd.II,S.441.
Vgl.
C.
Thoenes:
"Anmerkungen
ur
Architekturtheorie",
n:
Architekturmodelleer
Renais-
sance.
Die
Harmonie
es
Bauens
on Albertibis
Michelangelo,g.
v. B.
Evers,
Miinchen/New
York
1995,
S.28-39;
H.-W. Kruft:
Geschichte
er
Architekturtheorie.on der
Antike
bis
zur
Gegenwart,Miinchen31991,S.47ff.
33. Kruft
Anm.32),
S.49.
34. Zur
Anwendung
der divisio
n der
scholastischen
Logik
und
Topik
vgl.
M.
Grabmann:
Die
Geschichteer scholastischen
Methode,
Bd.II:
Die
scholastische
Methode m 12. und
beginnenden
13.
Jahrhundert1911],
Darmstadt
1956,S.426ff., 76ff.;
dto.
in der
mittelalterlichen akralkunst
W.
Kemp:
"Visual
Narratives,
Memory,
and the Medieval
Esprit
du
System",
n:
Kfichler
Melion
(Anm.13),
S.87ff.
35. N. Leoniceno:
In librosGaleni
e
greca
n latinam
linguam
a se translatos
praefatio
ommunis,
Venedig
1508.Zur Rolle Galens
in der
Ausbildung
methodischen Denkens
vgl.
N.W.
Gil-
bert:Renaissance
oncepts f
Method,
New
York/London
1960,
S.3ff.
This content downloaded from 83.137.211.198 on Thu, 12 Nov 2015 21:38:12 UTCAll use subject to JSTOR Terms and Conditions
7/21/2019 Das Gedächtnis Der Kulturwissenschaften Und Die Klassische Tradition
http://slidepdf.com/reader/full/das-gedaechtnis-der-kulturwissenschaften-und-die-klassische-tradition 17/30
Harth
429
(divisio)
des
Objekts,
des
Textes
oder
Bauk6rpers,
n die ihn
konstituierenden
Ein-
zelteile
und deren
katalogartige
Archivierung.
Im
Anschluf3
an
analytische
Operation
und
kompilatorische
Aufzeichnung
werden
die Teile nach Art und
Gattung
bzw. Ge-
brauchsfunktionenklassifiziertund in Stemmata arborescientiae) ibersichtlichn Ord-
nung
gebracht.
Diese
Methode,
auch "kurzer
Weg"
(via brevis)
genannt,
erweist sich
als
besonders
erfolgreich,
da ihr
diagrammatisches
Endprodukt
zum
Auge
spricht
und
auf
beliebige
Objektbereiche
nwendbar ist.
Bald weit verbreitet
und
fortschrei-
tend
verfeinert,
findet
sie
Anwendung
in
der
Enzyklopidistik,
in
der
Mnemonik
-
Camillos "teatro
ella
memoria"
,
in
Zitatensammlungen,
n
der
Neuen
Logik
des
Petrus
Ramus
(58ff.),
im Vocabulario
er
Accademia ella
Cruscaund in
Cesare
Ripas
Iconolo-
gia.36
Sie
ist,
wie
Carpo
betont,
eine
Antwort
auf die Suche nach
neuen
Kompositions-
formen
in
allen
Kiinsten
und
fiir
all
diejenigen,
die,
selbst wenn
sie
kein
Talent be-
sitzen,
sich
an
einem literarischen
oder
bildkiinstlerischen
Werk
versuchen
m6chten.
Denn sie
archiviert
wie
eine
Bibliothek
oder ein Kunstkabinettdas in
Teile
und
Frag-
mente,
kurz: das
in zitierbare
Einheiten
zerlegte
Gedichtnis
der
antiken
Uberlieferung
und stellt es jener ars combinatoriaur Verfiigung,die auf das Alte nicht verzichtet,
sondern
es
wie
eine
Sammlung
dekonstruierterBausteine
unter
Rahmenbedingungen
ausbeutet,
die einer
Befreiung
von
den
Anweisungen
des
inhaltlich
festgelegten
Ka-
nons
entsprechen.
Sebastiano
Serlio
aus
Bologna,
Autor
eines in
ganz
Europa
rezipierten,
miichtig
nachwirkenden
architekturtheoretischen
Regelwerks,
war mit
Giulio
Camillo,
dem
Erfinder
jener
hermetischen
Gedaichtniskunst,
efreundet,
die
sich
selbst als
Univer-
salschlissel
zum
Geheimnis
des
ewigen
Kosmos und die
irdischeWelt als
"terra
blivi-
onis"
verstand.37
n
einer
Vorlesung
mit
dem
Titel
L'idea
ell'eloquenza
at
Camillo
auf
komplizierte
Weise
eine
doktrinaleRhetorik
entwickelt,
die
eine
globale
"Architektur
des
Wissens
und des
Kosmos"
schaffen
wollte
(S.66).
Camillo
konstruierte
zu
diesem
Zweck das
Denkbild einer
siebenstufigen
Treppe, uiber
die die
Lehrmethode
einer
jeden Disziplin
von
den
Einzelerscheinungen
zu den
Prinzipien
auf- und
von
dort
wieder
hinuntersteigen
sollte.
Carpo
interpretiert
dieses
methodische
Auf
und
Ab als
einen
Versuch,
zwischen den
empirischen
Einzelerscheinungen
"ein
Repertoire
von
exemplarischen
Texten:
Fille, Individuen,
Ereignisse
oder
Objekte"
S.71)
-
und
den
Regeln
bzw.
Normen einer
Wissensdisziplin,
hier
z.B.
der
Architekturdoktrin,
u
ver-
mitteln.38
Die
Einzelerscheinungen
werden
im Laufdieses
Cursus nach
einem
"metodo
divisivo"
Analyse)
zerlegt,
der von
einem
gegebenen
Klassifikationsgitter
usgeht;
in
der Baukunst von
Punkten,
Linien,
Oberflichen,
Volumen,
geometrischen
Figuren,
Bauordnungen
und
Typen
(S.64).
Auf
diesen Schritt
folgt
die
Extrapolation
der den
Phainomenen
ugrundeliegenden
Normen
(Formalisierung).
ntscheidend st die Nutz-
anwendung
dieses
Algorithmus
in
der
Produktionneuer
rhetorischer
Figuren,
neuer
'Texturen'
und
Bauordnungen.
Hier
zeigt
die
Methode ihre
innovativen
Qualittiten.
Denn die
Applikation
der induktiv
gewonnenen
Normen
aufs
Rearrangement
des
36.
Zu
den
iiber
Carpo
hinausgehenden
eispielen gl.
L.
Bolzoni:
II
gioco
delle
immagini.
L'arte
della
memoria
dalle
origini
al
Seicento",
n:
La
Fabbricael
Pensiero.
all'Arte
ella
Memoria
lleNeuroscienze
[Ausstellungskatalog],
ailand
989,
S.22ff.
37. S.
Serlio:
Regole
enerali
i architettura
opra
e
cinque
maniere
egli difici,
enedig
537/1551.
Zu
Camillo
gl.
P.
Rossi
(Anm.14)
nd
L.
Bolzoni:
II
teatro ella
memoria.
tudi u
Giulio
Camillo,
adua
984.
38. Zur
kosmologischen edeutung
ieser
Transformationer
antiken
Mnemotechnikm
Werk
Camillos
nd
Giordano runos
gl.
P.
Rossi
Anm.4)
.15.
This content downloaded from 83.137.211.198 on Thu, 12 Nov 2015 21:38:12 UTCAll use subject to JSTOR Terms and Conditions
7/21/2019 Das Gedächtnis Der Kulturwissenschaften Und Die Klassische Tradition
http://slidepdf.com/reader/full/das-gedaechtnis-der-kulturwissenschaften-und-die-klassische-tradition 18/30
430
International
ournal
f
the
Classical
radition
Winter
996
gegebenen
und
klassifizierten
Materials
st eine
Bedingung
fiir
"neue
kompositorische
Synthesen"
(S.72).
Camillos
Lehrmethode
des
Auflasens
(dissoluzione)
nd des
Wiederzusammenfii-
gens
(ricomposizione)
m Sinne der Neubildung hat im 16. JahrhundertWidersacher,
aber
auch
Nachfolger
gefunden:
z.B.
in der Poetik
Francesco
Patrizi,
n
der
Philosophie
Petrus
Ramus.
Der
Architekturtheoretiker
erlio hat,
wie
Carpo
im
einzelnen
zeigt,
Camillos
Verfahren
aufgegriffen
und zu einer
"Rhetorikdes Zitierens"
vereinfacht.
Ergebnis
st
ein
"architektonisches
Lexikon",
das
nicht die
Termini
der Baukunst
ver-
zeichnet,
sondem
die
nach
Geometrie,
Perspektive
und
Anordnung
klassifizierten
For-
men
sakraler
wie
profaner
Architektur.
Dieser visualisierte
und
leicht zu
nutzende
Thesaurus
sollte
den
Benutzer
anleiten,
die
antiken,
als
Ruinenfragmente
vor
Augen
liegenden,
im "Lexikon"
erzeichneten
und
geordneten
Architekturmuster
u
memo-
rieren
und,
je
nach
Bedarfund
Geschmack,
ermutativ
u neuen
Kompositionen
usam-
menzufiigen.39
Serlios
Suche nach
novit4
hat der manieristischen
Variation und Kom-
bination
scheinbar
nkompatibler
Formen
den Boden bereitet.
Langfristig
gesehen
hat
dieses relativfreie Spiel mit dem kulturellenGedachtniseine Wiederherstellungklas-
sizistischer
Normen
nicht
verhindert,
sondern
begiinstigt.40
Der
hier
skizzierte Umbau
der
Architekturtheorie ist
exemplarisch fiir
eine
verainderte
Einstellung
zur Tradition.Denn
die Lehrmethode
geht
von
der Wechsel-
beziehung
zwischen
imitatiound
inventio,
zwischen
anamnetischem
Erinnern
und
vorausdenkendem
Projektentwurf
us.
Der klassische
Text
bzw.
das
dem
entsprechen-
de
Architekturfragment ilt gleichsam
als
Archetyp,
als
ein
zeitresistentes
Monument,
dessen
normative
Geltung
die
Epoche
allmAhlichhistorisch
relativiert,
ndem
es das
Wie
und
Warum
untersucht
und die Materialien
nicht nur
konserviert,
sondern
nach
wissenschaftlichen
Kriterien
neu anordnet.Die
benutzerfreundliche
Archivierung
und
systematische
Neuordnung
dieses kulturellen Gedaichtnisses,
ie
von der
Reproduk-
tionstechnik
der Buchdruckerkunst
egiinstigt
wurde,
stand
der
Suche nach individu-
ellen Stilen
nicht im
Wege.
Im
Gegenteil:
sie
hat
es
den
Kiinstlernerleichtert,
sich
in
ein
freies
Verhiiltniszur Macht
(auctoritas)
es
Gedaichtnisses
u setzen. Denn metho-
dische
Zergliederung,
Klassifizierung
nd
Archivierung
ind
geeignet,
die
Gegenstiinde
in Distanz
zu
halten,
sie
nicht
nur als
imperativische
Monumente
(Erinnerungsze-
ichen),
sondern
auchals
erklairungsbediirftige
tudienobjekte
wahrzunehmen.
Die
Dis-
tanz erst
macht den
Kiinstler frei.
Sie
f6rdert
die
Lizenz,
sich vom Gewicht
der
kul-
turellen
Tradition
zu
entlasten,
ohne
mit ihr
brechen zu
miissen.
Sie
kann unter
dieser
Voraussetzung
m kulturellenGediichtnis
aufgehoben
erden.
So
paradox
es
klingt:
Die
Verwandlung
der handwerklichen
mitatio
n
ein
propai-
deutisches
Fachder
Kiinstlerausbildung
st
zugleich
eine
Funktion
der
Standardfestle-
gung,
niimlich der
Kanonisierung.
Dafiir
sind
typisch:
die besonnene Auswahl unter
der
Masse
des
Uberkommenen,
die
Klassifizierung jedes
Muster eine
Klasse
iir
sich)
und
Exklusivitit
("SchlieBung"
es
Kanons).41
ur das
Beste,
betonen die
Lehrmeister
immer wieder, ist nachahmenswertund daher im artistischenGedichtnis aufzube-
wahren.
Mnemotechnik,Selektion,
Reflexion
und Phantasie
miissen
daher
-
wie
Mary
39.
S. auch
die Studie
on
L.
Olivato:
Dal eatro ella
memorial
grande
eatro
ell'architettura:
Giulio
Camillo Sebastiano
erlio",
ollettinoelC.I.S.A.
1
(1979),
.233-252.
40.
Vgl.
zurweiteren
Entwicklung
ruft
Anm.32),
.80ff.
41.
Jan
Assmann
(Anm.13,S.107)
unterscheidet
ier Gebrauchsweisen
es
Kanonbegriffs:
"MaBstab,ichtlinie,
riterium;
orbild,Modell;
Regel,
Norm;
Tabelle,
iste".
This content downloaded from 83.137.211.198 on Thu, 12 Nov 2015 21:38:12 UTCAll use subject to JSTOR Terms and Conditions
7/21/2019 Das Gedächtnis Der Kulturwissenschaften Und Die Klassische Tradition
http://slidepdf.com/reader/full/das-gedaechtnis-der-kulturwissenschaften-und-die-klassische-tradition 19/30
Harth
431
Pardo in einer Studie
uiber
Leonardoda Vincis
Lehrmethode
zeigt
-
zusammenge-
hen.42
Das "visuelleGedichtnis"des Schuilers er Malkunsthat
in
den Renaissancetheo-
rien den Statuseiner Kontrollinstanz.Es hilt
wafhrend
des imitativen Studiums der
kanonisiertenModelle
das
fest,
was
in der bildenden
Kunst
der Schrift
am
nichsten
kommt:
die
Zeichnung (disegno)
er
K6rper
und
Figuren.
Doch
Leonardo
geht
es
nicht
um
die
blof3eReproduktion.
Er
empfiehlt
dem
Schuiler
as Studium und die
Imitatio
verschiedener
Meisterwerke,
um
ihn
zu
eigener
Urteilsbildung
zu
notigen
(Pardo,
S.53ff.).
Der
entscheidende
Schrittauf dem
Weg
zur Meisterschaft
ber st die
Anschau-
ung,
das
Kopieren
nach der Natur.
Hier
endlich
bleibt das
Gedaichtnis
hinter dem
Vermogen
der
Einbildungskraft imaginatio)
uruick,
die
Bewegung
der
wahrgenom-
menen
Dinge
zu
registrieren
nd
vor
das
innere,
bildschaffende
Auge
zu
ruicken
S.62ff.).
Und auch dieses
Vermogen
sto6gt
och an
Grenzen,
wenn
es
um
das
h6chste Ziel
der
Malerei
geht:
die freie und
dennoch
organische Komposition
der
Bewegungsfiguren
auf dem Tableau.
LeonardosMethodebesitzt - das zeigt Pardos Studie- einen eminent reflexiven
Zug,
der
die aristotelische
Gedachtnispsychologie
n
ihre Schranken
weist,
so als
wolle
die neue Methode
sich
von
jener
moralischen
Kontrolle
der
Phantasie
befreien,
die im
Mittelalter
das
Zusammenspiel
zwischen memoria
nd
imaginatio
eherrschthat.
Der
Aufstand
gegen
diese
Traditionhat den Malerund
Ingenieur
mmer wieder
veranlaftt,
den
Bedingungen
k-instlerischer
und technischer
Kreativitat
auch auf
materiellem,
lies:
physiologisch-anatomischem
Boden nachzuforschen.Wie
in
den
padagogischen
Theorien
der Baukunst
spielt
auch
hier
die kritische
Lektiireder
medizinischen
und
naturphilosophischen
SchriftenGalens eine
katalysatorische
Rolle.43
Sie hat
offenbar
jene Methodologie
bestairkt,
ie auf
induktivem
Weg
von
der
-
sei es
formalen,
sei es
empirischen
-
Analyse
der
Einzelphanomene
fiber
die
Prinzipien
der
Synthesis
zu
einem verinderten
Bild der Wirklichkeit ortschreiten
ollte.
Doch nicht der
Szientis-
mus ante litteram
st das
Bemerkenswerte
an
dieser
Entwicklung,
vielmehr
der Ver-
such,
das
visuelle Gedichtnis
in eine
innerweltliche
Kosmosvorstellung
u
integrieren.
So
entspricht
in Leonardos Theorie die
kompositorische
Synthesis
im
Malakt einem
komplizierten
Zusammenspiel
zwischen
Auge,
Hand und
Seelenvermogen,
dessen
leitende Idee
Harmonie eiBt
und das sich
in
letzter Instanz der
Erklairung
ntzieht.
Das
Ziel,
die
Harmonie-Idee
bildlich zu
realisieren,
gibt
der
Malereidie
Berechtigung,
sich
an
die Stelle
der
rhetorischen
Mnemonik
zu
setzen,
um
deren
Beschrinkungen
zu
fiberwinden. Sie selber erhebt nun den
Anspruch
auf eine Kunst
der
Erinnerung,
die
das
sinnlich
Wahrgenommene
n einen
selbstgeschaffenen
Kosmos
iibersetzt
und
zu-
gleich
vom Betrachter ine
eigenstaindige,
naimlich
aisthetischeRezeptionshaltung
ver-
langt
(S.68).
Die
Figur
des
Kiinstlers
erscheint in dieser
Perspektive
bereits als Demi-
urg
einer
von ihm
geschaffenen diesseitigen
neuen
Welt,
die sich
kategorisch
vom
Gediichtnis
der alten
Weltbilder
unterscheidet.
Das Veralten radiertenWissenskennzeichnet einen Bruchmit der
Oberlieferung,
der in der friihen Neuzeit verschiedene Antworten
herausgefordert
hat.
Das "advance-
ment
of learning"
FrancisBacon),
Motor
der naturwissenschaftlichen
Theoriebildung
und
experimentellen
Praxis
im 16./17.
Jahrhundert,
iihrt
zu
einer
positiven
Bewer-
42. M.
Pardo:
Memory,magination,iguration:
eonardo a Vinciand the
Painter's
Mind",
in:
Kiichler
Melion
Anm.13),
.47-73.
43.
M.
Kemp:
"I1
oncettoell'animan
Leonardo's
arly
Skull
Studies",
ournal
f
the
Warburg
and
Courtauld
nstitutes
4
(1971),
.129ff.
. auch
M.
Pardo,
p.
cit.,
S.220
Anm.).
This content downloaded from 83.137.211.198 on Thu, 12 Nov 2015 21:38:12 UTCAll use subject to JSTOR Terms and Conditions
7/21/2019 Das Gedächtnis Der Kulturwissenschaften Und Die Klassische Tradition
http://slidepdf.com/reader/full/das-gedaechtnis-der-kulturwissenschaften-und-die-klassische-tradition 20/30
432
International
ournal
f
the
Classical
radition
Winter
996
tung
des
Vergessens
und zur Polemik
gegen
Biicher-
und Traditionswissen.Aber
wie
so
oft
war
auch
diese
Polemik nichts anderesals
eine
rhetorische
Verallgemeinerung,
die
das
fibersah,
was Paolo Rossi als einen
komplizierten,
die Renaissancekultur
insge-
samt charakterisierendenRapportzwischen "riscopertaegliantichi"und "sensodel
nuovo"
beschrieben
hat."4
Eine
Verkniipfungsstelle
zwischen Altem
(antiquitas)
und
Neuem
liegt gewiB
in
jener
fir
die
Moderne
typischen Neugier,
die
Welt
im
ganzen
der
menschlichen
Erkenntnis
verfiigbar
zu machen. In ihr
liegt
letztenendes auch
ein
Motiv
daffir,
die
Antike
nicht
nur restaurativ
wiederherzustellen,
sondern sie
als die
Ausprigung
einer
scheinbar vollendeten
Kultur
zu
bewahren,
zu
deuten und
zu
er-
klaren.
Das
ist eben nicht dasselbe
wie
jene
"Rezeption",
als
deren locus
classicus
die
komplette
Uberschreibung
eines
eigenen
durch
ein anderes,
niimlich
durch
das
r6-
mische
Rechtssystem gilt.
Die methodische
Aneignung
der
Antike durch die
Huma-
nisten
und
Renaissancekiinstler
st
schon
Aus-einander-Setzung,
eutende Um-Schrei-
bung
und
anamnetische
Arbeit
im Namen
jener
"kontraprasentischen
rinnerung",
die
nicht
eine,
sondern
mehrere
Traditionenunterscheidet
und
eine
Wahl trifft.
Der
europaische Humanismus entschied sich gegen das Mittelalterund fiir die Antike,
eine
Entscheidung,
die
in
nachhaltiger
Weise auch
die noch
lebendigen
mittelalterli-
chen
Traditionenumstrukturiert
hat. Nichts
belegt
besser die
Wechselbeziehung
zwi-
schen
Assimilation
und Distanznahme als die von dieser
Epoche
ausgehende
his-
torische
Periodisierung,
die zwei
historische
Vergangenheiten
Altertum
und
Mittela-
Iter
mit
der
Gegenwart
einer neuen
Zeit
konfrontiert.
Ein
Begleiterscheinung
der
Renaissancewar
die
Illusion,
die
Ungleichzeitigkeit
zwischen
Altertum
und
Gegenwart
durch
einen
Akt
der
Wiedergeburt
iberwinden
zu
k6nnen.
In
Wahrheit stellt dieser
Akt
die
Ungleichzeitigkeituiberhaupt
rst her. Hi-
storisierend
vertieft
die anamnetische
Erinnerung
die Unterschiedezwischen
inkom-
patiblen
Lebenswelten
und ruft Formender
Vermittlung
hervor,
die
-
in the
long
run
-
in die bewahrende
und
auslegende
Arbeit der
Kulturwissenschaften
einmiinden.
Eine Theoriedes
"kulturellen
Gediichtnisses"
Die
Metapher
der
Wiedergeburt
zitiert den
Tod,
und
dieser
den dunklen
Grund,
den
die Mnemotechnik
zu
fiberbriicken
sucht. So
jedenfalls
erzahlt
es die
Gruin-
dungslegende,
die Ciceros De oratoredem
Gedichtnis
der
europaiischen
Literaturen
fiberliefert
hat.45
Liest man
diese
Erziihlung
als
metaphorischen
Kommentar,
so
44.
P.
Rossi
Anm.5),
.164.
45. Cicero:De
oratore,
I.86.352ff.:Dicunt
enim,
cum cenaret
Crannonen Thessalia imonides
apud
Scopam
ortunatum
hominem t nobilem
ecinissetque
d
carmen,
uod
n eum
scripsisset,
n
quo
multa
ornandi
ausa
poetarum
more
n
Castorem
scripta
t
Pollucem
fuissent,
nimis
illum
sordide
Simonidi
dixisse e dimidium ius
ei,
quodpactus
esset,
pro
llo
carmine
aturum;
eliquum
suis
Tyndaridis,uosaequeaudasset,eteret,
i
ei
videretur. aulo
postesseferunt
nuntiatum
imonidi,
ut
prodiret;
uvenis
taread
ianuam
uo
quosdam,
ui
eum
magno
pere
vocarent;
urrexisse
llum,
prodisse,
idissenemimen: oc interim
spatio
conclave
llud,
ubi
epularetur
copas,
oncidisse;
a
ruina
ipsum
cum
cognatis
oppressum
uis interisse:
quos
cum
humare
ellent
sui
neque
possent
obtritos
nternoscere llo
modo,
Simonides
icitur
ex
eo,
quod
meminisset
uo
eorum oco
quisque
cubuisset,
demonstrator
nius
cuiusque
epeliendi
iaisse;
hac
tum
re admonitusnvenisse
ertur
ordinem sse
maxime,
ui
memoriae
umen
adferret.
"Man
erzaihlt
amlich,
Simonides
habe
zu
Krannon
n
Thessalienbei
Skopas gespeist,
einem
reichenund
vornehmen Mann,
und
dort
ein diesem
gewidmetes
Gedicht
vorgetragen,
n
dem
er
-
wie
das so
Dichterart
st
-
um
der
Ausschmickung
willen auch viele Worte
fiber
Castor und Pollux verlor. Daraufhin habe
This content downloaded from 83.137.211.198 on Thu, 12 Nov 2015 21:38:12 UTCAll use subject to JSTOR Terms and Conditions
7/21/2019 Das Gedächtnis Der Kulturwissenschaften Und Die Klassische Tradition
http://slidepdf.com/reader/full/das-gedaechtnis-der-kulturwissenschaften-und-die-klassische-tradition 21/30
Harth
433
kommt
eine
eigentiimliche Konjunktion
zwischen Traditionsbruch
versinnbildlicht
im
zusammengestiirzten
Versammlungshaus
und
Totengedenken
versinnbildlicht
in den
mithilfe
der
Sitzordnung
(loci)
wiedererinnertenBildern
(imagines)
der
unter
den Trimmem begrabenenMitgliederder Festgemeinde- ans Licht.Das etwa durch
innere oder
aiufiere
Katastrophen
erschuldete
plotzliche
Dahinschwinden
einer
alter-
en Kulturformation
nd des mit dieser identischen Wertehorizonts
tellt
jede
Gemein-
schaft
vor
die
Frage,
auf
welche
Weise
die
Gegenwart
mit den
Erfahrungen
und
dem
Wissen
der
untergehenden
Welt
umgehen
soill.
Eine
Frage,
die,
weit
iiber
den
blof3
technischen
Rahmen der
Mnemonik hinaus,
kulturtheoretischeProbleme sehr
allge-
meiner Art beriihrt.
"Die
urspriinglichste
Form,
gewissermaigen
die
Ur-Erfahrung
enes
Bruchs
zwi-
schen
Gestem
und
Heute,"
heiBt
es
in
Jan
Assmanns
groier,
interdisziplinAr
und
kulturvergleichend
angelegterUntersuchung
Das kulturelle
Gediichtnis,
in der
sich
die
Entscheidung
zwischen
Verschwinden und
Bewahren
stellt,
ist der
Tod."46
Assmann
begreift
das
Weiter- oder
Nachleben
der oder des Toten
(im
personalen
wie
kollekti-
ven Sinn)nicht als eine selbstverstiindliche ymbolischeFortexistenz, ondem als ein-
en
bewuBt
gegen
das
Vergessen
nszenierten
"Akt
der
Belebung"
durch das
Kollektiv.
Die
Symbole
des 'Weiterlebens'
miissen
erst
geschaffen,
hre
Verwendungsregeln
erst
gesetzt
oder vereinbartwerden. Wo dieses
Ineinandergreifen
on
zeitiiberbriickender
Mnemotechnik
und
sozialer
Imagination
ehlt,
liBt
sich kaum von
Kultur,
geschweige
denn
vom
"kulturellen
Gedichtnis" reden.
Es ist Assmanns
Absicht,
diesen
Mechanismus
der
Kontinuitiitserzeugung,
em
sich nichts
weniger
als
das Identititsbewugttsein
iner
Gesellschaft
verdanken
soill,
m
Rahmen
einer
"allgemeinen
Kulturtheorie"
u
diskutieren
(S.19).
Im Zentrum
dieser
Kulturtheorie tehen nicht die
simplen
didaktischen
Regeln
der
rhetorischen
Ars
me-
morativa.
Ihr
Erkl~rungsobjekt
ind vielmehr die
komplizierten
Relationen
zwischen
-
so der Untertitel
-
"Schrift,
Erinnerung
und
politischer
Identitiit n
friihen
Hochkul-
turen",Relationen,
die sich
im
Begriff
des
"kulturellenGedaichtnisses"iberschneiden.
In vier
beeindruckenden
Fallstudien
vergleicht
Assmann die
Leistungen
dieses
"kul-
turellen
Gedaichtnisses"
iir
die
"Erfindung
des
Staates" m alten
Agypten
(S.167ff.),
fidr
den
"Zusammenhang
zwischen
Recht und
Erinnern" n den
Keilschriftkulturen
(S.231ff.),
iir
die
"Erfindung
der
Religion"
in
Israel
(S.196ff.)
und
ffir
die
"Diszipli-
nierung
des Denkens" n
Griechenland
S.259ff.).
Der
Begriff
der
"Erfindung"
erweist
schon in der
verkiirzten
Form
der
Zwischentitel auf
den
erheblichen
Anteil,
den
Ass-
manns Theoriedem
Imaginaire
m
Prozei
der
Zivilisation
zubilligt
(vgl.S.133ff.).
der
fiberaus
geizige
Skopas
zu
Simonides
gesagt,
er
werde ihm nur
die
Hilfte
des
verein-
barten
Honorars
auszahlen,
die andere
mige
er
sich
geffilligst
von den
Tyndariden
besor-
gen,
die er zu
gleichen
Teilen mit Lob
bedacht habe.
Kurz
darauf,
heif~t
s
weiter,
habeman
Simonidesgemeldet,
er
m6ge
vors Haus
kommen,
es
wartetenam
Tor zwei jungeMainner,
die
ihn
dringend
sprechen
wollten.
Er
habe sich
erhoben und
sei
hinausgegangen,
habe
aber
niemanden
gesehen.
Unterdessensei der
Versammlungsraum,
n dem
Skopas
tafelte,
eingestiirzt
und
habe hn
mitsamt
den
Seinigen
unter
den
Truimmem
egraben
und
zugrunde
gerichtet.
Als die
Angeh6rigen
dann die Toten
bestatten
wollten,
hitten
sie die
verstiim-
melten Leichen
iiberhaupt
nicht identifizierenk6nnen.
Da
soil
Simonides,
indem er
sich
den
Sitzplatz
eines
jeden
in
Erinnerung
ief,
jeden
einzelnen
ffir
das
Begribnis
bezeichnet
haben. Durch dieses
Ereignis
belehrt,
so
erziihlt
man,
habe er
herausgefunden,
daB
es
vor
allem die
Ordnung
sei,
die
dem
Gedaichtnis
in
Licht
aufsetzt.")
46.
J.Assmann Anm.13),
S.33.
This content downloaded from 83.137.211.198 on Thu, 12 Nov 2015 21:38:12 UTCAll use subject to JSTOR Terms and Conditions
7/21/2019 Das Gedächtnis Der Kulturwissenschaften Und Die Klassische Tradition
http://slidepdf.com/reader/full/das-gedaechtnis-der-kulturwissenschaften-und-die-klassische-tradition 22/30
434
International
ournal
f
the
Classicalradition
Winter
996
Die erste
Hilfte
dieses
gedankenreichen
Buches entwirft
in
Auseinandersetzung
mit
dem
fiir
Jahrzehnte
vergessenen,
kiirzlich
erst wiederentdeckten
franzosischen
Soziologen
MauriceHalbwachs
eine
Theoriedes kollektiven
GedAichtnisses,
eren
kul-
turgeschichtlicher
nnovationswert n den anschlietBenden allstudienRelief
gewinnt.
Kritischer
Ausgangspunkt
ist
fiir
Assmann
das
Nebeneinander
zweier
moderner
For-
schungsrichtungen,
von denen die
eine,
die
wissenssoziologische
Position,
den
Durch-
bruchzur
Zivilisation
im ersten vorchristlichen
ahrtausend
us dem
Auftreten
neuer
intellektueller
Eliten und
Weltdeutungsmuster
rklirt, wihrend
die
andere,
die
medi-
engeschichtliche
Position,
den
ZivilisationsprozeB
auf die Evolution der
Schriftsyste-
me
zuriickfitihrt.47 ssmanns
Untersuchung
will
diese
Richtungen
zusammenfiihren.
Er
unterscheidet
zu diesem
Zweck
im
Begriff
der
Kultur
zwischen normativen
und
narrativen
Merkmalen:
"Regeln
und Werte"
einerseits,
"die
Erinnerung
an
eine
ge-
meinsam bewohnte
Vergangenheit"
andererseits
S.17).
Beide
Modi
sichern
durch
Re-
kurs auf
Friiheres
den
Zusammenhalt
-
in
Assmanns
Terminologie
die
"konnektive
Struktur" einer
sozialen
Ordnung,
unterscheidensich aber
von
Gesellschaft
zu Ge-
sellschaft in der Beschaffenheitder jeweils geltenden kollektivenErinnerungsprakti-
ken. Diese
sind
vielfiltig,
reichenvom mimetischen
Handeln
uiber
die
selbstgeschaffene
Dingwelt
und
den
Spracherwerb
bis in
die
institutionellen
Raume,
in denen
sie
von
Spezialisten
auf
relativeDauer
gestellt
werden:
Rituale,
Denkmiler,
Zeremonien,Schrift,
Auslegung.
Sie
bieten,
wie
die beiden
Seiten ein- und derselben
Miinze,
subjektive
und
objektive
Ansichten
der
"Kultur",
nsofern sie
Sinn und
Identitit
einer
kollektiven
Lebensform
zugleich
schaffen
und zu sichern
imstande
sind. Erst
mit
der
mnemotech-
nischen
Organisation
der
Schriftkultur,
o
Assmanns
Hauptthese, gelingt
es
aber,
die
Sinn-Uberlieferung
on der direkten Kommunikation
abzukoppeln.
Es
entsteht so
ein,
von
der
gruppenintemen
Sinnzirkulation
aus
gesehen,
materiell-semiotischer
Bereich
der
kontrapriisentischenewahrung
auslegbarer
Vorstellungs-
und
Bedeutungswelten,
der
in Kontakt
bzw.
Konflikt mit den
jeweils
aktuellen Selbstbilderndes
Kollektivs
tretenkann: das kulturelleGedfichtnis. ieses externeGedachtnis"speistTraditionund
Kommunikation,
aber
es
geht
nicht
darin
auf"
(S.23).
Anhand des
Kanonbegriffs
nd der
Kanonbildung,
m diese
zentralen
Punkte
her-
auszugreifen,
erlautert Assmann die
Funktionen des
im Medium
der Schrift
behei-
mateten
kulturellen
Gedichtnisses.
In einem
aufschlufBreichen
apitel
rekonstruiert
r
zunhchstdie Genese
sowie den
Bedeutungs-
und
Funktionswandeldes
Kanonbegriffs
(S.103ff.).
Das
griechische
Wort
hatte
zunichst
mit
Schriftnichts
im
Sinn,
bezeichnete
es
doch
das
"Richtscheit"oder
"Lineal"des Architekten und Baumeisters. Die ur-
spriingliche
semantische
Verbindung
mit
den
MaI3-
nd
Stabilititsanspriichen
er Tek-
tonik ist
noch
in
der
Ubertragung
auf andere Kunstformen
ebendig,
etwa
in den von
Galen,
Plinius
und
zahlreichen
andern
antiken Autoren iiberlieferten
Kunstregeln
des
Polyklet
und dessen
als sicht- und
greifbarer
Kanon"
ezipiertes
Bildwerk
Doryphoros.48
Eine
metaphorische Ubertragung
des
Begriffs
auf
ethische,
politische,
artistische u.a.
Problemlagen
in der antiken Welt
liel3
nicht
lange
auf sich warten. Der
gemeinsame
47.
Fiir
die
erstgenannte
osition
vgl.
z.B. S. N. Eisenstadt
Hg.):
Kulturen
erAchsenzeit.
Ihre
Urspriinge
nd
hre
Vielfalt,
Bde.,
Frankfurt/Main
987,
ir
die andere
die Arbeiten on E.
A. Havelock:
Schriftlichkeit.
as
griechische
lphabet
ls
kdlturelle
evolution,
Weinheim
1990,
und
J.
Goody:
The
Logic f
Writing
nd the
Organisation
f
Society,
Cambridge
1986.
48.
Vgl.
insbes.
die
Beitriige
von E.
Berger
und H.
Philipp
in:
Polyklet.
Der Bildhauer er
griechi-
schen
Klassik,
g.v.
H.
Beck
et
al.,
Mainz1991.
S. auch
W. G. Moon
(Hg.):Polykleitos,
he
Doryphoros,
nd
Tradition,
Madison,
WI/London
1995.
This content downloaded from 83.137.211.198 on Thu, 12 Nov 2015 21:38:12 UTCAll use subject to JSTOR Terms and Conditions
7/21/2019 Das Gedächtnis Der Kulturwissenschaften Und Die Klassische Tradition
http://slidepdf.com/reader/full/das-gedaechtnis-der-kulturwissenschaften-und-die-klassische-tradition 23/30
Harth
435
Nenner
all
dieser,
iiber
variierende
Diskurse zerstreuten
Gebrauchsweisen
umschlieSt
-
mit
einem
Wort Max Webers
-
"die
Eingestelltheit
auf das
Regelmii3fige"
nd einen
universellen,
d.h. situationsabstrakten
Geltungsanspruch
der
zugrundeliegenden
Ori-
entierungsfunktionen.49
Was die
Metaphorisierung
andeutet
-
'Bau' einer
Lebensformnach
Matfgabe
der
tektonischenRichte
-
das bezieht Assmann
verallgemeinernd
auf
Typen
der
"Kultur",
die
ihren
Zusammenhalt,
ihre
Identitat,
schriftkulturellen
Mnemotechnikenverdan-
ken." Wie
jede
Identitait ildet
und
erhiilt
auch die
des Kollektivssich
unter
Bedingun-
gen
des
Ein-
und
AusschlieBens.
So
kann
ein
kultureller
Kanon
n
der
Gestaltkonkreter
Normierungen
auftreten,
die auf
einer
Skala
zwischen
den
Extremen
systematischen
Vergessens
(Zensur)
und fundierender
Letztbegriindung
Kanon
der
Vemrnunft)
hren
Ort haben.
In
jedem
Fall zieht der Kanon
eine Grenze:zwischen
erlaubt
und
verboten,
zwischen
heilig
und
profan,
zwischen wertvoll und
wertlos,
zwischen
verniinftig
und
unvemiinftig
und
verspricht
eben dadurch
Orientierung.
Der
Modus
wertsetzender
Selektion,
der das
eine
aus
der
Kultur
aus-,
das
andere
in
sie
einschlie&t,
wird in
solchen Situationen verschairft,n denen die Aufl6sung alter Verbindlichkeitendie
Gegenwart
mit
Orientierungslosigkeit
edroht.
Innerhalb
der von Assmann
kultursemiotisch
und
-soziologisch
erweitertenGren-
zen
steht "Kanon"
als ein
abgeleitetesWertsystem
uiber
den
selbstverstindlichen
Nor-
men
alltiglicher
kultureller
Praxis,
da
das von ihm
umschriebene
Prinzip
ein
Ideal
(der
Vollkommenheit;
.116)
kodifiziert,
an dem
sich
die
Vergesellschaftung
iner
Grup-
penidentitat
zu orientieren hat. Als eine
solche
"Norm
zweiter
Ordnung"5'
steht
"Kanon"
-
fiir
die
"Grammatik"
er
spitigyptischen
Kultur,
verk6rpert
im
Ritus
und
in
der
wie
ein
Buch
mit
Schrift
iibersaten
monumentalen
Tempelar-
chitektur
der
Epoche;
-
fiir
die
hodegetische
Mnemotechnik
sraels,
bezogen
auf den
Kanon des
Kanons
und die
exegetische
Monokultur
des
geheiligten
Textbestandes;
-
fiir
die
(wissenschaftliche)
Disziplinierung
agonistischer
Strukturen
n
der
Schriftkultur
Griechenlands,
ie
-
unter
den
Bedingungen
dauernd
m6gli-
chen
Wiederankniipfens
(hypoleptisches Prinzip)
an
"klassische"Texte
-
zum
Medium
der
Wissensevolution
geworden
ist.
In allen
genannten
Hochkulturen,
so Assmanns
These,
antwortet die
Kanonbil-
dung
auf den
Zusammenbruchdes
'Hauses'
der
alten,
auf den
Fundamenten des
Ritus
und
unbefragter
Traditionen
gebauten
Kultur. Der
durch
je
verschiedene
endo-
gene
oder
exogene
Ursachen
herbeigefiihrte
Traditionsbruch
n
der einen
oder
andern
Sozialordnung zwingt
diese
dazu,
um der
Selbsterhaltungwillen
besondere
Kompen-
49.
M.
Weber:
Wirtschaft
nd
Gesellschaft. rundrifl
erverstehenden
Soziologie,
iibingen
51972,
S.188.
50. "Die
Kanonmetapher
ostuliert
ugleich
mit
der
Konstruktivitiit
erWelt derMensch
ls
Baumeister
einer
Wirklichkeit,
einer
Kulturund seiner
selbst die
Letztinstanzlichkeit
und Hochverbindlichkeiter
Prinzipien,
enen
olche
Konstruktionichunterwerfen
uS,
wenn das
Haus'Bestand aben
soill."
Assmann,
p.cit.,
S.127)
51. Zur
Definition
es Kanons ls
"Norm
weiter
Ordnung"
.
D. Conrad:
Zum
Normcharak-
ter
von 'Kanon'
n
rechtswissenschaftlicher
erspektive",
n:A.
und
J.
Assmann:
Kanon nd
Zensur,
Miinchen
987,
.46-61.
This content downloaded from 83.137.211.198 on Thu, 12 Nov 2015 21:38:12 UTCAll use subject to JSTOR Terms and Conditions
7/21/2019 Das Gedächtnis Der Kulturwissenschaften Und Die Klassische Tradition
http://slidepdf.com/reader/full/das-gedaechtnis-der-kulturwissenschaften-und-die-klassische-tradition 24/30
436
International
ournal
f
theClassicalraditionWinter
996
sationsstrategien
und
Deutungsmuster
zu entwickeln.Das
fiihrt
nicht zur
bloiSen
Er-
haltung
der
Tradition,
vielmehr zu ihrer
Aufhebung
in
ein
neues
Selbstbild,
das
Ass-
mann
als
eine
"Steigerungsform
kollektiver
Identitait"
nterpretiert
S.134ff.;193).
Die
Traditionwird "reflexiv";will sagen: sie wird in der Bedeutung kontrapriisentischer
Erinnerung
n
Distanz
gebracht,
und
es entsteht
jene "symbolische
Sinnwelt",
die
es
erlaubt,
kategorisch
zwischen der
"naturwiichsigen"
nd
einer
Kulturzweiter
Ordnung
zu
unterscheiden.52
Die Kultur zweiter
Ordnung
ist
gegeniiber
den
naturwiichsigen
Formationen
durch
institutionell
gesicherte
und
symbolisch
vermitteltePraktiken
der
Integration,
m Sinne
der
Identitaitsbildung,
nd
Distinktion,
m
Sinne
einer
Abgren-
zung
nach
aufen,
ausgezeichnet.
Beide Funktionenmanifestieren ich in den
Organi-
sationsstrukturen ines
schriftkulturellen
Gedaichtnisses,
as
iiber
den
Traditionsbruch
hinweg
Kontinuitiit
zu
bewahren
sucht,
ohne die
Erfahrung
des
Bruchs
wegzuzau-
bern.
"In
Israel ist es die
Erinnerung
einer
dissidenten
Gruppe
[...
],
die
sich im
Zeichen
der Distinktion uf die Torah
gruindet.
Die zentrale
Erinnerungsfigur
st
die
Geschichte
einer
Auswanderung,
einer
Sezession,
einer
Befreiung
aus der Fremde.
In
Griechenland st es die gemeinsame Erinnerungvieler zerstreuterGruppen, die sich
im
Zeichen
der
Integration
uf
die
Ilias
stiitzt.
Die
zentrale
Erinnerungsfigur
st
die
Geschichte
einer
Koalition,
eines
panhellenischen
Zusammenschlusses
egen
den Feind
im Osten"
(S.273).
Wohl
ist es ein Kennzeichen der
Kanonbildung,zugleich
mit
der
Kodifizierung
des
Gediichtnisses
auf
der
Grundlage
eines "fundierendenTextes"
oder
Textcorpus
die Autoritat
des Kanons
durch
Schlieg3ung
icherzustellen.Die
Frage
st
jedoch,
warum
ein
solcher
Kanon
fiber
die Zeit seiner
Fixierung
hinaus
Autoritait
ewahrt.
Auf
diese
Frage
gibt
Assmann
zwei
Antworten.
So
erlaiutert
r u.a. am
Beispiel
der
Homerischen
Epen,
dalB
diese
selbst
teilhaben an
der
Reorganisation
der
Kultur,
indem sie einer
vom
Untergang
bedrohten
Gesellschaft,
der des
"heroischen
Zeitalters",
Gestalt
und
Stimme
geben.
Diese
Epen
sind
nicht
nur,
wie
es
zugespitzt
heiBt,
"Rekonstruktion
von
Vergangenheit".
Es
gelingt
ihnen
auch,
die "Summe
der
Uberlieferung
in
ein
Werk
v6llig
neuen
Typs
ein[zu]bringen"
(S.275).
Die
Vergangenheit
wird an
der
Schwelle
ihrer
Auflosung,
so konnte man
zusammenfassend
sagen,
nicht
nur
erinnert,
sondern
im ProzeB der
Textualisierung
auch erschaffen. Sie wird zur
interpretierten
Vergangenheit,
die das
Stigma
der Umbruchszeit
triigt,
deren in der formalenGestalt
des Gedichts
gelungene
Uberwindung
selbst
noch in
spaiteren
ahrhunderten
ls ein
vollendetes
Sinnzeichen
n
Erinnerunggerufen
werden
kann.
Assmanns
zweite Antwort
erlaiutert
ie
Erinnerung
an
Homer in der
Perspektive
der "Klassik"
nd des
"Klassizismus".
Diese
Erinnerung
etzt
im
4.
Jahrhundert
.u.Zt.
ein,
in der Zeit
eines
Traditionsbruches,
er
alle
Mittelmeerkulturen
rgreift.
Die
darauf
antwortende
Reorganisation
des
kulturellen
Gedaichtnisses
rientiert
sich
-
wie
Ass-
mann
vermutet
(S.277)
eher
an
6stlichen als
an
griechischen
Modellen der schriftzen-
triertenMnemotechnik.
War die
"groBe
Tradition"der Homerischen
Epen
im 6.
Jahr-
hundert ein Produkt"zeremoniellerKommunikation"rhapsodischerVortrag m Rah-
men der
panathenaiischen piele
und
panhellenischen
Feste),
so
begriinden
nun
die
alexandrinischen
Philologen
eine
"Buch-und
Lesekultur",
n deren Zentrum der
"pro-
fessionalisierte"
Umgang
mit
Texten,
nicht zuletzt mit dem kanonisierten
Korpus
der
52. Ich
folge
hier nichtAssmanns
prachgebrauch,
ondern
ibernehme
nd variiere
den Be-
griff
"zweiter
Ordnung"
on
Y.
Elkana: Die
Entstehung
es Denkens
weiter
Ordnung
m
antiken
Griechenland",
n:Eisenstadt
Anm.47:
d.1,
.52ff.).
This content downloaded from 83.137.211.198 on Thu, 12 Nov 2015 21:38:12 UTCAll use subject to JSTOR Terms and Conditions
7/21/2019 Das Gedächtnis Der Kulturwissenschaften Und Die Klassische Tradition
http://slidepdf.com/reader/full/das-gedaechtnis-der-kulturwissenschaften-und-die-klassische-tradition 25/30
Harth 437
Homer-Epen
steht.53
n
diesem
Milieu entfaltetsich "eine neue und
andere
Kultur,
die
von
Alexandria
aus auf
die
griechische zuruickblickt.
Die
Welt der Literatur
cheidet
sich
in 'die Alten'
(hoi
palaioi,
ntiqui)
und 'die Neuen'
(hoi
neoteroi,
modernO,
nd
es
ist
die Dialektikder Innovation,die das Altertumkonstituiert" S.278).Hier steht "Alter-
tumrn"
iir
eine
philologisch
und
mnemotechnisch
auf
Dauer
gestellte Uberlieferung,
die
vergangen
ist
und dennoch als "klassische"dem historischen Relativismus
die
Stirn
bieten
kann. Diese
Entwicklungbegreift
Assmann als
Innovation,
well
sie
auf
der
Grundlage
kultureller
Kontinuitat
iiber
den Traditionsbruch
hinweg
die soziale Ko-
harenzbildung
von rituellen Praktiken
ost, um
an
ihre
Stelle
literarische
Praktiken
zu
setzen:
der
Text,
nicht
die
Schrift,
riickt
in
den
Mittelpunkt
der
Kulturgeschichte.
Das
kulturelle
Gedichtnis
wird damit frei
fiir
die oben beschriebenen
Prozesse
des
Wieder-
ankniipfens
(Hypolepse)
und
der Variation
jener
Inhalte,
die es
in
Form situations-
unabhaingiger
Texte aufbewahrt.
Jetzt
erst sind
die
Bedingungen
geschaffen,
um
jene
literarischen
Kanones
zu
fixieren,
denen das
Praidikat
klassisch"
zugesprochen
wer-
den
kann.
Das
gilt
es
festzuhalten:
Nicht die
Rezeption
m
Sinne des
Aneignens,
sondern
der aus der KulturkrisegeboreneAkt erinnemdenWiederankniipfens ntscheidetfiber
die Gestalt
dessen,
was
als universell
anschlutfihiger,
namlich "klassischer"
Text-
kanon
in
Geltung
bleibt.
Was
in
Alexandria
geschieht,
hat eine fast
zeitgleiche
Parallele
n
der
hebriiischen
Kultur. Wird
in der
griechischen
Kultur
Homer zum
"Kristallisationskern"
des
Klassikerkanons,
o
spielt
dort
die Torah eine
vergleichbare
Rolle
(S.279).
Beide
Ent-
wicklungen
stehen
in
Kontakt,
und
beide schaffen
die
Bedingungen fiir jenes
zeitre-
sistente textuelle
Gedichtnis,
an
das
spatere Epochen
um
der
Kontinuitatwillen
wie-
der
ankniipfen
werden: das kulturelle
Gedachtnis
des sakularen
"Abendlandes"an
die
griechische
Klassik,
das
der
Christenund
Muslime
an die
hebraiiische
ibel
(S.280).
Dieser
Schritt
vom
Geltungsbereich
er
gelebten
Traditionzur
bewutBten
tiftung
eines
literarischen
Kanons
als
Medium
soziokultureller
Neuorientierung
verlaiuft
leichwohl
in
den
genannten
Kulturen
unterschiedlich.
Denn in
Griechenlandbesteht
nicht
der
von der
Religion ausgehende Zwang
zur
Festschreibung
ines
einzigen,
von Priestern
iiberwachten,
widerspruchsfreien
Kanons.
Hier
begiinstigt
die
Literarisierung
viel-
mehr
die
Gesetze
der
streitbaren
Auslegung,
die nicht
nur zur
weiteren
Kulturdiffer-
enzierung,
sondern auch
zur
Ausbildung
autonomer kritischer
Diskurse
beitragen.
Die
nun
entdeckte
M6glichkeit,
kritisch
auszuwahlen,
setzt ein
kodifiziertes,
institu-
tionell
eingehegtes
Wissen
voraus;
mit
anderenWorten:
ein
mnemotechnisch
organisi-
ertes
"Gedichtnis",
das
sich
im
Medium von
literarischen
Klassifizierungen,
ntertex-
tuellen
Beziehungen
und
asthetischen
nicht
religiosen)
Diskursenentfaltenkann.
Zwar
verandert
allein schon das
Aufschreiben
den
praisentischen
Zeithorizont,
da es
die
Moglichkeit
schafft,
durch Auswahl und
Kanonisierung
die
Gegenwart
an
dieser oder
jener
im
Gedichtnis
der
Schrift
aufbewahrten
Vergangenheit
eilhaben
zu lassen.
Doch
erst
die von
den GriechenentwickelteMnemotechnikhat die absolute
Verbindlichkeit
des kanonisiertenTextbestandesabgebautund die Kanonbildungdem Wandelunter-
worfen.
Seitdem sind die
Geltungsgriinde
traditional
egitimierterSinnbestinde
wie
diese
selber offen
fiir
Kritik.
Das vom Klassikerkanon
Ausgeschlossene
f'illt
nicht
dem
kategorischen
Imperativ
der damnatiomemoriae um
Opfer,
sondern
steht,
sozusagen
abgeschattet,
ir
kiinftige
Renaissancen ur
Verfiigung (S.121).
Die
Wirkungen
dieser
Innovation,
resuimiert
Assmann,
dauem
an
und bestimmen
53.
Zum
Begriff
er
"groBen
radition"
gl.
R.
Redfield:Human
ature nd he
Study
f
Society,
Chicago
962.
This content downloaded from 83.137.211.198 on Thu, 12 Nov 2015 21:38:12 UTCAll use subject to JSTOR Terms and Conditions
7/21/2019 Das Gedächtnis Der Kulturwissenschaften Und Die Klassische Tradition
http://slidepdf.com/reader/full/das-gedaechtnis-der-kulturwissenschaften-und-die-klassische-tradition 26/30
438
International
ournal
f
the
Classical
radition
Winter
996
"die
konnektive
Struktur
unserer
eigenen
Kultur,
das
kulturelle
Gedichtnis
der
westli-
chen
Welt,
bis
heute"
(S.300).
Die
oben
beschriebenen
Untersuchungen
iber
die
mittel-
alterlichen
und
humanistischen
Ankniipfungen
an die antike
Literatur cheinen
dem
Recht zu geben. Sie konnten dariiberhinaus AnlaI3 ein, die These vom Traditions-
bruch als
Ausgangspunkt
fiir
eine
Reorganisation
des
kulturellen
Gedichtnisses an
den
europaischen
Gesellschaften
des 12.
Jahrhunderts
und der
friihen
Neuzeit zu
iiberpriifen.54
Medien
des
Gedaichtnisses
nd
kulturwissenschaftlicheErinnerungsarbeit
Assmanns
allgemeine
Kulturtheorie
korrigiert
mit
guten
Gruinden
die
Auffas-
sung,
schon
die
Evolution
bestimmter
Schriftsysteme
habe
einen
kulturellen
Wandel
herbeigefiihrt."
Der
Kulturbegriff
bezeichnet
in
seiner
Konzeption
die
Organisation
jenes
Wissens,
das
die Identitat
gesellschaftlicher
Formationen
garantiert.56
Dieses,
etwa in
der Form des
Mythos
narrativ,
in
kanonischen
Texten
praiskriptiv
odierte
Wissen verschafft der Gruppeden "Gemeinsinn",auf den sie ihre Selbstdefinitionen
stiitzen
kann
(S.140ff.).
Eine
Bedingung
sind
entsprechende
Formen
6ffentlicher
Reprasentation:
nszenierungen
m
Medium
ritueller,
zeremonielleroder
textzentrier-
ter
Handlungen.
Diese Formen
bediirfen
der
Institutionalisierung
nd
der
Herausbil-
dung kulturtragender
Eliten,
die zur
Produktion,
Reproduktion
und
Zirkulation
des
sinnstiftenden Wissens
beitragen.
Je
komplexer
eine
Gesellschaft,
desto
starker
die
Tendenz
zur
sozialen
Differenzierung
wischen
kultur-repriisentativer
lite
und
Kollek-
tiv,
so
da
nicht
nur
von
einer
integrativen,
sondern
auch von einer
dissoziierenden
Funktion
der Kultur die
Rede sein
mut.
Es bedarf
daher,
um
die
identititsbildende
Kraftder "Kultur" u
sichern,
hres
Heraustretens
aus der "habitualisierten
elbstver-
staindlichkeit"
S.151).
Sie mufg
objektiv
werden
im
materiellen
Sinn
der
Verfiigbar-
und Sichtbarkeit.
Und
genau
diese
objektivierendeFixierung
bezeichnet der
Begriff
des "kulturellen
Gediichtnisses",
der freilich
die
grundsatzliche
Ambivalenz
der
so
"integrativgesteigerten
Kultur"
nicht
aufhebt,
da
auch
diese
zur Produktionvon
nach
aul3en
wirkenden
Feindbildern
ingesetzt
werden kann
(S.124ff.).
Assmanns Entwurf
riickt
Kultur
und
Gedichtnis
eng
zusammen.
Die
beiden Zen-
tralbegriffe
"Kultur"und
"Gedichtnis"
-
sind
keine
historischen,
ondern
theorieab-
hiingige
Konzepte,
die den Vorteil
haben,
daf3
sie nicht
nur
passive,
sondern
auch
aktive
Kompetenzen
umschreiben.57
Die
altehrwuirdige,
uf antike
Quellen
zuruckge-
54.
Vgl.
zum 12.
Jh.
C. H.
Haskins:The
Renaissance
f
the
12th
Century
1927],
New
York
1961;
R.
L.
Benson
/
G.
Constable
(Hg.):
Renaissance ndRenewaln the
TwelfthCentury,
Cambridge,
MA
1982
[ND
Toronto
1991].
55.
Vgl.
auch Assmanns
Hinweise auf
analoge Entwicklungen
n den
asiatischen,
auf
nicht-
alphabetischeSchriftsysteme ebauten
Kulturen
etwa
S.148ff.)
56.
Hier ist
kritisch
anzumerken,
da3
die
Identitatsbildung
nicht nur auf
symbolisch
struktu-
rierten
Kontexten
beruht,
sondern
auch von den
je spezifischenOrganisationsformen
der
Arbeit
(Okonomie)
und
der Herrschaft
Politik)
n
einer
Gesellschaft
abhAngig
st.
57.
Merkwiirdig
st die versteckte
Beziehung
zwischen
Assmanns
kulturhistorischen
Paradig-
men
(monumentale
Kultur
Agyptens/bewahrend-verehrende
uidische
Kultur/wissenschaft-
lich-kritische Kultur
Griechenlands)
und den drei
historischen
"Betrachtungsarten"
Nietzsches in Vom
Nutzen und
Nachteilder
Historie
fiir
das
Leben:
monumentalische/anti-
quarische/kritische
Historie;
"Betrachtungsarten",
ie
dazu
beitragen
ollten,
unter
Wieder-
anknlipfung
an
einen Kanonder
Meisterwerkedie
Produktivkrifte
der
Kultur m
Sinne der
This content downloaded from 83.137.211.198 on Thu, 12 Nov 2015 21:38:12 UTCAll use subject to JSTOR Terms and Conditions
7/21/2019 Das Gedächtnis Der Kulturwissenschaften Und Die Klassische Tradition
http://slidepdf.com/reader/full/das-gedaechtnis-der-kulturwissenschaften-und-die-klassische-tradition 27/30
Harth
439
hende
Auffassung
vom
Magazin
oder
Speicher
des Gedichtnisses
wird zwar
nicht
ganz
aufgegeben,
aber entschieden erweitert.
"Erinnern"
teht im
Rahmen der
von
Assmann
skizzierten
mnemotechnischen
Organisation
fiir
eine
bedeutungs-, ja
kul-
turstiftendeKompetenz,deren"griechische"VariantedasWechselspielzwischen Kon-
tinuitat
und
Wandel
ausdruicklich
inschlie8ft.
Problematisch
erscheint
mir indessen die
Verbindung
ritueller
Identitiitsstiftung
mit
dem
Zwang
zur
m6glichst
"abwandlungsfreienWiederholung"
(S.89).
In
Ass-
manns
Theoriebildet
diese
den
Gegenbegriff
u
jener
"Textualitit"
des
schriftkulturel-
len
Gedichtnisses,
die durch variierendes
"Wiederankniipfen"
mmer
wieder
-
um
im
Bildfeld zu bleiben
-
neue,
wenn
auch nicht fremde Webmuster
m6glich
macht.
Die
Mnemotechnikeneines kulturellen
Systems
schliet3en
edoch
die mechanische
Repeti-
tion
aus,
versteht
man sie
-
wie ich
vorschlagen
mochte
-
generell
als
ein
Zusammen-
wirken zwischen Anamnese
und
Mnemosyne.
Rituelle
Handlungen
mit
symbolischer
Konnotation
sind
selten als
bloge
Wiederholungen
gedacht.
Vielmehr
bestaitigen
ie
-
'als
wire
es
das erste
Mal'
-
die
kollektive
Ordnung,
ndem
sie,
Initiationsriten ind
ein
prominentes Beispiel, auf paradoxeWeise die Dialektikvon Anarchie und sozialer
Kontrolle zur
Darstellung bringen.
In
der
Aussageperspektive
philosophischer
Ver-
allgemeinerung:
"la
repetition
st
la
diffrence
ans
concept."58
Der
begriffsfernen,
niimlich
bildzentriertenund
rituellen
Konstruktion
soziokul-
tureller
Erinnerung
haben Susanne
Kiichler
und
Walter
Melion
ein
interdisziplinires
Projekt
gewidmet,
dessen
Ziel
eine
"kulturiibergreifende
Gedaichtnistheorie"st.
Im
Einleitungskapitel
des von ihnen ediertenSammelbandes
Images f
Memory,
er
philo-
sophische,
kunsthistorischeund
ethnologische
Studien
zusamme'nfatt,
erliiutem
sie
den
interdiszipliniren
Rahmen
ihres
Forschungsprogramms.
n
dessen
Mittelpunkt
steht
die
Frage,
welche
Formen
und
Funktionen
die
uber
Generationen
geiibte
Weiter-
gabe
(transmission)
on
Bilddarstellungen
n verschiedenen
Kulturen
zeigt.
Methodisch
gesehen
sollen
bildliche
Repraisentationen
uf
die
spezifischen
Handlungskontexte
der
einzelnen
Kulturen
bezogen
und die Funktionen
sowohl
der
"Kanonbildung"
kunst-
historische
Perspektive)
als auchder "sozialen
Kohision"
(ethnologische
Perspektive)
in das
Spiel
einer
wechselseitigen
Auslegung gebracht
werden.
Ausgangspunkt
ist
die
Hypothese,
daf3
durch
"image
roduction"
iCWechselbeziehung
wischen
Erinnerung-
sprozef3
und
Kulturentwicklungnachhaltig gesteigert
werde
(S.2ff.).
An
diesem
ko-
mplizierten
ProzeBf
nteressiert die hier zu
Wort
kommende
Forschung
nicht
in
erster
Linie
die
durchgehalteneTopik,
sondern
die
bedeutungsbildende
Differenz,
die
in
der
Transmission
der visuellen
Artefakte
nnerhalb
eines
kulturellen
Systems
auf-
brechen
kann.
Dieses
Forschungsprogramm
wendet sich
entschlossen
vom
passiven
Gedaicht-
nismodell
ab,
um
folgende
Priimissen
u
statuieren
S.7):
1.
"memory"
bezeichnet eine soziokulturelle
Konstruktion;
2. es operiert dynamisch und entfaltet seine aktive Kraft iiber das Medi-
um bildlicher
Reprasentationen;
3. alle Formen kollektiven
Erinnerns
(recollection)
ind
historisch
bedingt
und
daher
von
dem,
der sie verstehen
will,
zu
kontextualisieren;
Remythologisierung
iederzubeleben.
gl.
zu Nietzsche
meinen
Essay
"Kritiker
Geschichte
im
Namen
des
Lebens.
Zur
Aktualitit
on
Herders
nd Nietzsches
eschichtstheoretischen
Schriften",
rchivfiir
ulturgeschichte
8/2
(1986),
.436ff.
58. G.
Deleuze:
Diffirence
t
repetition,
aris
1984,
.36.
This content downloaded from 83.137.211.198 on Thu, 12 Nov 2015 21:38:12 UTCAll use subject to JSTOR Terms and Conditions
7/21/2019 Das Gedächtnis Der Kulturwissenschaften Und Die Klassische Tradition
http://slidepdf.com/reader/full/das-gedaechtnis-der-kulturwissenschaften-und-die-klassische-tradition 28/30
440 International
ournal
f
theClassical radition Winter
996
4.
Vergessen
und
Erinnern
ind als korrelativeFunktionen u
betrachten,
da das kollektive
Gedichtnis
um
der
soziokulturellenBestimmtheit
Stan-
dardisierung)
willen
eine
Wahl
treffen
mug,
die
das
Nicht-Relevanteaus-
schlief~t
esp.methodischvergil3t.
Der
Katalog
enkt den Blickauf die
Unterschiedeund
Gemeinsamkeiten
wischen
den
kunsthistorisch-anthropologischen
nd
den
oben
abgehandelten
historisch-philol-
ogischen
Forschungsperspektiven.
Gemeinsam ist
beiden die
Betonung
der
aktiven,
der
bedeutungs-,
kulturkonstitutiven nd
vergesellschaftenden
Funktionen
kollektiven
Erinnerns
im
Rahmen
eines
kulturhistorischen
Erklairungsmodells,
as
Kontinuitit
undWandel
bedenkt.
Indessen
gewichtet
die amerikanische
Forschungsgruppe
tarker
die
innerhalb
der
Tradierungsprozesse
auftretenden
Verschiebungen,
die
historisch-
philologische
Richtung
(Coleman;
Assmann)
stirker
die
kontinuitatsstiftenden
Funk-
tionen.
Am auffallendstenaber st die unterschiedliche
Wahl
der
Erinnerungs-Medien:
hier
die
Schrift-,
dort die
Bildkultur.59
Man geht sichernicht fehl, wenn man die mnemonischenFunktionender visuell
wahrnehmbaren
Artefakte
und
Praktiken
Ritual,Tanz)
im
Zivilisationsprozeggenau-
so
hoch
einschatzt
wie
die
Evolution der Schriftkultur.Und
doch
liegt
es
auf
der
Hand,
daI3
diese
Funktionensich
mit
dem
Ubergang
von einem
schriftlosen
zu
einem
schriftkulturellen
ystem
entscheidend
verindem.
Festrituale,
n
deren
Zentrum
Bild-
werke oder
Tainze
tehen,
regulieren
den
Wechsel zwischen
sozialer
Distanz
und
Par-
tizipation
naturgemAii
n
weitaus
direktererWeise als
der
wie immer
szenische Vor-
trag
(Lesung,Schauspiel)
von
Texten,
die auch
unabhaingig
on der
direkten Kommu-
nikation
aktualisiert
werden konnen.
Das
zeigen
auch die
Untersuchungen
n
Images f
Memory.
Auf
der einen
Seite
stehen
die
innerhalb
einer
entwickelten
Schriftkultur
entstandenen
Bilder
mittelalterlicher,
euzeitlicher
und chinesischer
Malerei.60
n
die-
sen
Fillen
ist
die
produktive
Spannung
zwischen Schrift
und Bild
nicht zu
iibersehen.
Nicht nur die
handwerkliche
Bildherstellung,
auch die Formen und
Leistungen
so-
wohl des visuellen
Gedichtnisses
als
auch der
symbolischen Kodifizierung
sind in
diesen
Fillen
in
lihnlicher
Weise
iiber
Texttraditionen,
Musterbiicher
nd
Lehrsysteme
(z.B.
der
Rhetorik
und
Hodegetik)
vermittelt wie der
kontrapraisentische
anonwan-
del,
der die
Erfindung
der
Renaissancearchitektur
begleitet
hat
(s.o.S.428ff).
Auf
der
anderen Seite stehen
jene
Untersuchungen,
die sich solchen mnemonischen Funktion-
en szenischer
und
zugleich
bildlicher
Darstellungen
widmen,
die
dem von
Assmann
beschriebenen
Typus
der
"rituellen"
der
"zeremoniellen
Kommunikation"
uzurech-
nen sind.61
n
diesen
Fillen
beruhen die
bildlichen
Herstellungsprozesse
und
rituell
aktualisierten
Funktionen
auf
miindlicher
Tradierung
und
auf der unmittelbarenkini-
sthetischen
Partizipation
des
Kollektivs
im
Moment
der
Auffiihrung.
Das
kollektive
59.
Assmann
eht
kurzauf die
Bedeutung
er Bilder
ls Medium es kulturellen edlichtnis-
ses
Agyptens
in,
erkennt
ber
n der
Evolution es
spAitligyptischen
chriftsystems
en
entscheidenden
Innovationsschub"
op.cit.,
.192,265f.).
60.
W.
Kemp:
Visual
Narratives,
Memory,
nd
he
Esprit
u
System"
S.87ff.);
.
Pardo:
Mem-
ory,Imagination,iguration:
eonardo a Vinciand the
Painter's
Mind"
S.47ff.);
W.
Me-
lion:"Hendrick oltzius"
S.8ff.);
.
Vinograd:
Private
rt
andPublic
Knowledge
n
Later
Chinese
Painting"
176ff.).
61.
S.
Kiichler:
Malangan"
S.27ff.);
. L.
Kaeppler:
Memory
nd
Knowledge
n the
Produc-
tion
of Dance"
S.109ff.);
.
Feeley-Harnik:Finding
Memoriesn
Madagaskar"
S.121ff.);
A.
G.Miller:
Transformationsf Time nd
Space:
Oaxaca,Mexico,
irca 500-1700"
S.141ff.).
This content downloaded from 83.137.211.198 on Thu, 12 Nov 2015 21:38:12 UTCAll use subject to JSTOR Terms and Conditions
7/21/2019 Das Gedächtnis Der Kulturwissenschaften Und Die Klassische Tradition
http://slidepdf.com/reader/full/das-gedaechtnis-der-kulturwissenschaften-und-die-klassische-tradition 29/30
Harth 441
Gedaichtnis
ennt
hier
nicht
die
riiumliche
und
zeitliche
Distanz
zu einer
Vergangenes
dokumentierendenund
doch immer
wieder
aktualisierbaren,
weil latent
gegenwairti-
gen
Textwelt. Es
konstitutiert
sich
vielmehr
nach dem
Rhythmus
der
vom
rituellen
Kalendervorgeschriebenenperformances
iber
die Modi der sinnlich-korperlichenEr-
fahrung.
Mir
scheint,
dai3
die
hier
verglichenen Konzepte
einander
nicht
ausschliefgen,
sondern
ergiinzen. Natiirlich
ist Assmann historisch
im
Recht,
wenn er mit der
ent-
wickelten
Schriftkultur
eine neue Form
der kulturellen
Mnemotechnikheraufziehen
sieht.
Im
Rahmen
einer
allgemeinen
Kulturtheorie
beanspruchen
andererseits auch
diejenigen
Formen der
Geddichtnisbildung
inen festen
Ort,
die
mit
visuellen,
ja allge-
mein sinnlichen
Erfahrungen
n
Zusammenhang
stehen.62Soll
der Satz "DurchErin-
nerung
wird
Geschichte
zum
Mythos."
(Assmann,
S.52)
Allgemeingiiltigkeit
beans-
pruchen,
so muf
"Erinnerung"
wie
das
einer
vormodernen
rhetorischenTradition
entsprach
-
mit
der bildschaffenden
Kraft,
mit der
Imagination,
zusammengedacht
werden.
Denn die
zeichenschaffende
Arbeit
der
Imagination
ist
es,
die
eine
blofge
Reproduktiondes in die GegenwartgerufenenInhaltsverhindert.Unter dieserVoraus-
setzung
ist
Erinnerung
chon
"eine
Stufe der
'Reflexion"',
da sie
die Inhalte "als etwas
Vergangenes
und dennoch
fiir
[das Bewuttsein]
selbst nicht
Verschwundenes
m
Bilde
vor sich
hinstellt."63
Die
kognitive
Semantik
geht
noch
dariiber
hinaus. Denn
sie be-
hauptet
-
Mark
Johnson
weist darauf
hin
-
die
Fundierung
bildschematischerWahrne-
hmungsmuster
in
korperlichen
Erfahrungen
und
begreift
diese
sogar
als Substrat
iir
alle
Leistungen symbolischer
und
intellektueller
Abstraktion.64
on dieser Seite be-
darf,
wie mir
scheint,
Assmanns Kulturtheorie
der
Ergiinzung.
mmerhin
st
die Bild-
welt Griechenlandszu
einem
Ankniipfungspunkt
iir
die
europiische
Kunst- und Kul-
turentwicklunggeworden,
der der
antiken
Schriftkultur
mindestens
ebenbiirtig
st.
Die
Erinnerungsarbeit
der
historisch-philologisch
verfahrenden
Kulturwissen-
schaften,
das
m6gen
die
hier
diskutierten
Forschungsertrige
gezeigt
haben,
ist Teil
der
Kultur,
die sie
erkliirt.
So decken sich
weitgehend
die von
Assmann an
den
friihen
Umbruchstellen
der okzidentalen
Kulturgeschichte
abgelesenen
Prinzipien
der Textu-
alitiit,
des
hypoleptischen
Wiederankniipfens
nd
der
kontrapraisentischen
rinnerung
mit
den noch
heute in den
historisch-philologischen
Disziplinen
giiltigen
Normen.
Gewitg,
unter den
Bedingungen
der
modernen
Medienrevolution
und
transkulturellen ijber-
schneidungen
verstehensich
diese
Disziplinen
nicht mehr
als
Hiiter
oder
gar
Erneue-
rer des
Kanons.65
Und
dennoch
weben
sie
-
eine
Kultur
dritter
Ordnung
-
unter An-
62.
Vgl.
etwa
die
Versuche,
fiber
Bildinterpretationen
inen
Zugang
zur Fremdheit er
griechi-
schen
Kulturzu
gewinnen,
n:
C.
Berard,
.-P.
Vernant
t al.
(Hg.):
La
citedes
images,
Lausanne
1984.
63.
E.
Cassirer:
Philosophie
er
symbolischen
ormen,
d.I:Die
Sprache,
armstadt
1973,
S.23.
64.
"Image
chemata
hat are
grounded
n our
bodily
experience
re
the
basis
for metaphorical
nd
metonymicmappings y
whichwe understandarious
nonphysical,
bstract
omains,
uchas those
of
mental
processes
nd
epistemic
elations."M.
Johnson:
"The
Imaginative
Basis
of
Meaning
and
Cognition",
n:
Kiichler
/
Melion,
op.
cit.,
S.85.
S. auch H.
Weinrich:
"Uber
Sprache,
Leib und
Gedichtnis",
in:
Materialitat
er
Kommunikation,
g.v.
H.
U.
Gumbrecht,
K.
L.
Pfeiffer,
Frankfurt/Main
1988,
S.80-93.
65.
"Aus
den
Horizonten
normativer
und formativer
Wertsetzungen
kommen
wir
nicht her-
aus",
bemerkt Assmannund weist den "historischen
Wissenschaften" ie
Aufgabe
zu,
die
Kanon-Grenzen
ns
Bewuf3tsein
u
rufen
(op.
cit.,
S.129).
Wie weit
sein Ansatz
triigt,zeigt
auch das von
ihm
in
der
Harvard
University
Press
angekiindigte
Buch Moses
he
Egyptian:
This content downloaded from 83.137.211.198 on Thu, 12 Nov 2015 21:38:12 UTCAll use subject to JSTOR Terms and Conditions
7/21/2019 Das Gedächtnis Der Kulturwissenschaften Und Die Klassische Tradition
http://slidepdf.com/reader/full/das-gedaechtnis-der-kulturwissenschaften-und-die-klassische-tradition 30/30
442
International
ournal
f
the
Classical radition Winter
996
wendung
der
genannten Prinzipien
weiter an
jenem
Textkontinuum,
das dem
kul-
turellen
Gedaichtnis
er
westlichen
Gesellschaften
zugrunde liegt
und
tragen
die
Erin-
nerung
an
die "klassische
Tradition"weiter.
Gibt es eine Alternative?MichelFoucaulthat sie, denke ich,mit dem Hinweis auf
den
ethnologischen
Blick
angedeutet.
Die
kulturanthropologischen
tudien in
Images
of Memory
haben nicht
das
Gedachtnis der
eigenen,
sondern fremder
Kulturen zum
Gegenstand.
Sie sind
weniger
der
Geschichtsschreibung
ls
der
sozialwissenschaftli-
chen
Beobachtungverpflichtet
und
k6nnen
daher mit dem
Kontinuitaitsparadigma
er
historisch-philologischen
Wissenschaften
wenig anfangen.
Ubertriigt
man,
was
Fou-
caults
Hinweis
nahelegt,
diese
Einstellung
auf die
Erinnerungsarbeit
n
der
eigenen
Kultur,
so hat
das
Folgen,
die auf eine
Verfremdung
des
habituell
verfestigten
kul-
turellen
Gediichtnisses
hinauslaufen. Die
"klassische
Tradition"erscheint dann
nicht
mehr als
selbstversta~ndliche
egebenheit,
und die
Geschichtsschreibung
niihert
sich
dem,
was Paul
Veyne
einmal die "Wissenschaftder Differenzen"
genannt
hat.66
Ein
Perspektivwechsel
dieser
Art
ist
moglich,
wenn
die
theoretischeFiktiondes
unendlich
anschliefbaren Textkontinuumsgegen die theoretische Fiktion eines zwar unuiber-
schaubaren,aber
an
jederbeliebigen
Stelle
zugiinglichenSymbol-Gewebes usgetauscht
wird.67
Textualitat
st
im Rahmen der
"interpretive
nthropology",
uf
die
ich
hier an-
spiele,
nicht schriftkulturell
efiniert,
sondern
Metapher
iir
die
analytische
Lesbarkeit
diverser kultureller
Praktiken m
Kontext sozialen
Handelns
-
gewissermaBen
Kritik
am konventionellen
Textmodelldurch
Erweiterung
einer Grenzen.Die
Unterscheidung
zwischen Kulturund Gesellschaft
legt
den
Grund
fUr
eine
differenzierende
Interpreta-
tion,
die
von
der
Spannung,
nicht
der
Kongruenz
beider Institutionen
ausgeht.
Auch
methodisch
kehrt die
"interpretive
nthropology"
ie Verfahren
der
historisch-philolo-
gischen
Konvention
um,
indem
sie
nicht
von
Traditionen,
sondern
von dem
ausgeht,
was
Clifford
Geertz
"local
knowledge"
ennt. Unter dieser
Bedingung
fiallt
der
ethnolo-
gische
Blick
zunichst
auf das
mikrologische
Detail
des
zu
beschreibenden
Textmus-
ters,
um,
von dort
ausgehend,
nach
und
nach
befremdliche
Zusammenhainge
zu
entdecken,
fir
die das
Pathos
der "GrogenTradition"blind ist.
Die
hier
angedeutete
Alternative
mag
eines deutlich
machen: Sie nimmt
nicht
Abschied von
jenen Errungenschaften
er
mediengeschichtlichen
Revolution,
die
Jan
Assmann am
Beispiel
der achsenzeitlichenHochkulturen
beschriebenhat.
Lesbarkeit
und
Textualitit
liegen
auch
ihrem
Selbstverst~indnisugrunde,
werden aber mit
dem
Ziel der
Verfremdung
umkodiert. Die Alternativen
liegen
demnach,
so m6chte
ich
schliegen,
im
kulturellen
Gedichtnis
selbst. Sie
miissen
nur
gesucht
werden.
An
Essay
n
Mnemohistory,
essen Inhalt
er
jiingst
m
Heidelberger >Gesprichskreis
ir
Kulturanalyse<
orgetragen
at.
66.
P.
Veyne:
L'inventairees
diff~rences,
aris
1976.
67. C.
Geertz:
The
Interpreation
f
Cultures.Selected
Essays,
New
York 1973. Ders.:
Local
Know-
ledge.
Further
Essays
n
Interpretive
nthropology,
ew York 1993.