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Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 186 Der Begriff der Anerkennung und seine politische Bedeutung Versuch einer theoretischen Ausdifferenzierung Von Martin Correll Duncker & Humblot · Berlin

Der Begriff der Anerkennung und seine politische Bedeutung ... · Duncker & Humblot · Berlin Der Begriff der Anerkennung und ... die im Kampf um Leben, Tod und Unterwerfung der gegenseitigen

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Beiträge zur Politischen Wissenschaft

Band 186

Der Begriff der Anerkennung und seine politische Bedeutung

Versuch einer theoretischen Ausdifferenzierung

Von

Martin Correll

Duncker & Humblot · Berlin

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MARTIN CORRELL

Der Begriff der Anerkennung und seine politische Bedeutung

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Beiträge zur Politischen Wissenschaft

Band 186

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Duncker & Humblot · Berlin

Der Begriff der Anerkennung und seine politische Bedeutung

Versuch einer theoretischen Ausdifferenzierung

Von

Martin Correll

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Alle Rechte vorbehalten

© 2016 Duncker & Humblot GmbH, BerlinSatz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde

Druck: buchbücher.de gmbh, BirkachPrinted in Germany

ISSN 0582-0421ISBN 978-3-428-14818-9 (Print)

ISBN 978-3-428-54818-7 (E-Book)ISBN 978-3-428-84818-8 (Print & E-Book)

Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papierentsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Die Philosophische Fakultät und Fachbereich Theologieder Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat diese Arbeit

im Jahre 2014 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation inder Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Inhaltsverzeichnis

A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

B. Liberalismus in der Kritik – Theorien der Anerkennung . . . . . . . . . . . . 15I . Das liberale Narrativ in der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15II . Grundzüge der Anerkennungstheorie – Axel Honneth . . . . . . . . . . . . . . 20

1 . Anerkennung nach Hegel und Mead . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 . Drei Anerkennungsformen: Liebe, Recht, Solidarität . . . . . . . . . . . . . 223 . Persönliche und politische Folgen von mangelnder Anerkennung . . 284 . Fazit und Kritik: Der Kampf um Anerkennung als Prinzip mora­

lischen Fortschritts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32III . Multikulturalistische Ansätze – Charles Taylor und Will Kymlicka . . . 35

1 . Multikulturalismus im nordamerikanischen Kontext . . . . . . . . . . . . . 352 . Charles Taylors Politik der Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 . Will Kymlickas Multikulturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 . Fazit und Kritik: Die Fixierung auf rechtliche Anerkennung . . . . . . 47

IV . Die Politik der Differenz – Iris Marion Young . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 . Kritik am Liberalismus – Verteilung versus Anerkennung . . . . . . . . 502 . Die Unterdrückung von sozialen Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 . Die Politik der Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564 . Fazit und Kritik: Gruppen oder Individuen? Rechte oder Anerken­

nung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59V . Zwischenfazit: Die Ambivalenz der Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

C. Der Begriff der Anerkennung im politischen Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65I . Methodische Vorüberlegung: Begriffsanalyse nach Giovanni Sartori . . 65

1 . Die Komplexität der Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 652 . Die Willkür der Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673 . Wörter als Erfahrungsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

II . Der Begriff der Anerkennung und seine Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . 711 . Analytische Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 712 . Der Begriff der Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

a) Ein kurzer (ideen­)geschichtlicher Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . 75b) Rechtsgültigkeit und Ablehnungskomponente . . . . . . . . . . . . . . . . 77c) Objekte der Toleranz und Machtbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . 79d) Der Versuch der Verbindung von Toleranz und Anerkennung . . 82

3 . Der Begriff des Respekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86a) Ideengeschichtlicher Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

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6 Inhaltsverzeichnis

b) Respekt als universelle Moralnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88c) Respekt als bi­personale Struktur der Anerkennung . . . . . . . . . . . 89

4 . Der Begriff der Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91a) Lexikalische und etymologische Annäherung an den Begriff . . . 91b) Fundamentalität und Reziprozität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93c) Affirmation und Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96d) Der Versuch einer positiven Bestimmung von Anerkennung . . . . 97

III . Die politischen Dimensionen der Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 991 . Drei Anerkennungsgegenstände – Personenstatus, Identität, Leistung 99

a) Die Anerkennung als Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101b) Die Anerkennung als Identitätsträgerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107c) Die Anerkennung als Erbringer von Leistungen . . . . . . . . . . . . . . 116

2 . Drei Anerkennungsquellen – Staat, Gesellschaft, Mitbürgerinnen . . . 122a) Staatlich gewährte Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123b) Gesellschaftliche Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130c) Bürgerschaftliche Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

3 . Anerkennungsmittel – Rechte, Verteilung, Wertschätzung . . . . . . . . . 143a) Rechte als „Währung“ der Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144b) Güterverteilung als Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152c) Soziale Wertschätzung als symbolische Anerkennung . . . . . . . . . 158

IV . Fazit: Anerkennung in freiheitlichen Demokratien . . . . . . . . . . . . . . . . . 1661 . Eine idealtypische Schematisierung der politischen Dimensionen

von Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1662 . Die Schematisierung als Hilfsmittel der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . 1663 . Die Möglichkeit multidimensionaler Kompensation . . . . . . . . . . . . . 169

D. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182

Sach- und Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

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A. Einleitung

„Da die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet […] verkündet die Generalversammlung die vorliegende ‚Allgemeine Erklärung der Menschenrechte‘ […] .“1 Mit diesen Worten beginnt das glo­bale Gründungsdokument der Nachkriegswelt, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 . Der Begriff „Anerkennung“ steht dabei nicht nur ganz am Anfang, sondern wird zudem mit den philosophisch, ideenge­schichtlich und realhistorisch äußerst wirkmächtigen Konzepten der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens verknüpft und im Verbund mit den Gegenständen der Anerkennung – Würde und Rechte – als deren Grundlage bezeichnet . Der Akt der Anerkennung scheint also in diesem umfassenden politischen Kontext von höchster Relevanz zu sein . Dennoch bleibt unklar, was dies eigentlich bedeutet . Wer wird anerkannt? Menschen, Personen oder ideelle Konstrukte? Wer erkennt an? Die Generalversammlung, alle Men­schen oder die jeweiligen Unterzeichnerstaaten? Und womit wird anerkannt? Durch die Erklärung selbst, durch garantierte Rechtssicherheit oder durch guten Willen? All diese Fragen lösen sich auch dann nicht auf, wenn man den Blick auf den Alltagsgebrauch des Begriffes lenkt . Oft wird „Anerken­nung“ im Zusammenhang mit dem Lob oder der Wertschätzung besonderer Leistungen verwendet . Doch dies kann im obigen Fall gerade nicht die passende Bedeutung sein, da die Menschenrechte allen Menschen unabhän­gig von deren Verhalten zukommen sollen . Häufig wird außerdem die Wendung „einen Staat anerkennen“ im Bereich der Internationalen Bezie­hungen gebraucht . Hier scheint der Terminus zunächst auf die bloße Exis­tenz eines territorial begrenzten und politisch organisierten Gebildes zu re­ferieren, ohne damit normative Annahmen zu machen . Bei genauerer Be­trachtung steckt jedoch bereits mehr dahinter: Die Anerkennung eines Staates generiert bereits bestimmte Verpflichtungen, die sich über die Berei­che des internationalen Rechts und des Völkerrechts erstrecken und somit allgemein akzeptierten Normen genügen müssen .

1 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, abrufbar unter www .un .org/depts/german/grunddok/ar217a3 .html, Stand: 28 .02 .2014 [Hervorhebung durch den Verfasser] .

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8 A . Einleitung

Schon diese kleine Auswahl an Beispielen illustriert die Schwierigkeiten, die sich hinter der Verwendung des Begriffs der Anerkennung verbergen . Dies wird insbesondere dann problematisch, wenn man erkennt, dass nicht nur die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, sondern auch eine Viel­zahl von anderen, komplexen politischen Phänomenen in ihrer theoretischen Evaluation vom Begriff der Anerkennung abhängen . Will man diese also wissenschaftlich anhand des Anerkennungsbegriffs in ihrer politischen Be­deutung erfassen und auf ihren normativen Gehalt hin analysieren, reicht die vage Zuschreibung bestimmter inhaltlicher Elemente nicht aus; vielmehr wird eine möglichst exakte Annäherung nötig .

Wer sich jedoch mit dem philosophischen Begriff der Anerkennung be­schäftigt, benötigt nicht nur theoretische Ausdauer, sondern auch die Fä­higkeit, sich von keiner Seite vereinnahmen zu lassen . Denn genau wie viele andere prägende Konzepte der westlichen Ideengeschichte ist der Terminus sowohl von einer Vielzahl von Ambivalenzen, als auch gleich­zeitig von der engen Verknüpfung mit einer ganz bestimmten philosophi­schen Richtung geprägt . Trotz der inhärenten Definitions­ und Konkretisie­rungsschwierigkeiten wird er zumeist in eine geistige Tradition gestellt, die für sich theoretisch­logische Kohärenz beansprucht . Dies lässt sich mindes­tens bis zu einer der prägenden Figuren des deutschen Idealismus, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, zurückverfolgen . Anhand von Anerkennungs­strukturen versuchte dieser, die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft zu erklären . Im Zentrum steht dabei der intersubjektive Kampf um Aner­kennung, bei dem sich das freie Subjekt jedoch erst dialogisch konstituiert . Als berühmt gewordene Analogie lässt Hegel Herrn und Knecht auftreten, die im Kampf um Leben, Tod und Unterwerfung der gegenseitigen Abhän­gigkeit gewahr werden und in einer konstanten dialektischen Dynamik zur Freiheit finden .2 Auch Hegels Zeitgenosse Johann Gottlieb Fichte beschäf­tigte sich intensiv mit dem Begriff der Anerkennung, wenn auch vor allem auf Rechtsverhältnisse beschränkt . Die wechselseitige Akzeptanz der Frei­heit des Anderen verwandelt demnach die Protagonisten in Rechtssubjekte, deren soziale Existenz und Selbstbewusstsein voneinander abhängig sind .3 Diese – vor allem hegelianische – Tradition wieder aufnehmend, machte sich Anfang der 1990er Jahre der Frankfurter Philosoph Axel Honneth ei­nen Namen, als er das Kampfmotiv aufgriff und als Bewegungsprinzip des sozialen und moralischen Fortschritts moderner Gesellschaften beschrieb . Dabei übernahm er Hegels Differenzierung der drei Anerkennungssphä­

2 Vgl . Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, Werke 3, Frankfurt a . M . 1986, S . 145–155 .

3 Vgl . Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre, Jena/Leipzig 1796, in: Ders .: Werke 1794–1796, hrsg . von Rein­hard Lauth und Hans Jacob, Bd . 3, Stuttgart/Bad Cannstatt 1966, S . 352–360 .

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A . Einleitung 9

ren – Liebe, Recht, Solidarität – und versuchte daran zu zeigen, wie das eigene Selbstverhältnis existenziell von der Anerkennung anderer abhängt .4 Im Anschluss daran ergab sich eine bemerkenswerte Verfeinerung der aka­demischen anerkennungsorientierten Überlegungen, die bis heute anhält . Gemeinsam ist den vielfältigen Auseinandersetzungen mit dem Anerken­nungsbegriff jedoch Folgendes: Immer verstehen sich die Verfechter dieser Art, gesellschaftliche Strukturen zu denken, als Gegenpole zu der in ver­schiedenen Spielarten vermeintlich vorherrschenden politisch­philosophi­schen Richtung des Liberalismus . Bereits Hegel sah sein System als Ge­genentwurf zu liberalen Vertragstheorien, wie sie beispielsweise von John Locke oder Immanuel Kant formuliert wurden . Gegen die Idee, ein isolier­tes, atomistisches Subjekt in einen hypothetischen Naturzustand zu verset­zen, um die Notwendigkeit einer Gesellschaftsbildung zu begründen, stell­te er eine zwar weiterhin abstrakte Situation der wechselseitigen Anerken­nung, die jedoch einen wesentlich plausibleren Ausgangspunkt in der Ent­wicklung politischer Ordnungen darstellen sollte . Auch Honneth ist der Meinung, mit dem anerkennungsbasierten Modell, das bei ihm und ande­ren immer auch in Opposition zu dem von John Rawls entwickelten poli­tischen Liberalismus5 steht, nicht nur die Entstehungs­ und Funktionswei­se, sondern auch die Pathologien und Ungerechtigkeiten moderner Gesell­schaften besser erklären zu können .

In der vorliegenden Arbeit soll jedoch weder die eine, noch die andere Strömung als grundlegende Orientierungshilfe dienen . Vielmehr ist hier das Ziel, den Begriff der Anerkennung theoretisch in all seinen politischen Di­mensionen zu erfassen, zu problematisieren und auszudifferenzieren . Denn angesichts der relativ starken Lagerbildung ist es erstaunlich, dass der Ter­minus sich in höchst unterschiedlichen Verwendungen im Umlauf befindet . Unklar ist beispielsweise häufig, welchen phänomenologischen Status Aner­kennung besitzt . Handelt es sich um eine basale Struktur menschlicher Beziehungen, wie in der hegelianischen Tradition betont? Oder steht der Begriff zunächst einmal für ein epistemologisches Konzept, das sich auf das „Für­wahr­halten“ eines Sachverhaltes bezieht? Meist wird der Anerkennung jedoch auch eine moralische Komponente zugeschrieben – entweder in Appell­ oder in Postulatsform – und somit als Bestandteil einer philosophi­schen Ethik betrachtet, die auch politische Relevanz entfalten kann .6 Des Weiteren scheint kaum zwischen unterschiedlichen Quellen, Adressaten und

4 Vgl . Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung . Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a . M . 1994 .

5 Vgl . Rawls, John: A Theory of Justice, Harvard 1971 und Ders .: Political Libe­ralism, New York 1993 .

6 Vgl . dazu beispielsweise Schmetkamp, Susanne: Respekt und Anerkennung, Paderborn 2012, S . 111–114 .

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10 A . Einleitung

Mitteln der Anerkennung differenziert zu werden . Gerade in einem politisch so wirkmächtigen Strang der akademischen Anerkennungstheorie wie dem Multikulturalismus wird zumeist ohne explizite Begründung von einer ein­seitigen, durch staatliche Organe verteilten und per Rechtstransfer verwirk­lichten Wertschätzung der kulturellen Besonderheiten von Individuen und Gruppen ausgegangen . In dieser Arbeit soll jedoch gezeigt werden, dass sich Anerkennungsbeziehungen durchaus mehrdimensional über verschiede­ne Ebenen der politischen Praxis erstrecken und somit auch mit erweitertem Fokus analysiert werden müssen .

Die vorliegende Arbeit widmet sich also der Aufgabe, den Begriff der Anerkennung theoretisch zu analysieren und dessen politisch­philosophische Grundbedeutung sowie seine relevanten politischen Dimensionen innerhalb eines Gemeinwesens herauszuarbeiten . Methodisch wird dabei auf verschie­dene Instrumente zurückgegriffen, die geeignet sind, einen ambivalenten Begriff einzugrenzen . Zunächst wird eine detaillierte Auseinandersetzung mit prominenten Vertreter_innen7 der Anerkennungstheorie den diskursiven Rahmen abstecken, in dem die akademische Anwendung des Terminus zu­meist stattfindet . Diese Analyse soll zudem erste Ergebnisse hinsichtlich der mangelhaften Ausdifferenzierung des Konzepts im Bereich des Politischen generieren . Die ausgewählten Theoretiker_innen – Axel Honneth, Charles Taylor, Will Kymlicka und Iris Marion Young – werden also zum einen als standortbestimmende Fixpunkte vorgestellt, die den weiteren Verlauf der Arbeit begleiten, zum anderen aber auch einer kritischen Überprüfung un­terzogen, um so die begriffslogischen Lücken ihrer Überlegungen offenzu­legen . Auf die Diagnose der theoretischen Unterbestimmtheit folgt dann der erste Versuch, den Begriff zu definieren und damit nutzbar für die weitere Analyse zu machen . In Anlehnung an die Ausführungen von Giovanni Sar­tori wird hier zunächst mit der Methode gearbeitet, den Begriff mit anderen, verwandten Begriffen zu vergleichen und voneinander abzugrenzen . Nach dieser Definition ex negativo kann – gestützt durch die einschlägige Litera­tur – ein Vorschlag zur positiven Bedeutungszuschreibung des Ausdrucks unterbreitet werden . Diese, noch auf einer grundlegenden philosophischen Ebene operierende Ausführung stellt jedoch nur die notwendige Vorarbeit für die ebenso wichtige Ausdifferenzierung des Begriffs in seiner politi­schen Bedeutung dar . Wie zu zeigen sein wird, bewirkt gerade die in der bisherigen Debatte mangelhafte Unterscheidung der politischen Dimensio­nen von Anerkennung häufig Verwirrung hinsichtlich normativer Bewer­

7 Im Folgenden werden Nennungen, die explizit mehrgeschlechtlich angelegt sind, durch diese Schreibweise repräsentiert . Bei allgemeinen Bezeichnungen wer­den die maskulinen und femininen Endungen in loser Folge abgewechselt, um so für beide Verwendungen deutlich zu machen, dass alle Geschlechter gemeint sind .

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A . Einleitung 11

tungskriterien . Denn wenn man die anerkennungsrelevanten Protagonisten sowie deren Mittel und Ausdrucksweise genauer und trennschärfer differen­ziert, lassen sich Gerechtigkeitsdefizite einer politischen Ordnung exakter lokalisieren und dadurch womöglich auch angemessen kritisieren .

Die These, für die in dieser Arbeit argumentiert werden soll, besteht aus vier Teilen . Zuerst soll in der Beschäftigung mit den verschiedenen Aner­kennungstheorien gezeigt werden, dass die Orientierung an diesem Konzept durchaus dazu geeignet sein kann, gerechtigkeitsrelevante Strukturen und Prozesse in freiheitlich­demokratischen Gesellschaften zu verstehen und normativ zu bewerten . Viele, auch konventionell mit anderen Begriffen verbundene, politikphilosophische Problemstellungen können in der Sprache der Anerkennung ausgedrückt und analysiert werden . Trotz der grundsätz­lichen Eignung des Begriffes, leidet seine Anwendbarkeit jedoch zweitens massiv unter seiner theoretischen Unterbestimmung im akademischen Dis­kurs . Besonders die politische Ausgestaltung wird dabei vernachlässigt, was zu normativen Unklarheiten sowohl theoretischer als auch praktischer Art führt . Daraus folgt drittens, dass nicht nur der Versuch, eine generelle Be­deutungsebene herauszuarbeiten, als angebracht erscheint, sondern auch die genuin politischen Dimensionen und Wirksamkeiten des Anerkennungsbe­griffs einer Ausdifferenzierung bedürfen . Dies soll vor allem anhand der Identifikation der relevanten Quellen, Adressaten und Mittel von Anerken­nung bewerkstelligt und durch konkrete Beispiele der politischen Praxis il­lustriert werden . Gelingt dieser Schritt auf plausible Art und Weise, kristal­lisiert sich eine vierte und abschließende These heraus, die sich dann mit guten Gründen rechtfertigen lässt: In der theoretischen Darstellung der po­litischen Dimensionen des Anerkennungsbegriffs reift die Erkenntnis, dass sich die verengten Sichtweisen der zuvor analysierten Theorien als nur be­dingt fähig erweisen, gerechtigkeitsrelevante Anerkennungslücken auszu­machen, sie ihren Verursachern zuzuordnen und konstruktive Maßnahmen dagegen vorzuschlagen . Vielmehr ist eine zwar anerkennungsorientierte, aber übergreifende Perspektive nötig, um einerseits normative Kritik ange­messen fundieren zu können und andererseits die Möglichkeiten multidi­mensionaler Kompensationen in den Blick zu bekommen .

Um dies angemessen begründen zu können, ist die vorliegende Arbeit folgendermaßen strukturiert: Im ersten Kapitel stehen die verschiedenen Spielarten der Anerkennungstheorie und deren Abgrenzung zu paradigmati­schen liberalen Positionen im Vordergrund . Da gerade die zeitgenössischen Autor_innen ihre anerkennungsbezogenen Theorien zumeist vor dem Hin­tergrund und in Abgrenzung zu liberalen Denkmustern entwickeln, erscheint es angebracht, diese wirkmächtige Strömung zumindest als grob skizzierten Gegenentwurf ständig im Blick zu haben . Die Hauptziele des Kapitels sind jedoch, die Ambivalenzen und undeutlichen Verwendungen des Begriffs

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12 A . Einleitung

herauszustellen sowie die Eindimensionalität der zu untersuchenden Pers­pektiven hinsichtlich der Anerkennungsbeziehungen in freiheitlichen politi­schen Ordnungen zu erkennen . Der erste Abschnitt des Kapitels setzt sich mit den Überlegungen von Axel Honneth auseinander, der eine detaillierte theoretische Analyse des Begriffs unternimmt . Mit der Einteilung in die drei Anerkennungssphären „Liebe“, „Recht“ und „Solidarität“, die stark an He­gel angelehnt ist, erhebt Honneth den Anspruch, die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit sozialphilosophisch erfassen und ein Bewegungsprinzip der Geschichte identifizieren zu können . Im zweiten Abschnitt soll anhand der Konzeptionen von Charles Taylor und Will Kymlicka der Multikulturalis­mus als philosophische Konkretisierung des Anerkennungsbegriffs betrach­tet werden . Hier steht besonders die Frage im Mittelpunkt, wie mit kultu­reller Differenz in pluralistischen Gemeinwesen umgegangen werden kann und sollte . Beide Denker verorten politische Anerkennung im einseitigen Verhältnis vom Staat zu seinen Bürgern und können aufgrund dieser Einsei­tigkeit als Ausgangspunkt für eine vertiefende Ausdifferenzierung der poli­tischen Dimensionen des Anerkennungsbegriffs genommen werden . Im dritten Abschnitt steht die politische Philosophie von Iris Marion Young, die unter dem selbst gewählten Schlagwort „Politik der Differenz“ bekannt geworden ist, im Mittelpunkt . Mit Young, die gewissermaßen die multi­kulturalistische Position auf viele verschiedene soziale Gruppen innerhalb einer politischen Gemeinschaft ausdehnt, kann zunächst gezeigt werden, dass grundsätzlich legitime Anerkennungsforderungen innerhalb einer frei­heitlichen Ordnung in potenziell unlösbare Spannungsverhältnisse mit libe­ralen Prinzipien treten können . Außerdem behandelt auch Young, die eigent­lich die ihrer Ansicht nach problematische liberale Staats­ und Distributions­fixierung ablehnt, Anerkennungsstrukturen in erster Linie als einseitige Verteilungsmechanismen hin zu den unterdrückten Gruppen .

Im zweiten Kapitel soll der Begriff der Anerkennung von Grund auf be­stimmt und in seine politischen Dimensionen ausdifferenziert werden . Im ersten Abschnitt wird angelehnt an Giovanni Sartori zunächst die methodi­sche Basis der folgenden Begriffsarbeit vorgestellt . Mit Sartori soll gezeigt werden, dass trotz der weit verbreiteten Ansicht, die Begriffsbestimmung sei jeweils eine willkürliche, diskursabhängige Praxis, durchaus Definitions­möglichkeiten bestehen, die einem Begriff anhand verschiedener Kriterien plausibel substanzielles Gehalt verleihen können . Im zweiten Abschnitt soll dies zunächst anhand einer Annäherung durch Abgrenzung versucht werden . Durch den Vergleich des Anerkennungsbegriffs mit zwei anderen, verwand­ten und in der Debatte häufig verwendeten Begriffen – Toleranz und Res­pekt – können bestimmte Merkmale herausgefiltert werden und in eine positive Definition von Anerkennung münden . Diese Vorarbeit bildet dann die Basis für die im dritten Abschnitt unternommene Ausdifferenzierung der

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A . Einleitung 13

verschiedenen politischen Dimensionen des Anerkennungsbegriffs . Die Un­tersuchung, die der vielfältigen akademischen Beschäftigung mit dem The­ma Rechnung trägt, orientiert sich hierbei an drei Unterscheidungskriterien, die besonders relevant für die Einteilung sind: Zunächst werden die mögli­chen Adressaten politischer Anerkennung sowie deren dafür relevanten Ei­genschaften identifiziert . Daraufhin stehen die möglichen Anerkennungs­quellen im Vordergrund, bevor schließlich die Mittel und Ausdrucksweisen von Anerkennung analysiert werden . Dabei wird kein Anspruch auf Voll­ständigkeit erhoben, die Darstellung soll vielmehr als Vorschlag der mögli­chen Ausdifferenzierung betrachtet werden . Zudem beinhaltet sie bereits einerseits die kritische Auseinandersetzung mit entstehenden Spannungsver­hältnissen und versucht andererseits, die gewonnenen theoretischen Er­kenntnisse durch konkrete Praxisbeispiele illustrierend zu begleiten . Diese Erkenntnisse sind es auch, die zu der oben bereits kurz erläuterten und im vierten Abschnitt des Kapitels genauer ausformulierten These führen . Mit Hilfe der vorherigen Untersuchung wird zunächst eine Matrix erstellt, die dem Facettenreichtum der politischen Bedeutung des Anerkennungsbegriffs gerecht werden kann . Daraufhin soll gezeigt werden, dass eine zwar aner­kennungsorientierte, aber multidimensionale Perspektive auf die Gerechtig­keitsdefizite einer freiheitlich­demokratischen Ordnung sowohl für die nor­mative Kritik, als auch für deren Umsetzung in praktische Maßnahmen ein vielversprechendes theoretisches Instrument darstellt .

Ein Hinweis erscheint noch angebracht: Zwei Voraussetzungen oder Prä­missen werden in der folgenden Untersuchung ständig mitschwingen, aber nicht im vollen Maße expliziert werden . Zum ersten wird angenommen, dass sich erst im Spannungsverhältnis mit und der vermeintlichen Opposi­tion zu liberalen Politikentwürfen die volle Relevanz der Anerkennungs­theorien entfaltet . Die Ablehnung von liberalen Vorstellungen wie etwa dem methodischen Individualismus, der Neutralität des Staates oder der Fixie­rung auf gleiche Rechte ungeachtet von Differenz ziehen sich wie ein roter Faden durch die verschiedenen Ansätze . Und auch die Versuche, anerken­nungsorientierte Konzepte mit liberalen Denkmustern zu verknüpfen, zeu­gen offensichtlich nur von der Tatsache, dass der Liberalismus in dieser Debatte eine ständige Präsenz zu haben scheint, sei es als Anfangspunkt der Kritik oder als ergänzungswürdige, aber grundsätzlich plausible Theorie . Dennoch soll hier nicht versucht werden, eine kohärente Version dieses Liberalismus zu entwerfen, gegen die dann eine begriffliche Analyse von Anerkennung womöglich gerichtet sein kann . Denn selbstverständlich kann zum einen diese eine, in sich geschlossene Version gar nicht existieren, während zum anderen ein solches Vorgehen auch strukturell nicht sinnvoll wäre . Vielmehr werden in der Arbeit analog zum häufigen Aufscheinen li­beraler Motive im Anerkennungsdiskurs die relevanten Elemente liberaler

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14 A . Einleitung

Theoriebildung in den einzelnen Teilen behandelt, wodurch Spannungen genauso wie Gemeinsamkeiten sichtbarer werden können .

Zum zweiten wird hier die Ansicht vertreten, dass bei der Beschäftigung mit Anerkennung als moralisch­politischem Begriff die Rückbindung zu übergeordneten Gerechtigkeitskonzeptionen nicht verhindern werden kann und soll . Nahezu alle anerkennungsbezogenen Theorien treffen Aussagen über die normativen Erfordernisse im Umgang mit anderen Menschen, er­örtern, was in der politischen und rechtlichen Inhaltsbestimmung geboten ist und kritisieren unangemessene Maßnahmen mit wertbezogenen Kriterien . Alle beziehen sich also auf einen Gerechtigkeitsstandard; dessen Explikati­on wird jedoch nicht immer unternommen . Dennoch ist davon auszugehen, dass zumeist Prinzipien affirmiert werden, die etwa die Autonomie der Einzelnen, die Freiheit vor willkürlichen Eingriffen seitens des Staates oder Privatpersonen sowie die Gleichheit vor dem Gesetz miteinschließen . Deren Ausgestaltung und Gewichtung scheint hingegen der wesentliche Gegen­stand der Debatten zu sein . Demensprechend soll hier über diese vage Be­schreibung nicht hinausgegangen werden, sondern ähnlich zum Liberalismus der Begriff der Gerechtigkeit in den einzelnen Abschnitten der Untersuchung stets als relevante Hintergrundfolie präsent sein, nicht jedoch in all seinen Facetten und Ambivalenzen ausgestaltet werden . Dies wäre die Aufgabe für eine andere Arbeit .

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B. Liberalismus in der Kritik – Theorien der Anerkennung

I. Das liberale Narrativ in der Kritik

Beschäftigt man sich mit der Geschichte des Liberalismus im 20 . und 21 . Jahrhundert, so lautet ein gängiges Narrativ meist folgendermaßen: Nach den grauenvollen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs entstand in den Nachkriegsjahren ein einzigartiger Konsens sowohl innerhalb des po­litischen Bereichs als auch in der akademischen Welt der westlichen Län­der . Unter Berufung auf die aufklärerischen Ideale der Gleichheit und Frei­heit setzte sich politisch die Auffassung durch, Nationalstaaten müssten als Kombination liberaler Prinzipien mit demokratischer Volkssouveränität or­ganisiert sein, um dem Individuum den bestmöglichen Schutz vor staatli­cher Willkür zu bieten . Menschenrechte, Würde und Autonomie wurden zu Schlagwörtern, die nicht nur theoretische Debatten bestimmten, sondern auch Eingang in einschlägige Texte des positiven Rechts fanden .1 Glei­chermaßen einigten sich Staatsrechtler, politische Philosophen und Theore­tiker auf den Vorrang liberal­demokratischer Grundsätze und begannen, diese in ihren Details auszubuchstabieren . Diese Einigkeit begann zum ersten Mal mit dem Aufkommen verschiedener emanzipatorischer Bewe­gungen zu bröckeln, darunter die Bürgerrechtsbewegung in den USA, der Feminismus oder die Anti­Kolonialbewegungen der bis dahin fremdbe­herrschten Staaten der damals sogenannten „Dritten Welt“ . Die Vorwürfe dieser Gruppen schienen sich jedoch erledigt zu haben, als um 1990 mit dem Zusammenbruch der meisten sozialistisch organisierten Staaten die Geschichte den liberal orientierten, westlichen Demokratien vermeintlich Recht gab . Die Ernüchterung folgte jedoch bald darauf, als sich weder eine signifikante Konfliktreduktion im Weltgeschehen abzeichnete, noch die vielfältigen Probleme innerhalb der liberalen Demokratien einer Lö­sung zugeführt werden konnten . Die Zäsur durch die Terroranschläge des 11 . September 2001, die wachsende Globalisierung sowohl der Finanz­ als auch der Kommunikationswege und nicht zuletzt globale Bedrohungen wie der Klimawandel verstärkten die Desillusionierung nur noch . Nichtsdesto­trotz wird die auf Nationalstaaten beschränkte liberaldemokratische Ord­

1 Erwähnt seien hier nur die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, Präambel sowie Art . 1 und das deutsche Grundgesetz von 1949, Art . 1, Abs . 1 .

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nung von vielen weiterhin grundsätzlich befürwortet, da die gangbaren Alternativen knapp bemessen sind und somit Ausbau und Ergänzung des liberalen Paradigmas als einzige Möglichkeit angesehen werden, auf die vielfältigen Herausforderungen einer radikal pluralistischen Welt angemes­sen reagieren zu können .

Nun muss dieses Narrativ – wie wohl jede Geschichte, die Kontinuität verspricht – mit der gebotenen Vorsicht behandelt werden . Eine zweite Version klingt weitaus skeptischer, was den Siegeszug der liberalen Idee betrifft: Politisch war der Liberalismus kaum jemals allgemein akzeptiert, weder in der Zeit vor den beiden Weltkriegen, noch danach . Eine Reihe von konkurrierenden Staatsmodellen – darunter sozialistische, sozialdemo­kratische oder national­konservative Vorstellungen – prägten bis heute den innerstaatlichen Diskurs der westlichen Demokratien, was nicht nur an der unterschiedlichen Ausrichtung der relevanten Parteien, sondern auch an den gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Diskussionen beinahe aller eu­ropäischen Demokratien deutlich abgelesen werden kann . Von einem ein­helligen Bekenntnis zur liberalen Demokratie zu sprechen wäre deswegen unangemessen . Noch wichtiger für den Kontext dieser Arbeit ist jedoch die Situation in der Welt der philosophischen und theoretischen Evaluation verschiedener politischer Ordnungsentwürfe . Auch hier herrschte und herrscht eine bemerkenswerte Vielfalt an Überzeugungen . So lassen sich bereits im Vergleich der Denker, die gemeinhin als Wegbereiter des Libe­ralismus bezeichnet werden, wie Thomas Hobbes, John Locke, Jean­Jacques Rousseau, Immanuel Kant oder John Stuart Mill solch deutliche Unter­schiede in Konzeption und Zielsetzung feststellen, dass von einer kohären­ten Idee des Liberalismus nicht die Rede sein kann . Die Gegenüberstellung von liberalem Minimalstaat und republikanischer Gemeinschaft sowie von Rechtsstaat und radikaler Demokratie entwickelte sich in dieser Zeit und ist bis heute präsent . Gleichzeitig entstand vor allem in Abgrenzung zu Kant und den Vertragstheoretikern eine Denkart, die entgegen künstlicher kontraktualistischer Vorstellungen der Staatsbildung das Modell der organi­schen Evolution des modernen Staates aufgrund gesellschaftsinhärenter Wirkungen favorisierte . Auch dieser Bereich der politischen Philosophie, dem beispielsweise Georg Wilhelm Friedrich Hegel zugeordnet werden kann, übt bis heute einen nicht unwesentlichen Einfluss auf das politische Denken der westlichen Welt aus .

Noch kleinteiliger wurde diese bereits beträchtliche Ausdifferenzierung nach 1945 . Mit der Kritischen Theorie, dem aufkommenden Feminismus, dem Kommunitarismus oder der postmodernen Haltung allgemein entstan­den Denkbewegungen, die dem liberalen Paradigma grundsätzlich skeptisch gegenüberstehen . Erst John Rawls gelang es mit der Publikation seines Buches A Theory of Justice im Jahr 1971, den Liberalismus wieder auf die

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Tagesordnung zu setzen, was eine breite Debatte hervorrief .2 Mit der Wei­terentwicklung seines Konzepts zum Political Liberalism in der gleichnami­gen Veröffentlichung von 1993 setzte Rawls einen erneuten Meilenstein der liberalen Theorie, der die akademische Diskussion für einige Zeit bestimm­te .3 Doch auch hier ließen die kritischen Repliken nicht lange auf sich warten und angesichts der heutigen Herausforderungen und der häufig konstatierten Unfähigkeit des liberalen Paradigmas, mit diesen angemessen umgehen zu können, scheint es fast so, als wäre die liberale Idee aus der Mode gekommen . Seyla Benhabib konstatierte deswegen im Jahr 1992, dass „[…] der akademische Diskurs der letzten Jahrzehnte, allen voran die soge­nannte Postmoderne, ein geistiges Klima [schuf], das die moralischen und politischen Ideale der Moderne, der Aufklärung und der liberalen Demokra­tie grundsätzlich in Frage stellt .“4

Trotz dieser vielleicht realistischeren Lesart der Entwicklung liberaler Ideen muss konstatiert werden, dass bestimmte Grundprinzipien die Jahr­hunderte überdauert haben und heute aus der politischen Philosophie nicht mehr wegzudenken sind . Niemand stellt ernsthaft das Recht des Individu­ums auf Freiheit und Selbstbestimmung in Frage, genauso wenig wie Rechtsstaatlichkeit oder das Konzept der Menschenwürde grundsätzlich abgelehnt werden . Dennoch steht das liberale Paradigma seit geraumer Zeit sowohl politisch als auch akademisch in der Kritik . Besonders hervorgetan hat sich dabei eine Strömung, die hier zusammenfassend mit der Umschrei­bung „Politik der Anerkennung“ (im englischsprachigen Raum politics of recognition) bezeichnet werden soll . Zwar wurde diese Wendung selbst erst in der 90er Jahren des letzten Jahrhunderts geprägt, ihre Wurzeln, die sich auf Forderungen marginalisierter Gruppen nach Anerkennung und Inklusion gründen, lassen sich jedoch bereits in den bürgerrechtlichen, feministischen und kommunitaristischen Bewegungen der 60er Jahre erkennen .

2 Für einen kurzen Überblick vgl . Arnesen, Richard J .: Justice after Rawls, in: Goodin, Robert E . (Hrsg .): The Oxford Handbook of Political Science, Oxford 2011, S . 111–126 .

3 Vgl . Rawls 1971 und 1993 . Vgl . zu liberalen Ansätzen mit etwas anderer Ge­wichtung etwa Dworkin, Ronald: Sovereign Virtue . The Theory and Practice of Equality, Cambridge/New York 2000 oder Ackerman, Bruce A .: Social Justice in the Liberal State, New Haven 1980 . Für eine knappe Zusammenfassung dieser Strömun­gen sowie der politischen Situation in den USA der zweiten Hälfte des 20 . Jahrhun­derts vgl . Brocker, Manfred: Weltanschauliche Differenz oder das Ende der Zivilge­sellschaft? Der „Culture War“ in den USA, in: Kruip, Gerhard/Vögele, Wolfgang (Hrsg .): Schatten der Differenz . Das Paradigma der Anerkennung und die Realität gesellschaftlicher Konflikte, Hamburg 2006, S . 275–299 .

4 Benhabib, Seyla: Selbst im Kontext . Kommunikative Ethik im Spannungsfeld von Feminismus, Kommunitarismus und Postmoderne, Frankfurt a . M . 1995, S . 8 .