74
SOMMER 2006 AUSGABE 03 TEXTUREN 10 EURO SOMMER 2006 AUSGABE 03 TEXTUREN 10 EURO DAYLIGHT & ARCHITECTURE ARCHITEKTURMAGAZIN VON VELUX DAYLIGHT & ARCHITECTURE ARCHITEKTUR- MAGAZIN VON VELUX

DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

  • Upload
    doliem

  • View
    217

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

SO

MM

ER 20

06

AU

SG

AB

E 03 TEX

TUR

EN 10

EUR

O

SO

MM

ER 20

06

AU

SG

AB

E 03 TEX

TUR

EN 10

EUR

ODAY

LIGH

T & A

RCHITECTU

RE A

RC

HIT

EKT

UR

MA

GA

ZIN V

ON

VELU

X

DAYLIGHT &ARCHITECTUREARCHITEKTUR-MAGAZINVON VELUX

Page 2: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

DAYLIGHT & ARCHITECTUREARCHITEKTURMAGAZINVON VELUXSOMMER 2006 AUSGABE 03

HerausgeberMichael K. Rasmussen

VELUX-RedaktionsteamChristine BjørnagerLone FeiferAxel FriedlandJana MasatovaLotte NielsenTorben Thyregod

Redaktionsteam Gesellschaftfür Knowhow-TransferThomas GeuderKatja Pfeiff erJakob Schoof

BildredaktionTorben EskerodAdam Mørk

Art Direction & LayoutStockholm Design Lab ®Kent NybergSharon HwangCecilia Anefeltwww.stockholmdesignlab.se

TitelfotoTorben Eskerod

Recherche und TextredaktionGesellschaft für Knowhow-Transfer

Websitewww.velux.de/Architektur

[email protected]

Aufl age90,000 Stück

ISSN 1901-0982

Dieses Werk und seine Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Jede Wie-dergabe, auch auszugsweise, bedarf der Zustimmung der VELUX Gruppe.

© 2006 VELUX Gruppe ® VELUX und das VELUX Logo sind registrierte Markenzeichen mit Lizenz der VELUX Gruppe.

Page 3: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

1

Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht wird. Ein Gebäude passt sich nicht nur im Querschnitt an die vorhandene Topografi e und in der Ausrich-tung der Grundrisse an die Tageslichtverhältnisse an. Der Standort beeinfl usst auch die Auswahl der Materialien, die sein Erscheinungsbild prägen werden: seine Textur. Wenn ein Architekt diese Aspekte in seiner Arbeit berück-sichtigt und sich seiner Umwelt bewusst bleibt, werden die natürlichen Gegebenheiten zu Grundlagen einer Architektur, die sich nicht dem Zeitgeist oder momentanen Trends unterwirft. Jedes Projekt beginnt aufs Neue mit der Analyse dieser Grund-lagen und der Rückbesinnung auf sie. Der Architekt muss eine Vorstellung davon besitzen, welche Art von Raum er schaff en will: Soll dieser eine unsichtbare Wirkung entfalten – soll er Ruhe ausstrahlen, Gefühle erzeugen? Oder soll er eher auf der sichtbaren Ebene auf den Betrachter einwirken – komplexer in der Nutzung, aber kraftvoller im Ausdruck? Wie auch immer die Entscheidung ausfällt, in beiden Fällen werden neben der funktionalen Zweckbestimmung auch der Einsatz des Lichts und die Textur des Gebäudes das Ergebnis beeinfl ussen. Licht und Textur gehören untrennbar zusammen; sie bilden eine konzeptionelle Einheit. Der Lichteinfall in ein Gebäude hängt nicht zuletzt von der Materialauswahl ab und sollte diese daher mit bestimmen. Eine gute Auswahl – die auch einen erheblichen Einfl uss auf die Textur des Gebäudes besitzt – kann die Wahrnehmung des architektonischen Raums stark beeinfl ussen. Wellenbewegungen in der Fassade, Lichtfugen im Boden oder punktuelle Beleuchtungselemente machen das Licht zu einem architektonischen Element, das die Textur des Gebäudes harmonisch ergänzt. Von Bedeutung ist aber nicht nur das Licht und dessen Vorhandensein in Gebäuden und auf Oberfl ächen. Es geht ebenso um das Fehlen von Licht, um Schatten. Obgleich Licht und Schatten so gegensätzlich sind, sollen sie eine gemeinsame Wirkung entfalten. Textur hängt jedoch nicht allein von der Beschaff enheit eines Materials ab. Auch Strukturen, Proportionen und die Ordnung der Elemente entscheiden über die Textur eines Körpers. Dieser ‚Körper‘ ist in der Architektur das Gebäude und die Anordnung seiner Elemente ist Ausdruck gesunden Men-schenverstands.

Fernando Menis

Porträt von Torben Eskerod

Lesen Sie mehr über die Architektur von Fernando Menis im Artikel ‚Megalithkreis in der Wüste’ ab Seite 14.

DISKURS VONFERNANDOMENIS

Page 4: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

4

8

2

In Zeiten digitalen Entwerfens widmen sich Archi-tekten zunehmend der Aufgabe, wohlbekannten Materialien durch neue Arten der Oberfl ächen-bearbeitung bislang ungeahnte Eigenschaften zu verleihen. Nach der zunehmenden Dematerialisie-rung und Abstraktion im Zuge der Moderne ent-deckt die Architektur die Textur der Materialien als Eigenschaft wieder, mit der sich die Atmosphäre von Räumen und die ‚Aura‘ von Gegenständen be-einfl ussen lässt. Oberfl ächen gelten nicht länger nur als zweidimensional, sondern erhalten räum-liche Tiefe und treten damit in ein umso engeres Wechselspiel mit Licht und Schatten. Wir freuen uns, Ihnen in dieser Ausgabe einen herausragenden Vertreter dieser Tendenz zu zeigen, das Kongress-zentrum ‚MAGMA‘ in Teneriff a. Mit einer außer-gewöhnlich großen Vielfalt an Texturen aus einem einzigen Baumaterial haben die Architekten die massiven Außenwände ihres Gebäudes unter der südlichen Sonne zum Leben erweckt.

Nach der zweiten Ausgabe von Daylight & Ar-chitecture, die sich mit der Frage befasste, wie ein Haus zu einem ‚Zuhause‘ wird und wie sich Pro-zesse und Produkte zu Lebensräumen formen, be-trachten wir unsere physische Umgebung diesmal im Detail: Das Thema der aktuellen Ausgabe lautet

‚Texturen‘. Ständig werden im Bestreben, optimale

Lebensräume zu schaff en, neue Wege gesucht und beschritten. Wir laden Sie ein, bekannte Materi-alien aus einem anderen Blickwinkel zu betrach-ten: Wie funktioniert die Wärmedämmung eines Eisbären wirklich? Lässt sich Efeu als Fassadenma-terial verwenden? In Graz wirft das Bürogebäude von Innocad ein neues Licht auf das Bauen im hi-storischen Kontext, indem es außen wie innen un-verwechselbare und unterschiedliche Materialien und Texturen zeigt.

Wir bei VELUX suchen den kontinuierlichen Di-alog mit den Planern über Fortschritte in Architek-tur und Bauwesen. Die vorliegende Zeitschrift ist ein Beispiel; ein anderes ist unser Engagement bei der European Association of Architectural Edu-cation, EAAE. Seit 2001 ist VELUX Sponsor des EAAE-Preises ‚Schriften zur Architekturlehre‘. In seinem Beitrag für die Rubrik ‚VELUX im Dialog‘ be-fasst sich Per Olaf Fjeld mit dem Thema des letzten EAAE-Preises 2003-2005, ‚Neues Wissen‘. Für die aktuelle Ausgabe des Preises für die Jahre 2005 bis 2007 suchen die Auslober noch Texte zum The-menbereich ‚Darstellung in der Architektur, Kom-munikation – Bedeutung – Visionen‘.

Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre von Daylight & Architecture 03.

VELUX EDITORIAL

WILLKOMMEN BEI DAYLIGHT & ARCHITECTURE DEM ARCHITEKTURMAGAZIN VON VELUX

Diskurs von Fernando MenisVELUX EditorialInhaltJetztMensch und ArchitekturArchitektur und WebkunstTexturenKongresszentrum ‚Magma’, Teneriff aRefl ektionenNatürliche Oberfl ächenLicht EuropasScarborough, Yorkshire, EnglandTageslicht im DetailLicht und MaterialVELUX EinblickeEin Kleid für besondere AnlässeVELUX PanoramaSonnenstube unterm DachMonolith am MühlenweiherMit der Natur verwachsenVELUX im DialogSchriften zur ArchitekturlehreBücherRezensionenEmpfehlungenVorschau

123 48

14

32

38

42

48

56

63

68

72

SOMMER 2006 AUSGABE 03

INHALT

JETZT

Die neue Kathedrale von Oakland und die Haupt-verwaltung der Wasserwerke von Barcelona stehen ganz im Zeichen des Tageslichts. Jeroen Hoorn entwirft einen Pavillon aus Glasbrocken in Gabionen, Mario Bellini und Rudy Ricciotti einen zarten Glasschleier über dem Visconti-Hof des Louvre. Außerdem: die ‚Camera obscura‘ von Madrid, der Neubau der Handelskammer von Rafael de la Hoz.

MENSCH UND ARCHITEKTURARCHITEKTUR UND WEBKUNST

Das Weben, eine der ältesten Kulturtechniken des Menschen, ist auch für die Architektur von heraus-ragender Bedeutung. Das wusste schon der deut-sche Architekt und Theoretiker Gottfried Semper (1805-1879). Wie sich Sempers Theorien der tex-tilen Architektur seit Mitte des 19. Jahrhunderts weiterentwickelt hat und welcher Zusammenhang zwischen Weben und Bauen heute besteht, unter-sucht Peter Blundell Jones in seinem Beitrag.

D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03

Page 5: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

3

56

32

48

14

TEXTURENKONGRESZENTRUM‘MAGMA’, TENERIFFA

Im Wüstensand im Süden Teneriff as ist ein außergewöhnliches Kongresszentrum entstanden: MAGMA, das Werk des ortsansässigen Architek-ten Fernando Menis, besteht aus Betonkuben, die wie aus dem lavahaltigen Fels der Insel gehauen scheinen, und einem Wellendach aus Faserzement-platten. Ins Innere des Gebäudes gelangt das Licht durch schmale Fugen in Wänden und Dächern.

REFLEKTIONENNATÜRLICHE OBERFLÄCHEN

Was haben das Straußenei, die Haselnussschale und das Eisbärenfell mit Architektur zu tun? Gar nicht so wenig, meint Dr. Udo Küppers, Wissen-schaftler an der Universität Bremen. In seinem Beitrag untersucht er die Bionik natürlicher Ober-fl ächen und zeigt ‚Erfi ndungen‘ der Natur auf, die zum Vobild auch für Bauteile in der Architektur werden könnten – oder schon geworden sind, wie im Beispiel der Transparenten Wärmedämmung.

VELUX EINBLICKEEIN KLEID FÜR BESONDERE ANLÄSSE

Mit einer goldglänzenden Fassade aus Kupfer-schindeln machten die jungen Architekten Inno-cad ihr Wohn- und Geschäftshaus am Rande der Grazer Altstadt zum Blickfang mit überregionaler Wirkung. Das „Kleid für besondere Anlässe“ kom-muniziert auf vielfältige Weise mit seiner Umge-bung: Es greift die gelbe Farbe der benachbarten Altbauten auf und interpretiert zugleich das Logo der Architekten, die ihr Büro im Erdgeschoss be-zogen haben.

VELUX PANORAMA

Einen Meter starke Natursteinmauern neben fi li-granen An- und Einbauten aus Stahl und Glas: Bei ihrem Umbau der Kotrč-Mühle zu einem Wohn-haus operiert die tschechische Architektin Lucie Kavanova mit gegensätzlichen Extremen. Außer-dem: Das Seehotel am Neuklostersee, ein Ensem-ble aus Alt- und Neubauten in ländlicher Umgebung, wurde von Nalbach und Nalbach Architekten durch dichten Efeubewuchs in seiner Umgebung ‚verwurzelt‘.

Page 6: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

4 D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03

JETZT Was Architektur bewegt: Veranstaltungen, Projekte und aktuelle Neuentwicklungen rund um das Thema Tageslicht.

CHRIST THE LIGHT CATHEDRAL IN OAKLAND

FOT

O V

ON

GE

RA

LD R

AT

TO

Bis Anfang 2008 soll die ‚Christ The Light Cathedral‘ in Oakland bei San Francisco fertig gestellt werden. Der Neubau von Craig Hartman vom Archi-tekturbüro Skidmore, Owings & Mer-rill (SOM) ersetzt die historische St. Francis de Sales-Kathedrale, die 1989 durch ein Erdbeben zerstört wurde. Sein Name ‚Christ The Light Cathe-dral‘ geht auf das Dokument ‚Lumen Gentium‘ des Zweiten Vatikanischen Konzils aus den 60er Jahren zurück, das mit den Worten „Christus ist das Licht aller Völker“ beginnt. Hartman hat ihn zum Programm erhoben: „Es geht bei dieser Kathedrale, wie bei allen historischen Kathedralen, um die Betrachtung des Lichts als hei-lige Naturerscheinung – und um die poetische Beleuchtung von sakralen Räumen. Wir wollen das Licht nutzen, um die bescheidenen Baumaterialien – vor allem Holz, Beton und Glas – zu veredeln“, schreibt er. Wie zahlreiche Sakralbauten im pazifi schen Raum wird die neue Kirche vorwiegend aus Holz erstellt. Die Innenwände ihres bis zu 40 Meter hohen Gewölbes haben die Form zweier Kugelschalen. Zwischen den gekrümmten Längs-trägern werden lamellenartige Holz-paneele eingefügt, deren Neigung von unten nach oben immer fl acher und die Wand damit immer lichtdurch-lässiger wird. Die äußere Klimahülle der neuen Kathedrale bilden zwei ko-nische Segmente aus Glas mit Kera-mikglasur, die im Abstand von einem bis drei Metern vor der Holzkonstruk-tion angebracht sind. Nachts strahlt das Licht aus dem Kir-chenraum durch die Paneelkonstruk-tion, ins Freie. Das fl ache Dach des Kirchenschiff s, der ‚Oculus‘, und die Altarwand bestehen aus diagona-len Trägerrosten mit Aluminiumver-kleidung. Die Paneele der Unterdecke sind gefaltet und lassen durch ihre Öff nungen gerichtetes Licht Rich-tung Altarwand fallen.

Page 7: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

5

TORRE AGBAR IN BARCELONA

Auch wenn man dies vielleicht an-nehmen möchte: Jean Nouvels neuer Büroturm in der katalanischen Hauptstadt erhielt seinen Namen keineswegs in Anlehnung an einen arabischen Herrscher. ,Agbar‘ ist nichts anderes als ein Akronym für ,Aguas de Barcelona‘, die städtischen Wasserwerke. Und als symbolische ,Fontäne‘ aus Glas, Licht und Luft möchten die Entwerfer das Bauwerk auch verstanden wissen. Die Barce-loner sahen dies verständlicherweise anders: Seit Beginn der Bauarbeiten im Jahr 2002 begleiteten sie das Bauwerk mit teils amüsierten, teils brüskierten Kommentaren über des-sen phallische Gesamtform. Die Par-allelen zur „erotischen Gurke“ der SwissRe von Norman Foster sind unverkennbar und vielleicht sogar beabsichtigt. Anders als diese ent-faltet Jean Nouvels Turm an der Ave-nida Diagonal jedoch ein Spiel aus Lichtrefl exen in allen Farben des Re-genbogens. Fassadenmodule aus la-ckiertem Aluminium-Wellblech in 25 Farben bilden die innere Fassaden-schicht; außen davor angebrachte, unterschiedlich geneigte Glaslamel-len in vier Transparenzgraden lassen den Turm im Sonnenlicht regelrecht ,Funken sprühen‘. Die Lichtstimmung in den Innenräumen wird maßgeb-lich von den kleinteiligen Fenstern bestimmt, die die gesamte Fassade unabhängig von der Geschossteilung wie ein abstraktes Pixelmuster über-ziehen. Ihr Licht vervielfältigt sich in den spiegelnden Geschossböden und Deckenpaneelen oder wird – wie im Eingangsbereich – von transluzenten Flächenvorhängen gedämpft.

FOT

O V

ON

RO

LA

ND

HA

LBE

„Dies ist kein Turm, kein Wolkenkratzer im amerikanischen Sinn [...], eher eine fl üssige Masse, die eben aus dem Erdboden hervorgequollen ist, ein Geysir, der unter ständigem, dosiertem Druck steht.“ Jean Nouvel

Page 8: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

6 D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03

GLASGERÖLL IM DRAHTKORB

FOT

O V

ON

WIL

LEM

VA

N D

ET

Das Gebäude „konnte sich einfach keine Rückseite erlauben“, sagt Jeroen Hoorn über seinen Entwurf für einen neuen Schnellimbiss im Zentrum von Rotterdam. Der Auto- und Fußgängerverkehr der Autos und Fußgänger umströmt ihn von allen Seiten; nebenan liegen zudem die U-Bahn und ein belebter Ska-ter-Park. Hoorn entwarf „eine so-lide kleine Kiste, die ,hip‘ genug ist für die Skater und gleichzeitig den robusten Stil der umliegenden Bü-rogebäude aus den 70er Jahren wi-derspiegelt“. Der Bauherr hatte eine Fassade aus Gabionen vorgeschla-gen – eine Lösung, die er bereits aus der Landschaftsarchitektur kannte und die auch Herzog & de Meuron bei ihrem Weingut im Napa Valley ange-wandt hatten. Gemeinsam mit den Experten der Materialdatenbank Materia suchte Hoorn nach einer ge-eigneten Füllung für die Drahtkörbe. Seine Wahl fi el auf eine Mischung aus asphaltfarbenem Kalkstein und großen Glasbrocken, die die grobkör-

nige Fassadenstruktur im Gegenlicht noch eindrucksvoller erscheinen las-sen. Wie ,Lichtaugen‘ durchbrechen die Glaselemente die Außenwand und streuen das Sonnenlicht in den Innenraum. Die Klimahülle (und In-sektenschutzbarriere: Gabionen sind bevorzugte Nistplätze für Ungezie-fer aller Art) besteht aus raumhohen Glasscheiben mit Zedernholzrahmen auf der Innenseite der Gabionen. Nachts, so sagt Jeroen Hoorn, be-ginnt das Gebäude „wie ein Haufen heißer Kohlen zu glühen“.

FOT

O V

ON

MA

RG

HE

RIT

A S

PIL

UT

TIN

I

Sie stehen noch heute überall in Eu-ropa: Gedenkstätten, die den verb-lichenen Größen zerfallener Reiche huldigen. Der österreichische Ver-treter dieser Gattung ist der ,Hel-denberg‘, eine Art Walhalla der österreichischen Kaisertreuen, der ab 1849 im niederösterreichischen Kleinwetzdorf errichtet wurde.

Mit dem dreifl ügeligen, tempel-ähnlichen Bauwerk hatten die Stadt-väter für 2005 Großes vor: Unter dem Titel ,Zeitreise Heldenberg‘ sollte eine neue Ausstellung samt zugehörigem Museum entstehen, die der Historie des Orts huldigt. Den Architekten-wettbewerb für das neue Museum gewannen Peter Ebner und Fran-ziska Ullmann aus Wien. Äußerlich besticht ihr Bauwerk durch extreme Zurückhaltung, ja es tritt über-haupt nur in Form eines auskra-genden, langgestreckten Eingangs-bauwerks aus Sichtbeton und Glas in Erscheinung. Der weitaus größte Teil der Ausstellungsfl ächen liegt unter-irdisch, auf einer Ebene mit der Gruft

der verblichenen Militärgrößen. Und doch ist den Räumen nichts von dem Pathos des Altbaus zu eigen: Ebner und Ullmann entwarfen eine vielfach gefaltete Innenraumlandschaft ganz in Weiß, in der trotz ihrer Lage im Un-tergrund das Tageslicht eine Haupt-rolle spielt. Stets fällt es indirekt durch Dachaufbauten, die die Ober-fl äche des Hügels durchstoßen, teils mittig in den Raum und teils als Streif-licht entlang der Außenwände. Das Licht geleitet den Besucher durch das Museum; im Zusammenspiel mit der ständig sich ändernden Raumhöhe und –breite defi niert es Weg-Räume und Ort-Räume, also Zonen der Be-wegung und des Verweilens. Bewusst verzichteten Ebner und Ullmann auf eine Unterteilung des Museums in un-terschiedliche Kabinette. Sie gliedern den Ausstellungsrundgang lediglich durch subtile Faltungen der Decken, Wände und teilweise des Bodens, die während des Entwurfsprozesses an zahllosen Arbeitsmodellen erprobt wurden.

MUSEUM IM HELDENBERG

Page 9: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

7

CAMERA OBSCURA

Das Wort ,Cámara’ bedeutet auf spanisch nicht nur ,Kammer’ oder ,Zimmer’, sondern auch ,Fotoappa-rat’. Aus dieser linguistischen und semantischen Verwandtschaft he-raus erklärt Rafael de la Hoz seinen Entwurf für die neue Handelskam-mer der Region Madrid. Die ,Cámara de Comercio’ liegt auf einem schma-len Grundstück zwischen einer Aus-fallstraße und der Autobahn; seitlich schließt sich eine Grünanlage an. Alle drei macht de la Hoz für den Besu-cher sichtbar, indem er das Gebäude

– oder, in seiner Terminologie: die ,Ka-mera’ – über drei mehrgeschossige Glasfassaden nach außen öff net. Zu-sätzlich fällt über ein Glasdach, das durch einen gewaltigen Trägerrost aus Stahlbeton getragen wird, Ta-geslicht auch ins zentrale Atrium. Hinter jeder der drei ,Linsen’ seiner Kamera platziert de la Hoz ein Ob-jekt als ,Raum im Raum’: Im Westen, zur Autobahn hin, durchstößt ein ge-schlossener Metallkubus die Glas-fassade. Im Süden, Richtung Park,

ragt ein Glaskubus nach außen vor. Die eindrucksvollste Raumkomposi-tion gelang dem Architekten jedoch im Osten: Ein Kubus aus Naturstein scheint wie von Geisterhand getra-gen im viergeschossigen Foyer zu schweben. Lediglich über eine sch-male Brücke ist er vom Zentrum des Gebäudes aus zugänglich. Die Kon-struktion wurde komplett vom Be-tontragwerk des Daches abgehängt; sie wirkt massiv, besteht jedoch aus einem Stahlskelett, das mit dünnen Alabasterscheiben verkleidet wurde. Im Inneren des Kubus herrscht tags-über ein kontrastarmes Dämmer-licht, in dem die Struktur des Steins gut zur Geltung kommt. Nachts kehrt sich der Eindruck um: Aus dem eben noch grauen, unscheinbaren Natur-steinkubus wird unvermittelt ein überdimensionaler Leuchtkörper, der durch die Glasfassade weit in die Landschaft hinaus strahlt.

FOT

O V

ON

RO

LA

ND

HA

LBE

„Der Visconti-Hof darf nicht ver-deckt werden!“ begründen Mario Bellini und Rudy Ricciotti ihren Sie-gerentwurf im Wettbewerb um das neue Museum für islamische Kunst in Paris. Es wird im Visconti-Hof im Südfl ügel des Louvre entstehen, der mit seinen klassizistischen Sand-steinfassaden als einer der schönsten Innenhöfe im gesamten Komplex gilt. Um sein Ambiente nicht zu zerstö-ren, schlagen die Architekten vor, das gesamte Raumprogramm des neuen Museums auf zwei Untergeschosse zu verteilen. Zum darüber liegen-den Visconti-Hof wird der visuelle Kontakt durch Deckendurchbrüche hergestellt. Überdeckt werden die Ausstellungsfl ächen mit einer leich-ten Dachkonstruktion, die von nur vier fi ligranen Stahlstützen getragen wird. Das 80 Zentimeter hohe Raum-tragwerk des Daches wird beidseitig mit einem Verbundwerkstoff verklei-det, dessen Oberfl äche mit Tausen-den kleiner Glaslinsen bestückt ist. Dieser ,Schleier’ schützt den darun-

ter liegenden Raum nicht nur vor der Witterung, er fi ltert auch das Licht und bricht es in seine Spektralfarben. Dadurch wird der Ausstellungsraum stets in ein diff uses und farblich in-tensives Licht getaucht, was nicht nur der Behaglichkeit der Besucher, sondern auch der Konservation der Exponate zu Gute kommen und die Künste des Islam stilvoll ins rechte Licht rücken soll.

EIN SCHLEIER FÜR DEN LOUVRE

FOT

O V

ON

RU

DY

RIC

IOT

TI A

RC

HIT

EC

TE

S/S

TU

DIO

MA

RIO

BE

LLIN

I

Page 10: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

8

1

MENSCH UND ARCHITEKTUR

ARCHITEKTUR UND WEBKUNST

Der Mensch als Mittelpunkt der Architektur:Innenansichten einer wechselvollen Beziehung.

FOT

O V

ON

GIO

VA

NN

I AN

TIC

O

Oben Die Tatami-Matte ist der wichtigste Einrichtungs-gegenstand im traditionellen japanischen Wohnhaus und repräsentiert zugleich die wich-tigste Maßeinheit in der altjapa-nischen Architektur. Ihre Länge (ken) variiert je nach Region zwi-schen 170 und 191 Zentimetern .

Page 11: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

9

Text von Peter Blundell Jones.

In seinem Buch ,Die vier Elemente der Architektur’ identifi ziert Gottfried Semper die Webkunst als eine der Grundlagen der Architektur. Bis heute hat das Weben (lateinisch texere) seine Bedeutung im Bau-wesen erhalten – und sei es nur im metaphorischen Sinne, wie Peter Blundell Jones in seinem Beitrag schreibt. Er untersucht Mythos und Praxis des Webens in der menschlichen Kultur und geht der Faszination nach, die gewobene Oberfl ächen bis heute auf den Menschen ausüben.

Schon im Entwurf seiner Th eorie der vier Elemente in der Architektur zeigte sich Gottfried Semper von der Polychro-mie und den farbenprächtigen Ornamenten antiker Bauwerke beeindruckt. So widersprach er der weit verbreiteten Th ese, der Ursprung der Architektur sei in der reinen Konstruktion, insbesondere im Mauerwerk zu fi nden. Intellektueller Hinter-grund war die Debatte über die klassische Antike und deren mutmaßliche Ursprünge im alten Ägypten und Assyrien, teil-weise auch mit chinesischen Einfl üssen. Wissenschaften wie Archäologie und Anthropologie waren damals noch Neuland, die Mutmaßungen zu frühgeschichtlichen Ursprüngen somit reine Spekulation. Für Semper war die Feuerstelle Ausgangs-punkt und somit erstes Grundelement des häuslichen Lebens. Zweites und drittes Element waren Boden und Dach: Wäh-rend Lehm oder Mauerwerk als Basis des ersteren dienten, bil-deten Zimmerarbeiten die Grundlage für zweiteres. Hieraus resultierte das vierte Element, dem er die größte Bedeutung beimaß: der Einfassung durch den Wandbereiter unter Rück-griff auf die Webkunst. Laut Semper sind Begrenzungsmauern ursprünglich auf ein Hindernis oder einen Teppich zurück-zuführen und sollten daher diesem Ursprung als Bekleidung in würdiger Weise gerecht werden. Seine Sichtweise war nicht nur bahnbrechend für das Wiederaufl eben farbiger Ornamen-tik, sondern erhob diese geradezu zur moralischen Pfl icht; so regte er an, sich bei der Findung dekorativer Bezeichnungen von der Webkunst inspirieren zu lassen. Semper arbeitete zu einer Zeit, in der – um Ruskin zu zitieren – „die Ornamen-tik wichtigster Teil der Architektur war“. Bezeichnenderweise wurde Sempers Th eorie im Postmodernismus aufgegriff en, als man erneut nach einer Begründung für aufwändige Verzie-rungstechniken suchte und das Interesse an altertümlichen Bauweisen erneut auffl ammte.

Sempers Plädoyer für die Verkleidung ist heutzutage kaum noch nachvollziehbar. Sicherlich würde er auch derzeit noch weltweit Beweise für seine Th eorie fi nden, so zum Beispiel Zelte oder Behausungen wie die Maloca der Tukano im Regenwald des Amazonasgebietes, deren Rohholzrahmen mit Flechtgras-matten verkleidet sind. Andererseits dient bei vielen Lehm- und Ziegelhäusern das Erdreich als primäres Mittel zur Errichtung dicker und solider Wände; in einigen Fällen wird mittels Wöl-bung der Wände sogar ein Dach geformt. Auch die Vorliebe

der Neugotik für ausladende Torbögen fi ndet sich oftmals wieder; bestes Beispiel hierfür ist die bekannte Behauptung Louis Kahns, dass der Ziegel Bogen sein wolle.

Die primäre Bedeutung der Verkleidung scheint sich ins-besondere in der ostasiatischen Architektur zu off enbaren: In China, Japan und Korea bestehen die Hauswände traditionell aus einer Art Bekleidung, die nach Errichtung der Grund-struktur in diversen Schichten aufgetragen werden kann. Bei genauerem Hinsehen hingegen ist die Verkleidung keines-falls primäres Element: Die Primärkonstruktion besteht aus Zimmerwerk und Dachgebälk. Die schichtweise ineinander-greifenden Verbindungen der komplexen Holzdachstruktur bestimmen sowohl die äußere Rundform als auch die sorg-fältig ausgearbeiteten Kanten (Abb. 3). Hier ist eindeutig der Zimmermann federführend, er genießt weitaus größeres Anse-hen als der Maurer, der nur die Basis der Gebäude schaff t. Das Bauwerk steht frei und off en auf seinen Säulen, bevor Trenn- und Außenwände eingesetzt werden; die Verkleidung ist daher sekundär. Zwischen der Wandverkleidung und der soliden Mauer aus Lehm oder Ziegeln ist streng zu unterscheiden. Letz-tere wird in China und Korea als äußere Begrenzungsmauer des Grundbesitzes benutzt. Ihre starke und solide Bauweise bietet Schutz vor Fremden und ansteckenden Krankheiten, während die eigentliche Gebäudewand – manchmal nicht mehr als ein Papierschirm – lediglich als Filter zwischen Haus und Hof oder Garten dient. Das heiße und feuchte Sommer-klima erfordert eine stetige Belüftung; gleichzeitig aber bringt die Schichtung von Wandschirmen und Scheiben eine dis-krete räumliche Trennung mit starker sozialer und ästhetischer Komponente mit sich. Jüngste Beispiele aus Japan belegen, dass diese Tradition vielerorts unvermindert vorherrscht. Bei der traditionellen japanischen Hausplanung steht die tatami-Matte (Abb. 1) im Mittelpunkt, eine archetypische Webde-cke von der Größe eines Bettes, welche die zentrale Stelle im Haus einnimmt. Die papierverkleideten Gleitschirme oder shoji als vertikales Gegenstück hierzu erscheinen wie Web-stoff , insbesondere wegen ihrer geometrischen Rastermuster und modularen Rahmen. Tief in der japanischen Architek-tur verwurzelt sind auch Bambuszäune. Ihre teils überaus fei-nen Details belegen die Behauptung Sempers, die Logik der Technik verleihe der Form ihre Identität.

D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03

Page 12: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

10

2

D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03

die ursprünge der webkunstDie Kenntnis moderner Anthropologie hätte Sempers Über-zeugung einerseits widerlegt, andererseits bestärkt. Die Feu-erstelle, in nördlichen Gefi lden nach wie vor von großer Wichtigkeit, spielt in wärmeren Klimazonen eine deutlich geringere Rolle. EineAusnahme bildet die Kultur der austra-lischen Ureinwohner, in der sowohl das Feuer wie auch die Webkunst (in Form halbrunder Hütten aus Astwerk) eine zen-trale Rolle spielen. Die Artefakte und Fertigkeiten der Austra-lier lassen auf Webarten schließen, die vermutlich lange vor Erfi ndung des Webstuhls existierten, da Jäger und Sammler Schnüre benötigten. Sie benutzten sie, um Dinge zu verknüp-fen, Schmuck und Kleidung zusammenzuhalten und sogar zur Herstellung zeremonieller Gegenstände. Lange bevor Schafe domestiziert, in Herden gehalten und geschoren wurden, wur-den solche Schnüre aus Menschenhaar hergestellt. Austra-lische Ureinwohner fertigten sogar Schuhe aus Flechtgras. Die Knotenkunst reicht weit in die Geschichte der Menschheit zurück und ist vermutlich weitaus älter als der zehntausend Jahre alte Landwirtschaftsbau; sie fi ndet ihren Ursprung vor rund 100.000 Jahren, als auch die Sprache erfunden wurde. Hierfür waren räumliches Verständnis sowie eine gewisse Fingerfertigkeit vonnöten, mögen wir unsere Schnürsenkel heute auch in einem automatisierten Bewegungsablauf bin-den. Die verwobenen Muster keltischer Kunst mit ihren über- und untereinanderliegenden Linien sind vermutlich an frühe Sticktechniken angelehnt; die in späteren Zeitaltern kunst-voll angelegten Blumengärten haben ihren Ursprung in tür-kischen Teppichen. All dies beweist, dass Semper durchaus wichtige Erkenntnisse gewonnen hatte.

Ohne Zweifel hätte er einige der bald aufkommenden bild-reichen Sagen um den Webstuhl zu schätzen gewusst. In ‚Con-versations with Ogotemmeli‘, Marcel Griaules berühmtem Buch über die Dogon, spielt die Weberei eine besondere Rolle. Ihrer Auff assung nach stand die Weberei den Männern zu, während die Spinnerei Aufgabe der Frauen war. Die abwech-selnd schwarzen und weißen Rechtecke eines Webteppiches sollen, so wird vermutet, eine von oben betrachtete in Feldern angelegte Ackerbaulandschaft symbolisieren. Somit refl ektiert diese Webtechnik das Grundmuster des landwirtschaftlichen Anbaus mit Hilfe des Pfl uges als Grundlage für jede Siedler-

gemeinschaft; dieser verlieh der natürlichen Topographie erst-mals eine künstliche Geometrie und wurde somit zu einem der wichtigsten Symbole der Zivilisation. Ähnlich wie beim Pfl ügen bilden Kett- und Schussfaden einen rechten Winkel. Die Verfl echtung von Kett- und Schussfaden versinnbild-licht die eheliche Verbindung, das Zusammenkommen von Mann und Frau, wobei die unterschiedlichen Webtechniken verschie-dene Aspekte der ursprünglichen Dogon-Mythologie wider-spiegeln. Die aus Lehm gebauten Familienhäuser der Dogon zeigen auf den Fronten ein Raster aus Nischen zum Anden-ken an die Vorfahren (Abb. 4); das ideale Haus sollte zehn Reihen mit je acht Nischen aufweisen, die den Stammbaum der Familie zurück bis zum ersten Ehepaar repräsentieren. Dem gewebten Teppich kommt als Leichentuch seine größte Bedeutung zu, denn wenn der Leichnam darauf gebettet wird, „ist er Symbol für das Leben und die Auferstehung. Der Ver-storbene wird wie ein Fötus im Mutterleib kurzzeitig darin eingewickelt, um erneut in das Netz der Lebenden und der sprießenden Felder Einkehr zu fi nden.“ 1

In vorwiegend mündlich überlieferten Kulturen wie derje-nigen der Dogon gehörte die Erfi ndung des Webstuhls neben der Töpferkunst und der Eisenbearbeitung zu den wichtigsten technischen Errungenschaften. Mit diesen Techniken wur-den nicht nur die essenziellen Artefakte der menschlichen Kultur hergestellt, sie übten vielmehr auch eine gewisse Magie aus: Grober Faserstoff wurde mit Hilfe praktischer Geome-trie in ein schönes Stoff tuch umgewandelt. Die Techniken mythischen Ursprungs mussten weitergegeben und mündlich überliefert werden, ihr hoher Symbolwert ist daher kaum ver-wunderlich. So ist der Webstuhl zum Beispiel für die Kabylen in Algerien ein Kultursymbol und die Weberei hauptsäch-lich Frauensache. In seiner bekannten Strukturanalyse eines typischen Kabylen-Hauses bezeichnet Pierre Bourdieu den Webstuhl als erstes Zeichen der Kultur. Nach ihm ist die rückwärtige Hausmauer, die Webermauer, benannt; da dieser sich jedoch im Hausinneren und somit im überwiegend weib-lichen Bereich befi ndet, ist er den Frauen zuzuordnen. Über-wiegend in der dunklen Jahreszeit genutzt, gehört er im Sinne Bourdieu’scher Gegensätze zur dunklen, feuchten und weib-lichen Seite. Die Bedeutung des Webstuhls für die Kabylen ist vor dem Hintergrund ihres Frauenbildes und der Beschützer-

Die Sagopalme ist das wichtig-ste Material in der traditionellen Wohnarchitektur Papua-Neu-guineas. Die tragenden Pfosten werden aus den Stämmen der Palme hergestellt, die Dächer und Wandausfachungen aus den Blättern und der Boden aus der Rinde der Bäume.

FOT

O V

ON

YO

SH

IO K

OM

AT

SU

Page 13: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

11

4

3

5

rolle des Mannes zu sehen: „Er befi ndet sich vor der Weber-mauer mit Blickrichtung zur Tür, wo die junge Braut Platz nimmt… Wenn man weiß, dass das Mädchen zur Bewahrung seiner Jungfräulichkeit in Richtung Webermauer durch den Kettfaden treten muss, off enbart sich die magische Schutz-funktion… Für ihren zukünftigen Bräutigam spiegelt sich das gesamte Leben der Braut in den Positionen wider, die sie symbolisch gegenüber dem Webstuhl – als Sinnbild für den männlichen Schutz – einnimmt.“2 Das Durchschreiten des Webstuhls im Sinne einer symbolischen Schwelle gewinnt vor allem angesichts der Th eorie Bourdieus an Bedeutung, dass die Geometrie körperlichen Ursprungs und somit auf die primären menschlichen Bewegungsabläufe nach vorne

Unten (oberes Bild) Das Gebälk eines altkoreanischen Tempels zeigt die hohe Kunst der Holzbe-arbeitung in den alten, ostasia-tischen Kulturen. Skelettbauten wie dieser waren die Grund-lage für die Entwicklung leich-ter, oftmals durchbrochener oder gefl ochtener, Außenwandverklei-dungen.

Ganz unten Fassade eines Wohn-hauses der Dogon. Ebenso wie die Verfl echtung von Kett- und Schussfäden im Glauben der Dogon die eheliche Verbindung von Mann und Frau versinnbild-licht, repräsentieren die Nischen neben dem Eingang den Stamm-baum der Familie.

Rechts Wandfüllung eines Fach-werkhauses. Auch sie wird als grobe Flechtwerk aus Zweigenhergestellt, verschwindet jedoch später hinter einer dicken Schicht Lehm, Stroh und Verputz.

FOT

O V

ON

PE

TE

R B

LUN

DE

LL J

ON

ES

FOT

O V

ON

JO

SE

F F.

ST

UE

TE

R

FOT

O V

ON

PE

TE

R B

LUN

DE

LL J

ON

ES

und hinten, nach links und rechts oder nach oben und unten zurückzuführen sei.3 Dieser vorkartesianische Ansatz ist nicht nur erster Beleg für die drei Dimensionen der Architektur, sondern legt auch den Grundstein für die Choreografi e, die Koordinierung menschlicher Bewegungen unter Berücksich-tigung von Raum und Zeit.

die spielregeln

wendet wird, bezeichnete ursprünglich einen Gegenstand, der

Flechtkorb ausgehende Faszination mag auf deren sichtbar ange-legte Konstruktion zurückzuführen sein. In seiner Anordnung der Materialien zeigt er nicht nur eine bestimmte Geometrie, sondern ermöglicht unterschiedliche Materialschichten, Farb-wechsel usw. Variationen bei der Herstellung bieten dem Weber ornamentale Möglichkeiten, die zunächst willkürlich anmuten mögen, aber gewissen Spielregeln folgen müssen. So fi nden die Muster traditionell handgefertigter Teppiche ihre Grenzen in Fadenstärke, Stichart und einer begrenzten Auswahl an Farb-stoff en. William Morris erkannte dies, als er versuchte, neben anderen Handwerken auch die Webkunst wieder aufl eben zu las-sen. Seiner Auff assung nach solle der Weber ‚Weberblumen’ und

und der angewandten Technik gerecht werden müsse: „Füge nichts hinzu und schaff e nur das, was mit der Web-

kunst erreicht werden kann; das Werk möge in der Silhou-ette nach eigenem Gutdünken so fein wie möglich erscheinen, sollte aber einfach gefertigt sein. Mit dem Weberschiff lassen sich nicht beliebige Linien zeichnen, sondern vielmehr feine rechtwinklige Mosaikmuster bilden. Sofern der Künstler dies verinnerlicht und das Material nicht in unbefahrbare Wege zwingt, dürfte er der Bearbeitung von Webstoff en den größ-ten Reiz abgewinnen.“4 In derselben Schrift spielt er auf eine persönliche Erfahrung an:

„ ... noch möchte ich die Fertigkeit des Webers als stumpf-sinnige Tätigkeit abtun, da er wirklich wertvolle Arbeit lei-stet: Von Tag zu Tag sieht er das Gewirk auf nahezu magische Weise wachsen und kann den Zeitpunkt erahnen, wenn es aus dem Rahmen genommen wird und seine wohldurchdachte Schönheit von der richtigen Seite off enbart.“

keine ‚Malerblumen’ schaff en, da das Produkt stets dem Material

,produziert’ werden musste. Die von einem Webteppich oder

Der Begriff , Produkt’ , der heutzutage häufi g missbräuchlich ver-

Page 14: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

12 D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03

webkunst in der architekturAbgesehen von der Herstellung von Stoff en für Bekleidungsar-tikel, Betten und Mobiliar fi ndet sich die Webkunst in der tra-ditionellen ländlichen Architektur in dreierlei Form wieder: bei der Schaff ung von Hürden und Zäunen, in der Verwendung ähnlicher Techniken zur Füllung von Holzrahmen und bei der Errichtung von Strohdächern. Alte zusammengebundene Bretterzäune, die man heute nur noch in Freilichtmuseen sieht, zeugen insbesondere im Vergleich zu modernen Betonpfosten und Stacheldrähten von gewissem Charme; für ihre Herstel-lung war eine genaue Kenntnis von Art und Alter des verwende-ten Holzes erforderlich. Die Wandfüllung eines Fachwerkbaus (Abb. 5), aus überkreuzenden horizontalen und vertikalen Ele-menten gefertigt, gewann ihre Stärke aus der Spannung der miteinander verbundenen Materialien, war jedoch anschlie-ßend durch den beidseitig angebrachten Verputz nicht weiter erkennbar. Die Webstruktur eines Strohdachs zeigt sich am besten rund um den First und an den Kanten, wo das Material besonders fest eingebunden werden und wetterfest sein muss. Die hierzu verwendeten Sicherungsschnüre sind oftmals sicht-bar und fügen sich in die Ornamentik ein; durch die Feinbe-arbeitung der Formen wird dem Strohdach – ähnlich einem Haarschnitt – eine besondere Qualität verliehen.

Angesichts des heutzutage allgemein nachlassenden Inte-resses an echter Handwerkskunst fi ndet sich die Weberei im strikten Sinne in der modernen Architektur weitaus seltener wieder. Hier und da wird Korbgefl echt verwendet, wie jüngst bei den Balkonen eines Seminargebäudes von Lederer Rag-narsdóttir Oei in Stuttgart-Hohenheim; Widerstandsfähig-keit und Robustheit trotz ihrer Leichtigkeit stellt das Gefl echt nach wie vor bei Körben von Heißluftballons unter Beweis. Eher jedoch als in der Realität fi ndet sich die Webtechnik in grundlegenden Ideen wieder. Während Wagner und Loos die traditionelle Verkleidung im Sinne Sempers fortführten, nahm Frank Lloyd Wright häufi g Bezug auf Kette und Schuss als Basis einer Planungsgeometrie, die verschiedene Materi-alien organisiert und einbindet. Die Architekten des Teams Ten, vor allem Josic Candilis und Woods, kreierten eine ganze Serie von Werken auf matten- oder tartanähnlichen Raster-plänen. Alvar Aalto kehrte beim Bau seiner Villa Mairea im Jahr 1937 zu geknüpften und gefl ochtenen Materialien aus

Pfl anzen zurück und schuf eine Reihe von Holzrasterstruk-turen, insbesondere für raumbegrenzende Hängedecken. Josef Frank brillierte vor allem in seiner schwedischen Karriere nach 1934 durch sein Textildesign und verwendete Rattan und Rohrstock für Möbel. Versteht man den Begriff der Weberei weiter gefasst im Sinne perforierter oder durchlässiger Materi-alschichten wie bei den japanischen shoji oder dem verschlei-erten Gebälk der Fenster eines arabischen Harems, fi nden sich zahlreiche moderne Beispiele, einschließlich der von Egon Eiermann entwickelten mehrschichtige Fassaden, die in den Gebäuden Günter Behnischs noch verfeinert wurden. Einige dieser Schichten sind sichtbar, andere umgebungsbezogen. Es ist bereits eine Binsenweisheit, das Äußere eines Gebäudes mit Kleidung zu vergleichen: ein wasserabweisender Regen-mantel, ein wärmender Pullover usw.. Perforierte Metallraster und –fl ächen, die einen visuellen Webeff ekt vermitteln, ohne gewebt zu sein, wurden in den letzten Jahren vielfach einge-setzt, insbesondere von Jean Nouvel. Herzog und de Meuron gingen noch weiter und schufen Fassaden in überdimensio-naler Nachbildung hürdenähnlicher Form. Bekanntes Beispiel hierfür ist ihr Stellwerk Auf dem Wolf von 1988-95 (Abb. 7); allerdings war dies nur ein Th ema unter vielen in ihren Wer-ken zur Neudefi nition des Fassadencharakters unter bewusster Einbeziehung der Wirkung bestimmter Materialien. Kabel-netze und Gittergerüste, erstmals propagiert von Frei Otto in dem von ihm gegründeten Institut für Leichte Flächentrag-werke (Abb. 8), ähneln einem Webstoff insofern, als sie nach dem Ketten-Schuss-Prinzip gefertigt und fl exibel sind und von den Spannungskräften vorgegebene Formen aufweisen. Vor allem Kabelnetze erinnern an Spinnweben und führen uns vor Augen, dass die Spinne zwar der kleinste Weber in der Natur sein mag, aber dennoch ein hoch kompliziertes Gebilde von besonderer Schönheit produzieren kann und dabei eine Art Balletttanz vollführt.

Peter Blundell Jones ist Professor für Architekturtheorie und -geschichte an der Universität von Sheffi eld. Er ist Autor zahlreicher Bücher, insbeson-dere über den deutschen Expressionismus, die skandinavische Moderne und die so genannte ‚Grazer Schule‘. Peter Blundell Jones ist Mitglied der inter-nationalen Organisation der Architekturkritiker CICA und des Professional Publications Committee der RIBA sowie Redakteur der britischen Architek-turzeitschrift Architectural Research Quarterly.

Marcel Griaule, Conversations with Ogotemmeli, Oxford Uni-versity Press 1966, S. 79 (franz. Original: Dieu d’eau, entretiens avec Ogotemmeli)Pierre Bourdieu, Das Kabylenhaus oder Die verkehrte Welt, in seinem Buch Algeria 1960, S. 137.Pierre Bourdieu, Der Körper als Geometer, in seinem Buch Abriss einer praktischen Theorie, Cambridge University Press 1976.William Morris, Zur Webkunst, aus Die geringeren Künste des Lebens, 1882, zitiert in Christine Poulson (Hrsg.), William Mor-ris on Art and Design, Sheffi eld Academic Press 1996, S. 79..

1

2

3

4

Page 15: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

13

6

7 8

Unten Edelstahlgewebe gehört zu den wiederkehrenden Texturen im Werk von Dominique Perrault. Das Velodrom in Berlin ist fast vollstän-dig damit verkleidet. Lediglich eine knapp über mannshohe Glasfassade trennt die scheinbar schwebende, silbrige Scheibe vom Erdboden.

Ganz unten links Bei ihrem Stell-werk in Basel (fertiggestellt 1998) interpretieren Herzog & de Meuron das Thema des Flech-tens in freier Manier. Der asym-metrische Baukörper ist mit Kupferbändern umwickelt, die sich im Bereich der Fenster in die Horizontale drehen, um Licht ins Innere des Gebäudes zu lassen. Die direkte Sonneneinstrahlung wird durch die Lamellen jedoch ausgeblendet.

FOT

O V

ON

WE

RN

ER

HU

TH

MA

CH

ER

FOT

O V

ON

JA

KO

B S

CH

OO

F

FOT

O V

ON

JA

IME

TA

UT

IVA

Ganz unten rechts An Spinn-weben und anderen natürlichen Geweben orientierte sich Frei Otto in seinen Entwürfen. Am Olympiadach in München (1968-1972 mit Günter Behnisch) ist die Struktur aus kreuzweise mit-einander verbundenen Einzelsei-len besonders gut ablesbar.

Page 16: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

14

TEXTUREN

MEGALITHKREIS IN DER WÜSTEKongresszentrum ‚MAGMA’, Teneriff a

Text von Jakob Schoof.Fotos von Torben Eskerod.

Am südlichsten Rand Europas, inmitten der Urlaubsregion an Teneriff as Südostküste, hat Fernando Martin Menis vom spanischen Architekturbüro AMP ein Kongresszentrum von geradezu archaischer Monumentalität geschaff en. Mit Geduld und Ideenreichtum rang Menis den beiden Oberfl ächenmateri-alien des Neubaus – Sichtbeton und Faser-zementplatten – einen Reichtum an Formen und Texturen ab, die weithin ihresgleichen suchen.

Page 17: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

15

Page 18: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

16

Page 19: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

17

Der Südosten der Insel Teneriff a ist unfrucht-bares Land; eine Halbwüste im Windschat-ten des Vulkans Teide, mit 3718 Metern des höchsten Gipfels auf spanischem Territo-rium, die auch in ihrer spärlichen Vegetation eher die Nähe zu Nordafrika erahnen lässt als zum fernen spanischen Mutterland. Wäre nicht der fl orierende Tourismus, es gäbe wenig Anlass, hier größere menschliche Ansiedlungen zu vermuten – geschweige denn eines der wichtigsten öff entlichen Gebäude, die in den letzten Jahrzehnten auf der Insel errichtet wurden. Das ins-gesamt 30 Millionen Euro teure Projekt MAGMA war zunächst als reines Tagungs-zentrum geplant, wurde jedoch während der Planungsphase auch für den Theater- und Konzertbetrieb ausgelegt. Ein komplettes Bühnenhaus kam hinzu. Künftig sollen im Haus regelmäßig Konzerte des Orquestra Sinfonica de Tenerife stattfi nden, das bis-lang meist in dem 2003 eröff neten, von San-tiago Calatrava geplanten Auditorium der Inselhauptstadt Santa Cruz aufspielt.

Nicht zuletzt seine verkehrsgünstige Lage soll MAGMA zu einem Kristallisations-punkt für die weitere wirtschaftliche und

kulturelle Entwicklung von Süd-Teneriff a machen: Unmittelbar hinter dem Gebäude führt die Autobahn Richtung Santa Cruz vorbei. Der Bauplatz wurde teilweise aus dem Hang abgegraben; Richtung Meer bil-det er eine erhöhte Plattform, zu der meh-rere Rampen hinauf führen.

Das oberhalb des Ortes Adeje gelegene Kongresszentrum tritt auf den ersten Blick als eigenartige Mischung aus internatio-nal geprägtem Expressionismus und jener zeitlosen, steinernen Schwere in Erschei-nung, welche gerade die jüngere spanische Architektur wieder für sich entdeckt hat. Fernando Menis ist sich dieser Doppeldeu-tigkeit seines Entwurfs durchaus bewusst. Er schreibt: „Aus der Ferne präsentiert sich das Gebäude als arrogante Konstruktion [!] mit expressiven, starken Formen, während es aus der Nähe betrachtet mit der Umge-bung verschmilzt und ein Teil von ihr wird.“

In dem Bestreben, den ungewöhnli-chen Neubau von Adeje in eine allgemein gebräuchliche Stilkategorie zu stecken, haben Kritiker diesen bereits mit der Archi-tektur Frank Gehrys verglichen. Wie der Kali-fornier in seinen besten Bauten, so spielt

Seite 14-15 Niedrige, breite Ram-pen führen aus dem Ort Adeje hinauf auf den Vorplatz des Kon-gresszentrums. Hinter der Brü-stung zeichnen sich rechts bereits die Konturen des fl ach geduckten Neubaus ab..

Links Die beiden Oberfl ächen-materialien von MAGMA sind Sichtbeton und Faserzement-schindeln. Die Stirnseiten der Betonwände wurden mit dem Presslufthammer bearbeitet, um sie wie verwittertes Eruptivge-stein wirken zu lassen.

Oben Gesamtansicht des Gebäu-dekomplexes vom Bergabhang oberhalb des Ortes aus. Sichtbar wird hier der Wechsel zwischen den wuchtigen Betonkernen und den wellenartig über sie hinweg gleitenden Faserzementdächern.

D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03

Page 20: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

18

Die obere Konferenzetage lässt sich mittels verfahrbarer Trenn-wände in maximal 26 kleinere Räume unterteilen. Meist bleibt sie jedoch off en und macht dann – wie hier – das majestätisch geschwungene Dach, das sich in den Raumecken bis auf Fußbo-denniveau herabsenkt, als Gan-zes erlebbar.

Page 21: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

19

Page 22: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

20 D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03

auch Menis in seinem Entwurf mit der Span-nung zwischen massiven Kuben und wellen-förmig dahinschwingenden Dachelementen. Indessen fehlt dem Kongresszentrum das himmelwärts Strebende der Gehry-Bauten; das Gebäude duckt sich fl ach in den Wüsten-sand und bleibt damit auf sympathische Weise erdverbunden. Menis vergleicht die massiven Betonkuben, die die Dächer tragen, mit Blöcken aus magmatischem Ergussge-stein; die Wellendächer selbst symbolisieren für ihn „eine Flüssigkeit in Bewegung, die den Raum in jeder Richtung umschließt“.

Tritt man näher an das Gebäude heran, so zerfällt die unruhige Gesamtform in Einzelelemente von beeindruckender Prä-senz und spannungsreicher Haptik. Konse-quent ließ Fernando Menis alle Betonteile so bearbeiten, dass sie wie roh bearbeitete, aus dem Steinbruch gehauene Blöcke wirken: Während die Seitenfl ächen eine schräg ver-laufende Bretterschalung erhielten, die an die Arbeitsspuren einer gigantischen Säge erinnert, wurden die Stirnseiten nachträg-lich mit dem Presslufthammer aufgeraut.

Als Dachkonstruktion dient Menis ein gewaltiger Trägerrost aus Stahl mit abge-

hängten, 45 Zentimeter hohen Stahlträgern, die die untere Deckenverkleidung tragen. Berechnung und Fertigung der unregel-mäßigen, doppelt gekrümmten Dachfl ä-chen erfolgte mit der Software CATIA, die ursprünglich aus dem Flugzeugbau stammt und bereits bei vielen biomorphen Baukon-struktionen der vergangenen Jahre ihre Praxistauglichkeit bewiesen hat. Die Wel-lendächer sind innen- und außenseitig mit fl exiblen Faserzementplatten verkleidet, die einander wie Schuppen überlappen. Selbst an den Stirnkanten, an denen Unter- und Oberseite des Dachs aneinander stoßen, ver-zichtete Menis auf jegliche Kantenbleche, um die makellos raue, „steinerne“ Optik des Bauwerks zu erhalten. Die Dachkanten erhielten so eine sägezahnartige Struktur, die gut zum Relief des behauenen Betons passt. Im Gebäudeinneren sind Belüftung, Elektroinstallation, Schalldämmung sowie die Führungsschienen für die Schallschutz-trennwände im Dachinnenraum verborgen.

Insgesamt zwölf, in etwa radial ange-ordnete Beton-Megalithen gliedern den Gebäudegrundriss, tragen die Last der Dächer und nehmen in ihrem Inneren Neben-

Links Blick durch das Oberge-schoss. Zur Beleuchtung dienen in die Decke eingelassene Halo-genspots und schmale Licht-schlitze im Dach, durch die – stets auf indirektem Wege – Tageslicht in den Innenraum fällt.

Rechts Die Haupttreppe ins Obergeschoss off enbart Fernando Menis‘ bildhauerische Qualitäten. Die Fassade des hin-teren Büroriegels (rechts im Bild) zeigt ein Patchwork aus schalungsglatten und nachträg-lich gehämmerten Betonober-fl ächen.

Page 23: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

21

Page 24: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

22

Above The Tatami mat is the most important item of soft fur-niture in the traditional Japa-nese residence and, at the

Ein wuchtiger, dreieckiger Bal-kon kragt aus dem Obergeschoss in das Auditorium vor. Ebenso wenig wie Gesteinslagen in der Natur verlaufen die Schalungs-muster an den Wänden genau waagerecht oder senkrecht; immer dominiert die Diagonale.

Page 25: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

23

Page 26: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

24 D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03

räume wie WCs, Fluchttreppen, Büros und das Pressezentrum auf. Zwischen ihnen lie-gen die drei Zugänge zum Gebäude; selbst diese sind fl ach und werden von wuchtigen Balkonbrüstungen der Obergeschosse und auskragenden Dachfl ächen beschattet. Der Haupteingang führt vom Vorplatz ins Foyer und in die linkerhand angrenzende, öff ent-liche Cafeteria, die MAGMA auch an Tagen ohne Kongressbetrieb mit einem Minimum an Leben erfüllen soll. Ein zweiter Zugang führt von der Gebäuderückseite in den Ver-waltungstrakt; ein dritter, der nur für Groß-veranstaltungen genutzt wird, direkt in das Auditorium.

Wer das Innere von MAGMA betritt und dabei das Bild herkömmlicher Konfe-renzzentren mit ihrer Serienbau-Ästhetik, ihren modularen Stahl-Glas-Wänden und endlosen Rasterdecken in Erinnerung hat, kann eigentlich nur staunen über die Kunst-fertigkeit, mit der Fernando Martin Menis den höhlenartigen Großräumen des Bau-werks nicht nur Atmosphäre, sondern auch eine Flexibilität verlieh, die den internationa-len Vergleich nicht zu scheuen braucht. Der 2350 m² große Mehrzwecksaal mit Bühne

im Erdgeschoss, in dem auch die Konzerte stattfi nden, kann in bis zu neun kleinere Sitzungssäle unterteilt werden. Auch das Obergeschoss ist entweder als ein 1865 m² großer Sitzungssaal nutzbar oder in bis zu 26 kleinere Räume zu unterteilen. Garanten für diesen erstaunlichen Grad an räumlicher Variabilität sind schallgedämmte Schiebe-wände, die in den Nenbenraumzonen (Menis bezeichnet sie als „Garderobenfelsen“) geparkt werden.

In der Eingangshalle off enbart sich die ganze archaische Wucht dieses Gebäudes, sie ist fl ach und breit und relativ dunkel; rie-senhafte Hohlkastenträger aus Stahlbeton spannen quer durch die Halle, so niedrig, dass man teilweise meint, sie mit der Hand grei-fen zu können. In die Träger ist die Belüftung integriert, in die tief liegenden, schluchten-gleichen Einschnitte zwischen ihnen die Beleuchtung. Auch hier unterstrich Menis die Masse des Betons, indem er die Unter-seite der Betonträger schalungsrau beließ und ihre Seitenfl ächen nachträglich mit dem Presslufthammer bearbeiten ließ. Der seitlich anschließende Hauptsaal mit sei-ner weitgespannten Decke nimmt die volle

Ein Konferenzraum in einem der Betonriegel. Mit den schmalen ‚grietas de luz‘ (Lichtschlitzen) in ihren meterdicken Decken und Außenwänden erzeugen sie einige der eindrucksvollsten Lichtstimmungen im ganzen Gebäude.

Rechts Auch das große, zweigeschossige Auditorium ist durch Trennwände zu unterglie-dern – dunkle Fugen in Wänden und Decke deuten es an. Letztere wurde hier um einige Meter von der eigentlichen Haupttragkon-struktion des Daches abgehängt.

Page 27: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

25

Höhe des ansonsten zwei- bis viergeschos-sigen Bauwerks ein. Zahlreiche Nischen und Alkoven machen nicht nur das Bege-hen des Gebäudes zu einer wahren Entde-ckungsreise, sondern ermöglichen auch viele unterschiedliche Nutzungsarten gleichzei-tig – die Plenarsitzung und das Vier-Augen-Gespräch, den Frontalvortrag ebenso wie das informelle Tete-à-tete. Statt stromlini-enförmig jeder erdenklichen Nutzung zu fol-gen, inspiriert das Bauwerk seinerseits zu Hunderten denkbarer Nutzungsarten. Seine in sich ruhende, geradezu stoische Architek-tur ist robust genug, mit den unterschied-lichsten Anforderungen fertig zu werden, und gleichzeitig ausdrucksstark genug, um auch ohne diese als autonome Bauskulptur zu bestehen.

Nach bester Bildhauermanier geht Fernando Martin Menis in seinem Entwurf auch mit dem Tageslicht um. In Süd-Tene-riff a, wo Tageshöchsttemperaturen von 40 Grad im Sommer die Regel sind, verbietet sich die großfl ächige, direkte Besonnung von Innenräumen. Menis lenkt das Tages-licht stets indirekt in die Räume und dann gezielt dorthin, wo es der Inszenierung der

Volumen und Oberfl ächen dient. Schmale Schlitze in Wand und Dach (grietas de luz) und punktförmige, regelrechte „Lichtlöcher“ (agujeros de luz) sind die häufi gsten Tages-lichtöff nungen in seinem Entwurf. Beson-ders dramatisch ist der Raumeindruck im Pressezentrum im Obergeschoss, wo sich Hohlkastenträger aus Beton mit bandför-migen Oberlichtern abwechseln. Nachts ersetzen Halogenstrahler, die ebenfalls in den Deckenfugen angebracht wurden, das Tageslicht.

Die Analogie zur Skulptur prägt indes-sen nicht nur das Endergebnis, sondern auch die Genese des Entwurfs: Die ersten Ideen zu MAGMA nahmen an einem kaum schuhkar-tongroßen Plastilinmodell Gestalt an. Grö-ßere Modelle aus Plastilin und Schaumstoff folgten, deren Maße später direkt in Kon-struktionszeichnungen übertragen wurden. Wie die Arbeit eines Bildhauers war auch Menis’ Arbeitsrhythmus von der engen Ver-knüpfung zwischen Entwurf und Ausfüh-rung bestimmt: Die wenigsten Details lagen bei Baubeginn bereits fest, vieles wurde erst gezeichnet und noch mehr wurde verändert, als der Bau schon am Entstehen war. Das

intensive Eintauchen des Architekten in den Bauprozess ist bei einem Bauwerk mit der geometrischen Komplexität und dem Vari-antenreichtum im Detail wie MAGMA ver-mutlich unabdingbar. Möglich war es nur, weil Fernando Martin Menis über ein einge-schworenes Baustellenteam verfügte, das ihm in die zahlreichen Verästelungen sei-nes Entwurfs hinein nahezu bedingungs-los folgte.

Page 28: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

26 D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03

Links Farbe und Oberfl ächen-texturen des Kongresszentrums wandeln sich im Laufe der Tages-zeiten. Die Dachüberstände sind so berechnet, dass sie das Bau-werk bestmöglich vor der steilen Mittagssonne schützen.

Rechts Detailansicht der Beton-fassade. Dem Beton wurde Gesteinsmehl aus der Region bei-gemischt, um ihn farblich an die umliegenden Felsformationen anzupassen.

Page 29: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

27

Page 30: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

28 D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03

FaktenGebäudetyp Kongresszentrum mit Konzertsaal, Cafeteria und Büros Bauherr Canarias Congress Bureau Tenerife Sur S.A.Architekten Artengo Menis Pastrana, Santa Cruz de Tenerife (Projektarchitekt: Fernando Martin Menis)Standort Costa Adeje, Tenerife Fertigstellung Herbst 2005

Grundriss Erdgeschoss

Längsschnitt

Detailschnitt durch die EIngangsfassade Lageplan

Querschnitt

Grundriss Obergeschoss

28

Page 31: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

29

Meine Heimat, die Kanarischen Inseln, hat meine Ar-beit maßgeblich beeinfl usst. Seine besondere geogra-fi schen Lage – weit entfernt von Europa und Amerika, aber nahe bei Afrika – macht das Archipel zu einem he-rausragenden kulturellen und wirtschaftlichen Binde-glied zwischen den drei Kontinenten. Ihr vulkanischer

Ursprung und die vorherrschenden Lichtverhältnisse, Farben und For-men prägen den Charakter der vom Atlantik umgebenen Inseln.Dieses einzigartige natürliche Umfeld nimmt seinerseits Einfl uss auf eine Architektur, die sich nicht dem Zeitgeist oder kurzfristigen Trends unterwirft. In meinen Entwürfen, die diese Einzigartigkeit zu-mindest ein Stück weit einfangen sollen, analysiere ich die für einen Baustandort charakteristischen Materialien. Ein Projekt teilweise vor Ort zu entwerfen, hat den Vorteil, dass Muster im Maßstab 1:1 her-gestellt werden können, an denen sich Farbnuancen ändern oder un-bekannte Texturen bestimmter Materialien entdecken lassen.Der Standort des zukünftigen Gebäudes wird so immer auch in das Projekt einbezogen. Denn von der Umgebung hängt es ab, welche Ma-terialien zum Einsatz kommen. Unabhängig davon, welchen Grundriss der Bau hat, wie die Fassade aussehen wird oder welche Gebäudeauf-teilung geplant ist, wähle ich für meine Architektur stets adäquate

Materialien aus, die nicht nur ästhetisch überzeugen, sondern auch mit der Umgebung des Gebäudes harmonieren. Das Kunst- und Kongresszentrum MAGMA Arte&Congresos auf Te-neriff a beispielsweise bringt eine fl ießende Linienführung zum Aus-druck, die sich vom Boden über die Wände bis hin zum wellenförmigen Dach fortsetzt, das über allem thront, und dem Gebäude einen in sich geschlossenen Ausdruck verleiht. Das dominierende Material ist Beton, da dieser gut mit dem Umland und der wüstenartigen Land-schaft des Südens der Insel harmoniert. Um den Beton farblich noch stärker an die Landschaft anzupassen, wurde sprödes, für diese Ge-gend typisches Gestein beigemischt, das aus nahe gelegenen Stein-brüchen stammt und für den Ockerton verantwortlich ist. Die äußere Textur des Gebäudes ist eine Reminiszenz an die erodierende Land-schaft des Südens; sie verleiht dem Gebäude zudem eine vom Ta-geslicht abhängige Dynamik. Das Licht unterstreicht somit außen die Textur des Gebäudes. Im Innenraum kommt dem Licht dagegen eine andere Aufgabe zu: In Kaskaden ergießt es sich über Boden und Wände und lässt dabei ein abwechslungsreiches Spiel von Licht und Schatten entstehen.

Fernando Menis

Page 32: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

30

Page 33: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

31

Page 34: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

32

REFLEKTIONEN Neue Perspektiven:Ideen abseits der Alltagsarchitektur.

Gegenüber Vier Beispiele äußerer natürlicher Oberfl ächen von Organismen:1. farbenprächtiges schuppenartiges Gefi eder eines Fasans. 2.

hydrophobe Blattoberfl äche des Frauenschuh.3. multifunktionale menschliche Haut. 4.

lichtdurchlässige Samenhülle des Blasenschötchens.

NATÜRLICHE OBERFLÄCHEN

FOT

O (

LIN

KS

) AG

HE

YS

ER

/UN

I BR

EM

EN

. GE

GE

BE

R: P

HO

TO

S 1

, 3, 4

VO

N J

AK

OB

SC

HO

OF,

PH

OT

O 2

VO

N D

R. U

DO

PP

ER

S

Page 35: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

33

3

21

4

Text von Udo Küppers.

Die Verpackungsbionik beschäftigt sich mit der Frage, welche technischen Erfi ndungen sich aus natürlichen Oberfl ächenstrukturen ableiten lassen. Schon in der Vergangenheit hat dieser Zweig der Wissenschaft große Fortschritte für das Bauwesen gebracht, zum Beispiel den selbstreinigenden „Lotos-Eff ekt“ für Farben und Putze, Metall- und Keramikoberfl ächen. Doch die Bionik natürlicher Oberfl ächen hält noch mehr Überraschungen für uns bereit, wie Dr. Udo Küppers in seinem Beitrag erläutert.

Oberflächen sind Grenzflächen und als solche ein uni-verselles Merkmal des Lebens. Man könnte auch sagen: Natür-liche Oberfl ächen sind die Verpackungen des Lebens. Bereits als kleinstes dünnes Häutchen von wenigen Millionstel Zen-timeter Dicke leistet die Oberfl äche einer Doppelschicht von Fettstoff molekülen mit zugehöriger Struktur Außerordent-liches für die Energiegewinnung innerhalb eines Organismus. Die Oberfl äche der mehrere Dezimeter dicken Borkenschicht eines Mammutbaums verteidigt den Organismus dagegen unmittelbar und in vorderster Position gegen vielfältige Wettereinfl üsse, Feuer oder Tiere. Zwischen den kleinsten und größten Grenzfl ächen des Lebens spannt sich ein unü-berschaubarer Reichtum an hoch spezialisierten Oberfl ächen, die die Evolution seit Jahrmillionen Schritt für Schritt ver-bessert. Im Inneren eines Organismus sind es zum Beispiel spezialisierte Zellverbünde (Organe), die sich durch Gren-zen ziehende Oberfl ächen voneinander unterscheiden, aber miteinander kommunizieren. Gegenüber der Umwelt sind es die äußeren umhüllenden Oberfl ächen, zum Beispiel die menschliche Haut, die vielfältige multifunktionale Schutz-aufgaben erfüllt. Es sind gerade diese äußeren Oberfl ächen, die wir Menschen vorrangig wahrnehmen. Verteilt auf alle Lebensbereiche unserer Erde erfüllen sie spezialisierte, für den Organismus überlebenswichtige Aufgaben. Schönheit und Funktionalität liegen bei natürlichen Oberfl ächen eng bei-einander. Die Evolution hat es verstanden, beide Merkmale perfekt zu vereinen.

Die Erkundung von Geheimnissen natürlichen Oberfl ä-chen ist unvollständig ohne einen Blick in die mikroskopische Tiefe der Schichten. Gerade in den Dimensionen von Mikro-meter und Nanometer zeigen sich erst die wahren Erfolgsstra-tegien natürlicher Organismen und zugehöriger anorganischer Verbundmaterialien.

Der Katalysator zwischen den natürlichen Oberfl ächen, die als Vorbilder für Oberfl ächen in Technik und Architektur dienen können und den funktionalen, technisch und archi-tektonisch anwendungsreifen Analogieprodukten, ist die Bio-nik. Sie ist eine eigenständige Wissenschaftsdisziplin die sich durch ihre Analogieforschung gut von anderen Disziplinen unterscheidet:

Bionik befasst sich systematisch mit der technischen Umsetzung und Anwendung von Konstruktionen, Verfahren und Prinzipien biologischer Systeme.

Einer breiten interessierten Öff entlichkeit sind Produkte wie eine schmutzabweisende Fassadenfarbe oder eine Spezialfo-lie zur Minderung des Oberfl ächen-Reibungswiderstandes durch die Begriff e ,Lotus-Eff ekt‘ und ,Riblet-Eff ekt‘ bekannt. Detaillierte Untersuchungen an natürlichen Oberfl ächen des Lotusblattes und der Haihaut führten zu den bionischen zukunftsweisenden Techniklösungen. Es sind nur zwei von vielen herausragenden Ergebnissen bionischer Forschung und Entwicklung, die uns nicht nur die überlegene Technik der Natur deutlich vor Augen führt, sondern auch noch ganz nebenbei eine Jahrzehnte alte Lehrbuchweisheit über tech-nische Oberfl ächen ,über den Haufen‘ wirft. Die Natur weiß das seit langem: nicht die noch so glatte, sondern die optimal strukturierte Oberfl äche ist die sauberste.

verpackungsbionik – entwicklungsmotor für zukunfts-weisende technisch funktionale oberflächen Noch weitaus mehr als wie die von Menschen gestalteten Verpa-ckungslösungen erfüllen natürliche Verpackungen eine Quer-schnittsaufgabe zum Schutz und Transport, zur Lagerung und Qualitätssicherung des verpackten Lebens. Wer natürliche Oberfl ächen von Organismen untersucht, stößt damit unwei-gerlich auch auf deren ,Verpackungsgeheimnisse‘.

Die Verpackungsbionik hat sich inzwischen zu einem eigenständigen wachsenden Zukunftsfeld innerhalb der Wis-senschaftsdiziplin Bionik etabliert. Sie analysiert systematisch die reichhaltige Formenvielfalt, die raffi nierten Strukturver-bünde und die systemisch ablaufenden Energie-, Material- und Informationsprozessen natürlicher ,Verpackungen‘ und damit auch natürlicher Oberfl ächen (Küppers 2006, 2004, 2003, Küppers/Tributsch 2002).

Die folgenden Beispiele für zehn organismische Oberfl ä-chen und Organismen umhüllenden Oberfl ächen öff nen uns nur ein kleines Fenster in die phantastische und hochgradig effi ziente Wunderwelt natürlicher Oberfl ächen:

D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03

Page 36: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

34

8 9 1076

54321

D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03

FOT

OS

VO

N D

R. U

DO

PP

ER

S, A

US

SE

R N

R 3

, GE

TT

Y IM

AG

ES

1

2

3

4

5

Organismus EisbärOberfl äche schwarze Haut mit darüberliegendem Pelz aus transparenten lichtleitenden HaarenFunktionen Orientierung, Tarnung, Wärmegewin- nung durch Totalrefl ektionBionisches Lösungspotenzial Transparente Wärmedämmung (Bauelemente bereits verfügbar)

Organismus EdelweißOberfl äche weißer pelziger BelagFunktionen transparent, wärmeisolierendBionisches Lösungspotenzial Transparente Wärmedämmung

Organismus Straußenküken Oberfl äche den Organismus umgebende EischaleFunktionen IR-Lichtrefl ektion, atmungsaktiv, bakterienresistent, formoptimal Bionisches Lösungspotenzial Formstabile, stützfreie und bruchfeste Raumumhüllung mit integrierten Versorgungsleitungen

Organismus MacadamiaOberfl äche den Organismus umgebende Schale aus Zellulose, bräunlich gefl eckte, kugelige Oberfl ächeFunktionen extrem bruchfest, vermutlich durch speziell geformte Zellverbünde, opti- males Oberfl ächen-Volumen-VerhältnisBionisches Lösungspotenzial schwingungsdämpfende Trägerele- mente, bruchfeste Dachkonstruktionen Organismus HaselnussOberfl äche den Organismus umgebende Schale aus Zellulose, wellig, zylindrig-kugelige Oberfl ächeFunktionen hoch bruchfest, integrierte Nährstoff - Transportröhrchen, perfekte Ausrich- tung der Zellverbünde zum Schutz der wachsenden NussBionisches Lösungspotenzial Formstabile stützfreie und bruchfeste Raumumhüllung, bruchfeste Dachkon- struktionen

6

7

8

9

10

Organismus MammutbaumOberfl äche bräunlich gefärbte, faserige, weiche und luftdurchfl utete Borke, Funktionen sehr leicht, stark tanninhaltig dadurch bakterienabweisend, hohe Wärme- isolationsfähigkeit, brandhemmendBionisches Lösungspotenzial Neue umweltverträgliche Isolations- materialien für den Baubereich, feuer- abweisende, brandhemmende Verbund- schichten, bakterienhemmende Schutzfolie

Organismus GeraniengewächsOberfl äche WachshülleFunktionen lichtdurchlässig, Vermeidung von Ver- dunstung, abriebfestBionisches Lösungspotenzial ultraleichte tranparente Schutzhüllen, z. B. von Solarzellen, Fassadenelemente

Organismus SpeisezwiebelOberfl äche Multischicht-VerbundfolienFunktionen optimales Oberfl ächen-Volumen- Verhältnis, Temperaturregulator, hochgradig pilzresistent, transparent, wärmeisolierend, bakterienabweisendBionisches Lösungspotenzial ultradünne, temperaturausgleichende Verbundschichten für aktive Regula- tion des Raumklimas, Anwendung für stationäre und mobile Raumumhül- lungen

Organismus BläulingOberfl äche linienorientierte Mikro-/Nanostruktur, blau schimmernd Funktionen Farberzeugung ohne Farbstoff Bionisches Lösungspotenzial Farbgebung beliebiger Art durch physikalische Eff ekte ohne zusätz- lichen Farbstoff zusatz

Organismus KnöterichgewächsOberfl äche grünFunktionen spezielle raumsparende Faltungen, Stabilität großer Flächen mit Ein- Punkt-BefestigungBionisches Lösungspotenzial Verpackung großen Flächen in kleinstem Volumen, fl exible, lichtsam- melnde und zugleich Schatten spenden- de funktionale Schutzhülle

Page 37: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

35

das straussenei – funktionale oberfläche mit schutz für werdendes lebenEier sind eine von vielen genialen Verpackungen der Natur, in denen Leben geschützt vor äußeren Störeinfl üssen heran-wächst. Dieses Leben muss durch die mineralische Schale von außen mit lebensnotwendigem Sauerstoff versorgt wer-den. Ausgeatmetes Kohlendioxid muss von innen nach außen entweichen können. Umwelteinfl üsse wie starke UV-Sonnen-strahlen müssen an der Schalenoberfl äche refl ektiert werden. Ferner ist das Eindringen von Mikroorganismen durch die Schalenstruktur für das heranwachsende Straußenleben zu vermeiden. Schließlich muss die Schale mechanischen Stö-ßen trotzen, also eine gewisse Bruchfestigkeit besitzen. Diese Merkmale machen die Schale des Straußeneis zu einer perfekt angepassten Verpackung im brütend heißen Lebensraum der afrikanischen Wüsten.

Südafrikanische San (Buschmänner) leben seit mehreren Tausend Jahren in enger Verbundenheit mit der Natur, die sie für ihre Überlebenszwecke nutzen, ohne sie zu zerstören. Leere Straußeneihüllen sind für sie daher hervorragende Depots für Flüssigkeit. Brackwasser, ein Gemisch aus Süß- und Salzwasser, wird von den Jägern in die Eierschalen gefüllt, diese werden mit Lehmstopfen und Stammeszeichen verschlossen, markiert und vergraben. Nach der Rückkehr von wochenlangen Jagd-ausfl ügen in der Wüste ist das Wasser noch trinkbar.

Der Grund hierin liegt im speziellen Aufbau der Eischale: Auf ein inneres Membrangewebe (Proteinnetz) folgt ein anor-ganischer, im Querschnitt säulenartig strukturierter Kalkscha-lenaufbau. Zur Umwelt schließt die Schale mit einer glatten kalzifi zierten Außenschicht ab. Eine organische Außenhaut wie zum Beispiel bei der Tomate existiert beim Straußenei nicht. Da diese bakterienschützende Außenhaut fehlt, fun-gieren die Poren der Schale als antibakterieller Schutz: Sie besitzen Durchgangsstellen mit Durchmessern im Submi-krometer-Bereich, was sie zwar luftdurchlässig, aber für Bak-terien (Größe 1-2 Mikrometer) unpassierbar macht.

Die Verpackungsbionik hat das Prinzip der Atmungsfähig-keit und Bakterienresistenz dieser biologischen Verpackung aufgegriff en. Eine Wasser abweisende, mit funktionskerami-schen Stoff en beschichtete atmungsaktive Membran wurde nach dem Vorbild Straußenei hergestellt. Die gegenwärtig

FOT

O V

ON

AR

T W

OLF

E /

ST

ON

E/G

ET

TY

IMA

GE

SFO

TO

VO

N A

G H

EY

SE

R, U

NIV

ER

SIT

Y O

F B

RE

ME

N

Ganz oben Schale eines Strau-ßeneis. Mit dem bloßen Auge sind die kleinen Ein- und Aus-gänge für den Gasaustausch auf der porzellanartigen Oberfl äche gerade noch zu erkennen .

Darunter Ein San aus der Kala-hari trinkt aus einem Straußenei, das er als Wasservorratsbehäl-ter beim Jagen nutzt.

Page 38: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

36 D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03

verwendeten bionischen Verpackungsfolien besteht aus all-gemein gebräuchlichen Kunststoff en wie zum Beispiel PET, die durch ein spezielles Strahlungsverfahren Poren im Sub-mikrometer- (Porendurchmesser 500 nm) bis Mikrometerbe-reich erhalten. Durch eine Oberfl ächenbehandlung mit nicht toxischen Nanopartikeln erhält die Folie danach ihre anti-bakterielle und selbstreinigende Wirkung. Diese Nanopar-tikel setzen sich sowohl auf der Oberfl äche als auch an den Wänden der Poren fest, sodass zusätzlich eine antibakterielle „Tiefenwirkung“ entsteht. In einem ersten Praxisvergleichstest mit Standard-Verpackungsfolien aus PVC zeigte die Mem-bran deutliche Vorteile bei der Vermeidung von Pilzbefall auf Lebensmitteln.

Beispiele für weitere Anwendungen dieser bionisch ent-wickelten und strukturierten Oberfl äche liegen in der Filter-technik und im Bauwesen. Die Tatsache, dass diese besondere Oberfl ächenstruktur sowohl auf fl exible als auch auf feste tech-nische Oberfl ächen aufgebracht werden kann, bietet nicht zuletzt für die Architektur zahlreiche Ansatzpunkte, etwa bei der Vermeidung von Schimmel und Fäulnis in schlecht durchlüfteten Räumen. Denkbar wären zum Beispiel Wan-delemente aus dünnen Verbundschichten, die biegefest und tragfest sind und zudem die entsprechenden Wirkungen der oben beschriebenen bionischen Folien aufweisen.

die haselnussschale – bruchfeste hülle mit integrier-ten versorgungsleitungen Die Haselnuss ist durch eine samtartig erscheinende Außen-fl äche ausgezeichnet, was sich in der besonderen Oberfl ächen-strukturierung widerspiegelt. Da es sich um die eigentliche Außenwand der Frucht handelt, ist die äußerste Schicht die reguläre Epidermis, aus der kurze Haare auswachsen können.

Das erstaunliche Messergebnis eines Bruchbelastungstests zeigt, dass die Schale Punktbelastungen bis ca. 700 N ver-trägt. Sie liegt damit im unteren Mittelfeld zwischen einer Erdnussschale (100 N) und einer Macadamiaschale (3000 N) und weit abgeschlagen von einer Kokosnussschale (10000 N). Das Hineinsehen durch die sichtbare Schalenoberfl äche in die Mikro- bis Nanometer großen Materialstrukturen gibt erste konkrete Hinweise auf die Geheimnisse von Materi-alfestigkeit, Dehnung und anderer Qualitätseigenschaften.

Unten links Haltbarkeitstest von Lebensmitteln. Links: PVC-Folie (17), rechts: Bionikfolie (18). Unten rechts Die Aufnahme einer Haselnussschale unter dem Ras-terelektronenmikroskop zeigt deutlich die integrierten Versor-gungsleitungen.

Ganz unten Eisbärenhaare lei-ten das energiereiche UV-Licht durch Totalrefl exion, Streuung und Lumineszenz an die schwarze Körperoberfl äche des Bären wei-ter, wo es in Wärme umgewan-delt wird (Mitte). Nach einem sehr ähnlichen Prinzip funktio-niert die Transparente Wärme-dämmung im Bauwesen (unten).

ZE

ICH

NU

NG

EN

VO

N D

R. U

DO

PP

ER

S

Transparente Wärmedämmung Opake Wärmedämmung

Transparente Kapillarplatte

Mauerwerk MauerwerkGlasputz

opake Isolationsschicht

Putz

Transmission

TransmissionReflexion

Innen Außen Innen Außen

Licht

Licht

Reflexion

Prinzip der Lichtsammlung durch Eisbärhaare

EisbärhaareLichtleitung durch Totalreflexion,Streuung u. Lumineszenz

Licht mit energiereichemUV-Anteil

schwarze Eisbärhaut

Page 39: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

37

Die makroskopische und mikroskopische Querschnittan-sicht der Haselnussschale zeigt deutlich die unterschied-lichen Zellformen und die eingebauten Transportkanälchen für die Versorgung mit Nährstoff en. Mit bloßem Augen sind diese innenliegenden Transportkanälchen als periphere Ver-stärkungslinien erkennbar. Die perfekt auf Bruchfestigkeit abgestimmten Zellverbünde mit integriertem Röhrchensy-stem macht die Haselnussschale zu einem interessanten Bio-nikobjekt für ingenieurtechnisch funktionale Bauelemente. Erste Modelle für biegesteife dünne Wandelemente mit ein-gebauten Versorgungsleitungen sind in Arbeit.

das eisbärfell: lichtsammler und wärmespenderEisbären leben im hohen Norden unserer Erde, der Arktis. Ihr Fell ist weiß und passt sich daher der Umgebung perfekt an. Aber die Farbe ist nur ein evolutionäres Anpassungsmerkmal. Als Forscher die warmblütigen Eisbären mit Infrarot-Kame-ras (infrarotempfi ndliche Filme detektieren Wärme besonders gut) fotografi eren und zählen wollten, erlebten sie eine Über-raschung. Die entwickelten Filme zeigten keinen einzigen Eis-bären, obwohl die Forscher sie doch mit eigenen Augen gesehen hatten. Erst ultraviolett (UV) empfi ndliche Filme zeigten nach ihrer Entwicklung die Eisbären als schwarze Punkte im weißen Eismeer. Das Fell des Eisbären, dessen Haare kleinen Röhr-chen ähneln, sammelt das energiereiche ultraviolette Licht der Arktis, leitet es mit Hilfe verschiedener physikalischer Mecha-nismen durch die röhrchenförmigen Haare zur Körperober-fl äche und wandelt es dort in Wärme um. Wenig von dieser Wärme geht nach außen verloren. Daher war es den Kame-raleuten zuerst nicht möglich, die Eisbären über Wärmeab-strahlung zu sichten. Experimente, an denen auch der Autor beteiligt war, bestätigen diesen biologischen Mechanismus eines effi zienten Schutzes gegen Wärmeverlust.

In der Architektur ist ein ähnliches Prinzip der Umwand-lung von Licht in Wärme bei der Transparenten Wärmedäm-mung (TWD) bekannt. Bauelemente, die dieses Prinzip nutzen besteht aus einer wärmeaufnehmenden, schwarzen Absorberschicht, mit einer darüber liegenden transparenten Kapillarplatte und einer äußeren, lichtdurchlässigen wetter-festen Schutzschicht. Gegenüber einer gleich dicken, opaken, also nicht transparenten Dämmschicht auf demselben Mau-

LiteraturKüppers, U. (2006) Grenzfl ächen des Lebens – Die Natur als Verpackungs-künstlerin, in: Faszination Bionik – Die Intelligenz der Schöpfung, Hrsg.: Blü-chel/Malik Küppers, U. (2004) Architekten der Natur – Organismen als geniale Baumeis-terund Ingenieure, in: Mensch + Architektur, Nr. 46/47, September 2004Küppers, U. (2003) Grenzfl ächen des Lebens – bionische Nutzen für die Ver-packungstechnik? in: Baier et. al (Hrsg.), Transparenz und Leichtigkeit, Symp., Universität EssenKüppers, U. und Tributsch, H. (2002) Bionik der Verpackung – Ver-packtes Leben, verpackte Technik, Wiley VCH, Weinheim

Dr.-Ing. Udo Küppers studierte Fertigungstechnik/Werkzeugmaschinen und promovierte an der TU Berlin mit einer experimentellen Arbeit über aerodynamische evolutionsstrategische Tragfl ügeloptimierung. Seit fünf-zehn Jahren ist Dr. Udo Küppers in der angewandten Bionik-Forschung und –Entwicklung tätig. Seine Kernkompetenzen liegen in der Verpackungs-, Organisations- und Evolutionsbionik sowie der bionischen Dynamik. Udo Küppers hatte mehrere Lehraufträge zu Bionik an Fachhochschulen und Uni-versitäten inne und ist Verfasser zahlreicher Fachveröff entlichungen sowie mehrerer Bücher und Patente.

erwerk kann Transparente Wärmedämmung bedeutend mehr Wärme durch das Mauerwerk ins Innere des Hauses leiten. Sie ist damit eine sehr wirksame, weil energiesparende Anwen-dung aus der Baubionik, die bereits seit einigen Jahren mit Erfolg eingesetzt wird.

Page 40: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

38

Page 41: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

39

54° 18’ 12” N, 0° 24’ 36” W 1981

Page 42: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

40

Foto und Haiku von Michael KennaWelle, Scarborough, Yorkshire, England. 1981www.michaelkenna.net

40 D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03

Zum Himmel emporgerecktlächeln, vorüberziehend, zwei Meeresriesenin meine Kamera.

Page 43: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

4141

Page 44: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

42

TAGESLICHT IM DETAIL

LICHT UND MATERIAL

Genauer hingesehen: Wie Tageslicht in Gebäude gelangt

Oben Carlo Scarpa: Museo del Castelvecchio, Verona (1961–64)Licht schaff t Kontraste: Die Innen-räume des Museums sind mit rauem ‚Stucco alla veneziana‘ verputzt. Scarpa verwendet ihn, um das Licht gleichmäßig und refl exionsfrei zu streuen und einen Kontrast zu den glatten, dunklen Sockeln der Exponate zu bilden.

FOT

O V

ON

VA

CL

AV

SE

DY

/ C

ISA

A. P

ALL

AD

IO

Page 45: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

43

Text von Marietta Millet.

Licht und Material sind untrennbar miteinander verbunden, ja sie bedingen einander: Beide werden für das menschliche Auge erst sichtbar, wenn sie aufei-

Wahl ihrer Baumaterialien daher stets auch von den Lichtverhältnissen leiten lassen. Sie nutzten Licht, um Materialkontraste hervorzuheben, und setzten Materialien ein, die es ihnen erlaubten, eine ganz bestimmte Lichtverteilung im Raum herzustellen.

licht und material bedingen einander. Für das Licht-verständnis in der Architektur kommt den Materialien eine wesentliche Bedeutung zu, da sie die Menge und Qualität des Lichts unmittelbar beeinfl ussen. Hierbei sind vor allem zwei Materialeigenschaften wichtig: Oberfl ächenbeschaff en-heit und Farbe. Spiegelnde Materialien mit blanken Oberfl ä-chen refl ektieren das Licht wie ein Spiegel, so dass refl ektierte Bilder der Lichtquelle ,auf ‘ der Fläche sichtbar sind. Matte Oberfl ächen wie Naturstein, Holz und Putz streuen das Licht gleichmäßig in alle Richtungen. Von den drei Eigenschaften einer Farbe - Farbton, Helligkeit und Intensität – ist die Hel-ligkeit der Faktor, der die Menge des absorbierten bzw. refl ek-tierten Lichts bestimmt. Eine weiße Wand refl ektiert nahezu 82 Prozent des einfallenden Lichts, eine hellgelbe Wand etwa 78 Prozent und eine dunkelgrüne oder blaue Wand nur 7 Pro-zent. Farbige Flächen geben einen Teil ihres Farbtons an das refl ektierte Licht ab.

Ein Materialwechsel kann die Atmosphäre eines Raums und den Beleuchtungsgrad verändern. Ein dunkler Raum wird durch einen weißen Wandanstrich heller. Andererseits kann ein heller Raum durch Verringerung des Lichteinfalls oder mit Hilfe gedeckter Farben verdunkelt werden. In der Architektur bedient man sich häufi g dieser Wirkung. So sind zum Beispiel die Innen-fl ächen der Kapelle Notre Dame du Haut in Ronchamp weiß gestrichen; wegen des geringen Tageslichteinfalls erscheinen sie aber in Schattierungen von hell- bis dunkelgrau.

Im Zusammenspiel mit Licht rufen Materialien Emoti-onen hervor. Funkelndes Glas, glitzernde Goldmosaike und tiefdunkles Holz erzeugen eine emotionale Wirkung, die einer-seits kulturell begründet ist und andererseits auf individueller Wahrnehmung beruht. In vielen Gegenden greift man vor-zugsweise auf traditionelle Bauformen und regionaltypische Materialien zurück. Bestes Beispiel hierfür ist der von Carlo Scarpa favorisierte stucco alla veneziana. Dieser Stuck, in einem arbeitsintensiven Verfahren unter Nutzung spezieller Materi-alien aufgetragen, „gewinnt mit der Zeit ein weicheres und wäss-riges Aussehen von fantasieanregender Schönheit.“ 1

lichtfördernde materialienDie bewusste Hervorhebung von Materialien basiert auf der Wechselwirkung zwischen Licht und Material. Beson-

dere Akzente setzen blanke Materialien durch die Refl exion einzelner Lichtpunkte. Die Oberfl ächenstruktur hebt sich unter Lichteinfall deutlich hervor, während bei lichtdurch-lässigen Materialien die innere Struktur sichtbar wird. Dun-kle Schatten werden durch lichtableitende Oberfl ächen bzw. durch lichtabsorbierendes Material erzeugt.

In der von Patkau Architects geplanten Newton Library in Surrey bei Vancouver betont das Licht die Materialien, wäh-rend diese wiederum das Licht und dessen Streuung begün-stigen. „Weil das Licht in Vancouver unter dem im Winter häufi g bewölktem Himmel sehr weich und relativ schwach ist, sind dunkles Holz und Beton wegen ihrer lichtabsorbierenden Eigenschaften kaum dazu geeignet, das natürliche Licht in die relativ tiefen Geschossebenen zu lenken“, so die Archi-tekten. Im Bereich der hohen, abgeschrägten Glasfront auf der Nordseite, die genügend Licht zum Lesen einlässt, blieb die Deckenverkleidung aus Holz sichtbar. Der Kontrast zwi-schen den Materialien im Fensterbereich und dem Tageslicht darf nicht zu groß sein, um unangenehme Lichtverhältnisse zu vermeiden. Hier schwächen die sanften Sonnenstrahlen, die auf die die Unterseite der Decke treff en, nicht nur den Kon-trast an den Kanten ab, sondern sorgen auch für gleichmäßige Helligkeit zwischen Fensterbereich und Raummitte. Etwa auf halbem Wege zwischen der Glasfront und dem niedrigen Mit-telträger wurden weiß gestrichene Gipskartonplatten an der Decke angebracht, die das Tageslicht besser in die darunter liegenden Arbeitsbereiche refl ektieren. Bei sämtlichen Mate-rialien wurde vor allem der Zweckmäßigkeit Sorge getragen. Die schichtweise Anordnung der Materialien verdeutlicht die Rolle, die jedem einzelnen Material in der Gesamtkonstruk-tion zukommt.

Normalerweise ist die Verglasung selbst kein wesentliches Raumelement. Spezielle Verglasungsmaterialien wie hauch-dünne Steinplatten können aber durch Art und Weise ihrer Lichtdurchlässigkeit zum Blickfang werden. Unter dem Ton-nengewölbe im Sitzungssaal des Museum of Contemporary Art (Arata Isozaki, 1981-86) in Los Angeles wurde Onyx zur Verglasung einer halbkreisförmigen Öff nung und der vier dar-unterliegenden Fenster verwendet. Der Onyx wurde bündig in die Deckenwölbung eingepasst und transportiert die ein-fallenden Lichtstrahlen entlang der schwarzen Betondecke.

D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03

nander treffen. Große Architekten haben sich in der

Page 46: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

44

Wegen seiner Helligkeit zieht der Onyx im Raum besondere Aufmerksamkeit auf sich. Die Materialstärke sorgt für einen blendfreien Lichteinfall durch die Fenster. Das Licht betont die Maserung des durchscheinenden Steins auf spektakuläre Weise und lässt ihn zum prägenden Charakteristikum des gesamten Raums werden.

In dem sechs Stockwerke hohen Lichthof der Casa Batllo (Antonio Gaudi, 1904-06) in Barcelona konzipierte Gaudi die Keramikfl iesen der Wandverkleidung bewusst als licht-manipulierende Elemente. Durch Modulation von Farbton, Helligkeit und Struktur der Fliesen veränderte er die Menge und Qualität des Lichts sowohl im Lichthof als auch in den angrenzenden Räumen. Die Farben der Fliesen reichen von dunkelblau über hellere Blauschattierungen bis hin zu abgetö-ntem Weiß. Der dunkelblaue Farbton, durchsetzt mit helleren Fliesen, fi ndet sich vor allem im oberen Bereich des Lichthofs unmittelbar unter der Dachverglasung. Hierdurch wird ein optischer ,Kühlungseff ekt‘ erzeugt, der das Licht nahezu wie unter Wasser aussehen lässt. Der untere Bereich des Licht-hofs ist mit hellen Fliesen verkleidet, hier und da durch mit dunkleren Fliesen durchsetzt. Dazwischen verändern sich die Farben graduell von dunklen bis hin zu hellen Farbtönen. Diese Verteilung der Farbfl iesen sorgt für einen Ausgleich des Lichtabfalls innerhalb des Lichthofs und schaff t eine gleich-mäßige Beleuchtung. Dickere gemusterte Fliesen mit licht-refl ektierenden Ecken sind auf der gesamten Länge zwischen den dünneren Fliesen eingestreut und erzeugen einen gewissen Glitzereff ekt. Neben der Verwendung lichtmanipulierender Materialien sorgen die Form des Lichthofs (der sich nach oben erweitert) und die Fenster (die unten größer sind) für ausge-wogene Lichtverhältnisse in allen Wohnungen. Zusätzlich wird das Licht im Lichthof durch Balkone beeinfl usst, deren Böden aus Glasplatten als Oberlicht für die darunterliegenden Räume fungieren. Das Licht, das durch die Fenster zum Licht-hof in die Apartments eindringt, ist daher gleichmäßiger als bei üblichen Konstruktionen dieser Art, wo die unteren Räume im Schatten liegen. Neben den Glasfenstern sorgen separate Belüftungsklappen (in geöff netem Zustand) für zusätzliches Licht im Rauminneren.

Doch auch den Materialien künstlicher Beleuchtungskör-per kommt bei der Beleuchtung ein großer Wert zu. In der

Kapelle der Wiederauferstehung (Erik Bryggmann, 1939-41, 1984 renoviert) auf dem Friedhof von Turku refl ektieren die Messingleuchten das Tageslicht in einem kühlen Gelb. Beim Einschalten der Glühlampen nehmen sie dagegen eine warme und schimmernde Bernsteinfarbe an. Das Material und die feinen Formen der Leuchten sind sorgfältig auf die künst-liche Beleuchtung abgestimmt. Die Leuchtenverkleidungen in Form vertikaler Blenden schimmern durch die wechselsei-tig erzeugten Lichtrefl exionen. Die ,Krone‘ aus Messingringen an der Decke fängt das Licht ein. Die goldenen Lichtfl ecke verleihen der kühlen Innenatmosphäre eine gewisse Wärme und erzeugen feuerscheinähnliche Eff ekte.

In der St. Henry‘s Church (Pitkänen, Laiho und Rau-nio, 1980) in Turku erhält das Material der Beleuchtungs-körper unter Tageslicht ein völlig anderes Aussehen als bei künstlicher Beleuchtung. Bei Tageslicht, das durch große Fen-ster einströmt, wirken die Refl ektoren der Leuchten nahezu durchscheinend, so dass die Ziegelmauern dahinter deut-lich erkennbar sind. Bei künstlicher Beleuchtung werfen die nunmehr weiß erscheinenden Refl ektoren das Licht auf die Kirchgänger zurück. Hierdurch wird die Sicht auf die dahin-terliegende Wand verschleiert und ein warmer Lichtschein auf den nächstgelegenen Wandfl ächen erzeugt. Ähnlich einem Leinenvorhang bei Th eatervorstellungen wechselt das Licht zwischen Betonung des Hintergrundes und Refl exion des Vor-dergrundes.

lichtdämpfende materialienMaterialien können auch gezielt eingesetzt werden, um Licht-eff ekte abzuschwächen, verschiedenartige Materialien ähnlich aussehen oder das Licht gleichmäßig wirken zu lassen. Die shoji-Wandschirme in traditionellen japanischen Häusern streuen das einströmende Tageslicht sowohl bei sonnigem Wetter als auch bei bewölktem Himmel. Ähnlich einem Sonnen-schirm wird das Licht zunächst durch die großen Überhang-dächer gedämpft und somit eine gleichmäßige Abschattung der Innenräume erzielt. Die sorgfältige Gestaltung der Innen-wände ist speziell auf die Lichtverhältnisse abgestimmt. In seinem Buch ,Lob des Schattens‘ widmet Junichiro Tani-zaki dieser Verbindung zwischen Licht, Material und Kul-tur besondere Aufmerksamkeit und liefert eine Erklärung für

D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03

Page 47: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

1 2

3

45

4

5 6

7 8

FOT

O V

ON

JA

ME

S D

OW

/ P

AT

KA

U A

RC

HIT

EC

TS

FOT

O V

ON

KA

TS

UA

KI F

UR

UD

AT

E

FOT

O V

ON

MA

RIE

TTA

MIL

LET

FOT

O V

ON

MA

RIE

TTA

MIL

LET

FOT

O V

ON

KA

RI K

OS

KI

FOT

OS

VO

N M

AR

IET

TA M

ILLE

TFO

TO

VO

N M

AR

IET

TA M

ILLE

T

FOT

O V

ON

MA

RIE

TTA

MIL

LET

FOT

O V

ON

SA

MU

LI S

ILTA

NE

N

1. Patkau Architects: Newton Library, Surrey (1990)Material lenkt Licht: Gezielt setzen Patkau Archi-tects bei ihrer Bibliothek auf weiße Decken und Wände aus Gipskarton, um das oftmals schwache und diff use Tageslicht British Colum-bias tief ins Innere der Lesesäle zu leiten.

2. Arata Isozaki: Museum of Contemporary Art, Los Angeles (1981–86)Licht veredelt Material: In den Gewölbefenstern seines Museumsbaus ließ Arata Isozaki statt Glas Onyxscheiben einsetzen. Das von außen gesehen eher stumpfe Material gibt erstrahlt im Gegenlicht zu voller Schönheit und lässt seine edle Maserung erkennen.

3. Antoni Gaudí: Casa Batllo, Barcelona (1904)Material zoniert Räume: Die Fliesenverkleidung des Innenhofs wird von oben nach unten zuneh-mend heller. Damit schaff t Gaudí einen Ausgleich für das sukzessive abnehmende Tageslichtni-veau.

4. Erik Bryggman: Auferstehungskapelle, Turku (1939–41)Material verändert Lichtstimmungen: Tagsüber refl ektieren die Messingleuchten im Kirchenschiff das einfallende Tageslicht in einem stumpfen Gelb-ton. Abends und nachts erfüllen sie selbst die Kir-che mit einem wesentlich wärmeren, goldgelben Licht.

5. Pitkänen, Leiho und Raunio: Leuchten in St. Henry’s Church, Turku (1980)Licht verändert Materialien: Bei Tageslicht ist der Glasrefl ektor nahezu durchsichtig und gibt den Blick auf die dahinterliegende Ziegelwand frei. Nachts erstrahlt er im Licht der darunter angebrachten Lichtquelle als gelbliche, undurch-sichtige Scheibe.

6. Interieur eines japanischen WohnhausesMaterial nivelliert Lichtunterschiede: Traditio-nelle japanische Häuser zeichnen sich durch ihre weiten Dachüberstände und transluzenten ‚shoji‘-Wände aus, die das Lichtniveau im Innenraum den ganzen Tag über gleichbleibend niedrig halten.

7. Dale Chilhuly: Niijima Floats (1992)Material transformiert Licht: Bei dieser Installa-tion im Seattle Art Museum standen weniger die Glaskugeln selbst im Vordergrund als vielmehr die ständig wechselnden Lichtrefl exionen, die sie auf den Raumoberfl ächen entstehen ließen.

8. Willard T. Sears: Isabella Stewart Gardner Museum, Boston (1899–1901) Licht schaff t Ortsbezug: Die Loggia im Innenhof

zitiert detailgetreu venezianische Vorbilder, und selbst der Verputz wurde nach venezianischer

Rezeptur angemischt. Dennoch wirkt das Ergeb-nis auf das menschliche Auge nur dann über-zeugend, wenn auch das Tageslicht der typisch venezianischen, silbrig-sanften Lichtstimmung entspricht.

Page 48: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

46

Gegenüber Louis Kahn: Kimbell Art Museum, Fort Worth (1966–72)Licht moduliert Materialkontraste: Die Wandoberfl ächen des Museums bestehen aus Travertin, die Gewölbe aus Sichtbeton. Je nach Richtung (direkt/indirekt) und Art des Lichts (Tageslicht/Kunstlicht) werden ent-weder die Materialunterschiede deutlich, oder die Mateialien glei-chen sich einander an.

FOT

O V

ON

AC

HIM

BE

DN

OR

Z/

BIL

DA

RC

HIV

MO

NH

EIM

Unten Le Corbusier: Notre Dame du Haut, Ronchamp (1950)Licht verändert Farbeindrücke: Hier lassen die unregelmäßig ver-teilten Fensteröff nungen die exorbitante Wandstärke des Kir-chenbaus erkennen. Die eigentlich weiß verputzten Wandoberfl ä-chen werden im Gegenlicht nicht als solche wahrgenommen; sie erscheinen hell- bis dunkelgrau.

D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03

Page 49: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

47

die traditionelle Vorliebe der Japaner für Schatten und sanftes, gebrochenes Licht:

„Wir gestalten unsere Wände in neutralen Farben, damit die traurigen, zerbrechlichen und ersterbenden Sonnenstrahlen in absoluter Ruhe versinken können. Während Vorratskam-mer, Küche und Dielen häufi g glatte Oberfl ächen aufweisen, sind die Wände des Wohnbereichs fast immer mit Lehm und einer feinen Sandschicht verkleidet. Ein Kronleuchter würde hier die Schönheit des schwachen und zerbrechlichen Lichts zerstören. Wir erfreuen uns am bloßen Anblick des sanften Schimmers verblassender Sonnenstrahlen beim Auftreff en auf eine düstere Wand, wo sie ihr letztes Leben aushauchen.“2

Der in Venedig kultivierte ,lume materiale‘ (wörtlich: ,materielles Licht‘)3 lebt im Isabella Stewart Gardner Museum (Willard T. Sears, 1899-1901) in Boston, Massachusetts, wie-der auf. Die Wände wurden in Anlehnung an die traditionelle venezianische Stucktechnik bearbeitet und sind aus farbig imprägniertem Gips mit einem blassroten Anstrich gefertigt. Zwar ist das Licht in Boston nicht mit dem Licht Venedigs vergleichbar, aber an manchen Tagen kann der Schein das Auge täuschen. Die Oberfl ächen scheinen dann zu glänzen, so dass das Licht und nicht das Material im Vordergrund steht. In ähnlicher Weise spielt bei,Niijima Floats‘, einer Installa-tion aus Glaskugeln von Dale Chihuly (1992 im Seattle Art Museum), das vom Glas zurückgeworfene Licht die wich-tigste Rolle. Nicht die Kugeln selbst, sondern vielmehr die von ihnen auf den darunterliegenden Flächen erzeugten Lichtmu-ster stehen im Vordergrund.

Louis Kahn erkannte sofort die natürliche Bedeutung des Materials als Lichtrefl ektor: Seine Auswahl von Beton und Travertin für den Bau des Kimbell Art Museum (1966-72) beruht auf deren Oberfl ächenbeschaff enheit: „Travertin und Beton harmonieren perfekt, weil sich beim Betonguss unwei-gerlich Unregelmäßigkeiten zeigen [...].“ Im Laufe der Zeit, so ist er überzeugt, vereinigen sich alle Materialien auf zufällige Weise; derweil obliege es dem Architekten, mit Hilfe sorgfäl-tig abgestimmter Materialien wie Holz, Travertin und Beton eine Einheit zu schaff en‚ „ohne dass die Materialien einander ruinieren […] Auf die Auswahl kommt es an.“ 4

Ungeschliff ener und unpolierter Travertin reagiert auf Licht in charakteristischer Weise und eignet sich daher als

perfekte Ergänzung zur Lichtreaktion von Beton. Wenn sich das Licht – draußen oder drinnen – ändert, verschmelzen die Oberfl ächen der beiden Materialien miteinander. Zunächst erscheint das eine Material wärmer, dann das andere. Einmal erscheint das eine heller, dann das andere, das eine blank, das andere matt, bevor der Eindruck wechselt. Manchmal sieht das eine, dann das andere Material gesprenkelter aus. Die Ober-fl ächen passen sich den veränderlichen Lichtverhältnissen an: Das wahre Material ist in diesem Fall das Licht.

„Meiner Meinung nach ist Licht ein Material wie jedes andere.“ – James Turrell 5

Marietta Millet ist emeritierte Professorin an der Fakultät für Architek-tur der Universität Washington, wo sie Entwurfsseminare im Grund- und Hauptstudium sowie Seminare zu Licht und Farbe, Tageslicht und künst-licher Beleuchtung, klimabezogenem Design und Bautechnik leitete. Sie war Partnerin des Büros Loveland/Millet Lighting Consultants und ist Au-torin des Buches Light Revealing Architecture, veröffentlicht 1996 von Van Nostrand Reinhold.

Dieser Text wurde mit der freundlichen Genehmigung von John Wiley & Sons, Inc., reproduziert aus dem Buch ‘Light Revealing Architecture’ von Marietta Millet, © 1996.

Zambonini, Giuseppe: ‚ Notes for a Theory of Making in a Time of Neces-sity ‘, in : Perspecta 24, S. 3 -23. Erinnerungen von Eugejio de Luigi, einem langjährigen Mitarbeiter Carlo ScarpasTanizaki, Junichiro: ‚In Praise of Shadows‘, Newhaven 1977, S. 18Siehe auch Marco Frascari: ‘The Lume Materiale in the Architecture of Venice,’ in: Perspecta Nr. 24, 1988Interview mit Louis Kahn, von Marshall Meyers im Jahr 1972. Abgedruckt in Loud, Patricia Cummings: ‚ The Art Museums of Louis I. Kahn ‘, Duke University Press, Durham 1989Millin, Laura (Hrsg.): ‚ James Turrell: Four Light Installations‘, The Real Comet Press, Seattle 1982, S. 18

1

2

3

4

5

FOT

O V

ON

RO

BE

RT

O S

CH

EZ

EN

/ES

TO

Page 50: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

48

EIN KLEID FÜR BESONDERE ANLÄSSE

VELUX EINBLICKE Architektur für den Menschen – Bauen mit VELUX.

Text von Katja Pfeiff er.Fotos von Paul Ott.

Gold schimmert die Fassade des ‚Golden Nugget’ in Graz – ganz der Philosophie der jungen Architekten von Innocad entsprechend. Denn die vier Grazer entwarfen mit diesem Firmensitz nicht nur gebaute Corporate Identity, sondern auch ein Wohnhaus, das sich glanzvoll in seiner Umgebung aus Gründerzeit-bauten präsentiert.

Page 51: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

49

Page 52: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

50 D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03

Die Linie: Eine Einheit nach oben und dann nach links, weiter aufwärts, bis die Ebene, in der sie liegt, ihre Dimension verlässt, dem Grazer Himmel entgegen. Die Fassaden-haut ist nun Dach, gleichmäßig mit einem Netz aus goldfarbenem Kupfer überzogen. Die sieben Quadrate: Wie in einem Schie-bepuzzle wechseln sie scheinbar den Stand-ort; die goldenen Vorhänge hingegen folgen ihrem eigenen Spiel. Dem Puzzlemeister ist das gleich. Er führt sein Schieben fort, setzt die drei off enen Quadrate übereinander. Ein goldener Abschluss schmiegt sich an die Traufe des Nachbarhauses. Der leichte stählerne Balkon zieht sich wie selbstver-ständlich aus der Fassadenebene zurück.

Das ‚Golden Nugget’ in der Grazbach-gasse am Rande der Altstadt von Graz setzt Akzente – gleich einem in den letzten Son-nenstrahlen schimmerndes Abendkleid. Die äußere Textur ist in ein fl ächiges Netz aus goldglänzenden Kupferschindeln. Es ver-bindet die in Gelbtönen gestrichenen Nach-barbauten aus der Gründerzeit und schließt die Straßenfront zu einem homogenen Ganzen. Auch in der Staff elung der Gebäu-dekontur vermittelt der Neubau zwischen den

unterschiedlich hohen Nachbarn. Von außen nicht sichtbar ist das dazugehörige Hofge-bäude, das aus dem 18. Jahrhundert stammt. Es wurde saniert und ebenfalls mit einem goldfarbenen Anstrich überzogen – symbol-haft ist hier die Bausubstanz durch eine ‚Gold-Schicht’ für die Nachwelt konserviert.

Begonnen hat die Zusammenarbeit der Architekten und Projektentwickler Andreas Reiter, Peter Schwaiger, Martin Lesjak und Bernd Steinhuber während eines Entwurfsse-minars an der Grazer Uni. Hier hatten sie sich kennen und schätzten gelernt, bevor sie nach dem Diplom 1999 das Büro Innocad gründe-ten. Wie es der Zufall will, hatten sie sich schon während des Studiums unabhängig voneinan-der mit dem schmalen Baugrundstück des späteren ‚Golden Nugget’ befasst. Vier unter-schiedliche Entwürfe sind damals entstan-den. Heute verfolgen die jungen Architekten ein gemeinsames Prinzip. Einfach klingt das ‚Rezept’, das sie für ihr Logo entwickelten und das auf ein zentrales Möbel aus ihrem ehema-ligen Büro zurückzuführen ist: Sieben goldene Quadrate – und unzählbare Möglichkeiten, sie miteinander zu kombinieren – bilden den Bau-satz des Logos und seit Juni 2005 auch die in

der Fassade verteilten Fensterfl ächen ihres neuen Firmensitzes, des ‚Golden Nugget’.

Das ‚Golden Nugget’ ist das erste Haus, das die vier Architekten auf eigenes Risiko bauten – und wozu sie eigens die Projekt-entwicklungsgesellschaft 99 Plus gründe-ten. Zurzeit entstehen zwei weitere Häuser auf eigene Kosten. Ein mutiger Schritt sei das Unterfangen gewesen, geben die Jungunter-nehmer zu. Dass der Mut jedoch seine Früchte trägt, zeigt die breite Akzeptanz von ‚Gol-den Nugget’: Alle sieben Wohnungen waren bereits vor Fertigstellung verkauft, und die Stadt Graz lobte das Gebäude in höchsten Tönen: Auf dem „Kongress des internatio-nalen Städteforums“ wurde es als „hervor-ragendes Beispiel für den Umgang mit neuer Architektur in historischen Städtebereichen“ vorgestellt.

Das Büro von Innocad liegt im Erdge-schoss und im zweigeschossigen Hofge-bäude, während eine off ene Rampe in das Treppenhaus zur Erschließung der Woh-nungen leitet. Die Corporate Identity der jun-gen Architekten setzt sich in der Gestaltung der Räume konsequent fort: Goldgestrichene Stehpulte, bedruckte oder hinterleuchtete

Links Scheinbar wahllos überei-nander gestapelt sind die qua-dratischen Fensterfl ächen an der Straßenfassade. Sie repräsen-tieren das Logo der Architekten, das ebenfalls aus sieben Qua-draten besteht und sich immer wieder zu neuen Mustern zusam-mensetzen lässt.

Gegenüber Auch die Fassade der Hofseite präsentiert sich in gold-farbener Textur. Wie von einem feinen Hauch von Goldpuder oder Blütenpollen scheint das fast transparente, metallene Trep-pengeländer benetzt.

Page 53: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

51

Page 54: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

52 D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03

Page 55: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

53

Wandelemente und Vorhänge unterstrei-chen gleichermaßen die Unternehmensprä-senz und den kommunikativen Charakter des zur Straße off enen Raumes. Vorherrschend sind in Gold gestrichene Deckenfl ächen und rauer Sichtbeton. Im Kontrast hierzu – Ruhe-zone nicht nur für das Auge – ist das Innere des Hofhauses durchweg weiß gestaltet.

Weiße Decken, weiße Böden, selbst Leuchten und Vorhänge, die Gitter-Treppen-stufen und die netzartigen Geländer bilden einen neutralen, fast irreal wirkenden Hinter-grund. Weiß ist der homogene Fond, der das Licht durch das geneigte Dach auf Wand und Bodenfl ächen refl ektiert und den Gedanken und ihren Urhebern Freiheit und Rückzugs-möglichkeiten lässt. In dieser Ruhe des vom Straßenlärm (und der Laufkundschaft) abge-wandten Raumes fi nden interne Sit-ins statt, meditative Momente und kreative Pausen. Die Wohnungen hingegen folgen dem ‚goldenen’ Prinzip der off enen, der Straße zugewandten Flächen: Paarweise organisiert, werden sie über ein zentrale zweiläufi ge Treppe erschlos-sen, die ab dem ersten Obergeschoss aus der Baumasse als fi ligrane, fast schwerelos wir-kende Konstruktion heraustritt. Netzartig

ist das Geländer, wie in den Hofbüros, dünn und nackt die Bodenplatten und Balkonbrü-stungen aus Sichtbeton, die sich kaum merk-lich vom goldfarbenen Metallüberzug der Fassade absetzen. Den krönenden Abschluss bildet das zweigeschossige Penthouse, das mit seiner großzügigen, sich über die gesamte Tiefe erstreckenden Dachterrasse den besten Blick über die Umgebung bereithält.

Die Appartements sprechen eine Klientel an, die, so die Planer und Bauherren, den Wert der Architektur und die Tatsache zu schät-zen weiß, „dass wir hier ungewöhnliche, gut geschnittene und fl exible Wohnungen anbie-ten, die sonst am Markt nicht zu bekommen sind“ (Innocad in einem Gespräch mit dem Architekturkritiker Oliver Elser). Es sind genau die Menschen, zu denen die vier Architekten zu zählen sind und die sie selbst als „urbane Menschen“ bezeichnen: weltgewandt und jung, selbstbewusst und überdurchschnitt-lich gebildet. Auch wenn das Viertel, in dem das ‚Golden Nugget’ steht, unter Immobilien-experten nicht als Top-Lage gehandelt wird

– am Rande des Weltkulturerbes Altstadt, in einer Zone, die bei den Grazern ‚Scherbenvier-tel’ heißt – für die Bewohner bedeutet es einen

hohen Mehrwert: Transparenz und Off enheit durch raumhohe, durchgehende Fensterfl ä-chen auf der einen, bewusst der Öff entlichkeit zugewandten Seite suggerieren Kommunika-tion: Die Fassade ist Schaufenster, von außen wie von innen. Wer es, temporär oder für län-ger, weniger off en wünscht, wird sich der Vorhänge und/oder der fl exiblen Raumteiler bedienen. Auch hier gilt: Edel sind Erschei-nungsbild und Textur, Gold die vorherrschende Farbe. Wirkungsvoll ist der Kontrast zu den rauen Sichtbetonwänden und den weißen, individuell gestaltbaren Wand- und Decken-verschalungen, auf die der Nutzer durchaus ein „Blümchenmuster tapezieren“ darf, „wenn er möchte“ (Innocad). Das legen die jungen Architekten denjenigen nahe, die nicht ganz dem Charme des nackten Betons oder den goldenen Texturen der Vorhänge und Raum-teiler erlegen sind.

Gegenüber und links Das histo-rische Hofgebäude wurde innen durchgängig in Weiß gestal-tet. Wirkungsvoll wird hier das Licht, das über die Dachfl ächen den Raum erhellt, auf dem neu-tralen Fond in Szene gesetzt.

Page 56: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

NORTH ELEVATION SCALE 1/200NORTH ELEVATION SCALE 1/200 EAST ELEVATION SCALE 1,200EAST ELEVATION SCALE 1,200SOUTH ELEVATION SCALE 1/200SOUTH ELEVATION SCALE 1/200

3TH

FLO

OR

SC

ALE

1/2003T

H F

LOO

R S

CA

LE 1/200

4T

H F

LO

OR

SC

AL

E 1

/20

04

TH

FL

OO

R S

CA

LE

1/2

00

5T

H F

LO

OR

SC

AL

E 1

/20

05

TH

FL

OO

R S

CA

LE

1/2

00

6TH

FLO

OR

SC

ALE

1/2006T

H F

LOO

R S

CA

LE 1/200

54 D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03

Nord- Süd- und Ostansicht

Erdgeschoss

1. Obergeschoss

2. Obergeschoss

3. Obergeschoss

4. Obergeschoss

5. Obergeschoss

FaktenStandort Grazbachgasse, Graz, ÖsterreichGebäudetyp Wohn- und Bürohaus Bauherr 99 Plus Projektentwicklung und Bauträger GmbHArchitekten Innocad Planung und Projektmanagement GmbHFertigstellung 2005

Gegenüber Das ‚Golden Nugget’ integriert sich durch Farbgebung und Kubatur in die bestehende Baustruktur, ohne sich anzubie-dern. Im Gegenteil: Die goldene Fassade besitzt Signalwirkung und stellt das Gebäude als ein-zigartig heraus.

Page 57: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

55

Page 58: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

56

1

2

D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03

VELUX PANORAMA Architektur mit VELUX aus aller Welt.

Die beiden jungen slowenischen Architekten Tomaž Maechtig und Ursa Vrhunc hatten bereits eine län-gere Suche nach einem geeigneten Standort für ihr neues Büro hinter sich, als sie auf das Jugendstilhaus in der Innenstadt von Ljubljana auf-merksam wurden. Das denkmalge-schützte Gebäude durfte äußerlich nicht angetastet werden, doch das heruntergekommene Dachgeschoss besaßt genug räumliche Qualität, um sich an die funktionalen und äs-thetischen Erfordernisse des Archi-tekturbüros anpassen zu lassen. Wie meistens, wenn Architekten ihr eige-nes Büro planen, war auch Maechtig Vrhunc Arhitekti nicht nur an mo-dernen, technisch ‚funktionierenden‘ Räumlichkeiten gelegen (so muss-ten zum Beispiel die Heizung, Elek-tro- und Datenleitungen komplett neu installiert werden), sondern auch an einer Büroatmosphäre, die das junge Architektenteam im All-tagsgeschäft zu Höchstleistungen anspornen sollte.

SONNENSTUBE UNTERM DACHARCHITEKTURBÜRO IN LJUBLJANA

Der Arbeitsweise von MVA ent-sprechend wurden die Räume so off en wie möglich angelegt. Ein be-gehbarer Wandschrank, der die Ne-benräume wie Teeküche, Toilette und Lager aufnimmt, schmiegt sich an die Rückwand der Büroetage. Auf seiner von den Dachsparen ab-gehängten Decke entstand eine Galerie zum Ausruhen und als zu-sätzlicher Arbeitsraum. Neue Dach-fenster auf zwei Ebenen belichten den bis auf einen graugrünen Tep-pichboden komplett in Weiß gehal-tenen Büroraum. Mit Ausnahme der Schreibtischlampen sind alle künst-lichen Lichtquellen, die für die häu-fi gen Nachtschichten des Büros unabdingbar sind, in der ‘Wand-schrank’-Zone untergebracht. Nach Sonnenuntergang überstrahlen sie das kühle Weiß von Wänden und Mo-biliar mit einem warmen, gelblichen Schimmer.

FaktenGebäudetyp Sanierung / InnenausbauBauherr Maechtig Vrhunc Arhitekti d.o.o., LjubljanaArchitekt Tomaž Maechtig / Maechtig Vrhunc

Standort Ljubljana, SlowenienFertigstellung 2004

56

1. Denkmalgeschützt, aber nicht mehr im besten Zustand: das Jugendstilgebäude in der Innen-stadt von Ljubljana, in dem das Büro von Tomaž Maechtig und Ursa Vrhunc eine neue Wir-kungsstätte fand.

2. Die Nebenräume sind in einem eingestellten Wand-Schrank-Element im hinteren Bereich des Dachgeschosses untergebracht.

FOT

OS

VO

NY

BO

R D

OB

RIN

Arhitekti, Ljubljana

Page 59: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

Vom Dachträger bis zum Papierkorb dominiert die Farbe Weiß den Innenraum. Dachfen-ster sorgen für die gleichmäßige Belichtung aller Arbeitsplätze.

Page 60: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

5858

1

D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03

Das Anwesen des Seehotels am Neu-klostersee war in früherer Zeit ein klassischer Bauernhof. Nur zwei Au-tostunden von Hamburg und wenig mehr von Berlin entfernt, ist es ein Ort der Ruhe und Entspannung, di-rekt an einem Badesee in einem Na-turschutzgebiet und umgeben von Wäldern, Blumenwiesen und Feld-ern, wo Gänse, Hunde, Schafe und Katzen ebenso zu Hause sind wie der Mensch.

Die Kunstscheune sowie die zwei Hauptgebäude, das Steinhaus mit Restaurant und das Hotel, wur-den 2004 durch eine archetypisch gestaltete Badescheune zur traditi-onellen, ortstypischen Anlage eines Dreiseithofes ergänzt. Mit viel Liebe zum Detail und mit alten Möbeln wurde in den Häusern der Bezug zur Zeit des Erbauers hergestellt. Neue, moderne Einrichtungen ergänzen die alte Bausubstanz auf harmonische Weise. Die Mischung als alten und neuen Elementen verleiht den Räu-men einen eigenen Charme, der sich von Haus zu Haus unterscheidet.

Das Steinhaus erhielt einen leicht mediterranen Charakter mit Buchenholzparkett und heiteren Farben sowie eine Einrichtung im modernen Landhausstil. Teppiche in Naturfarben prägen die Zimmer und geben zugleich den Farbton für die Wand vor. Die modernen Einbau-schränke sind als Skulptur zu sehen und stehen konträr, wenngleich im Ergebnis harmonisch, zu den alten Tischen, mit denen die Zimmer mö-blichert wurden.

Die Kunstscheune steht für Ta-gungen, Konzerte, Ausstellungen, Workshops und Veranstaltungen zur Verfügung. Ein aus alten franzö-sischen Klöstern stammender Ter-rakottaboden sowie Deckenbalken und eine Treppe aus Eiche verleihen den Räumen einen warmen, erdigen Charakter. Die Zimmer mit den vor-gelagerten Wintergärten sind vom Tageslicht durchfl utet. Auf der Ter-

MIT DER NATUR VERWACHSENSEEHOTEL AM NEUKLOSTERSEE IN NAKENSTORF

rasse und im Wintergarten wurde einheitlicher, ortstypischer Feld-stein verlegt, der den Bezug zwi-schen Innen und Aussen herstellt.

Die Badescheune sollte mög-lichst archaisch wirken, was mit auf-wendigen Details, unter anderem in der Hauptfassade, umgesetzt wurde. Diese besteht aus Cortenstahl-Trö-gen, die vorgezogene Efeuelemente aufnehmen. Die Alterungsprozesse der verwendeten Baumaterialien wurden bewusst eingesetzt, um den Neubau von Beginn an in das beste-hende Ensemble einzubinden. Die Fensterläden liegen im geöff neten Zustand in der Leibung, um im ge-schlossenen Zustand bündig mit der Fassade abzuschliessen. Die Dach-fenster befi nden sich nahezu in der gleichen Ebene wie die Lärchenholz-lattung, was die kubische Wirkung der Baukörper unterstützt.

Vom Grundriss her ähnelt die Ba-descheune einem altrömischen Ba-dehaus: die Nebenräume sind um die Schwimmhalle herum gruppiert, um den Wärmeverlust zu minimieren. Die Ausstattung stammt, wie bei den zwei anderen Häusern, aus der Umgebung des Hotels: Nussbaum zeigt sich am Fussboden sowie bei den Einbauten, Kalkstein wir in den Nassbereichen, die Wände sind mit Stroh-Lehmputz verkleidet, der der Oberfl äche einen leicht unterschied-lich strukturiertem Glanz verleiht.

Ein Strohballen als Couchtisch illustriert das Konzept der Symbi-ose zwischen Natur und modernen Einrichtungselementen. Natürliches und künstliches Licht ist bewusst als Gestaltungselement in den Häusern eingesetzt: Creolen-Leuchten mit Spiegelrefl ektor setzen Akzente auf Tische und Wände, während die Dachwohnfenster die Außenwelt nach innen bringen und den Zimmern ein wohnliches Ambiente verleihen.

Detail

Fakten Gebäudetyp HotelStandort Seestraße 1, NakenstorfBauherr J. und G. Nalbach, BerlinArchitekten Nalbach und Nalbach Architekten, BerlinFertigstellung 2004

Page 61: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

5959

2

1. Die Schwimmhalle wird durch grosszügige Fensterelemente aufgewertet. Details wie zum Beispiel die als Beistelltische verwendeten Baumstümpfe illustrieren das Konzept der Architekten, Natur und moderne Einrichtung zu einer Einheit ver-schmelzen zu lassen.

2. Das Seehotel bei Nacht – ein Monolith mit diaphaner, von innen heraus schimmernder Außenhaut. Über dem pfl an-zenumrankten Erdgeschoss erheben sich das Ober- und Dach-geschoss im einheitlichen Kleid aus Lärchenholzlatten.

FOT

OS

VO

N S

TE

FAN

LLE

R

Page 62: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

60

1

GROUND FLOOR PLAN - KITCHEN FIRST FLOOR PLAN - LIVING ROOM SECOND FLOOR PLAN - BEDROOM & BATHROOM

2

D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03

FaktenArt des Gebäudes: Umbau einer Mühle zum WohnhausStandort: bei Lipnice, TschechienBauherr: privatArchitektin: Lucie Kavánová, Prag

Im Wald von Lipnice im böhmisch-mährischen Hügelland steht die Kotrč-Mühle am Ufer eines neu angelegten Sees. Auf seiner Wasseroberfl äche spiegeln sich nach den Worten der Architektin Lucie Kavanova nicht nur die Granitmauern des rund 170 Jahre alten Bauwerks, sondern „das ganze Tal und das Genius loci dieses Ortes“. Die Architektin aus Prag plante den Umbau der Mühle zu einem Wochen-endhaus, das jedoch langfristig auch die Möglichkeit bieten soll, dort dau-erhaft zu leben. Zum Ausgangszu-stand des Projektes schreibt sie: „Von der Ausstattung und der Einrichtung der Mühle blieb fast nichts erhalten. Das Wasser aus dem Mühlgraben wurde längst abgeleitet. Lediglich die morsche Welle, die aus den mas-siven Wänden der Mühle hervorragte, ließ erahnen, dass sich hier einmal ein Mühlrad befand.“

An dem massiven, etwa 9 x 8 Meter großen Bau wurden zunächst die Natursteingiebel, nach den Wor-ten der Architektin ‚das Gesicht‘ des Gebäudes, aufgemauert. „Das Haus wurde dadurch etwas größer, damit es wenigstens ein bisschen mit den endlosen, hohen Wäldern der Um-gebung mithalten kann.“ Die Giebel bestehen wie die meterdicken, alten Außenwände aus dem ortstypisch gemusterten Granit, mit, so Kava-nova, „der schönsten Granitschattie-rung, die ich kenne“. Das Dach wurde anschließend ohne die ursprüng-lich ausladenden Dachüberstände neu eingedeckt. Verschiebbare Fen-sterläden aus Naturholz lockern die Fassaden auf. Ihre Entwerferin be-schreibt deren Wirkung: „Geöff net signalisieren sie nicht nur die An-kunft des Eigentümers, sondern las-

MONOLITH AM MÜHLENWEIHERUMBAU DER KOTRČ-MÜHLE BEI LIPNICE

sen auch Leben ins Haus, wie die Farben der Natur in der Umgebung. Vor allem das Naturbild hinter dem großen Wohnzimmerfenster gleicht einem großen Fernsehschirm, auf dem eine Geschichte stundenlang verfolgt werden kann.“

Zum Innenraum bemerkt sie: „Das Hausinnere bildete ein dunkles Laby-rinth kleiner Räume. Ein Haus muss jedoch geräumig sein, so wie die end-lose Natur der Umgebung. Und das war auch der Grund dafür, dass wir es von allen nutzlosen Dingen befrei-ten und allein seine Substanz zum Ausdruck kommen ließen“. So weist der weitläufi ge Innenraum kaum Trennwände und Türen auf. Man be-tritt das Gebäude über Speiseraum und Küche, gelangt eine Etage da-rüber in ein Wohnzimmer mit Ofen und schließlich in Schlafzimmer und Bad im Dachgeschoss, welches durch Dachfenster belichtet wird. Im Keller befi nden sich Weinlager und Tech-nikraum.

Stahlbetondecken stabilisieren das bereits rissige Gebäude, und hinter einer Vorsatzschale aus Gips-karton wurde eine zusätzliche In-nendämmung angebracht. Die beim Umbau der Mühle verwendeten Kon-struktionen sind der Art und Größe des Gebäudes entsprechend einfach. So wirkt zum Beispiel der fi ligrane Stahlbalkon, der das Wohnzimmer zum See hin erweitert, nahezu provi-sorisch. Einen unerwarteten Kontrast zum rustikalen Äußeren bilden die In-nenräume: Hier sind alle Wände weiß verputzt, fi ligrane Stahl-Glastrep-pen führen in die Obergeschosse, und das Bad unter dem Dach ist le-diglich durch eine Glastrennwand vom Schlafzimmer getrennt.

1. Aus dem Panoramafenster im Wohnzimmer fällt der Blick über den neu angelegten Mühlenwei-her. Das fi ligrane Balkongeländer wird von innen kaum als optische Barriere wahrgenommen.

2. Ein Dachfenster erhellt den oberen Treppenabsatz. Der fi li-grane Innenausbau aus Stahl und Glas bildet einen markanten Kontrast zu den schweren, rauen Außenmauern.

3. An den massiven Steingie-beln der Mühle lässt sich das alte Mauerwerk kaum von den neu hinzugekommenen Partien im oberen Bereich unterscheiden. An die Stelle des auskragenden Ziegeldachs ist ein nahezu wand-bündiges Blechdach getreten.

Grundrisse: Erdgeschoss – Küche; 1. Obergeschoss – Wohnzimmer; 2. Obergeschoss – Schlafzimmer und Bad

Querschnitt

Page 63: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

61

3

FOT

OS

VO

N L

UC

IE K

AV

AN

OV

A

Page 64: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

“Um bei dieser Projektstudieeine außergewöhnliche Tages-

lichtsituation zu schaffen,haben wir die Intelligenz einesEinzelproduktes von VELUX als

Leitmotiv für die Visualisierungunseres Entwurfes eingesetzt.”

Tageslicht-Impulse mit VELUX.Eine Idee von Hadi Teherani

Entdecken Sie intelligente Ansätze für Tageslicht- und Energiekonzepte im Wohnungsbau. Die Fach-

vortragsreihe “Architektur im Dialog” thematisiert die automatische Regelung von Tageslicht und

Klima im Gebäude. Wir unterstützen auch Sie bei der Entwicklung besonderer Ideen und Projekte.

Zum Beispiel mit dem Klima Komfort System von VELUX für Ihre innovativen Konzepte im Bereich

Home Automation.

velux.de/architektur

Page 65: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

6363

Bei der Lektüre der 75 zum EAAE-Preis 2003-2005 eingereichten Artikel erkannte ich, wie wichtig dieser Wettbewerb für unsere gesamte Lehre ist. Er bildet die Grundlage für eine dringend erforderliche Diskussion über Inhalt und Richtung des Architektur-studiums. Zu leicht gerät in Vergessenheit, dass der Lehrstoff und die Art seiner Ver-mittlung direkten Einfl uss auf unsere Bau-kultur nehmen.

Abgesehen von einem grundlegenden Konsens über die Ergebnisse des Architek-turstudiums weist die Architekturlehre in Europa und Nordamerika keine gemein-same Zielsetzung auf. Jede Hochschule ist bestrebt, eine eigene Identität oder Richtung zu etablieren, um den unmittelbaren Anforde-rungen der Region, der Studenten sowie ihrer zukünftigen Arbeitgeber gerecht zu werden. Jede Hochschule verfolgt ihr eigenes Kon-zept in der Hoff nung, diese Anforderungen zu erfüllen und gleichzeitig auf wundersame Weise zukünftige Ansprüche vorherzusehen. Grundsätzlich off enbaren die Wettbewerbs-beiträge, dass wir sehr wenig voneinander wissen, sowohl hinsichtlich unserer Lehrme-thode als auch der Lehrinhalte und ihrer Prio-

SCHRIFTEN ZUR ARCHITEKTURLEHRE

VELUX IM DIALOG Der EAAE-Preis: Leitlinien für das Architekturstudium

Text von Per Olaf Fjeld. Fotos von Jacob Boserup.

Mit dem EAAE-Preis werden individuelle Beiträge und Schriften zur Architekturlehre ausgezeichnet, um die Qualität der Architektenausbildung in Europa zu fördern. Die von einem internationalen Fachgremium alle zwei Jahre verliehene Auszeichnung richtet die Aufmerksamkeit auf außergewöhnliche Veröff entli-chungen. Der erstmals 1991 verliehene EAAE-Preis wird seit 2001 von VELUX fi nanziell unterstützt.

ritäten. Von daher hat die EAAE die wichtige und verantwortungsvolle Aufgabe, die päda-gogischen Methoden und Lehrstoff e der ver-schiedenen Mitgliedsinstitute zu sammeln und zu veröff entlichen, nicht nur als Kata-log für die Studenten als Orientierungshilfe bei der Wahl einer geeigneten Hochschule, sondern auch als Diskussionsplattform. Wir wissen viel zu wenig über das Spektrum der Lehranstalten; aufgrund des Mangels an prä-zisen und rasch zugänglichen Informationen über andere Hochschulen preisen wir man-che pädagogische Methoden und Theorien immer wieder als neu oder innovativ. Wir konzentrieren uns derart auf das „Neue und Innovative“, dass uns keine Zeit mehr für den Vergleich mit ähnlichen Methoden und The-orien in anderen Regionen oder Hochschu-len bleibt. Hierzu kann die EAAE sicherlich einiges beitragen.

Natürlich gibt es keine einfachen Antwor-ten und kein Rezept für die Architekturlehre, aber es existiert zumindest ein grundsätz-liches Bestreben zur kontinuierlichen Neu-erung und Anpassung. Die Lehre erfordert kreatives Denken, intuitives Feingefühl und vor allem ein hohes Maß an Konzentration.

D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03

Widmen wir uns beispielsweise dem Begriff ‚Wissen’ und seiner Verwendung in den ver-schiedenen Texten. In zahlreichen Wettbe-werbsbeiträgen wurde der Begriff ‚neues Wissen’ als isolierte bzw. separate Gesamt-heit behandelt. ‚Altes’ oder ‚bestehendes’ Wissen ist Ausgangspunkt für die Entwick-lung und das Verständnis ‚neuen’ Wissens. Ist das bestehende oder traditionelle Wissen wegen seines Alters von geringerer Bedeu-tung? Wenn dieses ‚alte Grundwissen’ aber nur noch von kurzer Lebensdauer ist, ent-steht die Möglichkeit, es immer wieder als neu anzupreisen. Unsere Fixierung auf Erneu-erung und Innovation verleiten uns dazu, die Prinzipien und Grundlagen, auf welchen das neue Wissen beruht, leichtfertig zu überge-hen oder gar zu vergessen. Die sich schnell wandelnden Anforderungen unserer ergeb-nisorientierten Gesellschaft führen zur Pri-orisierung des Kurzzeitgedächtnisses. Ob und inwieweit dies kreativ und sinnvoll ist, sei allerdings dahingestellt.

Die Veränderungen, welche die Archi-tekturlehre im Hinblick auf Verständnis und Anwendung bestehenden Wissens erfährt, werden von den Teilnehmern mit gewisser

Page 66: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

64 D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03

Skepsis betrachtet. Der von der Informations-gesellschaft erhobene Anspruch auf Präzision bei gleichzeitigem Fortschritt schlägt sich auch auf die Architektur nieder und schaff t ein diff uses Verhältnis zur Kultur und zu Defi -nitionen von kultureller Bedeutung. Auch hier genügt es nicht, nur nach vorne zu blicken; wir müssen auch konkrete Kenntnisse des-sen haben, was wir hinter uns lassen.

Die Computertechnologie als Mittel zur Verbreitung neuen Wissens ist von immen-sem Wert. In der Informationsgesellschaft kommt ihr zweifellos eine Kernfunktion zu. Wir sind zunehmend von Computern abhän-gig, um Informationen schnell zu verbrei-ten, welche die Architektur unterstützen und beeinfl ussen mögen. Nur wenige aber sind überzeugt, dass diese Instrumente und Werkzeuge weiterreichende Möglichkeiten bieten – mit anderen Worten: Diese Mittel sind nicht in der Lage, neue Inhalte zu bestim-men oder die zeitgenössische Architektur in eine bestimmte Richtung zu lenken. Abgese-hen von direkten und spezifi schen Problem-lösungen trägt die Technologie nichts zur Bewusstseinsbildung bei.

Die Grenzen der neuen Technologie stel-len für Architekturtheorie und Praxis glei-chermaßen eine Herausforderung dar, sofern Architektur mehr sein soll als reine Problem-lösung. Damit ergibt sich die Frage nach der künftigen Rolle des Architekten und der Architekturlehre. Ist es unsere Aufgabe, die Suche nach und das Verständnis von Inhal-ten durch die Architektur zu unterstützen? Wenn ja, sind bisher übliche Fähigkeiten und

Kenntnisse innerhalb der von der Informa-tionsgesellschaft auferlegten Grenzen für die Architekturlehre nicht ausreichend. Nur vereinzelte Beiträge haben die Bedeutung von Architektur und Baukultur als kontinu-ierlichem Spiegel unseres täglichen Lebens in Frage gestellt; die Mehrzahl der Artikel stellte die Wichtigkeit von Erscheinungs-bild und Formfi ndung unter Rückgriff auf diverse konzeptionelle Ansätze in den Mit-telpunkt. Der Baukunst und ihrer Beziehung zum menschlichen Verhalten sind kaum Gren-zen gesetzt, abgesehen von solchen, die sich die Architektur selbst auferlegt. Im kommer-ziellen Interesse kann die Informationsgesell-schaft diese Off enheit strategisch nutzen, um das verfügbare Wissen und Know-How ein-zugrenzen und zu beeinfl ussen. Kommerzielle und politische Interessen können sich nach-haltig auf die Architektur auswirken, so dass die Baukunst häufi g von externen Motivati-onen beeinfl usst wird und sich primär auf den Nutzungsaspekt konzentriert.

Theorie und Forschung sind mittlerweile fester Bestandteil im Lehrplan der meisten Architekturhochschulen, um das Sachver-ständnis der Studenten zu fördern und die Schulungsinhalte weiterzuentwickeln. Ein erweiterter Denkansatz ist durchaus erkenn-bar, aber konnten wir diese veränderten Ansprüche an Forschung, Theorie und neue Technologie auch in gebaute Architektur umsetzen, oder dienen uns neue Technolo-gien weiterhin nur zur virtuellen Darstellung realistischer Szenarien und dem prompten Zugriff auf Informationen? Ja und nein. In

gewissem Maße hat die Erweiterung eine neue Debatte über die technologischen und formalen Aspekte der Architektur angeregt. Darin wurden jedoch keine einheitlichen Stra-tegien und Rahmenbestimmungen für die Architekturlehre der Zukunft defi niert.

Weitere Punkte von merklichem Inte-resse sind die künftige Bedeutung des Zei-chenateliers im Computerzeitalter und die Folgen entsprechender Änderungen und Neuerungen. Bemerkenswert ist, dass die Zeichenateliers vor Einführung der Compu-tertechnik je nach Schule und Region unter-schiedliche Funktionen hatten. Zwar waren Zeichenateliers in den meisten Schulen das Kernstück architektonischer Pädagogik, aber Struktur, Ausrichtung, Hierarchie, Studen-tenzahl und Erwartungen wichen teilweise beträchtlich voneinander ab. Daher können die Probleme und Lösungen bei Einbeziehung der Computertechnik in die Zeichenateliers von Schule zu Schule und Nation zu Nation geringfügig anders gelagert sein. Tatsächlich werden Skizzen nur noch selten angefertigt, Zeichnungen vielmehr maschinell erstellt; auf den Schreibtischen stapeln sich Modelle, und die wechselseitigen Beziehungen zwischen Studenten und Lehrkörper sowie zwischen den Studenten selbst mögen weniger impul-siv sein. Aber ebenso wie die ursprünglichen Zeichenateliers vor Erfi ndung des Computers in den Schulen unterschiedlich waren, weist auch heute die interne Struktur jedes Ateliers eigene Besonderheiten auf. Wir müssen ein besseres Verständnis dafür entwickeln, wie und warum sich die Zeichenlehre in den einzel-

Page 67: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

65

nen Schulen entwickelt hat. Die Erarbeitung eines Modellbauateliers, das Raum bietet für eine neue Off enheit – sowohl bezogen auf den Arbeitsprozess als auch auf die Beziehungen zwischen den Studenten sowie zwischen Stu-denten und Lehrkörper – ist wichtig für die weitere Existenz des Zeichenateliers.

Die Architekturlehre wird mit etlichen Hürden und Neuerungen konfrontiert. Unter Rückgriff auf aktuelle Technologien durch-läuft sie einen kontinuierlichen Moderni-sierungsprozess, um mit dem Tempo der Informationsgesellschaft Schritt zu halten. Der optimistische Glaube aber, dass Tech-nologie über unsere gebaute Umwelt die Lebensqualität erhöhen könne, ist zumin-dest teilweise gedämpft. Dem Umgang des Architekten mit der Computertechnologie steht die Fähigkeit der Maschinen gegenüber, Objekte bzw. geplante Objekte grenzenlos zu bearbeiten. Wichtiger Gegenstand der Archi-tektur aber sind der Raum, seine Nutzung und das Verständnis von Raum auf allen Ebenen. Leider lassen sich die räumlichen Kapazitäten und Begriff e des Computers nicht mit sämt-lichen Ebenen des Raumverständnisses in der Architektur vereinbaren. Die Maschine ver-mag zwar Raumkonzepte schnell und pro-blemlos darzustellen, wir aber bringen unser hart erarbeitetes und lebenslanges Raum-verständnis mit ein, und dies nicht nur im körperlichen, sondern auch im sozialen und psychologischen Sinne. Die Architektur-lehre hat daher oftmals mit entsprechenden Schwierigkeiten und konfusen Problemen zu kämpfen. Die Balance zwischen Virtualität

und Realität und deren Ineinandergreifen auf vielen Ebenen stellen eine große Herausfor-derung für den modernen Architekturlehr-plan dar. Die Zeit, die für Verständnis und Bedienung komplexer Computersysteme aufgewandt wird, und die der Architektur selbst gewidmete Zeit liegen sozusagen in akademischem Clinch.

Einige Beiträge beschäftigen sich mit der Lücke zwischen Architekturlehre und Berufspraxis. Natürlich sind modernste Computertechnologie und entsprechendes Fachwissen angesichts der ständigen Ent-wicklung neuer Materialien für den Beruf unerlässlich. Ist aber jeder Teil dieses kom-plexen „Baupakets“ für die Architektenaus-bildung von gleichem Interesse? Auf welche kurz- und langfristigen Fähigkeiten und Kenntnisse wird Wert gelegt, und welches ausgewogene Verhältnis kommt den Stu-denten am ehesten zugute? Teilweise wird die Auff assung vertreten, die Schulen ähn-lich wie ein Architekturbüro zu führen und in den Zeichenateliers reale Gebäude für echte Kunden zu planen, so dass alle Student(inn)en vor ihrem Studienabschluss wenigstens ein kleines Gebäude oder einen Raum im Maß-stab 1:1 errichtet haben. Ein Praktikum für die Dauer zumindest eines Semesters wird in mehreren Beiträgen befürwortet. Dieser Wunsch ist uns hinlänglich bekannt und wird wohl auch künftig geäußert werden, eine entsprechende allgemeingültige Vereinba-rung ist jedoch noch in weiter Ferne. Jedes Land und jede Schule triff t hierzu eigene Ent-scheidungen und verfolgt eigene Prinzipien.

Grundthema anderer Beiträge ist das man-gelhafte oder fehlende Verständnis zwischen diesen beiden Bereichen. Auch zukünftig werden die Lehrkörper im besten Interesse der Studenten gezwungen sein, das Dilemma zwischen einer Lehre zur langfristigen Förde-rung des Berufsstands und einer direkt auf die Anforderungen des Arbeitsmarkts aus-gerichteten Ausbildung zu lösen.

Ein gewisser Konsens besteht darüber, dass sich die Inhalte der Architekturlehre derzeit in notwendigem Wandel befi nden. Erstaunlicherweise beschäftigen sich nur wenige der eingesandten Artikel mit den dringlichsten Herausforderungen, denen sich die Architektur der Zukunft stellen muss: Hierzu gehören ökologische Aspekte, Schaff ung von Wohnraum für Bedürftige und Obdachlose sowie die Nutzung von Materialien und Energiequellen angesichts der ständig steigenden Weltbevölkerung. Obgleich wir heutzutage zunehmend mit realen und internen Problemen konfrontiert werden, sind diese nur selten Gegenstand unseres neuen Wissens und noch viel weniger Ursprung für neue Erkenntnisse und Innova-tionen. So schenken viele Architekturschu-len diesen entscheidenden Grundproblemen merkwürdigerweise nur geringe Aufmerk-samkeit.

Die ‘Informationsgesellschaft’ bie-tet nicht zwangsläufi g eine Orientierungs-hilfe für die Architekturlehre; ebensowenig ist sie abhängig von einer bestimmten Kul-tur oder Glaubensrichtung. Ein Artikel führt uns unsere Neigung vor Augen, die Schwie-

Ganz links Per Olaf Fjeld, Pro-fessor und ehemaliger Rektor der Architekturhochschule in Oslo, war Vorsitzender der Jury beim EAAE-Preis 2003-2005. Sein Resümee nach der Lektüre der 75 eingereichten Beiträge: „Das enorme Interesse an Archi-tektur und Design, das uns täg-lich in den Medien begegnet, hat dazu beigetragen, die Architek-turlehre von ihrem hohen Thron zu holen; es hat jedoch nicht den Druck verringert, Inhalt, Metho-dik und Ideologie der Ausbildung deutlich zu defi nieren.“

Die Jury des EAAE-Preises 2003-2005 bestand aus Per Olaf Fjeld (Vorsitzender), Peter Mackeith, Juhani Pallasmaa, Dagmar Richter und Alberto Perez Gomez.

Page 68: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

66

V7296_EAAE_ad.indd 2 16-05-2006 09:16:26

D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03

lich zu formulieren. In einer Zeit, in der immer mehr Architekturstudenten promovieren, ist die architektonische Forschung populärer als je zuvor. Diese Forschung unterliegt kei-ner klaren und allgemeinen Defi nition: Unter enormem Energieaufwand produzieren wir zahllose Schriften in dem Bereich, den wir als ‚Architektur’ bezeichnen. Aber bringt das die Architektur tatsächlich voran? Ich hoff e ja, denn wenn irgendwelche Architekten-foren hierzu einen Beitrag leisten können, dann jene, die Architekten und Institutionen zusammenführen, um über die Architektur-lehre ins Gespräch zu kommen und zu disku-tieren. Ich bin daher sehr stolz, an diesem Wettbewerb beteiligt zu sein, da seine Bei-träge eine wichtige und essenzielle Diskussi-onsgrundlage schaff en. Das enorme Interesse an Architektur und Design, das uns täglich in Zeitungen, Zeitschriften, im Fernsehen und in bebilderten Ratgebern begegnet, hat dazu beigetragen, die Architekturlehre von ihrem hohen Thron zu holen; es hat jedoch nicht den Druck verringert, Inhalt, Methodik und Ideo-logie der Ausbildung deutlich zu defi nieren.

Per Olaf Fjeld, Professor und ehemaliger Rek-tor der Architekturhochschule in Oslo, begann seine Karriere als Architekt im Jahr 1973 in den Büros des norwegischen Architekten Sverre Fehn. 2003 war er Gastprofessor an der Architektur-fakultät der Universität Arizona. Seit 2001 ist er Vorstandsmitglied der European Association of Architectural Education (EAAE), zu deren Präsi-denten er kürzlich gewählt wurde.

EAAEDie EAAE ist eine internationale und gemeinnüt-zige Vereinigung zur Förderung des Ideen- und Personalaustauschs im Bereich architektonischer Ausbildung und Forschung. Ziel der EAAE ist die Verbesserung von Basiswissen und Qualität der Entwurfslehre in Architektur und Städtebau. Seit ihrer Gründung im Jahr 1975 ist die EAAE eine angesehene Institution zur Förderung der euro-päischen Architekturlehre mit wesentlicher Funk-tion bei der Beratung von Architekturdozenten und staatlichen Organen. Die EAAE zählt über 100 aktive Mitgliedsschulen in Europa von den Kana-rischen Inseln bis zum Ural und repräsentiert na-hezu 5.000 eingeschriebene Fakultätsangehörige sowie mehr als 100.000 Architekturstudenten (vom Grundstudium bis zur Promotion). Die Verei-nigung unterhält weltweite Verbindungsmitglied-schaften. Die EAAE richtet zahlreiche Konferenzen, Workshops und Sommerkurse für junge Lehrbe-auftragte zu wichtigen Themen aus, deren Inhalte veröff entlicht und verbreitet werden. Zudem ver-leiht die Vereinigung Auszeichnungen und Preise.Weitere Informationen sind auf der EAAE-Home-page (www.eaae.be) zu fi nden.

rigkeiten kreativen Schaff ens zu vergessen, ja diesen Akt als selbstverständlich anzu-sehen in dem Glauben, Informationen und Know-How könnten die Kreativität ersetzen. Ebenso werden Theorie und kulturelle Ein-fl üsse gerne miteinander vermischt. Häufi ger Kritikpunkt ist zudem, dass viele Architektur-schulen die realen Aspekte der Architektur mit gewisser Distanz und Abstraktion leh-ren, wodurch ein tieferes und umfassenderes Verständnis des architektonischen Raums erschwert wird. Statt des Verständnisses von realem Raum, Material und Volumen stehen dort virtuelle Räume, Materialien und Volumen im Mittelpunkt. Diese Entwicklung ist ebenso interessant wie bedauerlich.

Des Weiteren müssen wir uns der kom-plexen Natur der Architektursprache bewusst sein, die sich in den letzten Jahren entwickelt hat. Ich behaupte, dass in den 75 Beiträgen die Sprache und ihre Struktur häufi g weitaus komplizierter als der Inhalt sind. Natürlich ist es wichtig, den Inhalt der Architekturlehre auszuweiten und unterschiedlichste akade-mische Bereiche einzubeziehen; dementspre-chend muss auch unser Vokabular erweitert werden. Genauso aber gilt es zu bedenken, dass die Architektur trotz aller virtuellen Möglichkeiten noch immer bodenständig und vor allem ein Beruf ist. Dieser hat in den letz-ten 50 Jahren bedeutende Veränderungen erfahren. Nie zuvor waren Architekten der-art auf Überlegungen und Interpretationen der Gelehrten und Forscher angewiesen. Daher ist es unabdingbar, unsere Gedanken klar und präzise sowie allgemein verständ-

Page 69: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

European Association for Architectural EducationAssociation Européenne pour l’Enseignement de l’Architecture

WWW.EAAE.BE

WRITINGS IN ARCHITECTURAL EDUCATION

Representation in Architecture

Communication – Meaning – Visions

At the present the tools of the architect are in the midst of an accelerated process of development and change. New technology has opened up for a greater design complexity and spatial variation. The digital working process offers a capacity of 2D and 3D visualisation that simply was not possible half a century ago.This new mode of communication has changed architectural representation at every level. One may argue that this will change architecture, but in what way? What, then, is representation in architecture today? Does representation have its own architectural content and agenda, and what impact will this have on architectural education?

The EAAE Prize is open to all members of the teaching staff of the EAAE member schools of architecture, or individual members of the EAAE.

Download the prize invitation and registration form: www.eaae.be or contact the Organising Committee v/ [email protected]

The deadline for contributions is October 12, 2006

EAAE PRIZE

2005-2007sponsored by

V7296_EAAE_ad.indd 2 16-05-2006 09:16:26

Page 70: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

68 D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03

BROKEN GLASS

Glas in Kunst und ArchitekturHerausgeber: Wolfgang BeckerWienand Verlag 2005ISBN 3-87909-875-1

‚Broken Glass‘ ist der Katalog einer Ausstellung, die im Herbst 2005 in dem von Wiel Arets sanierten, ehe-maligen Kaufhaus Schunck (dem so genannten ‚Glaspalast‘) in Heerlen stattfand. Thema des Buchs ist die Bedeutung des Glases in jedem er-denklichen kulturellen Kontext – in der Skulptur, der Glasmalerei, der Architektur, Literatur, Musik und im Film. Kunst- und Architekturhisto-riker, Literaturwissenschaftler und eine Filmmusikerin haben Texte zu ‚Broken Glass‘ beigetragen; als Prolog dient jedoch eine Mitschrift aus dem Film ‚Slow Glass‘ von John Smith, in dem ein Londonder Glaser über die Ge-schichte und Herstellung von Glas rä-sonniert. Er erinnert daran, dass Glas, obzwar scheinbar fest, eine Flüssig-keit ist, dass wir aber zu schnell leben, um dem Fließen des Glases zusehen zu können.

Beinahe ein Drittel des Buches nimmt der Beitrag von Wolfgang Be-cker über ‚Kunst und Glas‘ ein, in dem

uns der Verfasser in die Welt der Glas-Skulpturen und Glas-Installationen entführt. Kenntnisreich kommentiert Becker Werke von Marcel Duchamp, Gerhard Richter, Mario Merz, Joseph Beuys und vielen anderen modernen und zeitgenössischen Künstlern und schließt mit dem Fazit: „..[es] schei-nen aber die Werke zu überwiegen, in denen die Autoren die Wirklichkeits-brechungen, die Täuschungen, die Il-lusionen zu zeigen versuchen, die an das Glas gekoppelt sind.“ Wesent-lich stärker auf das Handwerk der Glasverarbeitung geht Iris Nestler in ihrem Kapitel über Glasmalerei und ‚Studioglass‘ – die Kunst, kleine Skulp-turen und Gefäße aus Glas zu fertigen

– ein, während der Aachener Architek-turhistoriker Manfred Speidel einige – gebaute wie erdachte – Meilensteine der Glasarchitektur Revue passieren lässt: Joseph Paxtons Glaspalast in London, Walter Gropius’ Fagus-Werke in Alfeld, Mies van der Rohes Hochhausentwürfe für Berlin sowie die Phantasien der ‚Gläsernen Kette‘ um Paul Scheerbart und Bruno Taut.

Auch wenn die meisten Essays ihr Themengebiet nur ausschnittsweise behandeln, überzeugt ‚Broken Glass‘ durch die in ihm enthaltene Vielfalt der Blickwinkel. Selten wurde Glas innerhalb eines Buchs so vielseitig dargestellt. Deutlich wird im Buch jedoch auch, dass wirklich überzeu-gende, disziplinübergreifende Arbeit mit Glas – selbst zwischen Architek-tur und Bildender Kunst – noch immer selten ist. Ob es daran liegt, dass Glas in unserer Kultur zuletzt ganz über-wiegend durch die Business- und High-Tech-Architektur besetzt war? Zumindest ansatzweise könnte ‚Bro-ken Glass‘ hier dazu beitragen, die Sinnlichkeit des Werkstoff s wieder zu entdecken.

CONCRETE ARCHITECTURE

Autorin: Catherine CroftLaurence King Publishing 2005ISBN 1-85669-364-3

Beton war und ist ein kontrovers dis-kutiertes Material in der Architek-tur. In den jüngsten Jahren scheint es indessen, als sei der vermutlich vielseitigste (und eben deshalb in der Vergangenheit oft gedankenlos verwendete) Baustoff der Moderne salonfähig geworden, ja, als gelte es regelrecht als schick, sich mit Bau-ten und Objekten aus Beton zu um-geben. Neue Betonmischungen, die immer glattere Oberfl ächen und immer schlankere Bauteile möglich machen, haben ihren Teil zur Popu-larität jenes Materials beigetragen, von dem Frank Lloyd Wright noch 1928 schrieb: „Es fällt nicht leicht, in diesem Konglomerat einen hohen äs-thetischen Wert zu erkennen, da es ein Amalgam ist ... Der Zement, das Bindemittel, ist an sich charakterlos. Das Endergebnis ist für gewöhnlich im besten Fall ein künstlicher Stein und im schlimmsten Fall ein ver-steinerter Sandhaufen.“

Nicht nur Wright änderte seine Einstellung zum Beton später. Auch die Autorin Catherine Croft, Direk-torin der Twentieth Century Soci-ety, bezeichnet ihr Buch gleich im ersten Satz als ‚Hommage an den Beton‘. Sie beginnt diese mit einem ausführlichen Essay über die Ge-schichte des Betons, in dem sie nie allein die Entwicklung der Beton-technik und –konstruktionen in den Vordergrund stellt, sondern stets auch auf dessen kulturelle Bedeu-tung eingeht. Auch in den folgenden vier typologisch gegliederten Ka-piteln mit insgesamt 44 Projekt-darstellungen (Wohnen, Arbeiten, Spiel und Landschaft) gewährt die

Autorin neben einer Beschreibung der Bauwerke stets auch Einblicke in die Entwurfsphilosophie der je-weiligen Architekten. Dass Beton in unserer gebauten Umwelt keines-wegs nur für den reinen Hochbau bedeutsam ist, verdeutlichen die Beispiele aus dem letzten Kapitel, die sich zwischen Landschaftsarchi-tektur und Land Art, unterirdischen Friedhofskomplexen und städ-tischer Platzgestaltung bewegen. Selbstverständlich ließe sich die Betrachtung noch wesentlich wei-ter, etwa in den Bereich des Ingeni-eurbaus, ausdehnen, doch auch in seiner jetzigen Form dokumentiert der von faszinierenden Farbfotos illustrierte Bildband eindrücklich die funktionale und gestalterische Vielfalt des Betons. Vor 100 Jah-ren hatte William Lethaby noch geschrieben, man möge ihn zwar verwenden, doch in ‚zivilisierten Gebäuden‘mit Marmor, Goldmosaik oder Farbe verdecken. Vor 50 Jah-ren forderte Louis Kahn, ein Beton-bauwerk sollte jeden Schritt seiner Herstellung ablesbar machen. Heute nimmt die Betonarchitektur die ge-samte Bandbreite zwischen beiden Extrema ein; starre Dogmen schei-nen abgeschaff t und es der Krea-tivität jedes Einzelnen überlassen, das Beste aus dem Konglomerat aus Sand, Kies, Zement und Wasser sowie einem zunehmenden Anteil chemischer Zusatzstoff e zu machen. Und vermutlich ist es gerade die da-raus resultierende Vielfalt, die dem Beton zu seiner gegenwärtigen Po-pularität verholfen hat.

BÜCHERREZENSIONENZum Weiterlesen: Aktuelle Bücher, vorgestellt von D&A.

Page 71: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

69

nicht nur entworfen wurde“ vermit-telte, wie er später über die Bagsva-erd-Kirche schrieb. Jede Einzelheit des Bauwerks entwarf Utzon selbst, er importierte die Fliesen für die Handläufe persönlich aus Mallorca und legte selbst die Einschlagtiefe der Nägel an den Kirchenmöbeln genau fest. Die gleiche Detailver-sessenheit spiegelt auch der zweite Teil des Buches wider, in dem die am Bau Beteiligten – Utzon selbst, sein Sohn und damaliger Assistent Jan, der Bauingenieur Godtfred Jensen sowie der Pfarrer der Bagsværd-Kir-che, Svend Simonsen – ihre Erinne-rungen mit teils bewundernswerter Genauigkeit aufgezeichnet haben. Drei Analysen ‚externer’ Fachleute schließen den Band ab: Bo Morten-sen beschreibt die Akustik der Kirche, der Utzon-Biograph Richard Weston spekuliert über mögliche Vorbilder und Inspirationsquellen Utzons, und Martin Schwartz analysiert die laut Utzon „wichtigste Sache in dieser Kirche“: das Licht.

Ebenso viel wie über sein Bau-werk sagt das ‚Logbuch’ über Jørn Utzon selbst aus: es porträtiert ihn als Vertreter einer orts- und men-schenbezogenen Moderne, aber auch als Vertreter einer Architektengene-ration, die ihre Aufgabe noch in der totalen Kontrolle über ein Projekt – in allen Leistungsphasen und allen Details – begriff . Von Detailzeich-nungen abgesehen, die Utzon ohne-hin eher spärlich anfertigte, ist die Bagsværd-Kirche in diesem Logbuch lückenlos dokumentiert, so dass Ut-zons Schlusswort in seinem Ge-spräch mit Torsten Bløndal zugleich als Resümee des gesamten Buchs zu lesen ist: “Ich glaube, dass das, was ich Ihnen jetzt über die Kirche erzählt habe – angefangen von den ersten Ideen bis zu den Details – alles da ist. Wir haben nichts mehr, über das wir sprechen müssten.”

JØRN UTZON LOGBOOK

Volume II: BagsværdEdition Bløndal ISBN 87-91567-07-6

2002 publizierte der dänische Verle-ger Torsten Bløndal ein bemerkens-wertes Buch: die Monografi e ‚Utzon‘, verfasst von Richard Weston, mehr als 500 Seiten stark und einige Kilo schwer – womöglich das defi nitive Buch über den größten dänischen Architekten der vergangenen 50 Jahre. Doch wer meinte, damit sei ei-gentlich alles gesagt und geschrie-ben, sieht sich getäuscht: Nur drei Jahre später lässt das kleine dä-nische Verlagshaus drei „Logbücher“ zu einzelnen Gebäuden oder Gebäu-detypen folgen, an deren Erstel-lung der inzwischen fast 90-jährige Utzon selbst mitgewirkt hat. Band zwei porträtiert auf knapp 170 Sei-ten das wohl wichtigste Bauwerk des Pritzker-Preisträgers in Däne-mark, die Bagsværd-Kirche im Nord-westen Kopenhagens. 1969 bis 1976 erbaut, zeigt sie Utzon auf der Höhe seiner Schaff enskraft – „eine un-geheuer einfache und direkte Ar-chitektur, die dem Gebäude einen Ausdruck der Ganzheitlichkeit ver-leiht“, wie Utzon selbst in einem Ge-spräch mit dem Herausgeber Torsten Bløndal anmerkt. Zu lesen ist dies auf Seite 117, und bis hierhin gibt es mit Ausnahme des Inhaltsverzeichnisses erst einmal gar nichts zu lesen – noch nicht einmal Seitenzahlen. Ganz be-wusst setzen Bløndal und Utzon in ihrem Buch auf die Aussagekraft der Bilder und Zeichnungen. Sie il-lustrieren die Kunstfertigkeit, mit der Utzon auch banalste Industrie-produkte zu Bauwerken voller Poesie verband und den Besuchern seiner Kirche „die Sicherheit, etwas über dem Kopf zu haben, das gebaut und

er sich der Architekturgeschichte an-hand von Fallbeispielen an, in denen er neben den Eigenheiten des je-weiligen Bauwerks immer auch die kulturell-geografi schen Rahmen-bedingungen ihres Entstehens er-läutert. Und auch Pryces Exkurs zur zeitgenössischen Holzarchitektur, in denen er unter anderem Bauten von Jarmund&Vigsnaes, Thomas Herzog, Bruce Goff und Richard Leplastrier zeigt, wirkt wie eine organische Fortführung der vorangegangenen Kapitel. Einzig die eine oder andere Konstruktionszeichnung vermisst der aufmerksame Leser bisweilen, wenn Pryce Details mit Worten zu erklären sucht, die im Bild besser dar-zustellen gewesen wären.

Eindrucksvoll zeigt ‚Die Kunst der Holzarchitektur‘ die Vielfalt der Formen und Oberfl ächentexturen, die die zumeist anonymen Baumei-ster vergangener Jahrhunderte mit dem Werkstoff Holz schufen. Doch Pryce erwähnt auch, wie die Holz-architektur buchstäblich die Welt verändert hat. Kaum vorstellbar ist heute beispielsweise noch, dass das Wort ‚Holland‘ seine Urspünge ei-gentlich in ‚Holtland‘ (Holzland) hat. Aufgabe zukünftiger Holzarchitek-tur wird es daher sein, eine Balance zu fi nden zwischen dem Abbau von Ressourcen und deren Rege-nerationsfähigkeit – denn auch ‚nachwachsende‘ Rohstoff e gehen irgendwann zur Neige.

DIE KUNST DER HOLZARCHITEKTUR

Autor: Will PryceE. A. Seemann Verlag 2005ISBN 3-86502-122-0(Englische Ausgabe: Buildings in WoodRizzoli PublishersISBN 0847827461)

Holz gehört zu den ältesten Bau-stoff en der Menschheit – und galt doch stets als minderwertig, dem Stein unterlegen auf Grund seiner kürzeren Lebensdauer, geringeren Festigkeit und leichten Brennbarkeit. Möglicherweise deshalb standen selbst Meisterwerke der Holzarchi-tektur wie Norwegens Stabkirchen oder die Tempel der Verbotenen Stadt stets im Schatten der großen Steinbauten der Architekturge-schichte. Erstmals – zumindest be-hauptet dies der Verlag – hat nun Will Pryce eine umfassende Geschichte der Holzarchitektur in aller Welt ver-fasst. Sein Buch ist in mehrerer Hin-sicht außergewöhnlich: Pryce ist nicht nur Architekt und ausgewie-sener Kenner des historischen und aktuellen Holzbaus, sondern auch ein begnadeter Fotograf. ‚Die Kunst der Holzarchitektur‘ stammt vom Titel-bild bis zur letzten Fußnote aus einer Hand, und man kommt nicht umhin, dieser Einzelleistung Respekt zu zollen. Insbesondere die Fotos, die selbst im doppelseitigen Format von 30x48 Zentimetern kaum an Bril-lanz und Schärfe verlieren, machen das Buch zu einem Lesevergnügen. Mit Ausnahme von Afrika und Süd-amerika hat Pryce alle Weltregionen bereist, um Holzbauwerke zu foto-grafi eren. Einen Anspruch auf Voll-ständigkeit stellt er mit seinem Buch indessen nicht, wie er gleich im Vor-wort schreibt. Statt chronologisch oder typologisch vorzugehen, nähert

Page 72: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

1 Much Untertrifaller2 Chris Leung3 Piergiorgio Robino

1 MUCH UNTERTRIFALLER

1 2 3

70 D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03

EMPFIEHLT

Richard Serra – Dirk’s PodSteidl VerlagISBN 3-86521-089-9

Dirk’s Pod, eine der größten Dauer-installationen des amerikanischen Bildhauers Rirchard Serra, wurde im Mai 2004 auf dem Campus der Novartis AG in Basel errichtet. Zur Enthüllung dieser Großskulptur ist im Göttinger Steidl Verlag ein 128 Seiten starkes Begleitbuch erschie-nen. Es enthält neben Textbeiträgen von Daniel Vasella, Silke von Bers-wordt-Wallrabe und Richard Serra selbst zahlreiche Fotografi en von Nic Tenwiggenhorn sowie von Dirk Rein-artz. Der 2004 verstorbene Reinartz, ein langjähriger Freund und Wegge-fährte Serras, hat den langwierigen Herstellungsprozess der zehn Stelen festgehalten, die Fotos der Endmon-tage und der fertigen Skulptur stam-men von Nic Tenwiggenhorn.

Cruelty and Utopia Cities and Landscapes of Latin AmericaJean Francois Lejeune (Hrsg.)Princeton Architetural PressISBN 1-56898-489-8

Diese Sammlung illustrierter Essays beschreibt die Geschichte jener ,ande-ren‘ amerikanischen Metropolen wie Buenos Aires oder Mexico City. Aus-gewiesene Kenner, unter ihnen Carlos Fuentes, stellen die einzelnen Städte vor; sie beschreiben die Entwicklung der Armengebiete ebenso wie die Mei-sterwerke lateinamerikanischer Ar-chitekten von Luis Barragàn bis Lina Bo Bardi. Begleitet werden die Texte durch Abbildungen, die die Realität Lateinamerikas meist künstlerisch interpretieren. Ebenfalls abgedruckt ist eine überarbeitete Übersetzung der ,Leyes de las Indias‘ von 1573, die zahlreiche Maßgaben zum Städtebau enthielten und daher die Form der spa-nischen Kolonialstädte entscheidend beeinfl ussten.

Carlo MollinoArchitecture as AutobiographyThames & HudsonISBN 0-500-28583-7

Carlo Mollino (1905 – 1973, Turin) war einer der originellsten und zu-gleich rätselhaftesten Architekten und Künstler des 20. Jahrhunderts. Seiner nonkonformistischen Hal-tung wegen wurde er von den Kriti-kern zumeist geschmäht. In seinem Werk, das Gebäude, Innenräume und Möbel, aber auch Fotografi en, Schriftstücke und Bühnenbilder um-fasst, vereinte er Einfl usse des Fu-turismus und des Surrealismus. Die bei Thames & Hudson erschienene Monografi e hat sich auf die Innen-einrichtungen und Möbelentwürfe Mollinos konzentriert: 80 Meister-stücke seiner oftmals eher Skulp-turen gleichenden Meisterwerke werden hier durch selten veröff ent-lichte Dokumente und Fotos doku-mentiert.

Su Mangiarotti – architettura design sculturaAbitare Segesta ISBN 88-86116-45-4

Der 1921 in Mailand geborene Archi-tekt Angelo Mangiarotti zählt zu den wichtigsten Protagonisten der ita-lienischen Architekturszene. Doch der in der Reihe ,SU‘ erschiene Band verzichtet darauf, ein Gesamtwerk des viel geachteten Architekten und Stadtplaners wiederzugeben. 40 teilweise unbekannte Arbeiten aus Architektur, Design und Skulptur werden in historischem wie aktuellen Bildern, Plänen, Skizzen und Texten präsentiert. 70 Prozent dieses Mate-rials blieb bis dato unveröff entlicht. Ein weiterer Anreiz für den Leser bie-tet der dem Buch beigelegte Aufsatz über die ‚Konstruktiven Systeme in der Architektur‘. Mangiarotti selbst hat ihn grafi sch gestaltet.

BÜCHEREMPFEHLUNGENArchitekten empfehlen ihre Lieblingsbücher in D&A.

Page 73: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

2

3

CHRIS LEUNG

PIERGIORGIO ROBINO

71

EMPFIEHLT

Architecture in the Digital Age: Design and Manufacturing Hugh Leach, Branko KolarevicSpon Press (UK)ISBN 0-4152-7820-1

Das 320 Seiten starke Buch bietet einen umfassenden Einblick in den Status Quo der digitalen Architektur

– und spannt dabei den Bogen von den Ursprüngen bis zur gegenwärtigen Situation: Wo werden computerge-stützte Mittel in der Architektur ein-gesetzt und welchen Einfl uss haben sie? Wie können sie zukünftig sinn-voll verwendet werden? Chris Leung:

„… Die Verfügbarkeit von CAM (Com-puter Aider Software) und kleinfor-matigen CNC-Werkzeugen hat die Kluft zwischen Nachdenken über einem Entwurf und dessen Umset-zung geschlossen. Das Buch hebt die Erwartungshaltung mit Berich-ten über Einzelpersonen und Büros, die auf innovative Weise mit diesen Werkzeugen arbeiten.“

Dynamische TageslichtarchitekturHelmut KösterBirkhäuserISBN 3-7643-6729-6

‚Dynamische Tageslichtarchitektur‘ wendet sich an Architekten, Licht-planer, Baumphysiker und Klimain-genieure. Denn Helmut Köster geht es um ein nur gemeinsam erreich-bares Ziel: die sinnvolle Integration von Tageslicht und Solarenergie im Gebäude. Chris Leung: „ Jahrelang habe ich nach einem solchen Buch gesucht, das eine sorgfältige tech-nische Beschreibung des Tages- und Sonnenlichts bietet. [...] Jedesmal, wenn man denkt, dass der Autor seine Argumentation zu Ende ge-führt hat, entdeckt man einen neuen Blickwinkel auf die Frage, wie sich Räume effi zient und natürlich aus jener kostenlosen Quelle beleuch-ten lassen, die uns die Natur zur Ver-fügung stellt: der Sonne.“

Technologie des ökologischen BauensKlaus DanielsBirkhäuserISBN 3-7643-6131-X

Auf 302 Seiten fi nden sich in dem auf Deutsch und Englisch erschienen Buch ‚Grundlagen und Maßnahmen, Beispiele und Ideen‘ (so der Klap-pentext) zum Thema Ökologisches Bauen. Chris Leung: „Als wir am Wettbewerb um die Aga Khan-Uni-versität teilnahmen, war dieses Buch für uns eine wichtige Ideenquelle zum ökologischen Bauen. Seitdem haben seine wunderschön präsen-tierten und klaren Diagramme uns zu vielen Diskussionen um die Po-tenziale umweltfreundlicher Tech-nologien und Szenarien angeregt. Das Buch war und ist in unserem Büro ein Brückenschlag, um mit auf-geklärten Ingenieuren ins Gespräch zu kommen.“

EMPFIEHLT

MVRDV: KM3Excursions on CapacityActarISBN 8495951851

1998 machten MVRDV mit dem Mega-Wälzer FARMAX auf sich aufmerksam. Nun legen die Archi-tektur-Avantgardisten mit “KM3” einen zweiten, 1200 Seiten starken Band vor. Thema des Buchs ist die Neuerfi ndung der europäischen Stadt – vorexerziert am Beispiel je dreier Entwürfe für Amsterdam und Rotterdam. Wie in vielen ihrer bishe-rigen Entwürfe gehen MVRDV dabei von einer unkonventionellern Stape-lung von (Stadt-)Landschaften aus, die den Flächenverbrauch in den eng besiedelten Niederlanden ein-dämmen soll.

Zaha Hadid: ArchitectureHatje CantzISBN 3-7757-1364-6

Das Buch entstand 2003 anlässlich einer Zaha-Hadid-Ausstellung im Wiener Museum für Angewandte Kunst. Unter den zahlreichen der-zeit erhältlichen Hadid-Büchern war es das erste, das (so der Verlag) ‚die neuesten Projekte der Künstlerin‘ dokumentiert. Gezeigt werden unter anderem der Rosenthal Center for Contemporary Art in Cincinnati, die Nationalbibliothek in Montréal und die Bühnenbilder für die Welttour-nee der Pet Shop Boys 2000. Meh-rere, bislang meist unveröff entlichte, Malereien und Grafi ken der Londo-ner Architektin runden den Band ab.

The Snow ShowLance Fung (Hrsg.)Thames & HudsonISBN 0500238197

Zum zweiten Mal begeisterte wäh-rend der Olympischen Winterspiele 2006 die ‚Snow Show‘ Touristen aus aller Welt. Sie ist der Folge-Event der ersten ‚Snow Show‘ 2004 in Lapp-land, die Lance Fung in seinem Buch vorstellt. Die 17 Kunstwerke, an denen je ein Architekt und ein Künst-ler gemeinsam arbeiteten, werden in mehr als 250 Fotos , zahlreichen Zeichnungen und in von den Entwer-fern verfassten Projekttexten doku-mentiert. Zu sehen ist dabei nicht nur das Endergebnis, sondern auch die teils komplizierte Entstehungsge-schichte der vergänglichen Kunst-werke.

Computer-Aided Manufacturein Architecture – The Pursuit of NoveltyNick CallicottArchitectural PressISBN 0-7506-4647-0

Unvoreingenommen und leicht ver-ständlich, doch um so detaillierter führt Nick Callicott die Leser seines Buchs in die Geheimnisse des Compu-ter Aided Manufacturing und seiner Anwendungen in der Architektur ein. Chris Leung: „Dies ist eines meiner Lieblingsbücher, nicht zuletzt deswe-gen, weil es mich in viele der Rapid-Prototyping Techniken eingeführt hat, die Designern zur Verfügung stehen, und ich deswegen immer ver-trauter damit werde. Wichtiger noch für mich ist jedoch die Art des Ein-satzes dieser Mittel, die dieses Buch vertritt.“

ArchilabRadical Experiments in Global ArchitectureFrédéric MigayrouThames & HudsonISBN 0500283125

Frédéric Migayrou, Direktor der Ar-chitekturabteilug des Centre Pom-pidou, stellt in diesem Buch 60 der innovativsten jungen Architektur-büros der Welt vor. Ihre Antworten auf die Fragen, wie wir morgen und übermorgen wohnen und arbeiten werden, überraschen immer wie-der aufs Neue. Detaillierte Büropro-fi le, mehr als 2000 Abbildungen und Texte führender Architekturhistori-ker und –kritiker machen den 528 Seiten starken Band zu einer reich-haltigen Inspirationsquelle in Sachen Architekturentwurf und –visualisie-rung.

Page 74: DAYLIGHT & SOMMER 2006 AUSGABE 03 ARCHITECTURE …/media/marketing/at/dokumente/pdf/daylight and... · 1 Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht

D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03

DAYLIGHT & ARCHITECTUREAUSGABE 04HERBST 2006

LICHT Dichroic Light Field, New York, USA – von James Carpenter

PH

OT

O V

ON

DA

VID

SU

ND

BE

RG

, ES

TO

A72