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Der Gesang der Stille

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Nr. 1935

Der Gesang der Stille

Ein Unsterblicher und einKybernetiker - auf der Welt der

Pyramiden

von Andreas Eschbach

Seit das Heliotische Bollwerk im Solsystem sabotiert wurde, leben Menschen vonder Erde in bislang fremden Galaxien. Zu ihnen gehören jene 200.000 Terraner, diemit einem Teil von Terrania-Süd verschwanden und nun in der fremden Whirl-pool-Galaxis auf sich allein gestellt sind.Glücklicherweise konnten erste Schwierigkei-ten schnell beseitigt werden. Der Kontakt zu den Thorrimern, auf deren Planeten dieTerraner leben, gestaltete sich als sehr angenehm. Handelskontakte konnten ge-knüpft werden, der Ausbau zur selbständigen Nation Alashan schritt rasch voran. So-gar erste Versuche von Fremden, die kleine Kolonie auszuplündern, konnten im bis-herigen Verlauf des Jahres 1290 Neuer Galaktischer Zeitrechnung abgewehrt wer-den.

Mittlerweile ist Perry Rhodan zur Nation Alashan gestoßen. Der unsterbliche Terra-ner, der unlängst zum Sechsten Boten von Thoregon ernannt wurde, ist auf der Spurvon Shabazza, dem mysteriösen Gegner der Menschheit. Zugleich muß Rhodan eineSpur der SOL finden - sein uraltes Raumschiff war zuletzt für Shabazza unterwegs.

Aus diesem Grund dringt der Terraner mit einigen Begleitern in ein wichtiges Zen-trum der Galaxis DaGlausch ein, in den Ring von Zophengorn. Hier, so vermutet mannicht zu Unrecht, müssen wichtige Hinweise zu finden sein.

Doch recht schnell kommt es im Zophengorn-Satelliten zu Verwicklungen.Rhodans Team sieht sich immer wieder in Bedrängnis und muß zuletzt fliehen. Im-merhin gelingt es, wertvolle Informationen zu sichern.

In der Folge gehen Reginald Bull und ein Kybernetiker in den Einsatz - auf die bei-den Menschen wartet DER GESANG DER STILLE …

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Die Hautpersonen des Romans:Reginald Bull - Der unsterbliche Terraner erforscht die Geheimnisse des Planeten Lokyrd.Skill Morgenstern - Der Kybernetiker wagt einen unerhörten Schritt.

1.

Es wird still in mir. Das Echo meiner Ge-danken wird leiser, Jahr um Jahr, Tag umTag. Die Wogen meiner Gefühle glättensich, Jahr um Jahr, Tag um Tag. Erinnerun-gen verschwinden. Wünsche werden un-wichtig. Zuneigung erlischt.

Es wird still in mir. Ich habe Angst.Und selbst diese Angst wird immer stiller.

*

Er würde mit blauen Flecken zurückkom-men, das stand fest. Mit blauen Flecken undeinem heillos verspannten Rücken. Sie wa-ren noch keine Stunde unterwegs, und erspürte das verlängerte Ende seines Rückensbereits nicht mehr.

Reginald Bull sah die filigranen Instru-mente vor sich an, als hätten sie ihm etwasgetan.

Er hatte die Steuerung der winzigen For-schungskapsel übernommen, mit der sie denVersuch wagen wollten, unbemerkt auf demPlaneten Lokyrd zu landen. Von den weni-gen Beibooten, die auf der GLIMMER zurVerfügung standen, war die Kapsel daskleinste Raumfahrzeug gewesen: eine flie-gende Kopfschmerztablette, wie Bull sie ti-tuliert hatte, knapp zehn Meter lang, flach-gedrückte sieben Meter breit und kaum dreiMeter hoch. Und das Innere war alles andereals geräumig, nicht einmal nach den Begrif-fen ihres Besitzers, des Bebenforschers Eis-mer Störmengord, der von seinem rothaari-gen Scheitel bis zu seinen breiten Füßen ge-rade mal hundertfünfunddreißig Zentimetermaß.

Entsprechend schmal gebaut war der Pilo-tensitz. Bull hatte im Grunde keinen Platzfür seine Beine, mußte den Kopf einziehen,um überhaupt hinaussehen zu können, und

aufpassen, nicht mit den Schultern irgend-welche Schalter zu betätigen, wenn er sichbewegte.

Er warf einen vorsichtigen Blick nachhinten. Genau wie in der Zentrale derGLIMMER gab es auch hier nur einen einzi-gen Sessel. Skill Morgenstern, der Kyberne-tikspezialist und TLD-Agent, hatte es sichhalbwegs in einer Vertiefung bequem ge-macht, aus der sie vor dem Start ein volumi-nöses, aber überflüssiges Meßgerät ausge-baut hatten. Der dunkelhaarige, magereMann ließ die wenigen Ortungsinstrumente,die noch funktionierten, keine Sekunde ausden Augen.

Antriebslos trieben sie auf Lokyrd zu. Deretwa merkurgroße Planet wurde langsamgrößer, hing wie eine mattsilberne Murmelvor dem samtschwarzen Hintergrund desWeltraums. Man konnte sich einbilden,hauchfeine Risse zu sehen, die die Oberflä-che überzogen, oder ein Gesprengsel kreis-runder, pockennarbiger Flecken. Einladendsah der Planet, auf dem sich angeblich einStützpunkt der geheimnisvollen Korrago be-finden sollte, jedenfalls nicht aus.

»Schon irgend etwas auszumachen?«fragte Bull halblaut.

»Nein«, erwiderte Skill knapp. Der Ky-bernetiker war nicht gerade eine Plauderta-sche, soviel hatte Reginald Bull schon mit-bekommen.

Die hyperdimensionalen Störungen, dievon der Sonne Lokyrds ausgingen, überla-gerten alle weitreichenden Ortungen.

Diese Galaxis meinte es ohnehin nicht gutmit den Anwendern hyperdimensionalerTechnik, aber die auf den ersten Blick so un-scheinbare gelbe Sonne Poroniu setzte nocheines obendrauf: In ihrem Umkreis wurdenalle im Hyperspektrum arbeitenden Gerätepraktisch taub und blind.

Daraus folgerte zweierlei: Erstens - fallses auf Lokyrd tatsächlich einen Stützpunkt

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der Korrago geben sollte, diente dieser si-cherlich nicht irgendeiner wie auch immergearteten Beobachtungstätigkeit. Was dieFrage aufwarf, wozu er dann gut sein moch-te. Zweitens - wenn überhaupt, dann hattensie hier die Chance, sich einem solchenStützpunkt unbemerkt zu nähern.

Und genau das hatten Reginald Bull undSkill Morgenstern vor.

»Na ja«, meinte Bull. »Solange wir sienicht orten, orten sie uns jedenfalls auchnicht.«

Ihr Kurs zielte seit dem Ende der Be-schleunigungsphase genau auf den Rand derPlanetenscheibe. Der Gebrauch von Orternwar eine Sache, der Einsatz des Triebwerksdagegen eine ganz andere. Das unbewehrteAuge bemerkte naturgemäß von dem kolos-salen hyperfrequenten Störfeuer Poroniusnicht das geringste. Aber es bedurfte keiner-lei hyperdimensionaler Geräte, um ein Ob-jekt als gelenktes Raumfahrzeug zu identifi-zieren, das Flugbewegungen ausführte, ver-zögerte oder die Flugbahn änderte. Dazubrauchte man lediglich einen aufmerksamenBeobachter, der mit einem leidlich guten Te-leskop ausgestattet war. An beidem, dessenwaren sich die beiden Terraner sicher,herrschte auf Lokyrd kein Mangel, solltendie Korrago dort wirklich einen Stützpunktunterhalten.

Also würden sie bis zum letztmöglichenZeitpunkt wie ein durchschnittlicher Astero-id aussehen, wie ein kosmisches Trümmer-stück, das aus unbekannten Tiefen kam, umauf einem unbelebten Planeten einzuschla-gen. Ein alltäglicher, unverdächtiger Vorfall.

Das hieß warten. Warten und sich blaueFlecken holen.

*

»Reginald?« fragte Skill Morgenstern ir-gendwann in das Schweigen hinein, mit demsie das allmähliche Anwachsen der stählernschimmernden Oberfläche Lokyrds verfolgthatten.

Reginald Bull seufzte. »Nenn mich bitte

Bully wie jeder andere auch, okay? Der letz-te Mensch, der Reginald zu mir gesagt hat,war meine Mutter.«

»Okay. Bully.« Der schlanke Kyberneti-ker sprach den Namen aus, als müsse er ihnüben.

»Was gibt es?«»Darf ich dich etwas fragen?«Bull grinste flüchtig. »Du tust es bereits.«»Etwas Persönliches, meine ich.«»Nur zu.« Reginald Bull hatte sich schon

gefragt, wann er damit anfangen würde.Ein junger Mann, allein mit einem der

Unsterblichen, mit einer lebenden Legende -er wäre nicht gesund gewesen, wenn er nichtirgendwann eine Frage gestellt hätte, die un-gefähr mit den Worten anfing: Wie war daseigentlich damals, als …?

Und das war dann für gewöhnlich dieAufforderung, aus einer der ewig lange zu-rückliegenden Epochen der menschlichenGeschichte zu erzählen, die den heute Le-benden ungefähr so archaisch und nebelhafterscheinen mußte, wie es für Bull in seinerJugend die Zeit der Römer gewesen war:Wie war es, einem Meister der Insel gegen-überzutreten? Hat der Schwarm wirklich dieganze Milchstraße verdummt? Stimmt es,daß Terra einmal gegen die Blues Krieg ge-führt hat? Manche waren erstaunt zu hören,daß Crest und Thora wirklich gelebt hatten,und viele wußten nicht, daß die beiden Ar-koniden gewesen waren.

»Warum«, fragte Skill Morgenstern, »tutjemand wie du so etwas wie das hier?«

Bull drehte sich verblüfft zu dem Kyber-netiker um, streifte dabei mit der Schultereinen Schalter, worauf ein gelbes Licht hek-tisch zu blinken begann, bis Bull den Schal-ter wieder in die ursprüngliche Position zu-rückdrückte. »Wie bitte? Warum tut jemandwie ich - was?«

»Solche Einsätze fliegen. Sich in Gefahrbegeben.«

Das war nicht unbedingt die Art Frage,die Bull erwartet hatte. »Irgend jemand mußes tun, oder? Und ich habe nun mal ziemlichviel Erfahrung in solchen Dingen.« Das

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klang schal, Bull spürte es selbst.»Du bist unsterblich. Und du hast schon

so viel für die Menschheit geleistet. Dukönntest dich aus allem zurückziehen und inaller Ruhe das schönste Leben führen.«

Reginald Bull sah den jungenTLD-Agenten an, dem man nachsagte, erhabe sich in Alashan sehr intensiv mit demWesen der Korrago beschäftigt. Jetzt geradesahen ihn die dunklen, großen Augen an, alshabe er den Unsterblichen zu seinem näch-sten Studienobjekt gewählt.

»O nein«, sagte Bull und schüttelte ent-schieden den Kopf. »Nein, da irrst du dich.Genau das könnte ich nicht.«

*

Danach schwiegen sie wieder und beob-achteten Lokyrd. Die Stunden vergingen.

Nach und nach erwachten die Instrumenteder Planetenbeobachtung zum Leben. Je nä-her sie kamen, desto mehr Einzelheiten wur-den erkennbar. Die langgezogenen Risse,die Bull anfangs zu sehen geglaubt hatte,waren Einbildungen gewesen, hervorgerufendurch unregelmäßig über die bleiern schim-mernde Oberfläche verteilte, annäherndkreisrunde Flecken.

Die Albedo, die sie in der Fernoptik gese-hen hatten, war dagegen keine Einbildunggewesen: Lokyrd besaß tatsächlich eine At-mosphäre. Das war erstaunlich, denn ob-wohl der etwa merkurgroße Planet eine au-ßergewöhnlich hohe Dichte aufwies, war erdoch zu klein, um eine Atmosphäre auf Dau-er halten zu können. Selbst wenn sich imLauf seiner Entstehung eine Atmosphäre ge-bildet haben sollte, hätte sie sich schon vorJahrmillionen verflüchtigen müssen.

»Etwa halbe Erdschwerkraft«, erklärteSkill. »Dünne Sauerstoffatmosphäre. Atem-bar, wenn auch mit Mühe.« Ihm schien die-ser Sachverhalt nicht soviel Kopfzerbrechenzu bereiten wie Bull.

Bull legte die Hände an die fremdartig ge-formte Steuerung. Es wurde allmählich Zeit,den Sturzflug zu beenden. Er überflog noch

einmal die Anzeigen und die Reihen vonSchaltflächen, die er sich von Störmengordhatte erklären lassen. Der Bebenforscherhatte darauf bestanden, daß alle Steuerungs-instrumente mit terranischen Beschriftungenversehen wurden. Das Argument, daß Regi-nald Bull in seinem langen Leben schonmehr fremde Raumschiffe geflogen hatte,als Eismer Störmengord Haare auf seinemKopf besaß, hatte den Bebenforscher nichtüberzeugt.

»Sonst irgendwelche Ortungen?« fragteBull und spürte, wie seine innere Anspan-nung stieg.

Die GLIMMER flog in diesem Momentin Richtung Sonne und tat alles, um den Ein-druck zu erwecken, daß hier lediglich einBebenforscher seiner Arbeit nachging. Siewaren auf sich allein gestellt.

»Nichts«, kam es von hinten.War am Ende alles nur fauler Zauber?

War die Information, daß Lokyrd - ausge-rechnet dieser unwirtliche, unbedeutendePlanet - einen Stützpunkt der Korrago beher-bergte, falsch?

Die Flugbahn war gut berechnet. DieSchwerkraft Lokyrds würde die Forschungs-kapsel einfangen und anderthalbmal rundum den Planeten führen, ehe sie auf derOberfläche aufschlug. Irgendwann währenddieser Umkreisungen würden sie die Trieb-werke in Betrieb nehmen müssen, um denAbsturz zu verhindern. Die Positronik zeigtedie voraussichtliche und die geplante Flug-bahn an, beide waren deckungsgleich.

»Immer noch nichts?«»Immer noch nichts.«Reginald Bull kaute grimmig auf seiner

Unterlippe herum. Wenn sich herausstellensollte, daß er sich seine blauen Flecken aufdieser Zumutung von einem Pilotensitz ganzumsonst geholt hatte, dann …

»Da!« rief Skill Morgenstern.Er schwieg wieder. Irgendwo gab ein Ge-

rät tickende Geräusche von sich. Lokyrd warjetzt groß und grauweiß unter ihnen, und au-ßen an der Hülle hörte man die ersten Parti-kel der obersten Luftschichten ihr feines, sir-

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rendes Lied singen.»Wir spielen hier kein Ratespiel«, erin-

nerte Bull ungeduldig.»Entschuldigung. Ich messe eine Energie-

konzentration mit hyperspektralen Anteilen,die eigentlich nur von hochentwickeltentechnischen Anlagen stammen kann.«

»Darf man«, bohrte Reginald Bull weiter,»auch erfahren, wo?«

»Wir müßten den Punkt gleich überflie-gen.«

»Oh!« machte Bull unbehaglich.»Großartig.«

»Nein, wir überfliegen ihn nicht exakt«,korrigierte sich Skill Morgenstern. »Etwavierhundert Kilometer Abweichung. Ich ver-suche eine Aufnahme mit der Fernoptik zumachen.«

Rechts und links hinter den Wänden, diedas sargähnliche Innere der Kabine ein-schlossen, tickten hörbar irgendwelche Ge-räte. Das Pfeifen der Atmosphäre wurde lau-ter. Nicht mehr lange, und sie würden ent-weder die Schutzschirme einschalten oderdie Triebwerke zünden müssen oder beides.

Die Sekunden ließen sich Zeit mit demVerstreichen. Bull spähte aus dem Sichtfen-ster, verfolgte die unter ihnen vorbeistrei-chende Planetenoberfläche auf dem Bild-schirm. Nichts war zu sehen, jedenfalls nichtmit bloßem Auge.

Geduld! mahnte er sich und mußte unwill-kürlich lächeln. Geduld hatte noch nie zuseinen Stärken gehört. Ab einem gewissenAlter ändert man sich einfach nicht mehr,dachte er belustigt.

»Wann genau ist gleich?« erkundigte ersich schließlich.

Skill gab nur ein unbestimmtes Geräuschvon sich, das von höchster Konzentrationkündete, legte dann lautstark ein paar Schal-ter um, die das Ticken hinter den Wändenzum Verstummen brachten, und verkündete:»Ich habe es.«

Er gab eine Aufnahme auf den großenSchirm nach vorn und kam dann hinter BullsSitz gerutscht, um ihm über die Schulter zuschauen. »Das muß der Stützpunkt sein«, er-

klärte er.Bull betrachtete das Bild, mit einem Auge

immer wieder argwöhnisch auf die Anzeigeder Hüllenaußentemperatur spähend, auf dereine Markierungslinie bedenklich rasch indie Höhe kletterte. »Und?« fragte er. »Wassehe ich jetzt da?«

Skill streckte den Arm aus, der zwarreichlich mager war, aber eigentlich immernoch zuviel Platz in der beengten Umgebungdes Pilotensitzes in Anspruch nahm, undfuhr die kaum sichtbaren Konturen auf demBildschirm nach.

»Das ist eine Ebene, ungefähr sechzig Ki-lometer im Durchmesser, umgeben von ei-nem flachen Ringwall. Der dunkle Fleck inder Mitte ist die Quelle der Hyperfrequen-zen. Hohe Leistungen, hohe Aktivität.«

»Moment mal.« Bull musterte den Ring-wall, eine dünne dunkelgraue Linie vor ei-nem hellgrauen Hintergrund, und den düste-ren rechteckigen Umriß darin. »Das sindsechzig Kilometer? Dann muß der Stütz-punkt ja riesig sein.«

»Ja.«»Halleluja! Und was ist das?«»Scheint eine Art Landzunge zu sein, die

vom Ringwall in die Ebene hineinreicht bisdicht an das dunkle Gebiet.«

»Und diese dreieckigen Flecken? Sind dasGebäude?«

»Scheint so. Pyramidenartig, aber energe-tisch vollkommen tot.« Der junge Agent sahhoch und musterte die Kabinenwände. »Sagmal, ist das normal, daß es überall soknackt?«

»Ja, das ist normal«, antwortete ReginaldBull. »Raumschiffe, die ungeschützt mit ho-hen Geschwindigkeiten in planetare Atmo-sphären eindringen, knacken immer so, be-vor sie anfangen zu verglühen.«

2.

Es war still, und die Luft roch seltsam.Skill Morgenstern sog sie prüfend durch dieNase ein und versuchte herauszufinden, wo-nach. Abgestanden. Als beträte man nach

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Jahrtausenden als erster eine verschlosseneGrabkammer. Es roch abgestanden und stau-big.

Dabei war überhaupt kein Staub zu sehen.Er sah hinab und kratzte versuchsweise mitdem Fuß über den grauweißen, kahlen Bo-den, ohne eine Spur zu hinterlassen. Siestanden auf massivem Fels.

Die beiden Pyramiden, zu deren Füßen siegelandet waren, stellten natürlich die in je-der Hinsicht herausragendsten optischen Be-zugspunkte dar. Strahlend weiß und riesigerhoben sie sich vor einem Himmel von sotiefdunkelblauer Farbe, daß man unwillkür-lich an die Zeit vor der Morgendämmerungdenken mußte, an einem wolkenlosen Som-mertag auf der Erde. Über dem Horizontglommen sogar einige Sterne.

Doch die Sonne brannte grell und heißaus diesem Himmel auf sie herab - es lag ander Atmosphäre, die einfach zu dünn war,um mehr Farbe zu erzeugen. Der knappzweiunddreißigstündige Planetentag hatteschon vor einiger Zeit begonnen.

Der TLD-Agent hielt, während er sichumsah, die Hand unwillkürlich auf demGriff des Thermostrahlers. Dabei wußte ernur zu gut, wie wenig ihnen ihre Waffennützen würden, sollten die Korrago ihreLandung bemerkt haben.

Die Pyramiden erhoben sich am äußerstenEnde der länglichen Felsformation, die vondem die Ebene umspannenden Ringwall ausnach innen reichte. Zu ihren Füßen war dieLandzunge übersät mit etwas, das nur diezerfallenen Reste einer uralten Siedlung seinkonnten: eingesunkene, ausgebleichte Bo-denvertiefungen, Reihen umgestürzter, zer-brochener Steinplatten, Gräben, Löcher,Schutthaufen.

Eine verlassene, vergessene Stadt. Verlas-sen und zerfallen.

Bull hatte, als sie in den OrtungsschattenLokyrds eingetreten waren, Schutzschirmund Triebwerke ihres winzigen ellipsoidenFlugkörpers aktiviert und den Planeten nocheinmal umrundet, um sich dem Stützpunktder Korrago dicht über der Oberfläche flie-

gend und aus der Sichtdeckung der Pyrami-den her zu nähern. Der unsterbliche Terranerhatte das Schiff des Bebenforschers dabei sosouverän gesteuert, als habe er sein Lebenlang nichts anderes getan. Skills Aufgabewar gewesen, die Pyramiden und den Ring-wall ortungstechnisch im Visier zu behalten,für den Fall, daß es sich dabei wider Erwar-ten doch um Anlagen der Korrago handelnsollte.

Aber wie es aussah, war ihre Landung imSchatten der Pyramiden unbemerkt geblie-ben.

Skill sah zu dem flachgedrückten Ellipso-id hinüber. Reginald Bull kam eben aus derEinstiegsluke; er reckte und streckte sichwie ein Tourist, der nach einer langen Fahrtaus einem Besichtigungsgleiter steigt. Erwar mit dem ersten Landeplatz unzufriedengewesen und hatte die Forschungskapsel inMillimeterarbeit zwischen zwei Steinreihenmanövriert, wo sie gegen zufällige Ent-deckung geschützt sein würde.

»Ziemlich beeindruckend«, sagte Bull imNäherkommen und meinte damit die Pyra-miden. »Glaubst du, daß die Korrago sie ge-baut haben?«

»Nein.« Skill schüttelte den Kopf. Er warsich dessen ziemlich sicher, ohne daß er hät-te sagen können, warum.

Es …nun, es hätte einfach nicht gepaßt.»Ich auch nicht.« Bull stellte sich neben

ihn, stemmte die Hände in die Hüften undlegte den Kopf in den Nacken, um die Spitzeeiner der Pyramiden in Augenschein zu neh-men. »Wahrscheinlich die Hinterlassen-schaft irgendeiner Rasse, die vor den Korra-go auf Lokyrd gewesen ist und von der wirniemals Näheres erfahren werden. Wie sooft.« Er seufzte. »Wirklich riesig. Erinnernmich an die Pyramiden auf der Erde.«

»Die Pyramiden von Gizeh sind größer«,entfuhr es Skill unwillkürlich.

Der Unsterbliche blickte ihn überraschtan. »Das hört sich an, als würdest du dichauskennen.«

»Ich bin in der Region Ägypten geborenund sozusagen im Schatten der Großen Py-

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ramide aufgewachsen«, erklärte Skill Mor-genstern. »Ich lebe erst seit fünf Jahren inTerrania City.«

Da war ein deutliches, farbiges Bild inseiner Erinnerung, wie sie als Kinder an denLandeplätzen der Besichtigungsgleiter her-umlungerten, um nach Außerirdischen unterden Touristen Ausschau zu halten. Sie hat-ten fasziniert die eleganten, blaubepelztenTellerköpfe einer Reisegruppe von Blues be-staunt und waren entsetzt davongerannt, alsein großer Topsider auf sie zugetreten war,der ihnen eigentlich nur ein paar Süßigkeitenhatte schenken wollen. Im Schatten der Py-ramiden war das gewesen, ja, und es schienendlos lange herzusein.

»Als Kind«, hörte er sich hinzufügen,»dachte ich immer, wenn von dir oder PerryRhodan die Rede war, ihr wärt dabeigewe-sen, als die Pyramiden gebaut wurden.«

Reginald Bull sah ihn konsterniert an.»Um Himmels willen! Mach mich nicht äl-ter, als ich ohnehin schon …Die Pyramidenvon Gizeh? Die waren schon der Inbegriffvon Alter, als ich geboren wurde. AllenfallsAtlan könnte deren Bau miterlebt haben.« Erdachte einen Moment nach, rieb sich denNasenrücken mit Daumen und Zeigefinger.»Wenn ich mich nicht sehr irre, war er sogartatsächlich dabei.«

Das schien ihn richtiggehend zu beschäf-tigen, denn er sah eine Weile brütend von ei-ner der Pyramiden zur anderen.

Skill beobachtete ihn. Aus der Nähe be-trachtet wirkte Bull im Grunde wie ein ganznormaler Mensch. Wenn man dieses Ge-sicht, diese unverkennbaren roten Stoppel-haare nicht von unzähligen Bildern in Ge-schichtsbüchern, von alten Briefmarken oderTrivideos her gekannt hätte, man wäre nichtauf die Idee gekommen, einen Unsterblichenvor sich zu haben.

»Wie auch immer«, beendete Bull seineGrübelei schließlich. »Wir sollten uns hierein wenig umsehen, ehe wir uns um denStützpunkt der Korrago kümmern.« Er deu-tete auf ein niedriges Bauwerk in einigerEntfernung, das einzige Gebilde außer den

Pyramiden, das noch einigermaßen erhaltenzu sein schien. »Das sieht aus wie ein Tem-pel, oder?«

*

Vielleicht war es auch kein Tempel. Wäh-rend sie über geborstene Steinplatten, ab-schüssige Erdwälle und kleinbrockigenSchutt auf das Bauwerk zumarschierten,überlegte Bull, daß es einfach menschlicheVoreingenommenheit war, alles, was einschweres Dach auf einer Reihe von mächti-gen Säulen trug, für einen Tempel zu haltenoder für einen Palast. Das Gebilde dort vornkonnte alles mögliche sein.

Vor dem Bauwerk, das konnten sie sehen,als sie auf einige hundert Meter heran wa-ren, begann eine Art breiter Straße, die sichin einiger Entfernung zu einem richtigge-henden Hohlweg vertiefte und genau zwi-schen den beiden Pyramiden hindurch ver-lief wie eine majestätische Auffahrtsrampezum Wohnsitz eines mächtigen Herrschers.Als sie auf dieser Straße standen, stellten siefest, daß die Symmetrie noch weiter ging:Die Verlängerung dieser Rampe zielte genauauf die Mitte des weitläufigen Korra-go-Stützpunkts.

»Bist du sicher, daß diese Anlage hiernichts mit den Korrago zu tun hat?« wandteer sich an Skill.

Der junge Mann, der als Korrago-Expertegalt, blinzelte irritiert. Er reckte seinen ma-geren Hals und schaute sich noch einmalum.

»Das ist Zufall«, sagte er dann. »DerStützpunkt wurde einfach in der Mitte derEbene errichtet. Und diese Straße ist auchauf die Mitte ausgerichtet. Das muß nichtsbedeuten.«

Bull ließ sich das durch den Kopf gehen.»Na schön«, meinte er schließlich. »Schauenwir uns den Tempel an oder was immer dasist.«

Bei sich nannte er es immer noch denTempel. Das Dach darüber sah so aus, alswolle es zumindest in den nächsten fünfzehn

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Minuten nicht in sich zusammenbrechen,wenn auch manche der Säulen ringsherumsehr bedenkliche Sprünge aufwiesen odergar ganz umgestürzt waren. Eine flacheRampe führte zu dem Säulenumgang hinauf- keine Treppe, deren Stufenhöhe Rück-schlüsse erlaubt hätte auf die Anatomie ihrerErbauer. Ein halbrundes Portal bot Einlaß indas Innere des Baus, das in völliger Dunkel-heit lag.

Alles war still. Es war eine uralte Stille,die sie mit ihren scharrenden, hallendenSchritten störten, eine Stille, die sich dickund klebrig anfühlte und sich nicht vertrei-ben lassen wollte. Die Strahlkegel ihrerLampen tasteten über Wände und Säulen,warfen bizarre Schatten auf geheimnisvolleMuster.

Bull zählte zweimal nach. »Neun Ecken.Der Raum ist neuneckig. Bemerkenswert.«

In der Mitte des Raumes, auf dem Boden,lag eine schwarze, glatte Platte, nur wenigeZentimeter dick, aber an die zwanzig Meterim Durchmesser und kreisrund. Bull ging indie Hocke und wischte den Staub von derPlatte. Das Ding war kalt wie Marmor, abso-lut eben und so schwarz, als sauge es dasLicht ihrer Lampen in sich auf. Er beugtesich hinab und spähte schräg darüber, abersoweit er erkennen konnte, war die Oberflä-che völlig unbeschädigt.

Merkwürdig.»Hier ist eine Art Gemälde an der Wand«,

ließ sich Skill vernehmen. »Sieht fast auswie ein Schmetterling.«

»Ein Schmetterling?« Bull richtete sichauf und trat neben ihn. Ihre beiden Lampenstrahlten eine Wandmalerei an, die aus Tau-senden von Punkten etwas formte, das ent-fernt tatsächlich einem Schmetterling glich.An einer Stelle ungefähr im Schwerpunktwar ein in einen goldschimmernden Ringgefaßter, hellrot glänzender Stein in das Bildeingelassen.

»Ob das die Erbauer dieser Anlage sind?«fragte Skill beeindruckt.

»Hm«, machte Bull wenig überzeugt.»Ich kann mir irgendwie nicht vorstellen,

daß schmetterlingsähnliche Wesen derartviele und schwere Steine durch die Gegendwuchten.«

Er leuchtete die übrigen Wände ab. Vonden meisten war die oberste Schicht und da-mit auch das Gemälde, das einmal daraufgewesen sein mochte, im Lauf der Zeit her-abgefallen und lag als staubiger Haufen da-vor auf dem Boden. Es gab außer dieserWand nur noch zwei weitere, die einigerma-ßen gut erhalten waren.

Er ging zu einer davon und wischte behut-sam den Staub ab. Fünf kleine Kreise kamenzum Vorschein, die gleichmäßig um einengrößeren Kreis angeordnet waren. Einer derkleineren Kreise war ebenfalls mit einemeingefaßten Edelstein verziert.

»Wenn du mich fragst, sind das astrono-mische Darstellungen«, meinte Bull. »Dashier zeigt ein Planetensystem, in dem fünfPlaneten ihre Sonne auf derselben Umlauf-bahn umkreisen. So ähnlich wie das Ar-kon-System früher, vor der Vernichtung desKriegsplaneten. Und das da« - er zeigte aufdie Tafel, die Skill gefunden hatte - »könnteeine Galaxis sein oder ein Sternhaufen.«

»Eine Schmetterlingsgalaxis?« Skill über-legte. »Gibt es eine Galaxis, die so aussieht?Ich glaube nicht.«

»Zumindest kennen wir keine«, schränkteBull ein. »Aber das hat nicht viel zu bedeu-ten.«

»Na ja«, meinte Skill. »Ich weiß nicht …«»Mach mal Aufnahmen von beiden!« Bull

ging zur dritten Wandtafel. Sie lag auf deranderen Seite des Raumes, aber eine instink-tive Scheu ließ ihn um die schwarze Platteam Boden herumgehen, anstatt über sie zutreten.

»Donnerwetter!«, meinte er, als er denStaub von der guterhaltenen Oberfläche ent-fernt hatte. »Aber das hier kennen wir,oder?«

Es war eine echte Überraschung. Das Ge-mälde glich dem ersten, aber diesmal form-ten Abertausende von Punkten zwei Gebil-de, die die Konstellation der GalaxisDaGlausch und ihrer kleinen Schwestergala-

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xis Salmenghest darzustellen schienen, ein-schließlich des geheimnisvollen Gebieteszwischen ihnen, das man den Kessel nannte.

Und mitten im Kessel saß wieder ein inGold gefaßter Edelstein.

*

Skill starrte das Wandbildnis fasziniert an,und ein eigenartiger Schauder rann ihm überden Rücken. So also fühlte es sich an, wennman auf ein Geheimnis von kosmischen Di-mensionen stieß!

»Das heißt«, stieß er hervor, »das heißt, esgibt eine Beziehung zwischen dem Kesselvon DaGlausch und diesen …anderen Or-ten! Der Zwillingsgalaxis. Dem Sonnensy-stem, in dem fünf Planeten auf derselbenBahn kreisen.«

Er leuchtete umher. Sechs der neun Bilderwaren zerstört. Sie würden niemals erfahren,was sie gezeigt hatten.

Bull rieb sich das Kinn. »Ja, vielleicht.Aber ich würde mir nicht viel Hoffnung ma-chen, daß uns das im Moment weiterhilft.«

»Aber wir wissen, daß da irgend etwassein muß«, protestierte Skill. »Das Volk, dasdie Pyramiden und diese Stadt gebaut hat,muß etwas mit dem Kessel zu tun gehabt ha-ben. Und sie haben acht weitere Orte imUniversum gekannt, die damit verbundensind.«

Bull seufzte. »Nicht unbedingt. Bis jetzthaben wir nur ein Bild, das uns an die Zwil-lingsgalaxis erinnert. Merkwürdig genug.Aber der Rest kann pure Phantasie sein.«

»Das ist doch unwahrscheinlich.«»Das gibt es häufiger, als man denkt. Um

das Jahr dreitausend alter Zeitrechnung hatein Erkundungsschiff in der Eastside derMilchstraße einen Planeten entdeckt - She-ridans Stern, wenn ich mich recht erinnere -,auf dem Nachkommen menschlicher Siedlerauf einem völlig zurückentwickelten Niveaulebten. In der Hauptsiedlung gab es pracht-voll bemalte Tierhäute, die eine Vielzahlverschiedener Sonnensysteme zeigten, undzu jedem gab es überaus detaillierte Erzäh-

lungen, fast schon eine Mythologie. Eine derZeichnungen zeigte das Solsystem - alle üb-rigen waren reine Erfindung. Phantasiegebil-de, entstanden aus reiner Fabulierlust.«

Bull machte eine ausholende Geste.»So etwas Ähnliches könnte auch hier

passiert sein«, fügte er nachdenklich hinzu.»Eine einstmals hochstehende Kultur, dievon einem Kesselbeben in die Primitivitätzurückgeworfen wird. Ein paar Erinnerun-gen bleiben, werden von Generation zu Ge-neration weitergegeben. Der Rest wird, weilman das Bedürfnis hat, sich die Welt zu er-klären, dazugedichtet. Und irgendwann ster-ben sie aus und hinterlassen ein unlösbaresRätsel.«

Skill sah Bull enttäuscht an. Wollte derUnsterbliche dieses Geheimnis allen Ernstesso leichtfertig abtun?

»Und wenn es doch nicht so ist?« beharrteer. »Ich finde, diese Bilder sind es wert, ein-gehend untersucht zu werden.«

Bull nickte. »Klar sind sie das. Aber er-stens haben wir nicht die Mittel dazu - aufuns warten nämlich nicht die vollbemanntenLabors eines Flottenflaggschiffs, sondernnur ein Haufen ziemlich verzweifelter Aben-teurer, die an Bord eines kleinen For-schungsraumers zu Gast sind -, und zweitensgibt es da noch die Korrago. Und um diesollten wir uns jetzt vordringlich kümmern.«

*

Als Bull und Skill Morgenstern die andereSeite der Pyramiden erreichten, standen sieam oberen Ende einer jäh abfallenden Fels-wand. Unweit von ihnen brach die Rampe,die vor dem Tempel begann, ungefähr tau-send Meter über dem Boden abrupt ab. DieAussicht auf die Ebene war beeindruckend.

Sie bezogen in der Deckung eines niedri-gen Steinwalls Stellung und zogen ihreFerngläser hervor. Vor dem Abflug hattensie sich für die altertümlichen Geräte ent-schlossen, weil diese garantiert nicht energe-tisch zu orten waren.

»Die Korrago scheinen ziemlich viel für

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ihre einheitliche Bauform übrig zu haben«,meinte Bull und begann, an den Reglern fürdie einblendbaren Meßskalen zu drehen, diees erlaubten, Formationen aus der Ferne zuvermessen. »Oder es fällt ihnen einfachnichts anderes ein.«

Alle Korrago-Stützpunkte, die bisher ent-deckt worden waren, hatten eine einheitlicheArchitektur aufgewiesen. Sie waren 61 Me-ter lang und 29 Meter breit gewesen, durchWände von einem Meter Wandstärke in viergleich große, rechteckige Räume aufgeteilt.

Dieser Stützpunkt wies dieselben Propor-tionen auf - nur fünfhundertfach vergrößert.Vor ihnen erstreckte sich eine gewaltigerechteckige Ausschachtung, sechzehn Kilo-meter breit und dreißig Kilometer lang, inder sich ein Gewirr rußigschwarzer, düstererGebäude erhob wie eine aus höllischen Tie-fen an die Oberfläche reichende Stadt. DasAuge verlor sich in einem Labyrinth schwar-zer und grauer kantiger Quader, zwischendenen hier und da schmale Gassen rötlichaufglühten wie feurige Adern. An manchenStellen stieg träger Dampf auf, der den Win-den des Planeten zäh widerstand. Die Kreuz-form wurde gebildet durch zwei mächtige,etwa einen halben Kilometer breite Schnei-sen quer durch die finsteren Bauten und un-bekannten Maschinen, in denen riesige Zügeauf breiten Gleisen hin und her fuhren.

Am Kreuzungspunkt der beiden Schnei-sen schließlich erhob sich ein großes, kreis-rundes Bauwerk, über dem sich eine flache,von innen erleuchtete Kuppel spannte - un-verkennbar das Herz und Zentrum der gan-zen Anlage.

Bull setzte das Sichtgerät ab. Mit bloßemAuge sah die Kuppel inmitten der schwarzenund dunkelgrauen Gebäude aus wie ein kost-bar gefaßtes Juwel. »Ich möchte zu gernwissen, was das ist«, murmelte er.

Ein sanfter, kaum spürbarer Wind bliesvon der Ebene herauf. Es roch verbrannt,vermischt mit dem fauligen Gestank

von Schwefelwasserstoff. Sie hatten es of-fenbar mit einer Produktionsanlage der Kor-rago zu tun, und zwar einer, die

in vollem Betrieb war.»Irgendwelche Erkenntnisse?« Er sah zu

Skill hinüber, aber der Kybernetiker widme-te sich in höchster Konzentration seinemFunkempfänger und schien die Frage nichteinmal gehört zu haben.

Reginald Bull ließ noch einmal gedanken-verloren die Schultern kreisen. Die Verspan-nungen im Rücken waren kaum noch derRede wert, dafür spürte er den Zellaktiva-torchip in seiner Schulter pulsieren. Das Ge-rät - oder was immer es war - erhielt ihnnicht nur am Leben, sondern auch stets inbestmöglicher körperlicher Verfassung.

Seit etwas über hundert Jahren trugen erund die anderen Unsterblichen nun dieseChips im Körper. Keine lange Zeit, vergli-chen mit den zweieinhalbtausend Jahren, dieer den vorhergehenden Typ des Zellaktiva-tors besessen hatte - ein vergleichsweiseschweres, annähernd hühnereigroßes Gerät,das man an einer Kette um den Hals getra-gen hatte.

Natürlich, es hatte einen auf absolut uner-klärliche Weise jung, gesund und über allemenschlichen Maßstäbe hinaus am Lebenerhalten, deshalb wäre es unangebracht ge-wesen, sich zu beschweren.

Aber im Alltag war der alte Zellaktivatornun einmal denkbar unpraktisch gewesen.Unter der Kleidung hatte er aufgetragen,was manchmal geradezu lächerlich ausgese-hen hatte. Beim Duschen war er lästig gewe-sen. Und des Nachts pflegte das Ding sonst-wohin zu rutschen, bis man davon aufwach-te, daß einen die Kette am Hals würgte.

Die Angst, das Gerät zu verlieren, warman nie ganz losgeworden. Selbst heutenoch, über hundert Jahre nach der Implanta-tion, wachte er manchmal auf und griff sichin einem schlaftrunkenen Moment des Ent-setzens an die leere Brust, um erst einen Au-genblick später mit rasendem Herzen zu be-greifen, daß alles in Ordnung war.

»Sie haben einen unglaublich dichtenFunkverkehr im normalen Radiospektrum«,sagte Skill Morgenstern unvermittelt. »Unddie Signale laufen auf einen Kulminations-

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punkt zu. Als würde demnächst etwas sehrBedeutsames passieren.«

Bull hob die Augenbrauen. »Sagt das derTranslator?«

Skill hob die Augen von dem kleinenBildschirm seines Kommunikators, nahmden Ohrhörer ab und suchte blinzelnd denBlick Bulls. »Nein«, meinte er beinahe gei-stesabwesend. »Die Translatoreinheit istüberhaupt noch nicht angesprungen.«

»Und woher weißt du das dann?«»Hm.« Skill sah an sich hinab, als frage er

sich das auch. »Ich spüre es irgendwie. Ichsehe ein Muster in den Signalen, das mir et-was sagt. Verstehst du?«

»Offen gestanden, nein.«»Es ist …als würden eine Menge Instru-

mente gleichzeitig spielen, und plötzlichhört man die Melodie heraus, die dem Stückzugrunde liegt. Ich weiß nicht, wie ich es be-schreiben soll …«

Bull winkte ab. Fee Kellind hatte ihm er-zählt, man sage dem jungen Kybernetikerein besonderes Talent nach; es befähige ihn,Computer, Positroniken, Syntroniken unddarauf aufbauende Geräte gewissermaßenintuitiv zu verstehen. Das war einer derGründe, warum Gia de Moleon ausgerechnetSkill Morgenstern losgeschickt hatte.

»Schon gut«, brummte Bull. »Ich mußnicht alles verstehen. Ich habe auch nie ver-standen, was Gucky eigentlich macht, wenner teleportiert.«

Skill Morgenstern hatte sich bereits wie-der seinem Kommunikator zugewandt,drückte Tasten und schien Selbstgesprächezu führen. »Wenn wir eine Weile warten,kann ich vielleicht ein paar Muster verifizie-ren …Dieses hier zum Beispiel. Das könnte…Nein, das ist es nicht. Das hier vielleicht…«

Nun gut. Es konnte nichts schaden, eineWeile hier auf der Lauer zu liegen und dasZiel ihres Einsatzes so gründlich unter dieLupe zu nehmen, wie es aus der Ferne mög-lich war. Bull hob das Fernglas wieder andie Augen und suchte die Ebene ab in derHoffnung, irgend etwas zu entdecken, das

ihnen hilfreich sein mochte.Aber er merkte, daß es ihm schwerfiel,

sich zu konzentrieren. Das passierte ihmmanchmal, wenn Erinnerungen mit allerMacht an die Oberfläche des Bewußtseinsdrängten. Und jemand wie er hatte eineMenge Erinnerungen.

Ein Bauwerk fiel ihm ins Auge, das seinerAufmerksamkeit bisher entgangen war: einnadelschlanker Turm, der sich unweit derseltsam leuchtenden Arena in den Himmelreckte. Wenn ihn sein Gefühl für Perspekti-ve nicht ganz im Stich ließ, war dieser Turmdas einzige Gebäude der gesamten Anlage,das über das Niveau der umgebenden Ebenehinausragte. Alle übrigen Gebäude und Ma-schinen lagen wenigstens in dreißig MeterTiefe. Es hatte also etwas zu bedeuten. EinSender?

Bull zog zischend die Luft ein. Die SonnePoroniu machte es schwer, einen Hyper-funkspruch abzusenden, aber gänzlich un-möglich war es natürlich nicht. Im Grundewar es einfach eine Frage der verfügbarenEnergie, und diese gewaltige Anlage sahaus, als könnte sie eine ganze Menge Ener-gie zur Verfügung stellen, wenn es seinmußte.

Welchem Zweck mochte all dies hier die-nen? Bull rief sich noch einmal ins Gedächt-nis zurück, was sie bisher über die Korragowußten. Es war jämmerlich wenig. Die Kor-rago waren künstlich geschaffene, vorwie-gend robotische Androiden, die sich alsüberaus rabiate, erbarmungslose Kämpfererwiesen hatten.

Zwei Stützpunkte hatte man bisher ent-deckt: einen zurückgelassenen auf Tujo,einen absolut intakten auf Kre'Pain. Es wardavon auszugehen, daß Kre'Pain typischwar: eine kleine, autarke, mit überlegenerTechnik ausgestattete Beobachtungsstation,von denen es in dieser Galaxis Tausende ge-ben mußte. Zu welchem Zweck, darüberkonnten sie nur spekulieren.

Diese Anlage hier war anders. Beobach-tungszwecken diente sie zweifelsfrei nicht.Hier wurde etwas hergestellt - nur was? Es

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würde ihnen nicht erspart bleiben, sich näherheranzuwagen, wenn sie das herausfindenwollten. Vielleicht waren sie auf die Waf-fenschmiede der Korrago gestoßen oder aufeine ihrer Brutstätten. Vielleicht auf beideszugleich.

Bull vertiefte sich in den Anblick der ko-lossalen Aggregate, die sich düster aus derTiefe erhoben. Das war nicht die Art vonTechnik, die sich in den Beobachtungsstatio-nen gefunden hatte. Hier ging es brachial zurSache, hier stoben Funken, hier stank undqualmte es, und selbst über die kilometer-weite Distanz hörte man tiefes, rhythmischesStampfen und das Echo schriller, metalli-scher Geräusche. Eine riesige Fabrik, daswar es, womit sie es hier zu tun hatten.

»Was glaubst du«, fragte er halblaut, »wokönnte sich eine zentrale Positronik befin-den?«

»Im Herzdom«, antwortete Skill, ohne zuzögern.

Bull setzte das Glas ab und sah ihn ver-wundert an. »Was, bitte, ist der Herzdom?«

Der Kybernetiker wirkte verlegen. »Dasist ein Name, den ich mir ausgedacht habe,entschuldige. Ich meine den Kuppelbau imZentrum. Ich wollte einen Begriff finden,der ausdrückt, was er den Korrago hier be-deutet. Der Herzdom ist der Mittelpunkt allihrer Anstrengungen, alles läuft daraufhinzu, und alles geht von dort aus.«

»Woher weißt du, was er den Korrago be-deutet?«

Skill hob hilflos die Achseln.»Der Herzdom, hm?« Bull warf einen

Blick hinüber zu dem Bauwerk, dessen Kup-pel sanft glomm wie ein großer Opal. »Unddu fühlst das einfach. Irgendwie.«

»Ja.«»Das ist mir offen gestanden doch ein we-

nig zu mysteriös, um mich darauf verlassenzu wollen.« Der Aktivatorträger sah den jun-gen TLD-Agenten an. »Nimm es doch nichtpersönlich. Ich habe eben auch so meine Ge-fühle.«

Skill Morgenstern atmete tief ein und aus,sah auf den Bildschirm seines Kommunika-

tors hinab und dann wieder hoch. »Man hatdir sicher einiges über mich erzählt.«

»Viel war's nicht.« Bull nickte. »Abereins: der junge Mann, der die Gedanken vonRobotern und Syntroniken lesen kann. Unddie von Korrago insbesondere.«

»Das ist nicht ganz so mysteriös, wie esaussieht.«

»Es sieht aber verdammt mysteriös aus,muß ich sagen.«

Skill sah ihn an, zögernd, wie einer, dersich fragt, ob er es wagen kann, ein langeund sorgfältig gehütetes Geheimnis zu lüf-ten.

»Hast du«, fragte er schließlich leise,»schon einmal den Begriff Dagöer-Syndromgehört?«

Bull nickte. »Ja.«Es dauerte einen Moment, bis er begriff.

Er riß die Augen auf und starrte den jungenTLD-Agenten an.

»O nein! Du?«

3.

»Es begann mit Sehstörungen«, erzählteSkill mit leiser Stimme. »Als sie schlimmerwurden, ging ich zum Arzt. Der glaubte eineKrebsgeschwulst im Sehnerv zu entdecken,gab mir die entsprechenden Injektionen, undich hielt die Sache für erledigt. Aber eineWoche später war ich blind. In der Klinikstellte man fest, daß sich mein Sehnerv voll-ständig aufgelöst hatte. Und man diagnosti-zierte Dagöer.«

Bull hörte erschüttert zu, während ihnvergessen geglaubte, schmerzhafte Erinne-rungen überfluteten. Vor langer, langer Zeit,in der letzten friedlichen Epoche des SolarenImperiums, hatte er eine Akonin gekannt, ei-ne Gesandte des akonischen Rates in Terra-nia, mit der er sich …nun, ziemlich gut ver-standen hatte. Bei ihr hatte es genauso ange-fangen. Sehstörungen, ein Flimmern an denRändern des Sehbereichs, Kopfschmerzen,die sie zunächst als harmlos abgetan hatte.Drei Monate später war sie tot gewesen.

Das Dagöer-Syndrom benannte eine ex-

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trem seltene, aber immer noch unheilbareKrankheit, die ausschließlich bei Angehöri-gen von Völkern auftrat, die direkt oder in-direkt von den Lemurern abstammten - Ter-ranern, Arkoniden, Tefrodern und so weiter.

Bei einem Dagöer-Patienten löste sich dasHirngewebe sukzessive auf. Niemand wuß-te, wieso, und niemand wußte, wie man esstoppen konnte. Die Lebenserwartung hingvon Verlauf und Geschwindigkeit des Zer-falls ab.

Zerstörungen im Großhirn ließen Erinne-rungen und nach und nach die gesamte Per-sönlichkeit verschwinden. Erreichte der Zer-fall lebensnotwendige Regionen des Stamm-hirns, trat der Tod ein.

»Die Aras nennen diese Krankheit Diegroße Beleidigung«, murmelte Bull. Selbstdie Galaktischen Mediziner kannten für dasDagöer-Syndrom weder Auslöser noch The-rapie, obwohl sie seit Tausenden von Jahrendarüber forschten.

Der einzige Trost war, daß Dagöer nichtnur eine der heimtückischsten, sondern aucheine der seltensten Krankheiten war. In ei-nem Jahrhundert irdischer Zeitrechnung tratin der gesamten bekannten Galaxis durch-schnittlich nur ein einziger derartiger Fallauf.

»Man kam darauf, als es nicht gelang,meinen Sehnerv neu zu klonen. Schließlichmußte man einen positronischen Lei-terstrang einsetzen.«

»Wann war das?« fragte Bull beklommen.»Vor fünf Jahren.«»Vor fünf Jahren?« echote Bull. »Und du

bist sicher, daß du Dagöer hast?«Skill nickte. »Ich bin bei Professor Ubarat

in Behandlung, einem Ara, der an der Uni-versität von Terrania City lehrt.

Ich bin sozusagen sein Lieblingspatient.«Er seufzte. »Nach Terrania-Süd bin ich ge-zogen, um es nicht so weit bis zur Universi-tätsklinik zu haben. Aber ich fürchte, ichwerde meinen nächsten Termin trotzdemnicht wahrnehmen können.«

Bull fragte sich, wieviel ähnliche Schick-sale es geben mochte. Damit, daß der Stadt-

teil Alashan, der einen Teil von Terra-nia-Süd ausmachte, aufgrund der Sabotagedes Heliotischen Bollwerks von der Erde aufeinen Planeten in einer Millionen Lichtjahreentfernten Galaxis versetzt werden würde,hatte natürlich niemand rechnen können.

»Das heißt, die Krankheit wird weiterfortschreiten?« fragte er nach.

»Die Krankheit schreitet die ganze Zeitfort«, antwortete Skill Morgenstern aus-druckslos. »Was Professor Ubarat getan hat,war, zerfallene Hirnregionen durch mikro-syntronische Implantate zu ersetzen.«

»Ah!« machte Bull verblüfft. Er hatteschon angefangen, sich nach dem Zusam-menhang zwischen der Krankheit und ihremGespräch davor zu fragen.

»Mehr als die Hälfte meines Gehirns be-steht aus Implantaten. Ich war schon Kyber-netiker, bevor die Krankheit ausbrach, abererst seither habe ich dieses besondere Ein-fühlungsvermögen.«

Skill lächelte schwach und sah Bull an.»Das ist der Grund, warum Gia de Moleonmich nicht auf einen Schreibtischplatz ver-bannt hat und ich bei diesem Einsatz mit-sollte. Sie weiß das alles, hält es aber ge-heim; nicht mal Fee Kellind weiß davon. Dubist der erste, der das erfährt.«

»Aha. Danke.« Bull wußte immer nochnicht so recht, wie er diese Information ein-ordnen sollte.

»Auf jeden Fall nimmt mein Einfühlungs-vermögen zu, je mehr Implantate sich inmeinem Schädel ansammeln.«

»Das klingt nicht nach einer wirklichenHeilungsmethode.«

»Nein. Selbst wenn ich rechtzeitig nachTerrania zurückkommen sollte, wird in einpaar Jahren von meinem Gehirn nichts mehrübrig sein. Ich werde ein Roboter in einemmenschlichen Körper sein, eine wandelndeSyntronik.« Seine Stimme klang bitter. »Dasmenschliche Äquivalent eines Korrago, so-zusagen.«

Reginald Bull rieb sich das Kinn und sahden jungen Terraner ratlos an. »Und dufragst dich, wann du aufhören wirst, ein

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Mensch zu sein«, mutmaßte er.»Ja.«»Ich verstehe.« Bull stand auf, ging ein

paar Schritte in die Richtung zurück, aus dersie gekommen waren, und sah an den Pyra-miden empor, als stünde irgendwo dort obendie Antwort. Die einander zugekehrten Sei-ten der Spitzen sahen anders aus als der Restdes uralten Bauwerks, schimmerten wie ge-schmolzenes Glas, stellte er dabei fest.

Skill Morgenstern beobachtete ihn reglos.»Wahrscheinlich wird dir das jetzt nicht

viel helfen«, meinte Bull schließlich, »aberich sage es trotzdem: Es hat in der Geschich-te der Menschheit viele Roboter gegeben,die im Lauf der Zeit mehr wurden als ein-fach nur Maschinen.

Anson Argyris zum Beispiel, der Freifah-rerkaiser von Olymp. Er war ein Roboter -aber niemand hätte behauptet, daß er keineeigenständige Persönlichkeit besessen hätte.Er war kein Mensch, aber er war …ein We-sen. Jemand, mit dem man befreundet seinkonnte. Und ich bin stolz darauf, mit ihmbefreundet gewesen zu sein, verstehst du?«

»Aber es hätte auch niemand behauptet,daß er ein Mensch war.«

»Ob er tatsächlich ein Bewußtsein hatte,weiß ich natürlich nicht«, räumte Bull ein.»Ich wüßte auch nicht, wie man das von ir-gend jemandem mit Sicherheit sagen könnteaußer von sich selbst. Aber er besaß mehrMenschlichkeit als manche Menschen.«

Sie schwiegen. Es war still bis auf das fer-ne Geräusch der Maschinenstadt. Die dünneLuft brannte kalt im Inneren der Nase.

»Ich fürchte«, sagte Bull schließlich, »dasist jetzt nicht die geeignete Gelegenheit, die-ses Thema auszudiskutieren.

Fühlst du dich einsatzbereit?«Skill hob die Augenbrauen. »Ich kann es

mit jedem Korrago aufnehmen«, entgegneteer zweideutig.

Bull betrachtete nachdenklich das Gesichtdes jungen TLD-Agenten. Die Samtbräuneseiner Haut war einem fahlen Aschgrau ge-wichen. Oder lag das am Licht Poronius?

»Dann sollten wir zum Herzdom aufbre-

chen«, sagte er.

*

Da war eine kleine Stelle an seinem lin-ken Oberschenkel, die sich taub anfühlte.

Er hatte sie schon vor dem Start entdeckt.In all den Jahren war er sehr sensibel gewor-den für jede Veränderung in seiner Körper-wahrnehmung, und der letzte Krankheits-schub lag inzwischen schon so lange zurück,daß es ihn beim kleinsten Anlaß heiß durch-zuckte: Es geht weiter! Der nächste Da-göer-Schub! Der lang erwartete, lang be-fürchtete nächste Schub, der ihm den Ver-lust von Erinnerungen oder Gefühlen brin-gen mochte - oder den Tod.

Und Professor Ubarat war MillionenLichtjahre entfernt.

Er mußte an seine letzte Untersuchungdenken. Wie der Ara sich mit der Hand überseinen haarlosen, spitzkegeligen Schädel ge-fahren war und mit seinem typischen dünn-lippigen Lächeln gesagt hatte: »Das ist nureine Stoffwechselstörung, Skill. Gar keinGrund zur Besorgnis.« Wie alle Beklom-menheit, alle Angst von ihm abgefallen warund er entspannt, beinahe glücklich die Kli-nik verlassen hatte …

Und nun diese kleine, taube Stelle. Ge-fühllose Haut. Das konnte eine Durchblu-tungsstörung sein oder ein eingeklemmterNerv. Eine Untersuchung in einer der Klini-ken Alashans hätte ihm Klarheit bringenkönnen. Aber wenn es doch Dagöer war,dann gab es niemanden, der ihm helfenkonnte.

Er hätte etwas sagen sollen, ehe sie gest-artet waren. Er hätte seine Situation erklärenmüssen, und man wäre wahrscheinlich zudem Schluß gekommen, daß es zu riskantwar, ihn in diesen Einsatz gehen zu lassen.

Wenn er ehrlich war, hatte er aus diesemGrund nichts gesagt. Er hatte diesen Einsatzmachen wollen, um jeden Preis. Mit einemso legendären Mann wie Reginald Bull zu-sammen einen unbekannten Stützpunkt derKorrago erforschen? Um nichts in der Welt

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hätte er das versäumen wollen, und wenn esseinen Tod bedeutete.

Er tastete die Stelle verstohlen durch denStoff seiner Kombination hindurch ab.Knapp handtellergroß war sie und fühltesich an, als gehöre da ein Stück Fleisch nichtzu ihm.

Ach was! Das konnte alles mögliche sein.

4.

Sie gingen zurück zu ihrer Flugkapsel undvervollständigten ihre Ausrüstung. Viel wares nicht, was sie außer sich selbst in demkleinen Raumfahrzeug hatten unterbringenkönnen. Ganz abgesehen davon, daß sie,was technische Ausrüstung anbelangte, zurZeit ohnehin nicht aus dem vollen schöpfenkonnten.

Bull steckte sein Funkgerät, ein wesent-lich kleineres Modell als das, das Skill Mor-genstern trug, in die dafür vorgesehene Ta-sche seiner Kombination, überprüfte die La-dung seines Thermostrahlers und die Funkti-onstauglichkeit seines Armbandortungsge-räts. Ihm kam es vor, als wollten sie in einengefahrvollen Einsatz gehen. Er kam sich bei-nahe nackt vor.

In den ersten Jahren der Dritten Macht ha-ben Perry und ich auch nicht mehr ge-braucht, um die halbe Galaxis auszutricksen,sagte er sich grimmig, hängte seinen Mikro-deflektor an den Gürtel und schaltete ihnein.

Skill tat es ihm nach und verschwand vorseinen Augen.

Reginald Bull wartete einen Moment undräusperte sich dann vernehmlich. »Wir soll-ten vielleicht«, schlug er geduldig vor,»zuerst unsere Antiflexbrillen einsetzen.«

»Oh! Entschuldigung«, war Skills Stimmeaus dem Nichts zu vernehmen. »Das hatteich ganz vergessen.« Eine Sekunde späterkonnten sich beide sehen.

Bull zog die beiden Flugaggregate aus ei-nem der Wandfächer, reichte eines an Mor-genstern weiter und schnallte sich das ande-re um. Die Energieanzeige glomm in ver-

trauenerweckendem Grün, der kleine Steuer-knopf lag gut in der Hand. Wie in alten Zei-ten.

»Was ist los?« fragte er, als er sah, daßSkill immer noch dastand, das Flugaggregatin der Hand und unglücklich dreinschauend.

Skill hob das Gerät, dessen schlankerRückentornister ein Antischwerkraftaggre-gat und zwei winzige Impulstriebwerkebarg, beinahe anklagend in die Höhe.»Wollen wir nicht lieber ein paar Leuchtra-keten abfeuern und laut schreien: Hallo, hierkommt Besuch?«

»Jetzt übertreib nicht!« schüttelte Bullden Kopf. »So schlimm ist es auch wiedernicht.«

»Die Korrago haben gute Orter. Unglaub-lich gute Orter. Der Bericht von Fee Kellindhat mich sehr beeindruckt, was das anbe-langt.«

»Mich auch«, knurrte Bull. »Aber wirmüssen es riskieren. Es wäre viel zu gefähr-lich und würde zu lange dauern, die Fels-wand zu Fuß hinabzusteigen. Abgesehen da-von, daß es uns in dieser dünnen Atmosphä-re überanstrengen würde.

Ich werde sowieso das Gefühl nicht los,daß sich mit jeder Minute mehr davon insAll verflüchtigt.«

»Wir könnten die Sauerstoffgeneratorender Raumanzüge …«

»Vergiß es! Ich bin froh, daß wir die nichttragen müssen.« Bull faßte ihn schärfer insAuge. »Hey, du sprichst mit einem altenMann, vergiß das nicht! Wir nehmen jetztdie Flugaggregate und sind in anderthalbMinuten da unten, und keiner der Korragowird etwas bemerken.«

*

Und genauso war es. Es dauerte zwar ge-nau zwei Minuten, aber dann setzten sie amRand des Stützpunktgebietes auf und konn-ten die verräterischen Geräte wieder ab-schalten.

Aus unmittelbarer Nähe war der riesigeKomplex noch weitaus beeindruckender, als

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selbst der Blick durch die Ferngläser hatteahnen lassen. Reginald Bull und Skill Mor-genstern sahen staunend in einen Abgrund,in dem eine Stadt aus Stahl stand.

Sie sahen gewaltige, quaderförmigeStrukturen aus schwarzen Stahlträgern undstumpfgrauen Metallwänden, die fast bis anden Rand des ausgeschachteten Gebietesreichten. Dunkel schimmernde Laufstegewanden sich zwischen überdimensionalenGebäuden, führten abwärts in unergründli-che Düsternis oder endeten im Nichts.

Zwischen den Wänden und Aufbautenquoll eine dumpf wabernde Woge kakopho-nischer Geräusche empor.

Metallisches Klirren mischte sich mit ur-gewaltigem, bodenerschütterndem Stamp-fen. Zischende und raschelnde Laute wurdendurchdrungen von Tönen, die klangen wiedie Schreie urzeitlicher Tiere aus unsagba-ren Tiefen.

Und diese düstere, kantige, dröhnendeLandschaft erstreckte sich Kilometer um Ki-lometer in die Ferne, schier unüberschaubarund furchteinflößend in ihrer schieren Grö-ße.

Und zugleich faszinierend. Skill Morgen-sterns Blick wechselte zwischen dem flim-mernden Bildschirm seines Kommunikatorsund dem überwältigenden Anblick des stahl-gefüllten Cañons vor ihnen.

Zwischen beidem schien ihm ein geheim-nisvoller Zusammenhang zu erahnen sein,ein eigenartiger Gleichklang zwischen densichtbar gemachten, unentschlüsselten Fun-kimpulsen und dem Labyrinth aus schwar-zen Dächern und Schluchten, den aufstei-genden Dampfstrahlen und den erbittertenSchlägen, die den Boden unter ihren Füßenzum Beben brachten.

Unterdessen wagte sich Reginald Bull vorbis an den Rand der kilometerbreiten Vertie-fung und spähte neugierig hinunter.

»Wie tief ist das eigentlich?« hörte Skillihn mit sich selbst reden. »Hm - völlig glattabgeschnitten. Wahrscheinlich mit einemDesintegrator ausgehoben.«

Laß mich deinen Puls spüren, Stadt, dach-

te Skill Morgenstern.»Was schlägst du vor?« wollte der Un-

sterbliche wissen. »Kannst du irgend etwaserkennen, das uns weiterhilft?«

»Ich würde gern«, hörte Skill sich sagen,»den Kommunikator direkt mit einer Daten-leitung verbinden. Vielleicht bringt uns dasweiter.«

»Schön. Und wo finden wir so eine Da-tenleitung?«

Skill machte eine vage Geste mit derHand, ungefähr auf das ihnen am nächstenliegende Gebäude gerichtet. »Was weiß ich?Wenn das hier eine Produktionsstätte ist,muß es überall solche Leitungen geben. Esist egal, wo wir suchen.«

»Hm«, machte Bull und spähte wiederüber den Rand hinab. Dann, einen merkwür-dig langen Moment später, meinte er ah-nungsvoll: »Ist dir eigentlich schon aufgefal-len, daß nirgendwo ein einziger Korrago zusehen ist?«

*

Zur Not hätten sie das Dach des nächstlie-genden Gebäudes mit einem beherztenSprung von der Felskante aus erreichen kön-nen. Sie sprangen trotzdem nicht, sondernsetzten mit einem sekundenlangen Einsatzihrer Flugaggregate hinüber. Daß sie bisherkeine Korrago zu Gesicht bekommen hatten,mußte längst nicht bedeuten, daß es nichtdoch irgendwo welche gab. Und denen muß-ten sie nicht rumpelnd aufs Dach fallen.

Im Moment des Aufsetzens zückten sieihre Thermostrahler, drehten sich, Rückenan Rücken, sichernd nach allen Seiten um,auf alles gefaßt - losheulende Alarme, mas-senhaft anstürmende Krieger, auf Feuer, dasohne Warnung eröffnet wurde. Aber allesblieb, wie es war. Sie standen einfach auf ei-nem flachen, leeren Dach, so groß, daß manjede beliebige Mannschaftssportart daraufhätte spielen können, und niemand nahmvon ihnen Notiz.

»Das dort könnte ein Zugang zum Gebäu-de sein«, meinte Reginald Bull und wies in

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Richtung eines flachen Aufbaus, der einzi-gen Erhebung auf dem Dach.

Skill Morgenstern nickte nur. Sie setztensich in Bewegung, ohne aufzuhören, sichargwöhnisch umzusehen.

Zwischen zwei hüfthohen Schutzmauernführte tatsächlich eine schmale Rampe ab-wärts. Eine ziemlich schmale Rampe. Siekonnten nur nacheinander hinabgehen. Dasuntere Ende lag im Sonnenlicht, aber dahin-ter verschwand alles in Dunkelheit.

Bull ging voran, den Thermostrahler inder klassischen Weise einsatzbereit - Laufnach oben gerichtet, Schußarm angewinkelt.Skill folgte ihm, nach hinten sichernd.Nichts geschah. Niemand stürzte aus irgend-einem Hinterhalt auf sie zu, es bohrten sichkeine Energiestrahlen vor ihnen in den Bo-den, und kein Abschirmfeld hinderte sie amVordringen. Sie gingen einfach, Schritt umSchritt und mit zum Zerreißen gespanntenNerven, die Rampe hinab, bis sie deren En-de und damit das oberste Stockwerk des Ge-bäudes erreicht hatten.

»Und nun?« flüsterte Skill. Von oben floßdas helle Licht des langen Lokyrd-Tagesherab, aber da sie beide ihre Deflektoreneingeschaltet hatten, warfen sie keine Schat-ten.

»Wir schauen uns um«, entgegnete Bullhalblaut.

Sie standen in einem hohen, breiten, dü-steren Gang, der nach links und rechts führteund sich irgendwo in der Ferne verlor. DieTüren entlang der Wände ließen ihn seltsamvertraut aussehen, wie einen leerstehendenTrakt in einem Bürogebäude, das seine be-sten Zeiten lange hinter sich hatte.

Türen. Aufrecht gehende Wesen benutz-ten überall im Universum Türen. Es war ei-ne naheliegende Erfindung, die sich zudemauch durch noch so große Fortschritte in dertechnischen Entwicklung nur unwesentlichverbessern ließ.

Die einzigen einigermaßen gravierendenUnterschiede lagen in der Art und Weise,wie eine Tür zu öffnen war. Es gab Millio-nen verschiedener Arten von Griffen, Knäu-

fen, Verschlußhebeln und Zugriegeln. Aufmanchen Planeten fanden ausschließlichelektronische oder positronische Kontakt-schlösser Verwendung, auf anderen wurdenTüren bevorzugt, die nicht aufschlugen, son-dern in der Wand verschwanden.

Die Erbauer dieses Gebäudes hatten sichfür Türen entschieden, die keinerlei sichtba-ren Griffe oder Schalter aufwiesen, sonderneinfach auf einen leichten Druck hin in jededer beiden möglichen Richtungen auf-schwangen und sich, sobald sie zurück indas scheinbar nicht vorhandene Schloß fie-len, wieder verriegelten. Mit anderen Wor-ten, es war überhaupt kein Problem, sich inden Räumen unter dem Dach umzusehen.Das Problem war eher, daß es absolut nichtszu sehen gab.

Die zwei Terraner wanderten den Gangentlang, der sich immer wieder mit anderen,ebenso einfallslosen Gängen rechtwinkligkreuzte, und öffneten jede Tür, die sich ih-nen rechts oder links anbot. Doch die Räumedahinter waren stets absolut leer. Groß, kahlund leer.

Trübe, rechteckige Leuchtelemente anden Decken verbreiteten schummriges, ewiggleiches Licht, in dem die Wände ebensograu glänzten wie der Boden. Der wies im-merhin hier und da Schleifspuren oderFlecken auf, die davon zeugten, daß dieseHallen irgendwann einmal zu irgendeinemunbekannten Zweck gebraucht worden wa-ren.

»Korrago-Räume«, meinte Bull mit einemBlick auf sein Armbandortungsgerät, nach-dem er mit einem kurzen Orterimpuls einender Räume vermessen hatte. Jeder Raumwar dreißig Meter lang, vierzehn Meter breitund fünf Meter hoch. Sie verschwendetenihre Zeit.

Doch er schien Skill auf eine Idee ge-bracht zu haben. Der junge TLD-Agentschaltete ebenfalls sein Ortergerät ein undging kreuz und quer durch den Raum, bis erin einer Ecke eine schmale, nur aus der Nä-he sichtbare Klappe ausfindig gemacht hatte.Ohne zu zögern, zückte er sein Taschenmes-

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ser und hebelte den rechteckigen Verschlußauf.

Ein dunkles Loch kam zum Vorschein.Skill Morgenstern griff hinein und förderteein dünnes Kabel zutage. Eine positronischeDatenleitung. Noch eines von den Dingen,die überall im Universum gleich aussahen,zumindest in den Bereichen, in denen diebekannten Naturgesetze Gültigkeit hatten.

Der schlaksige TLD-Agent öffnete eineKlappe an der Rückseite seines Kommuni-kators und wählte aus den Anschlußadapterndarin einen aus, der sich in das Kabel hin-einbohren ließ. Gleich darauf tauchten neue,sich in einem gemächlichen Rhythmus ver-ändernde Signalmuster auf dem Sichtschirmauf.

Bull verfolgte die Bemühungen des jun-gen Kybernetikers und wunderte sich überdie Skepsis, mit der er das tat.

»Und?« fragte er.Skill Morgenstern starrte nachdenklich

auf den Bildschirm seines Kommunikators.»Es ist doch nicht so, wie ich dachte«, ge-stand er schließlich. »Das Datenkabelscheint nur eine Art Zeitimpuls zu liefern.Vielleicht, um weit

voneinander entfernte Geräte miteinanderzu synchronisieren. Die eigentliche Kommu-nikation findet demnach

tatsächlich über Funk statt.«»Was nicht ganz unlogisch wäre«, nickte

Bull. »Immerhin handelt es sich bei denKorrago um frei bewegliche Androiden. Diefangen mit Kabeln in der Wand nicht allzu-viel an.«

»Ja.« Skill legte die Stirn in Falten.Bull trat heran und betrachtete das Signal-

muster. Etwa alle zwei Sekunden sprang esum, in einer begrenzten, beinahe voraussag-baren Weise. Es schien sich um eine Art bi-näres System zu handeln.

»Es ist eine Zahl«, sagte Skill plötzlich.»Der Zeitimpuls zählt einfach ihre kleinsteZeiteinheit hoch.«

Wie, um alles in der Welt, kam der Mannauf so etwas? Bull beobachtete mißtrauisch,wie Skill sich auf der winzigen Tastatur ab-

mühte, seine Vermutung zu bestätigen.Einen Moment lang fühlte er den Impuls,Skill das Gerät wegzunehmen, es ihm zuentreißen, ins nächste Eck zu werfen und zuzerstrahlen.

Verrückt, so etwas zu denken. Aber ir-gend etwas an der gebückten, beinahe fana-tischen Körperhaltung des angestrengt arbei-tenden Terraners mißfiel ihm auf unheilvolleWeise.

»Achteinhalb Milliarden«, verkündete derTLD-Agent schließlich und sah mit trium-phierend leuchtenden Augen zu ihm hoch.»Ungefähr achteinhalb Milliarden Zeitein-heiten, und jede ist etwa zwei unserer Se-kunden lang - das sind …«

Einen Moment lang schwieg er, die Zahlim Kopf dividierend.

»Fünfhundertvierzig Jahre«, sagte erdann. »Der Stützpunkt existiert seit etwafünfhundertvierzig Jahren.«

»Wenn der Zeitimpuls seit dem Bau desStützpunktes läuft«, schränkte Reginald Bullein.

»Ja, natürlich.«»Du kannst ziemlich gut kopfrechnen.«Skill sah den Unsterblichen mit einem

seltsamen Gesichtsausdruck an. Er schienzuerst etwas anderes sagen zu wollen, mein-te aber schließlich nur: »Das ist nicht soschwer, wenn man eine Syntronik im Schä-del trägt.«

Bull wußte nicht, was er darauf sagensollte, also sagte er nichts. Er musterte dietristen, elfenbeinfarbenen Wände.

Über fünfhundert Jahre. Was verriet ihnendas? Was konnte ihnen die Vermutung hel-fen, daß diese Station vor 540

Jahren errichtet worden war?Vielleicht mehr, als man im ersten Mo-

ment glauben mochte. Nach allem, was siebisher wußten, waren die Korrago gewisser-maßen die Leibgarde ihres großen Gegen-spielers, über den sie bisher praktisch nichtswußten. Nichts außer einem Namen: Sha-bazza.

In diesem Moment wurden draußen aufdem Gang Geräusche hörbar, die ihnen das

Der Gesang der Stille 19

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Blut in den Adern gefrieren ließen und allederartigen Überlegungen zu einem abruptenStillstand brachten.

Schritte.

*

Skill Morgenstern verfolgte erschrocken,wie Reginald Bull sich scheinbar ohne diegeringste Schrecksekunde in Bewegungsetzte, mit ein paar weiten, fast lautlosenSätzen bei der Tür war und sie dann rasch,aber behutsam nach innen aufzog, um durchden entstehenden Schlitz hinausspähen zukönnen.

»Es ist ein Korrago!« hauchte er kaumhörbar.

»Nur einer?« hörte sich Skill fragen undsah hinab auf seine Hände, die immer nochdas Kabel und den Adapter und den Kom-munikator hielten und sich anfühlten wie ge-lähmt.

»Ja«, nickte Bull. »Nur einer. Schnell!«Schnell. Verdammt, er konnte nicht so

schnell umschalten! Gerade eben war ernoch völlig in die Entschlüsselung des Zeit-signals vertieft gewesen, war einem weiterenSchritt im Verständnis der fremden Technikso nahe gekommen wie schon lange nichtmehr, und jetzt sollte es auf einmal schnellgehen. Er zerrte an dem Adapter, brachte ihnschließlich aus dem Kabel heraus, aber dazu,es zurück in den Schacht zu stopfen und denDeckel zu schließen, reichte es nicht mehr.

Mit einem dumpfen Knacken öffnete sichdie Tür, und der Korrago kam herein. Skillwich zurück, den Kommunikator an denKörper gepreßt, um ihn im Deflektorfeld zuhalten, und starrte das fremde Wesen an.Den ersten lebenden Korrago, den er sah.

Lebend? Ein Korrago war ein Android,ein künstlich geschaffenes Wesen. Aber et-was in ihm sträubte sich dagegen, die Ge-stalt, die sich auf die geöffnete Wandver-kleidung und das heraushängende Kabel zu-bewegte, einfach nur funktionsfähig zu nen-nen.

Der Korrago war schwarzhäutig und

scheinbar unbekleidet, und das, was man beieinem biologischen Lebewesen als Haut be-zeichnet hätte, schimmerte an ihm wiedickes, dunkles Plastik. Er war weit über-mannsgroß, zwei Köpfe größer als Skill.

Anders als die Korrago-Leiche, die Skillzu sehen bekommen hatte, ging dieser zwarauf zwei stämmigen Beinen, besaß aber ins-gesamt vier Arme. Zwei Arme begannen anden Schultern wie bei allen humanoidenWesen und schienen geeignet, schwere La-sten zu schleppen und anstrengende Arbei-ten zu verrichten. Außerdem gab es abernoch ein zweites, weitaus filigraneres PaarArme, die dem Korrago gewissermaßen ausder Seite des Halses wuchsen, kaum längerwaren als sein Kopf und vermutlich dazu ge-dacht waren, feine Arbeiten zu verrichten.

Auffälligstes Merkmal jedes Korrago, zu-mindest in menschlichen Augen, waren diebeiden Sehschlitze, die an der Vorderseitedes Kopfes schießschartenartig von obennach unten verliefen und hinter denen unver-kennbar künstliche Optiken schimmerten.Diese Sehorgane waren unverwandt auf dasLoch in der Wand gerichtet und auf das Ka-bel, das heraushing.

Skill spürte, wie Reginald Bull ihm sanftdie Hand auf die Schulter legte. Er wandteden Kopf. Bull bedeutete ihm, daß sie sichweiter von dem Korrago entfernen sollten.

Deflektorgeräte waren natürlich grund-sätzlich auch zu orten, zeichneten sich aberdadurch aus, ein energieärmeres und unauf-fälligeres Ortungsmuster hervorzurufen alsbeispielsweise Antigravitatoren oder Impul-striebwerke. In der weiteren Umgebungtechnischer Anlagen konnte man davon aus-gehen, von deren energetischem Hinter-grund überstrahlt zu werden.

Die größte Gefahr, entdeckt zu werden,bestand naturgemäß in unmittelbarer Nähe,denn die Unsichtbarkeit, die ein Deflektorseinem Träger verlieh, umfaßte in der Regelnur das Spektrum des sichtbaren Lichts.Man konnte ihn aber zum Beispiel aufspü-ren, wenn man Infrarotdetektoren einsetzte,außer vielleicht, man hatte es mit einem be-

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sonders hochwertigen - und entsprechendteuren - integrierten Deflektor zu tun, wie eretwa in einem SERUN-Kampfanzug einge-baut war.

Am verräterischsten aber war etwas, wo-gegen auch ein SERUN-Träger nicht gefeitwar: Geräusche.

Wenn es still genug war und jemand Oh-ren hatte, die fein genug waren, dann konnteer einen Unsichtbaren hören.

Aus diesem Grund wollte Bull, daß sieeinen gebührenden Abstand zu dem Korragoeinhielten und sich ansonsten möglichstnicht rührten. Skill sah, daß Bull durch denoffenen Mund einatmete, und erinnerte sichdaran, daß man ihnen an der Akademie ge-nau das beigebracht hatte für Fälle wie die-sen.

So beobachteten sie mit offenen Münderndas massige Wesen, das aussah wie sein ei-gener Schatten. Es ging vor dem offenenSchacht in die Knie, nahm das heraushän-gende Kabel in seine kleinen Hände und un-tersuchte es eingehend.

Es entdeckte die Verletzung der Hülle,kam aber offenbar zu dem Schluß, daß die-ser Schaden ohne Belang war - was tatsäch-lich zutraf -, und begann, das Kabel zurückin den Schacht zu stopfen. Den Verschlußwieder einzusetzen war Aufgabe der großenHände und im Nu erledigt.

Danach sah sich der Korrago mit langsa-men, beinahe würdevollen Blicken noch ein-mal im Raum um und ging wieder so ruhig,wie er gekommen war.

Skill Morgenstern spürte sein Herz heftigschlagen. Kaum zu glauben, daß das nichtbis hinaus auf den Gang zu hören sein sollte.Die Unruhe des Körpers. Rasende Herzen,jubelnde Herzen, gebrochene Herzen. Erwar beinahe neidisch auf den maschinenhaf-ten Gleichmut, den der Korrago ausgestrahlthatte. Seine Stille, die ihn durch und durcherfüllte.

»Es bringt nichts, wenn wir uns weiterhier aufhalten«, meinte Bull leise. »Wirkrabbeln nur sinnlos herum wie Ameisen.So erfahren wir nichts. Wir müssen ins Zen-

trum der Anlage.«Skills Blick wanderte immer noch zwi-

schen der Tür und dem Kabelschacht hinund her. »Hast du das gesehen?« fragte erfasziniert. »Er hat mitbekommen, daß hierein Stück der Wandverkleidung geöffnetworden ist, und ist gekommen, um es zu re-parieren. Einfach so. Er hat nicht danach ge-fragt, wie das passieren konnte, er hat es ein-fach nur repariert.«

»Ja«, knurrte Bull. »Und jetzt steht erwahrscheinlich wieder hundert Jahre imKeller, bis die nächste Glühbirne ausfällt.«

»Was ist eine Glühbirne?« fragte Skill ir-ritiert.

Der alte Terraner winkte ab. »Vergiß es.«Skill kam zu Bewußtsein, was Bull zuvor

gesagt hatte. Daß sie ins Zentrum der Anla-ge vordringen müßten.

»Wir können unmöglich zwanzig Kilome-ter mit den Flugaggregaten zurücklegen«,gab er zu bedenken. »Nicht, nachdem wirwissen, daß die Korrago keineswegs ausge-storben sind.«

»Keine Sorge«, sagte Reginald Bull. »Wirnehmen den Zug.«

5.

Die Schienenstrecke tat sich vor ihnen aufwie ein Abgrund, eine fünfhundert Meterbreite Schlucht, deren andere Seite von dü-steren, verschachtelten Gebäuden gebildetwurde, ebenso wie die Seite, auf der siestanden. Bull zählte fünfundzwanzig Schie-nenstränge, die parallel zueinander verliefen,unverwandt auf das Zentrum des Stütz-punkts ausgerichtet.

Lange Ketten klobiger, grauer, gesichtslo-ser Kolosse wälzten sich in behäbigem Tem-po den glitzernden Hohlweg entlang, bogenab und zu in schmale Quergassen ein, diesenkrecht oder schräg in den Industrieanla-gen verschwanden, oder wechselten einfachnur die Spur. All dem lag unverkennbar einegeschäftige, zielstrebige Ordnung zugrunde,auch wenn von außen nicht zu erkennenwar, welche.

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Sie standen auf einer Art schmalem Bal-kon. Von hier aus konnte man sehen, daß dievielfach miteinander verwobenen und ver-flochtenen Schienenstränge noch längstnicht den Grund der Anlage markierten.Vielmehr waren sie auf einem stählernenGitterwerk errichtet, unter dem es in unab-sehbare Tiefen weiterging. Bull spürte einFrösteln. Was ging hier vor?

Ein Zug kam rumpelnd um die Ecke ge-bogen und reihte sich auf der zweiten Spurvon außen ein. Das sah aus wie die Mitfahr-gelegenheit, auf die sie gewartet hatten.

»Los!« sagte Bull, und mit einem sekun-denlangen Impulsstoß ihrer Fluggeräte setz-ten sie auf das Dach des vorletzten Waggonsüber. Die Fahrt begann. Am Ende der Schie-nenschlucht, verheißungsvoll leuchtend,wartete der Herzdom.

Der Waggon - eigentlich eher ein beweg-licher Container - war an die vierzig Meterbreit und doppelt so lang, er bestand aus ei-nem grauen und stumpfen Metall, das aus-sah wie simples Gußeisen. Es war nicht zuerkennen, wie die einzelnen Waggons mit-einander verbunden waren oder wie sie an-getrieben wurden, aber all das interessierteBull im Augenblick auch nicht besonders.

Er setzte sich auf das verhalten vibrieren-de Dach und zog einen Konzentratriegel her-vor. Sie würden mindestens eine halbe Stun-de brauchen, bis sie das Zentrum erreichthatten, und bis dahin gab es nichts weiter zutun, als aufzupassen, wann ihr Zug Anstaltenmachte, abzubiegen, um rechtzeitig aufeinen anderen umzusteigen. Also die idealeZeit für eine Erholungspause.

Skill tat es ihm gleich. Eine Weile saßensie so da und kauten schweigend, dannmeinte der junge Kybernetiker:

»Darf ich dich noch etwas Persönlichesfragen?«

»Nur zu«, nickte Bull kauend.»Wie ist das eigentlich, unsterblich zu

sein?«Bull hörte auf zu kauen, sah überrascht

hoch und schluckte erst einmal umständlich.»Ah«, machte er dann. »Ich muß sagen, du

hast ein Talent, unerwartete Fragen zu stel-len …Puh! Lange her, daß mich das einergefragt hat.«

»Und?«»Normalerweise sage ich, es ist eine Gna-

de«, entgegnete Bull. »Ein unverdientes Ge-schenk und gleichzeitig eine unverschuldeteVerpflichtung.«

Skill sagte nichts, aber in seinen dunklenAugen war deutlich zu lesen, daß er sichmehr erhofft hatte.

»Na ja«, meinte Bull mit einer ausholen-den Geste, »wir haben ja ein bißchen Zeit.Was willst du wissen? Wie es ist, seinen2939. Geburtstag zu feiern? Antwort: Ichfeiere keine Geburtstage mehr.«

»Nicht?«»Mein letzter Geburtstag war vor fünf

Wochen. Da waren wir gerade im Ring vonZophengorn und hatten andere Sorgen. Undso ist es immer.« Bull hob die Schultern.»Abgesehen davon war es eigentlich erstmein …na, vermutlich mein 2244. Geburts-tag. Du weißt wahrscheinlich, daß wir ein-mal 695 Jahre in einem Stasisfeld einge-schlossen waren?«

Skill nickte. »Während der Dunklen Jahr-hunderte.«

»Ja. Diese Zeit kann man schließlich nichtzählen. Genaugenommen habe ich schonfrüher einmal einige Jahre verloren.« Er lä-chelte. »Das war beim ersten Besuch aufWanderer, damals, im 20. Jahrhundert …Daverlor ich etwa vier Jahre.«

Skill Morgenstern blickte interessiert.Aber wahrscheinlich wußte er diese Detailsder frühen terranischen Geschichte nichteinmal.

»Also, im Grunde weiß ich nicht mehr ge-nau, wie ich mein Alter eigentlich ausrech-nen müßte, wenn es mich interessieren wür-de.« Bull sah umher, blickte die Stahlstrebenund Hallenwände hoch, ohne sie zu sehen,weil in ihm Erinnerungen hochsprudelten.»Was soll ich erzählen? Wie es ist, Freundeneben sich alt werden zu sehen, währendman selbst immer jung bleibt? Wie man er-schrickt, wenn man sich an eine Begeben-

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heit erinnert und plötzlich merkt, daß eszweitausend Jahre her ist? Wie man sichvorkommt, wenn man ein Museum für alteGeschichte einweiht und beim ersten Durch-gang Fotos von sich selbst in den Vitrinenentdeckt? Was man sich denkt, wenn diesel-be Modetorheit zum fünfhundertsten Malwiederkehrt und wieder einmal als das abso-lut Neueste angepriesen wird? Wie man sichfühlt, wenn ein junger Mann glaubt, man ha-be den Bau der Pyramiden von Gizeh miter-lebt?«

»Das klingt, als ob es eine Last wäre.«»Es ist beides. Es ist natürlich großartig,

nicht zu altern, immer gesund zu sein, im-mer im Vollbesitz seiner Kräfte.

Ich hänge am Leben, das gebe ich gernzu. Aber es kann auch eine Last sein, ja.«

Skill sah hinab auf die schimmerndenSchienen. »Ich wäre gern immer gesund.«

»Ja«, meinte Bull verhalten. »Das glaubeich.«

*

Skill hob den Kopf, sah den Herzdom inder Ferne schimmern, und für einen Augen-blick kam ihm ihre Situation zu Bewußtsein:Da hockten sie, in Deflektorfelder gehüllt,auf dem Dach eines Waggons, der mittendurch einen feindlichen Stützpunkt rumpel-te, und unterhielten sich, als säßen sie bei ei-nem Vurguzz zusammen. Was für ein skur-riler Moment! Um nichts in der Welt hätte erdas missen wollen.

»Und wie ist das nun«, hörte er sich wei-terfragen, und er hatte Lust, dem Zellaktiva-torträger noch eine Million solcher Fragenzu stellen, »immer jung zu bleiben?«

Er sah Bull an. Er hatte dieses Gesicht inuralten Filmen aus der Gründerzeit des Sola-ren Imperiums gesehen, und da hatte esschon genauso ausgesehen. In ganz TerraniaCity gab es fast kein Bauwerk mehr, das ausdieser Zeit überdauert hatte, doch dieserMann war unverändert geblieben.

»Man gewöhnt sich daran«, bekannteBull. »Ich erinnere mich an den Tag, an dem

ich achtzig Jahre alt wurde. Mein Vater warmit achtzig Jahren gestorben; damals wardas ein hohes Alter. Und ich schaute in denSpiegel und sah immer noch aus wie mitachtunddreißig. Damals konnte ich daskaum fassen. Aber es wird rasch selbstver-ständlich.

Fast erschreckend rasch.«»Gibt es einem Ruhe? Nicht vom Tod ge-

hetzt zu werden?«»Na ja, es gibt andere Dinge, die einen

hetzen …« Bull dachte nach. »Ruhe. Manwird ruhiger, das stimmt. Aber die Ruhekommt daher, daß man die Zeit vergißt. Manlebt einfach immer den Tag, der gerade an-gebrochen ist. Im Prinzip könnte jeder so le-ben, egal ob er unsterblich ist oder nicht.«

»Aber sind nicht viele neidisch?«»Bist du neidisch?«Skill mußte lachen. »Ich überlege es mir

gerade.«»Überleg's dir gut. Für Freundschaften ist

die Unsterblichkeit ein harter Prüfstein. Esgibt wenig Menschen, die einen wirklich soakzeptieren können.« Der Blick des Un-sterblichen ging in die Ferne, durchdrangErinnerungen, die einen Zeitraum umfaßten,den Skill sich nicht einmal annähernd vor-stellen konnte. »Es hat viele gegeben, dieden Kontakt abgebrochen haben, als sieselbst alt wurden. Das muß man akzeptierenlernen, auch wenn dadurch die Zeit nochkürzer wird, die man einander hat.«

Skill zögerte. »Sprichst du dabei haupt-sächlich von Frauen?«

»Du meinst, weil ich nie verheiratet war.«Bull seufzte. »Nein. Das ist eine andere Ge-schichte. Gefährtinnen für einen gewissenZeitabschnitt gab's in meinem Leben genug.Aber …Ich finde, keine Frau sollte es sichantun, einen Mann zu heiraten, der nicht al-tert.«

»Perry Rhodan war mehrmals verheira-tet.«

Der Mann, der als Rhodans bester Freundgalt, nickte grimmig. »Ich enthalte mich ei-ner Meinungsäußerung darüber, ob das im-mer so gut war für alle Beteiligten.«

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Ihr Zug hielt plötzlich an. Sie schautenhoch. Von der Seite kam ein kurzer, aus nurdrei Containern bestehender Zug herange-fahren, wechselte auf das benachbarte Gleisund hielt unmittelbar neben ihnen an. Unterihnen zischte und rumpelte es, dann löstesich der Waggon, auf dessen Dach sie saßen,samt den dahinter liegenden Wagen vomVorderteil des Zuges und fuhr ein Stückrückwärts. Die drei Container schoben sich,mit einem hellen, singenden Ton elegant dasGleis wechselnd, von der Seite dazwischen.Dann koppelten die drei Teile wieder zu-sammen, und die Fahrt ging weiter.

Skill sah sich um. All das war passiert,ohne daß sie auch nur einen einzigen Korra-go zu Gesicht bekommen hätten.

Aber er wußte, daß sie da waren. Er hättenicht sagen können, woher, aber er wußte,daß sie im Inneren all dieser klobigen Ge-bäude waren, auf der anderen Seite der dü-steren Metallwände, die sich rechts undlinks der Schienenschlucht erhoben.

»Ich würde mich wahrscheinlich immerfragen«, meinte Skill nachdenklich, »warumausgerechnet ich einen Zellaktivator trage.Wodurch das gerechtfertigt wäre.«

Bull sah ihn von der Seite her aufmerk-sam an. »Fragst du dich auch, warum ausge-rechnet du an Dagöer erkrankt bist?

Wodurch das gerechtfertigt sein soll?«»Nein«, gab Skill überrascht zu. »Das ist

Schicksal, denke ich.«»Es ist gut, das so zu sehen.« Bull nickte.

»Sonst wird man nämlich verrückt. Und wasdie Unsterblichkeit anbelangt, ist es nichtanders. Darum sage ich immer, es ist eineGnade. Das trifft es am besten.«

»Aber ist es eine Gnade?« fragte Skill.»Macht es dich nicht den Menschen um dichherum fremd?«

»Hör mal - ich habe das Solare Imperiumewige Zeiten lang regiert. Und es gab vielegute Zeiten - Zeiten, die so friedlich waren,daß sogar ich, der stellvertretende Großad-ministrator, mich ganz allein in ganz ge-wöhnliche Kneipen setzen, mit den Leutendort ein Bier oder einen Vurguzz trinken

und mir von ihnen die Meinung sagen lassenkonnte.

Klingt das nach Entfremdung?«Irgend etwas ließ jäh das Gesicht Varnas

in Skills Erinnerung auftauchen, den Schim-mer ihrer goldbraunen Haut und die Tränenin ihren dunklen Augen, als sie ihm sagte,daß sie den Gedanken nicht ertragen könne,von einem Syntronverbund geliebt zu wer-den. Diese Erinnerung war noch nicht verlo-rengegangen. Er dachte an seine Eltern, diesich auch immer seltener meldeten, ihn nurnoch mit spürbarem Widerwillen zu Famili-enfesten einluden und froh waren, wenn ernicht kam.

»Aber was hast du denn mit diesen Men-schen gemeinsam?« Was habe ich denn mitdiesen Menschen gemeinsam?

»Normale Menschen wachsen auf, erler-nen einen Beruf, gründen eine Familie. ImAlter halten sie Rückschau auf ihr Leben,und im Tod lassen sie alles wieder los. Dasnormale Leben ist ein Zyklus. Bist du ausalldem nicht völlig herausgehoben dadurch,daß du nicht alterst?«

*

Dieser junge Mann, das mußte sich Regi-nald Bull eingestehen, hatte zielsicher denFinger auf die Wunde gelegt.

Direkt auf den Schmerz, der seit einigerZeit in ihm wühlte: das Gefühl, der Mensch-heit im Grunde nicht mehr anzugehören.

Früher hatte er sich als Mann des Volkesgefühlt, ob zu Recht oder nicht. Es hatte ihmnichts ausgemacht, die Regierungsgeschäftezu führen, während Perry Rhodan in denTiefen des Universums unterwegs war.

Natürlich hatte es Anfeindungen gegeben.Natürlich hatten sie nicht alle Wahlen glän-zend gewonnen. Natürlich war es manchmallangweilig gewesen und manchmal so fru-strierend, daß er mit dem Gedanken gespielthatte, die Sache hinzuwerfen. Aber alles inallem hatte es ihm das Gefühl gegeben, et-was Sinnvolles zu tun.

Heute wurde er das Gefühl nicht los, daß

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durch die 700 Jahre, die sie im Stasisfeldvon Rangvilaan verloren hatten, eine un-überbrückbare Kluft zwischen der Mensch-heit und ihren Unsterblichen entstanden war.Daß man es ihnen nicht verziehen hatte, dieGalaxis in einer ihrer dunkelsten Epochenim Stich gelassen zu haben, selbst wenn esunverschuldet geschehen war. Daß man sieim Grunde nicht mehr haben wollte. Undwenn er etwas haßte, dann das Gefühl, sichaufzudrängen.

»Es ist nicht so, daß man immer derselbebleibt, wenn man nicht altert«, versuchte erzu erklären, aber eigentlich eher sich selbstals dem jungen TLD-Agenten, der nebenihm saß. »Die Veränderungen sind anders,und sie ziehen sich über längere Zeiträumehin. Genauso, wie sich die Menschheit alsGanzes über lange Zeiträume verändert. DieMenschen heute sind emanzipierter als frü-her; sie brauchen keine Vaterfiguren mehr.Aber das heißt nicht, daß sie uns Unsterbli-che nicht mehr brauchen.«

Er sah Skepsis im Gesicht Skill Morgen-sterns. Bist du sicher? schien es zu fragen.Oder willst du das nur glauben?

»Ich meine«, beeilte er sich hinzuzufügen,»man muß sich doch fragen, warum es über-haupt diese Zellaktivatoren gibt. Ist das nureine Marotte der Superintelligenz ES, odergibt es dafür einen Grund? Ich denke, eshängt damit zusammen, daß aus irgendwel-chen Gründen - die wir vielleicht sogar einesTages verstehen werden - die Erde, dieserkleine blaue Trabant einer hundsgewöhnli-chen Sonne am Rand der Milchstraße, einBrennpunkt kosmischer Entwicklungen ist.Wenn irgend etwas los ist - es trifft be-stimmt die Erde oder zumindest das Solsy-stem. Warum? Ich weiß es nicht. Ich weißnur, daß die Zellaktivatorträger eines derwenigen Dinge sind, die wir alldem entge-gensetzen können. Diese über einen unge-heuren Zeitraum hinweg angesammelte Er-fahrung ist oft alles, was wir haben …«

Er hielt inne, als ihm bewußt wurde, daßer hauptsächlich zu sich selbst redete. Daswar nun wirklich nicht nötig.

Außerdem schien Skill ihm überhauptnicht mehr zuzuhören. Der schmächtige,dunkelhaarige Kybernetiker hatte nur nochAugen für die Anlagen der Korrago, durchdie sie sich bewegten.

»Sieh nur!« flüsterte er.Bull sah sich um. Mehr und mehr der Ge-

bäude, an denen sie vorüberfuhren, hattenkeine Außenwände mehr, so daß sie in wei-te, hohe Fabrikhallen hineinsehen konnten,gewaltige Kathedralen der Technik, in denenzahllose Korrago emsig ihren Beschäftigun-gen nachgingen. Je näher sie dem Zentrumkamen, desto mehr Korrago bekamen sie zuGesicht. Die schwarzen, durchschnittlichzwei Meter großen Androidengestalten wan-derten gemessenen Schrittes über Laufstege,große oder kleine Lasten tragend, standenbeisammen, als führten sie Gespräche, odersaßen einfach nur herum.

Nach und nach entfaltete sich auch eineungeahnte Bandbreite verschiedener Gestal-ten, was Größe und Aussehen anbelangte.

Sie sahen kleine Korrago, die den übrigenkaum bis zur Hüfte reichten und sich wiesel-flink zwischen ihren großen Artgenossenhindurchbewegten. Sie sahen große Korragomit drei, vier oder fünf Armen, an deren En-de keine Hände, sondern seltsame Werkzeu-ge saßen.

»Absolut faszinierend, oder? Alles siehtso schwarz und unheimlich aus, aber dahin-ter ist eine unglaubliche …Harmonie zu spü-ren. Ja, Harmonie. Das ist das richtigeWort.«

»Ah ja? Ist mir bisher entgangen, um ehr-lich zu sein.«

»Eine verborgene Harmonie, verborgenhinter Stahl und Stein«, plapperte Morgen-stern weiter. »Jetzt erst verstehe ich die Kor-rago einigermaßen. Sie kennen wohl keineIndividualität. Sie sind ein Ganzes, eineHand greift in die andere, alles ist kühle Lo-gik und klares Handeln. Es ist …es ist einemaschinelle Daseinsform. Eine maschinelleDaseinsform«, wiederholte er und nicktesinnend vor sich hin, ganz ergriffen von sei-nen Einsichten und alles andere als kühl und

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logisch wirkend.Bull musterte den TLD-Agenten von der

Seite und fragte sich, ob er anfangen mußte,sich Sorgen zu machen. Er wußte nicht vielüber das Dagöer-Syndrom. Waren dies dieAnzeichen eines neuen Krankheitsschubes?Andererseits hatte es wenig Sinn, auf denbloßen Verdacht hin den Einsatz abzubre-chen. Schließlich hatten Morgensterns Vor-gesetzte von seiner Krankheit gewußt, undsie hätten ihn sicher nicht im aktiven Dienstbehalten, wenn akute Gefahr bestanden hät-te.

Ihr Zug wechselte auf eines der mittlerenGleise und wurde schneller. Der glänzendeSchienenstrang zielte genau auf den Herz-dom.

Skill schaltete sein Funkgerät wieder einund vertiefte sich erneut mit schauriger Kon-zentriertheit in die fremdartigen Signalmu-ster.

»He!« sagte Reginald Bull. »Ich hoffe, duhast nicht vor, demnächst zu den Korragoüberzulaufen.«

Skill sah nicht auf. »Sie würden michnicht akzeptieren«, antwortete er dumpf.

*

Bin ich überhaupt noch zu Hause bei denMenschen? Diese Frage war irgendwannaufgetaucht und mäanderte seither durch sei-ne Gedanken, bohrte sich hinein in alles,was er glaubte zu sein, und ließ sich nichtmehr vertreiben.

Skill blickte zurück, hinauf zu den zweiPyramiden oben auf dem Berg, die sich wieleuchtende Mahnmale vor dem dunklenHimmel in die Höhe reckten. AusgerechnetPyramiden. Als habe das Schicksal vorge-habt, ihn an seine Kindheit zu erinnern. Alswolle es ihm zeigen: Hier, hier bist du zuHause!

Aber er war hier nicht zu Hause. Auchwenn die Korrago Hybridwesen waren, ähn-lich, wie er eines sein würde, sobald das Da-göer-Syndrom sein Werk vollendete. Auchwenn er sie verstehen konnte - sie würden

ihn niemals verstehen. Er mochte neidvollauf ihre kollektive, geradezu brüderlicheExistenzform schauen - er würde niemalsein Teil davon sein können.

Und die Signale tanzten und zuckten überden Bildschirm …

Plötzlich, ohne daß er hätte sagen können,wieso, schien sich etwas in seiner Wahrneh-mung zu verschieben. Es war, als zöge je-mand einen Schleier von seinen Augen. DiePausen. Es waren die Pausen zwischen denSignalen, die die Bedeutung transportierten,nicht die Signale selbst.

Nicht, daß er die Bedeutung der Botschaf-ten verstanden hätte, das nicht. Aber plötz-lich sah er ungeahnte Schönheit, verborgeneHarmonie in den flimmernden Lichtern aufdem Bildschirm. Wie eine Melodie, die ausden Zwischenräumen zwischen den Notenbesteht. Als hätte er die ganze Zeit die zie-henden Wolken betrachtet und jetzt erst ge-merkt, daß dahinter, ewig und unvergäng-lich, der blaue Himmel war und daß er eswar, auf den es ankam.

Schönheit. Ein fremdartiger Akkord. EinAkkord der Stille. Einklang, ewig, befrei-end. Ein maschinelles Wesen war frei. Eskannte kein Wollen, kein Müssen, keine Lei-denschaften und kein Begehren. Es gab nurdie Kühle der Logik, es gab nur schlichteKlarheit. Einen Himmel ohne Wolken.

Skill Morgenstern starrte die tanzendenSignalmuster auf dem Bildschirm seinesUniversalkommunikators an und fühlte sichvon einem unerklärlichen Frieden erfüllt.

Vielleicht, dachte er, war er nach Lokyrdgekommen, um hier zu sterben.

Der Zug bog in den Kreisverkehr ein, derrund um den Herzdom herumführte. DieWände des zentralen Bauwerks ragten gera-de und glatt und ohne das geringste Merk-mal in die Höhe und schimmerten wie auseinem unerhört wertvollen Material ge-macht.

Irgend etwas war mit Skill geschehen. Re-ginald Bull war sich nur noch nicht darüberim klaren, ob es etwas Gutes oder etwasSchlechtes war. Der junge Terraner wirkte

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mit einemmal nicht mehr so verquält undgrüblerisch wie bisher, sondern schien plötz-lich friedlich und eins mit sich und der Weltzu sein. Ein wenig zu friedlich für Bulls Ge-schmack.

So mochte man nach einigen Monaten derMeditation dreinschauen, aber nicht wäh-rend eines gefährlichen Einsatzes mitten infeindlichem Gebiet.

»Wir könnten zwischen den Schienen hin-unterspringen«, schlug Skill in diesem Mo-ment vor, kühn am Rand des Containerdachsstehend. »Dort unten gibt es bestimmt Zu-gänge in den Herzdom.«

Bull trat neben ihn und sah hinab in dieunergründliche Tiefe unterhalb der Schie-nen. Mindestens so unergründlich wie dasHerz eines anderen Menschen. »Nein«, sag-te er. »Das ist zu riskant.«

»Ich bin mir sicher, daß ich einen Zugangfinde«, erklärte der TLD-Agent selbstbe-wußt.

»Ja, das glaube ich«, erwiderte Bull zwei-deutig. »Aber wir werden unseren Zugangwoanders suchen.« Er zeigte mit dem Fingeran der opalisierenden Wand des Herzdomshinauf. »Du weißt doch - ich fliege nun malgern.« Er hatte Widerspruch erwartet, aberder junge Kybernetiker nickte nur gleichmü-tig.

Sie schalteten ihre Flugaggregate in Ein-satzbereitschaft. Bull sah noch einmal zwi-schen den Schienen hinab. Ja, die Maschendes stählernen Gitters, auf dem die obersteEbene des Stützpunktes ruhte, wären weitgenug gewesen, um sie hindurchzulassen.Aber sie wußten überhaupt nichts darüber,wie es dort unten aussah. Nein, nicht dorthinab. Alles in ihm sträubte sich gegen dieseVorstellung, und wenn er etwas gelernt hattein seinem langen Leben, dann das, auf sol-che instinktiven Regungen zu hören.

Der Zug wechselte mit einem scharren-den, schleifenden Geräusch das Gleis undschickte sich an, in eine der kürzeren Quer-achsen abzubiegen. Sie sahen einander an.Jeder Moment war so gut wie der andere.Auf ein Nicken Bulls hin hoben sie ab und

schossen an der wenigstens hundert Meterhohen Umfassung des Herzdoms empor.

Die Wand huschte an ihnen vorbei wie ei-ne gewaltige Kostbarkeit aus reinem Perl-mutt, sanft schimmernd, ein Fluß aus wei-chem Silber. Ein seltsamer Kontrast zu denschwarzen, kantigen, stinkenden Fabrik-schluchten ringsumher.

Dann, wenige Sekunden später, hatten sieden oberen Abschluß erreicht und landetensanft am Rand der weiten Kuppel, die denHerzdom überspannte.

Und sahen hinab in das Innere des riesi-gen Bauwerks.

»Was, um alles in der Welt, ist das?«murmelte Bull unwillkürlich.

Aber natürlich wußte er sofort, was eswar. Auch wenn von all den Raumschiffen,die er in seinem langen Leben zu Gesichtbekommen hatte, noch keines so seltsamausgesehen hatte wie dieses.

6.

Das Gebilde bestand aus einem kleinen,kugelförmigen Zentrum, um das herum zweigewaltige Ringe kreisten, die über je zweisenkrecht zueinander stehende Achsen nachdem Prinzip der kardanischen Aufhängungmiteinander verbunden waren. Der äußereRing konnte demnach im Nu in jede beliebi-ge Raumposition gedreht werden, und da erpraktisch nur aus Triebwerken zu bestehenschien, sah das Ganze aus wie der Versuch,ein extrem wendiges Raumschiff zu bauen.

Und, überlegte Reginald Bull, es mußteein wahrer Alptraum sein, es zu steuern.

Eine Raumschiffswerft, das war es also,was die Korrago hier betrieben. Das erklärtedie enorme Größe der Anlage. Seltsam warallerdings, daß der ganze Aufwand für eineneinzigen Hangar betrieben wurde. Wenn dieganze Infrastruktur schon bestand, wäre esnaheliegend gewesen, eine ganze Reihe vonRaumschiffen gleichzeitig zu bauen.

»Es ist wunderschön«, meinte Skill Mor-genstern beeindruckt.

»Solange man nicht der Pilot ist, ja«,

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knurrte Bull.Es schien gerade so etwas wie ein Test-

lauf stattzufinden. Das gewaltige Gebilde,das insgesamt an die dreihundert Meterdurchmessen mußte, hing frei schwebend inAntigravfeldern, und die äußeren Ringedrehten sich in geradezu hypnotisierenderWeise ineinander, um und um und um. Hel-les, aus tausend Scheinwerfern auf die kreis-runde Werfthalle hinabbrennendes Lichtspiegelte sich in den Abstrahlkonen derTriebwerke, die allesamt auf dem äußerenRing saßen und frisch und neu glänzten, undwurde in wild umherzuckenden Musternüber die Hallenwände, die Kräne und dieringsum führenden Galeriegänge geworfen,auf denen sich zahlreiche Korrago versam-melt hatten, um die Vorstellung zu verfol-gen.

Die Terraner waren einem solchen Raum-schiff noch nie begegnet. Sie hatten auchnoch nie von so einem Schiff gehört, obwohlsie mittlerweile einen ganz guten Überblicküber die Technologie der raumfahrendenVölker dieser Galaxis hatten. Eine derart ei-genwillige Konstruktion wäre aber mit Si-cherheit nicht unerwähnt geblieben.

Mit anderen Worten: Es mußte mit die-sem Schiff eine besondere Bewandtnis ha-ben.

Und sie durften nicht umkehren, ehe sienicht wußten, welche.

Ein dunkler Schatten, der sich in demdurchsichtigen Plastmaterial der Kuppelspiegelte, veranlaßte Reginald Bull, denKopf zu wenden. Kaum zwanzig Meter vonihnen entfernt schwebte ein dunkelgrauerGleiter in der Luft, ungefähr an der Stelle,an der sie heraufgeflogen waren.

»Skill?« sagte Bull halblaut und tastetenach dem Thermostrahler.

»Hm?« machte der junge Agent, immernoch ganz vertieft in den Anblick des Raum-schiffs.

»Ich glaube, du hattest recht mit deinenBedenken hinsichtlich der Flugaggregate.«

»Was?« Skill fuhr herum und schrak zu-sammen, als er sich der dunklen Vorderfront

des korragischen Gleiters gegenübersah.Bull faßte ihn hart am Handgelenk.

»Ruhig! Er kann uns nicht sehen.«»Sie haben uns geortet. Als wir am Dom

hochgeflogen sind.«»Ja. Wir müssen von hier verschwinden.«»Und wie?« Der Kybernetiker schaute

sich nervös um. »Ich sehe nirgendwo einenZugang zum Gebäude.«

»Aber ich«, sagte Bull und setzte sich inBewegung. »Komm!«

Die äußere Balustrade des Herzdoms waretwa zehn Meter breit und leicht abschüssig,ohne Geländer oder sonstigen Schutz - nichtunbedingt der Ort, an dem ein Vertreter fürLebensversicherungen seine Klienten spa-zierengehen wissen wollte. Und nirgendwowar so etwas zu sehen wie eine Tür, einSchott oder auch nur eine Klappe. Sie liefenüber schimmerndes, perlmuttfarbenes Mate-rial, hielten sich dicht am Rand der halb-durchsichtigen, überirdisch leuchtendenKuppel und versuchten, nicht auszurutschen.

Der Gleiter folgte ihnen. Langsam, beina-he zögernd, wenn nicht sogar unschlüssig -aber er folgte ihnen.

»Sie messen uns an!« Waren ihre Deflek-toren nutzlos? Skill sah im Laufen an sichhinab. Die Energieanzeige des kleinen Gerä-tes leuchtete, als wenn nichts wäre.

Bull blieb stehen. Gemeinsam verfolgtensie, wie ein blaßgelber Strahl aus einer An-tenne an der Unterseite des Gleiters herüber-fingerte und die Strecke abtastete, die sie ge-rade zurückgelegt hatten, etwa ein Sechsteldes Kuppelumfangs.

»Der Boden!« meinte Reginald Bullplötzlich, sah hinab und hob einen Fuß.Kaum merklich sah man eine Verfärbung ander Stelle verblassen, an der er gerade ge-standen hatte. »Das Material ist druckemp-findlich. Sie können feststellen, daß hier je-mand ist, und es irritiert sie, daß sie nieman-den sehen.«

Skills Kinnmuskeln spannten sich an.»Wann erreichen wir denn endlich den Zu-gang, den du gesehen hast?«

»Gleich«, antwortete Bull. »Wir sind

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praktisch schon da.«Damit trat er einen Schritt zurück, hob

den Strahler und schnitt mit einem blitz-schnellen, kreisenden Schuß ein ungefährfünf Meter durchmessendes Oval aus derKuppel heraus.

Der Lärm, der durch die Öffnung plötz-lich aus der Werfthalle zu ihnen heraus-drang, war ohrenbetäubend. Das Kuppel-fragment kippte nach innen, schien seitlichwegzugleiten und war noch nicht ganz ausdem Gesichtsfeld der beiden Terraner ver-schwunden, als bereits ein Dutzend undmehr Korragogleiter angeschossen kamen.

»Los!« brüllte Bull. »Du zuerst!«Skill Morgenstern sprang, ohne zu überle-

gen, durch die an den Rändern nachglühen-de, klaffende Kuppelöffnung und aktivierteerst im Fallen den Antigrav. Aus den Au-genwinkeln bekam er mit, wie die erstenStrahlschüsse an dem Schutzschirm zersto-ben, den Reginald Bull mit dem Instinkt ei-nes Mannes, der ungezählte Kämpfe über-lebt hatte, im richtigen Moment eingeschal-tet hatte, um ihn gleich darauf wieder auszu-schalten und sich gleichfalls in die Kuppelhinabzustürzen. Einen Augenblick späterwar er neben ihm, während oben hochener-getische Strahlen in die Kuppel einschlugenund glühende Plastmaterialfetzen wie einMeteoritenschauer über die Werfthalle her-abregneten.

»Sie sehen uns nicht!« rief Bull ihm zu.»Aber wir müssen trotzdem vorsichtig sein,um uns nicht zu verraten!«

In der Werft war die Hölle los. Die Korra-go, die auf den ringsum laufenden Balkon-gängen gestanden hatten, rannten jetzt, umsich in Sicherheit zu bringen. Das Raum-schiff hatte sich in einen enganliegenden,leicht violett schimmernden Schutzschirmgehüllt, an dem die Kuppeltrümmer zi-schend verglühten.

Ganz unten, am Boden der Halle, kamenandere Korrago hereingerannt, die Waffen inden Händen trugen und ihre Sehorgane su-chend nach oben richteten. Aber selbst wennsie Bull und Morgenstern gesehen hätten,

hätten sie wenig ausrichten können, weil dasRaumschiff mit seinem Schutzschirm zwi-schen ihnen lag.

»Wohin?« wollte Bull wissen.Solange es noch so laut war, mußten sie

nicht befürchten, gehört zu werden. Sieschwebten mitten über dem Raumschiff, dasmit seinen umlaufenden Rotoren bedenklicheinem hungrigen Häckselwerk ähnelte. Überder beschädigten Kuppel kreisten minde-stens zwei Dutzend Gleiter.

Skill Morgenstern drehte sich einmal umsich selbst und deutete dann, mehr oder we-niger aufs Geratewohl, irgendwohin. DerLaufsteg war an der Stelle verlassen, und esgab ein paar Türen weniger, aus denenplötzlich jemand kommen konnte, als an-derswo. Sie landeten und schalteten diewahrscheinlich immer noch verräterischenFlugaggregate ab. Skill zog seinen Kommu-nikator hervor. Die Impulsdichte war höherals je zuvor.

Er zeigte Bull den flimmernden Bild-schirm. »Wir müssen in unmittelbarer Näheder Zentralpositronik sein.«

»Gut!« Bull spähte über das Geländer hin-ab in die Halle. Die Kampf-Korragoschwärmten aus, erklommen in klirrendemGleichtakt Stahlleitern und Metalltreppen.Der unsterbliche Terraner umklammerte un-willkürlich seinen Thermostrahler fester, ob-wohl der gegen die kolossalen Handfeuer-waffen der Korrago nur wenig mehr als einSpielzeug war. »Können wir sie finden, be-vor die uns finden?«

»Sie muß hier irgendwo hinter den Wän-den sein …« Skill drehte den Kommunikatorin seiner Hand und versuchte, aus den wir-ren Bildern einen Sinn herauszulesen. In Ge-danken verwünschte er den Hersteller desGeräts - da wurde die Translatoreinheit seitStunden mit Impulsen geradezu überflutet,ohne sich bisher auch nur mit einem einzi-gen Hinweis zu melden!

Na gut, vielleicht war das nicht die Schulddes Herstellers.

»Skill!« mahnte Reginald Bull mit merk-licher Ungeduld in der Stimme. »Wir sollten

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uns allmählich wirklich etwas einfallen las-sen …!«

Skill starrte den unsterblichen Terranerverblüfft an. »Du hast doch einen Plan,oder? Ich meine, du würdest doch nicht aufsGeratewohl …«

Der Kybernetiker brach ab, als er Bull be-dauernd den Kopf schütteln sah.

»Es hängt an dir, Skill!« meinte er undzwang sich ein aufmunternd gemeintesGrinsen ab. »Hey - ich bin bloß verdammtalt, okay? Daß ich verdammt intelligent sei,habe ich nie behauptet.«

In diesem Augenblick schwang eine derTüren unweit von ihnen auf, ein kleiner Kor-rago mit seltsam schiefem Kopf und zweizierlichen Armen kam herausgeschossenund rannte davon - wie ein Nachzügler, derden großen Alarm auf der Toilette verpennthatte.

Bull reagierte sofort. »Dort hinein!«zischte er, tat einen mächtigen Satz hinüberund hielt die aufgeschwungene Tür fest.

Skill begriff. Sie konnten keine der Türenöffnen, ohne ihre Position zu verraten, fallseiner der Korrago mitbekam, daß sich daTüren von Geisterhand öffneten. Daß sie un-sichtbar waren, vermuteten die androidenWesen sicherlich längst. Aber diese Tür hat-te einer der Korrago aufgestoßen …Ermachte, daß er in den Raum dahinter kam,Bull folgte ihm und ließ die Tür zufallen.Mit etwas Glück war niemandem aufgefal-len, daß sie ein wenig länger offengestandenhatte als üblich.

*

Die opalisierende Umhüllung des Herz-doms war von innen durchsichtig. Der Bo-den, auf dem sie standen, reichte fast bis andas kostbar schimmernde Material heran,das allem, was draußen zu sehen war, eineneigenartigen Glanz verlieh. Zwischen derAußenwand und den einzelnen Stockwerkenverliefen freitragende Treppen und gitterum-hüllte Antigravschächte. Es war eine Kon-struktion, die auch einem zeitgenössischen

Museum gut zu Gesicht gestanden hätte.Nur daß hier keine Gemälde oder andere

Kunstwerke standen, sondern Maschinenunbekannter Funktion, Tische, die mit bizar-ren Bauteilen bedeckt, und große Kisten, diedamit bis an den Rand gefüllt waren.

Und alles lag wie ausgestorben. Die Kor-rago hatten diese weitläufigen Räume, dieoffenbar Werkstätten oder Labors darstell-ten, allesamt verlassen. Nur jenseits derWand zur Werft waren Geräusche zu hören,die allmählich lauter wurden und näher ka-men, hochzusteigen schienen wie Flut in ei-nem Abwasserkanal.

»Die Kampf-Korrago haben das Gebäudeevakuiert«, sagte Skill. »Jetzt durchsuchensie es, Stockwerk für Stockwerk.«

Bull nickte. »Dann müssen wir uns beei-len.«

Sie schlugen aufs Geratewohl eine Rich-tung ein. Die Durchgänge zwischen den ein-zelnen Räumen waren riesig, und zahlloseSchleifspuren am Boden ließen daraufschließen, daß öfter gewaltige Geräte um-hertransportiert wurden. Sie passierten ent-sprechend große Antigravschächte und brei-te Rampen in andere Ebenen. Nichts vondem, was sie sahen, wirkte vertraut.

Dann, als sie wieder an einem der großenLastenantigravschächte vorüberkamen, sa-hen sie drei Ebenen unter sich Korrago.

»Jetzt wird's lustig«, murmelte Bull unbe-haglich, als er sah, was die schwarzen We-sen taten.

Sie spannten Netze. Sie spannten ein Netzquer durch den Raum, spannten ein zweitesdavor und zogen dieses Netz dann vorwärts,schoben es dicht an allen Maschinen und an-deren Hindernissen vorbei, ließen keineLücke, durch die ein Unsichtbarer hätteschlüpfen können. Es war eine Treibjagd mitvergleichsweise primitiven Mitteln.

Ein unsichtbarer Eindringling hatte nurdie Wahl, in die andere Richtung zu fliehen- mit der Aussicht, nach und nach in die En-ge getrieben zu werden - oder sich gewalt-sam einen Weg durch das Netz zu bahnenund dabei seine Position zu verraten. Eine

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Alternative, die angesichts der schußbereitstehenden Korrago mit ihren überdimensio-nalen Handstrahlern wenig verlockend schi-en.

»Gar nicht dumm«, meinte Skill.Bull knurrte zustimmend. »Wenn sie es

richtig anstellen, kriegen sie uns damit.« Eswar eine mühsame Strategie, die die Korra-go verfolgten, und eine entsprechend langsa-me dazu, aber wirksamer, als es Bull undMorgenstern lieb sein konnte. Immerhinblieb ihnen noch etwas Zeit.

Sie wandten sich in die entgegengesetzteRichtung und folgten Skills seltsamem Spür-sinn eine Rampe hoch. Der Kybernetikerging, den Kommunikator in der Hand, aufein dünnes, bizarres Gitter zu, das an einerder Wände ungefähr anderthalb Quadratme-ter Fläche überdeckte.

»Eine der Funkstationen der Zentralpo-sitronik«, erklärte Skill bestimmt.

Bull musterte das Gebilde mißtrauisch.»Was heißt das?«

»Die Korrago stehen über das positroni-sche Netzwerk miteinander in Verbindung.Das ist sozusagen ihre Sprache. Es muß injedem Gebäude mehrere solcher Antennengeben.«

»Aha.« Er sah umher. Es machte ihn ner-vös, daß der Kybernetiker sich jedes Wortaus der Nase ziehen ließ, während ein paarStockwerke unter ihnen die Korrago Schrittum Schritt näher kamen. »Und was heißtdas? Daß wir nur den Leitungen folgen müs-sen, um die Zentralpositronik zu finden?«

»Genau.«Dieser Mann war ihm ein Rätsel. Viel-

leicht mußte jemand so sein, um sich in dieKorrago einfühlen zu können, aber das er-leichterte die Sache trotzdem nicht.

Skill folgte unsichtbaren Linien entlangvon Wänden, Böden und Decken, benutztedabei das Kommunikationsgerät als Detek-tor. Unsichtbare, die unsichtbaren Leitungennachspürten. Es ging durch mehrere großeund kleine Räume, schmale Gänge entlangund Wartungsschächte hinauf.

Einer dieser Schächte endete schließlich

an einem engen Durchstieg. Skill, der sichals erster hindurchschob, blieb auf der ande-ren Seite stehen. »Reginald?«

»Bully, wenn's recht ist.«»Willst du mal was ziemlich Aussichtslo-

ses sehen?«»Eigentlich nicht.« Bull folgte dem

TLD-Agenten durch das Schott und verzogdas Gesicht, als er sah, was Skill Morgen-stern meinte.

Das war Panzerstahl. Blau schimmernd,thermogehärtet und wahrscheinlich so dick,daß man mindestens das Bordgeschütz einerSpace-Jet gebraucht hätte, um ihn zuknacken.

»Dahinter ist die Zentralpositronik, neh-me ich an?«

Skill deutete mit einer Handbewegung an,wie die positronischen Leitungen ungefährverliefen. »Ja.«

»Du hast recht. Das sieht wirklich ziem-lich aussichtslos aus.«

Bull trat einen Schritt zurück und ver-suchte die Abmessungen des gepanzertenBereichs abzuschätzen. Er war groß und rag-te bis in das darüber liegende Stockwerkhinauf. Selbst wenn sie die Panzerung mitihren Thermostrahlern brechen konnten,würden sie dabei so viel Radau machen, daßdie Korrago nicht einmal mehr ihre Ortungs-geräte würden einsetzen müssen, um auf sieaufmerksam zu werden.

»Und wenn du einfach die Leitungen an-zapfst, die zur Funkstation laufen, nützt dirdas nichts?«

Skill schüttelte nur den Kopf, mit einemGesichtsausdruck, als habe Bull etwas un-säglich Dummes gefragt.

»Schon gut, schon gut.« Bull stemmte dieFäuste in die Seiten und sah an der unein-nehmbar wirkenden Festung empor.

Von fern war das Scharren und Kratzender netzespannenden Korrago zu hören. Siekonnten doch jetzt nicht einfach kehrtma-chen! Mal davon abgesehen, daß selbst dasvielleicht alles andere als einfach sein wür-de.

Da fiel ihm etwas ein. »Müßte das Ding

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nicht einen Zugang haben?« Er warf Skilleinen Blick zu. »Laß uns wenigstens maldrumherum gehen.«

Das war nicht so einfach. Der gepanzerteBereich war auf verzwickte Weise in einenWinkel eingebaut, in dem sich Ebenen undTrennwände trafen. Auf der anderen Seitegelangten sie schließlich in eine weitläufige,hohe Halle voll langer Reihen unbekannterAggregate, in deren Mitte eine breite Rampein die darunter liegende Ebene führte.

Gegenüber dem oberen Ende der Rampelag das Panzerschott der Zentralpositronik.

Es stand zwei Handspannen breit offen.»Das verblüfft mich jetzt doch«, meinte

Bull mißtrauisch und hob den Thermostrah-ler.

Skill trat - nach Bulls Maßstäben er-schreckend arglos - auf das Schott zu undnahm den Spalt in Augenschein. »Hier liegtein Werkzeug in der Rinne, das die Schottenblockiert. Jemand scheint es bei der Evaku-ierung fallen gelassen zu haben.«

Bull trat neben ihn. Ein entfernt an einenSchraubenschlüssel erinnerndes Metallteilhatte sich zwischen den beiden zufahrendenSchotthälften verkantet. Der Raum dahinterwar hell erleuchtet, der Spalt groß genug,um sich hindurchzuschieben, alles sah rich-tig einladend aus.

»Es könnte eine Falle sein.«Skill Morgenstern schüttelte nur kurz den

Kopf. »Nein«, sagte er, »ist es nicht.« Damitspazierte er hindurch.

Und nichts passierte.

*

Hinter dem Schott lag verblüffenderweiseerst einmal eine Werkstatt. Skill ging die Ti-sche entlang und versuchte, die Werkzeugezu identifizieren. Die Korrago nahmen hieranscheinend Feinarbeiten an positronischenSchaltungen vor.

Eine Treppe führte hinauf in einen Raum,der leer war bis auf einige mannshoheschwarze Zylinder, die, durch fingerdickeKabel miteinander verbunden, in einer Reihe

standen. Vierzehn Stück, um genau zu sein.Vor jedem der Zylinder stand eine leere Hal-terung, die so aussah, als hätte darin bis vornicht allzu langer Zeit ebenfalls ein solcherschwarzer Zylinder gestanden.

Skill sah von seinem Kommunikator aufund suchte Bulls Blick. »Das ist die Zentral-positronik.«

»Sehen ein bißchen anders aus als unserefrüher«, meinte Bull. »Kannst du etwas da-mit anfangen?«

»Ich hoffe es.« Skill öffnete das Fach ander Rückseite des Kommunikators.

Der große, durchsichtige Würfel am Endeder Reihe war vermutlich eine Art Ausgabe-einheit für dreidimensionale Darstellungen.Eingabegeräte konnte er nicht entdecken,und da die Korrago über Funk direkt mitdem positronischen Netzwerk kommunizier-ten, gab es wahrscheinlich auch keine. Daswürde schwer werden. Er zog wieder einenSensor hervor und stach ihn in eine der Da-tenleitungen zwischen den vierzehn schwar-zen Zylindern.

Jetzt erwachte die Translatoreinheit zumLeben! Sie mußte endlich auf irgendeine In-formation gestoßen sein, die es der winzigenSyntronik erlaubte, das Rätsel in Angriff zunehmen.

Denn nichts anderes war das Entschlüs-seln fremder Sprachen und ähnlicher Kom-munikationsformen: ein Rätselspiel, ein be-liebig kompliziertes Signalpuzzle. Entschei-dend war, das erste zuverlässige Steinchen,die erste verläßliche Information zu finden.War ein Anfang gefunden, sozusagen der er-ste Stein aus dem Damm des Unbekanntengebrochen, folgte der Rest oft mit unglaubli-cher Geschwindigkeit. Die logischen Prinzi-pien, nach denen ein Translator arbeitete,gingen bis auf die alten Arkoniden zurück,und schon deren Translatoren hatten zu derZeit, als es zu ersten Kontakten zwischenMenschen und Arkoniden gekommen war,oft nur wenige Minuten gebraucht, um einebeliebige Erdsprache zu entschlüsseln.

Hier hatten sie es offensichtlich mit einemkomplizierteren Verständigungssystem zu

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tun, als es eine alte irdische Sprache darstell-te. Es dauerte mehr als nur ein paar Minuten,bis der Translator fertig war. Dann rauschtenlange Listen von Begriffen über den Schirm.

»Was soll ich fragen?«»Frag, was es mit dem Schiff draußen auf

sich hat!« forderte ihn Bull auf.Eine entsprechende Abfrage war mit ein

paar Tastendrücken und einigen halblaut ge-murmelten Befehlen schnell formuliert. AlsAntwort wurde der große Bildwürfel hell,schien sich mit körnigem, feinverteiltemStaub zu füllen, der rasch kohlenschwarzwurde, und einzelne leuchtende Pünktchendarin ließen ein Bild des Weltraums entste-hen. Ein Bild, das sie beide nicht nur kann-ten, sondern an diesem Tag sogar schon ein-mal gesehen hatten.

»Der Kessel von DaGlausch!« sagte Bull.»Schon wieder!«

Eine Zwillingsgalaxie, bestehend aus ei-ner größeren und einer kleineren Galaxis,die durch eine Materiebrücke miteinanderverbunden waren. Irdische Astronomenkannten diese Galaxis seit Jahrtausenden un-ter der alten Bezeichnung M 51, und seit je-her hatte sie den plastischen BeinamenWhirlpool-Galaxis getragen. Früher hatteman ein riesiges Schwarzes Loch imSchwerpunkt dieser beiden Sternensystemevermutet, doch mittlerweile wußte man, daßes sich um ein anderes Phänomen handelnmußte. Ebenden Kessel, ein unzugänglichesGebiet, in dem sich unbekannte Vorgängeabspielten, deren Auswirkungen dennochdie ganze Doppelgalaxis in Mitleidenschaftzogen.

In dem Kubus erschienen Linien, überla-gerten sich in rascher Folge, alle von Lokyrdausgehend und sich dem Kessel aus den ver-schiedensten Richtungen nähernd.

Und kurz davor jeweils endend.»Sie bauen Raumschiffe, die den Kessel

erforschen sollen«, flüsterte Skill Morgen-stern. »Alle zwanzig bis fünfzig Jahre startetein neues Raumschiff, um in den Kessel zufliegen. Jedesmal wird es zerstört, ehe es inihn eindringt. Und sie versuchen es immer

und immer wieder - seit über fünfhundertJahren.«

Bull nickte düster. »Darum geht es hieralso. Um den Zugang zum Kessel.«

»Glaubst du immer noch, daß die Bilderin dem alten Tempel nichts zu bedeuten ha-ben?«

»Keine Ahnung«, brummte der alte Terra-ner, der in seinem Leben schon unzähligeRätsel wie dieses gesehen haben mußte. »Dafragst du mich wirklich zuviel.«

*

Bull fiel etwas ein. »Wie erhalten sie ihreDaten? Sie müssen doch irgendwie erfahren,was aus den Schiffen geworden ist, und überHyperfunk wird das hier ja wohl kaum funk-tionieren!«

»Ah ja«, nickte Skill. »Stimmt.«Der junge Kybernetiker formulierte neue

Befehle, und das Bild im Kubus verändertesich. Jede einzelne Flugbahn schien plötz-lich von einem Gespinst hauchdünner Fädenumflochten zu sein.

»Jedes Schiff wird von einem Schwarmautomatischer Beobachtungssonden beglei-tet, die nach dem Ende der Mission mit allenAufzeichnungen nach Lokyrd zurückkeh-ren.«

Bull rieb sich nachdenklich den Nasen-rücken. Man durfte nicht den Fehler ma-chen, die Korrago für simple Roboter zu hal-ten. Sie waren mehr als das.

Roboter wären nicht imstande gewesen,die Daten solcher Kesselflüge selbständigauszuwerten und darauf aufbauend neueRaumschiffstypen zu entwickeln. Die Korra-go von Lokyrd dagegen waren intelligentgenug dazu. Selbst das Vorgehen des Such-trupps bewies das. Sie hatten wahrscheinlichnoch nie mit Unsichtbaren zu tun gehabt -sonst hätten sie zunächst Infrarotdetektoreneingesetzt -, aber sie hatten aus ihren Beob-achtungen den Schluß gezogen, daß ein odermehrere Unsichtbare in den Herzdom einge-drungen sein mußten, und eine simple, aberwirksame Taktik entwickelt.

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Skill betrachtete den Kommunikator mitdem versonnenen Blick, der Bull mehr undmehr unheimlich wurde, und drehte das Ge-rät schließlich herum, um eine Art Typen-schild auf der Rückseite eingehend zu stu-dieren. »Das Ding hat nur ein Syntronele-ment der Klasse Null«, meinte er. »Aber eszapft diese Positronik an, als ob es das Ein-fachste der Welt wäre.«

»Ich fühle mich mit ein bißchen technolo-gischem Vorsprung ganz gut«, versetzteBull. »Wenn unsere Situation sonst schonnicht sehr rosig ist.«

Skill sah hoch. »Ich dachte an die Syntro-niken in meinem Kopf. Das sind Elementeder Klasse Sieben. Wenn wir die mit demDatennetz der Korrago verbinden würden,könnte ich den gesamten Stützpunkt kontrol-lieren.«

»Toll!«, knurrte Bull. »Und wie sollen wirdas machen? Dir den Schädel aufmeißeln?Blödsinn! Wir müssen einen anderen Wegfinden.« Er musterte die Zylinder. »Waspassiert, wenn wir die zerstören?«

»Es gibt mindestens drei weitere Zentral-positroniken.«

Bull zerdrückte einen Fluch zwischen denZähnen, der zu alt war, als daß Skill Mor-genstern ihn als solchen erkannt hätte.»Dann läuft es mal wieder auf die Idiotenlö-sung hinaus.«

»Idiotenlösung?« echote Skill.Bull warf ihm einen freudlosen Blick zu.

»Gewalt«, begründete er.Sie würden sich den Weg zurück frei-

schießen müssen, darauf lief es hinaus. Undob ihnen das gelingen würde, stand in denSternen. Die Korrago waren gefährlicheKämpfer, wie die Ereignisse auf Kre'Paingezeigt hatten. Bull sah sich um, hinaus überden riesigen Korrago-Stützpunkt, der vomInneren des Herzdoms aus wirkte wie eineverzauberte Stadt. Lediglich die Gleiter, diesich in immer größerer Zahl ringsumher ver-sammelten, wollten nicht so recht zu demidyllischen Bild passen.

Sein Blick fiel wieder auf den Turm, derschlank und kühn aus der Mitte einiger nied-

riger Gebäude auf der anderen Seite derSchienen in die Höhe ragte und den er schonvon ihrem Landeplatz aus bewundert hatte.

»Was hat es eigentlich mit diesem Gebil-de da auf sich?« wollte er wissen.

Skill brauchte nur einen Moment, um derPositronik die entsprechende Information zuentlocken.

»Bemerkenswert«, meinte er. »Das ist einultrastarker Hyperfunksender. Er ist für eineso hohe Leistungsaufnahme gebaut, daß ersich spätestens eine Minute nach Inbetrieb-nahme selbst zerstören wird.«

»Mit anderen Worten, er war noch nie inBetrieb.«

»Aber wenn die Korrago ihn je einschal-ten, wird er das Störfeuer von Poroniudurchdringen.«

Die beiden Männer sahen einander an. Siebegriffen gleichzeitig, was das bedeutete.Der Sender stand für den Tag bereit, an demes einem der hier entwickelten Forschungs-schiffe gelang, in den Kessel vorzudringen.Der Sender war dafür gedacht, dem Auftrag-geber dieses ungeheuren Unternehmens dieErfolgsmeldung sofort zu übermitteln.

»Die Koordinaten.« Bulls Stimme klangauf einmal belegt. »Auf welche Koordinatenist der Sender gerichtet?«

Skill schüttelte entmutigt den Kopf. »Ichkomme nicht dran. Nicht so.«

Bull holte tief Luft und sah den jungenTerraner ernst an. »Skill, es ist von wirklichentscheidender Bedeutung, daß wir dieseKoordinaten bekommen. Es könnte einesTages eine Frage von Leben und Tod fürMillionen von Intelligenzen sein.«

»Die einzige Möglichkeit, die mir einfällt…« Der Kybernetiker zögerte. »Ich habe sievorhin erwähnt.«

»Die Kopplung mit deinen Syntroniken?«»Ja.«»Du willst doch nicht etwa behaupten, es

gäbe in deinem Kopf eine Schnittstelle?«»Nein.«»Womit diese Möglichkeit ohnehin keine

ist.« Bull war sich beinahe sicher, daß dieImplantation einer solchen Schnittstelle ge-

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gen die ärztlichen Statuten verstoßen undSkills behandelnden Arzt seine Approbationgekostet hätte.

Etwas in ihm sträubte sich gegen die Vor-stellung, den Kybernetiker seinen eigenenVerstand mit dem Netz der Korrago verbin-den zu sehen, und er war beinahe erleichtert,daß es nicht ging. »Der einzige Weg, der mirjetzt noch einfällt, führt hinüber in den Sen-deturm. Wir holen uns die Koordinaten di-rekt aus dem Abstrahler.«

7.

Sie standen am Rand des Lastenschachtsund sahen hinab. Der Anblick, der sich ih-nen bot, war nicht ermutigend. Die Korragokamen immer näher, und es schienen immermehr zu werden. Und sie hielten ihre Netz-spannerei eisern durch.

Reginald Bull zog ein Etui mit zehnknapp fingerlangen Miniaturgranaten ausder Tasche. »Also, man hat mir gesagt, duseist der große Korrago-Experte«, meinte erleise.

»Nun mach mal einen Vorschlag, wie wirsie aus dem Konzept bringen können!«

Skill preßte die Lippen zusammen, denBlick auf die Schritt um Schritt vorrücken-den schwarzen Horden gerichtet.

Ein Blick, der etwas Glasiges bekam,während Skill nachdachte.

Bull wartete mit mühsam gezügelter Un-geduld. Er nahm die erste Granate herausund klappte ihre Stabilisierungsflügel vonHand auf. Wahrscheinlich würden sie einAblenkungsmanöver starten müssen.

Die Granaten waren lenkbar und unauffäl-lig. Sie konnten alle auf einmal hinab-schicken und gleichzeitig an zehn verschie-denen Stellen auf den Stockwerken unter ih-nen explodieren lassen. Das sollte dieschwarzen Androiden erst einmal ausrei-chend beschäftigen …

»Draußen«, flüsterte Skill plötzlich. »Wirmüssen sie glauben machen, wir seien drau-ßen.«

»Und wie, wenn man fragen darf?«

»Wir müssen ihnen etwas geben, das sieanmessen können.« Er nahm Bull die Grana-ten aus der Hand. »Impulstriebwerke.«

Er ging mit den zehn Geschossen hinüberzu einem der Arbeitstische. Bull verfolgteverblüfft, wie der junge Terraner bemer-kenswert geschickt und leise mit dem frem-den Werkzeug hantierte und die Granaten imHandumdrehen zu einem kompakten Bündelverband. Dann stellte er die winzigen Steue-rungsregler ein: maximale Flugdauer, Gera-deausflug, Detonation bei Kontakt.

Bull begriff, was Skill Morgenstern vor-hatte. »Und du meinst, darauf fallen sie her-ein?«

»Die Unsichtbaren sind gekommen«, er-widerte der TLD-Agent leise, »sie müssenirgendwann auch wieder gehen.«

»Das ist verdammt riskant.«Skill schwieg nur, die gebündelten Grana-

ten startbereit in der Hand. Bull seufzte. Naschön. Daß es kein Spaziergang werdenwürde, hatten sie schon gewußt, als sie indie Kapsel eingestiegen waren. Er zog denThermostrahler und suchte die beste Positi-on.

Er wechselte noch einmal einen Blick mitdem Mann, der sich so gut in die Korragohineindenken konnte. Skill nickte nur.

Der gleißend helle Strahl aus dem Laufseiner Waffe fraß sich zischend in das perl-mutterne Material der Außenhülle.

Heller Widerschein loderte bis in dieStockwerke unter ihnen hinab, und sie hör-ten die Korrago schon rennen, noch ehe Bulldas ganze Rund vollendet hatte. Die ausge-schnittene Scheibe, weißglühend und ver-schmort an den Rändern, wölbte sich mit ei-nem elenden Seufzen auswärts, brachschließlich ab und segelte trudelnd davon,hinweg über die Gleise tief unter ihnen.

Da hatte Skill die Granaten schon gestar-tet. Einen Augenblick lang sah man die win-zigen Silberlinge davonjagen, dann warensie nicht mehr wahrzunehmen.

So klein, wie sie waren, blieben sie so gutwie unsichtbar.

Die Gleiter, die den Herzdom mittlerweile

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in schier unüberschaubarer Anzahl um-schwirrten, ruckten beinahe sofort herum,orteten die winzigen Impulstriebwerke undnahmen die Verfolgung auf. Grell aufflam-mende Strahlschüsse zerschnitten denschwarzblauen Himmel. Alles ging er-schreckend schnell, ohne jedes Zögern, ohnejede merkbare Verwirrung.

Die ersten Korrago kamen über Treppenund Rampen hochgestürmt, riesige schwarzeGestalten, unbekleidet, unheimlich mit ihrerdicken, glatten Kunsthaut und den gewaltigaussehenden Waffen in ihren Händen.

Da - eine gewaltige Explosion zerriß denHimmel über Lokyrd, schmerzte selbst ausder Entfernung in den Augen!

Bull wandte den Kopf ab. Die Strahlkano-nen der Korrago hatten ihr Ziel gefunden.

Ein paar Augenblicke später rollte der Ex-plosionsdonner heran und ließ den gesamtenHerzdom erzittern, als habe jemand mit ei-nem riesigen Hammer dagegen geschlagen.Der Boden unter ihren Füßen bebte.

Bull gab dem jungen TLD-Agenten einenWink. Jetzt oder nie! Diesen Augenblick derAblenkung galt es zu nutzen.

Sie huschten, immer noch unsichtbar fürdie Wahrnehmung der Androiden, die Ram-pe hinab, über die ihre Verfolger geradehochgestürmt waren, den letzten Nachzüg-lern sorgfältig ausweichend. Jetzt mußten sieschnell sein, schnell und leise. Ein Keuchenkonnte sie verraten oder ein zu lauter Schritt,alles.

Bull sah sich um, mit weit geöffnetemMund atmend. Bald mußten sie die Front derNetze erreichen. Wahrscheinlich hatten sienur Augenblicke Zeit, ein Schlupfloch zufinden. Sie mußten hoffen, daß irgendwo ei-nes der verdammten Dinger lose herabhing,im Stich gelassen in dem Moment, als dieKorrago losgestürmt waren. Daß es irgend-wo eine Lücke gab, durch die sie schlüpfenkonnten …

Bull traute seinen Augen nicht, als sie dienächste Rampe hinabkamen, blieb unwill-kürlich stehen. Das war ja unglaublich! Daßdie Korrago schnell reagierten, hatten sie ja

gerade erlebt, aber damit hatte er nicht ge-rechnet!

Es wimmelte auf diesem Stockwerk vonschwarzen Gestalten, und alle waren sie be-reits emsig damit beschäftigt, die Netze wie-der von den Wänden abzulösen, einzurollenund zusammenzufalten. Maschinelle Logik -die Eindringlinge hatten den Herzdom ver-lassen, also machte es keinen Sinn, die Su-che noch länger fortzusetzen.

Mit anderen Worten: Sie konnten prak-tisch unbehelligt zwischen ihren Verfolgernhindurchspazieren.

*

Der TLD-Agent grinste triumphierend.Mit Handzeichen deutete er an, daß sie tieferhinunter müßten, um einen unterirdischenDurchgang zum Sendeturm zu finden. Bullnickte ergeben. Also gut. Wie es aussah,kannte der junge Kybernetiker sich mit denKorrago ja tatsächlich aus. Vielleicht war esam vernünftigsten, ihm die weitere Führungzu überlassen.

Ihm waren sie unheimlich. Ihn schauder-te, wenn er sich an einem der Korrago vor-beidrücken mußte, die wie billiges Plastikglänzende Haut aus der Nähe sah, den eigen-artigen Geruch wahrnahm, der das künstli-che Wesen umgab. Diese Reaktion, überleg-te er dabei, war reichlich merkwürdig für je-manden wie ihn, der es in seinem Lebenschon mit den bizarrsten Lebewesen desUniversums zu tun gehabt hatte.

Zwar waren keine Netze mehr gespannt,aber es wurde trotzdem zunehmend schwie-riger, sich unbemerkt durch all die Korragohindurchzuwinden, die ihnen in breitemStrom entgegenkamen, um ihre durch dieEvakuierung unterbrochene Arbeit wieder-aufzunehmen.

»Laß uns die Treppen dort nehmen«, wis-perte Skill, als sie sich gerade einmal wiederin letzter Sekunde in eine Nische drückten.

Er deutete auf die schmalen Metallgitter-treppen, die in dem freien Raum zwischendem Rand der einzelnen Ebenen und der

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Außenwand aufwärts und abwärts führten.Die Korrago ignorierten diese Treppen, siebenutzten die Antigravschächte danebenoder die breiten Rampen, die von Stockwerkzu Stockwerk führten.

»Mmh«, brummte Bull unwillig. DieTreppen waren schon verdammt schmal.»Wenn uns da einer entgegenkommt, kön-nen wir nicht ausweichen.«

»Die sind bestimmt nur für Notfälle ge-dacht.«

»Meinst du?« Irgend etwas wollte ihmnicht gefallen an der Idee.

Später sollte ihm klarwerden, daß sich indiesem Moment jener Instinkt für Gefahrengemeldet haben mußte, der sich in dieserForm nur im Lauf eines abnormal langenLebens bilden konnte. So aber zuckte er nurunbehaglich mit den Achseln und meinte lei-se: »Also gut. Ich gehe voran.«

Sie paßten eine Lücke ab, huschten zwi-schen den emsig daherstapfenden Korragohindurch, zwängten sich an Regalen vorbei,die vollgestellt waren mit großen und klei-nen Behältern aller Art, und hielten auf denTreppenabgang zu. Tatsächlich, die Korragobenutzten diese Treppen nicht. So, wie auchdie Nottreppen entlang der Antigravschächtein terranischen Schiffen so gut wie nie be-nutzt wurden.

Es war vielleicht der Instinkt, der Bullveranlaßte, sich nach Skill umzusehen, kurzbevor sie den Treppenabgang erreicht hat-ten.

Und noch zu sehen, wie er stürzte.»Skill!« Die Lippen des unsterblichen

Terraners formten den Laut, aber seine Keh-le unterdrückte ihn.

Reginald Bull warf sich herum. Auf denersten Blick war man geneigt, ihn für über-gewichtig zu halten; in Wahrheit war Bullein wahres Kraftpaket und beweglich wieein Gummiball. Aber er kam zu spät.

Der eine Blick, die eine Sekunde hattenihm genügt, um zu erkennen, was los war.Skill fiel nicht etwa, weil er ausgerutschtoder gestolpert war - Skill Morgenstern fiel,weil sein linkes Bein haltlos einknickte. Und

das konnte nur eine Ursache haben: Dagöer.Aber zu spät. Er stürzte, sackte hilflos zu-

sammen, hatte sogar die Selbstbeherrschung,nicht auf der Suche nach einem Halt wildum sich zu schlagen, fiel dennoch gegen ei-nes der Regale, riß eine Reihe metallenerBehälter mit, die scheppernd in alle Richtun-gen kollerten, und schlug mit dem Gesichtauf dem Boden auf. Sein Thermostrahlerentglitt seinen Händen, entglitt dem Deflek-torfeld, schlitterte über den Rand der Trep-pe, fiel hinab auf eine der metallenen Stufen,prallte mit unüberhörbarem Dröhnen auf,fiel weiter, auf die nächste Stufe, laut, miß-tönend, fiel und fiel und fiel immer weiterund erfüllte den ganzen Bau mit seinen ver-räterischen Schlägen.

Bull erreichte Skill mit einem weitenHechtsprung, der auf einem Planeten miterdähnlicher Schwerkraft selbstmörderischgewesen wäre, aber auch er konnte nichtmehr verhindern, daß ein Behälter, der imobersten Regalfach umgestürzt war, sich indiesem Augenblick über sie entleerte: Fei-ner, metallischer Staub rieselte auf sie herab,der mit ihren Deflektorfeldern reagierte undden paar Korrago, die gerade hersahen, denAnblick zweier scheinbar im Nichts goldenaufleuchtender, annähernd humanoider Um-risse bot.

Die Korrago hätten komplette Idioten seinmüssen, um nicht zu verstehen, was hier vorsich ging. Und die schwarzen Androidenwaren alles andere als Idioten. Das vielhun-dertfache Trappeln ihrer Schritte, das raschanschwoll und näher kam wie heranrollendeBrandung, kündete davon.

Bull hatte den jungen Kybernetiker imnächsten Moment vom Boden aufgehoben,um sie beide aus der Gefahrenzone zu brin-gen.

»Skill, sag etwas! Bist du verletzt?« Blö-de Frage. Durch seine dunkle Haut hindurchschimmerten schwarzviolette Blutergüsse.

Skills Augen öffneten sich flatternd. »Ich…ich hab's vermasselt, oder?« krächzte er.

Die ersten Strahlschüsse schlugen an derStelle ein, an der sie bis gerade eben noch

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gelegen hatten.»Ich schätze, du kannst nichts dafür«,

wich Bull aus, aber da hatte Skill das Be-wußtsein schon wieder verloren.

Bull warf ihn sich über die Schulter, akti-vierte das Antigravfeld und das Impulstrieb-werk und schoß senkrecht nach oben. Daß erim selben Moment als hellstrahlender Punktauf den Orterschirmen der Korrago auf-tauchte, darauf konnte er jetzt keine Rück-sicht mehr nehmen. Jetzt galt es, einfach nurzu entkommen.

Draußen waren plötzlich wieder die Glei-ter. Mit ihren Bordgeschützen und Hochlei-stungsortern umsummten sie den Herzdomwie ein Schwarm wütender Hornissen, dienur darauf warteten, sich auf die Eindring-linge zu stürzen. Die Terraner hatten keineChance, das Gebäude zu verlassen.

Bull flog Zickzack, änderte den Kurs allepaar Sekunden, huschte an der Decke ent-lang, stürzte sich jählings wieder in den frei-en Raum eines Lastenschachtes. Und das al-les mit einer Hand steuernd und mit der an-deren den Körper des jungen Kybernetikersumklammernd, der ihm bewußtlos über derSchulter hing. Der wog zwar nichts im Anti-gravfeld, aber die Massenträgheit wirktedennoch, und bei jedem Kurswechsel war esBull, als würde ihm der Arm aus dem Schul-tergelenk gerissen.

Lange würde er das nicht machen können.Es konnte nicht mehr lange dauern, bis dieZentralpositronik die Ortungsergebnisseausgewertet, sein Bewegungsverhalten ana-lysiert und eine Abfangstrategie errechnethatte, mit der sie ihm unweigerlich zuvor-kommen würde. Schon jetzt fielen die erstenSchüsse.

Die Zentralpositronik! Wenn das Schottnoch offenstand …Wenn die zurückkehren-den Arbeiter-Korrago es noch nicht erreichthatten …Wenn wir es bis zur Positronikschaffen, haben wir eine Tür, hinter der wiruns verschanzen können!

Skill Morgenstern lag da, die Augen ge-schlossen, fühlte die Kühle des metallenenBodens und lauschte auf die ferne, wilde

Symphonie schwerer, hastiger Schritte undfauchender Strahlschüsse, knatternde Salvenmanchmal, dann wieder einzelne, donnerndeEntladungen, die im ganzen Bau widerhall-ten. Es roch nach Ozon.

Seine Hand tastete über das, was er nichtmehr als seinen Oberschenkel fühlen konnte.Die Zehen spürte er noch, er konnte sie be-wegen und auch noch den größten Teil desUnterschenkels. Er konnte den Oberschen-kel ebenso bewegen, aber er erhielt keineRückmeldung, fühlte nicht, was er tat.

Bull feuerte wie ein Automat. Zwei Ener-giezellen lagen schon ausgebrannt nebenihm, und die Luft schien allmählich wärmerzu werden von dem Feuergefecht. Irgendwiehatte Bull es geschafft, den Spalt zwischenden beiden Panzerschotten bis auf die Breiteeiner Hand zu verkleinern, gerade genug,um hindurchzuschießen. Die Abschirmun-gen der Wände würden dem Ansturm derKorrago eine Weile standhalten.

Aber eben nur eine Weile.Skill konnte sich vorstellen, welcher Teil

seines Gehirns gerade dabei war, zu zerfal-len. Soviel hatte er inzwischen über neurolo-gische Anatomie gelernt. Unwillkürlich ta-stete er über seinen Schädel, suchte die Stel-le, als erwarte er, ihn an einer Stelle weichwerden zu fühlen wie eine angematschteFrucht. Ein Teil des sensorischen Kortex,knapp fingerbreit rechts des Scheitels. Wennder Schub rechtzeitig zum Stillstand kam,würden bald andere Hirnregionen die ausge-fallenen Funktionen übernehmen, er würdewieder laufen können und noch eine Weiledurchhalten.

Aber eben nur eine Weile …Feuerpause. Draußen, auf der anderen

Seite des Türspalts, herrschte Ruhe. Bullgriff wieder nach dem Funkgerät, das er aufNormalfunk geschaltet hatte, weil Hyper-funk keine Chance gehabt hätte gegen dieSonne Poroniu.

»Reginald Bull ruft die GLIMMER«, wie-derholte er zum wer weiß, wievielten Male.Schon vor einer halben Stunde hatte er da-mit begonnen, die GLIMMER zu rufen, hat-

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te alle Informationen durchgegeben, die siehier auf Lokyrd gewonnen hatten. »Perry,bitte melde dich! Wir stecken in ernstenSchwierigkeiten.«

Skill öffnete die Augen, stützte sich aufdie Ellbogen. Sie sahen sich an. Keiner vonihnen sprach aus, was sie beide wußten: DerFunkspruch kam nicht durch. Das Schiff desBebenforschers konnte nicht weiter als zehnLichtminuten entfernt sein. Perry Rhodanhätte sich, wenn er sie empfing, längst mel-den müssen.

War das nun seine Schuld? Er hätte sichnicht auf diesen Einsatz einlassen dürfen. Erhätte Alashan überhaupt nicht verlassen sol-len. Trotzdem war da kein Gefühl vonSchuld oder Zerknirschung. War es schonsoweit? Zerstörte das Dagöer-Syndrom be-reits seine Gefühle?

Nein. Er fühlte ja etwas, etwas ganz ande-res: wilde Entschlossenheit. Es gab noch et-was zu tun.

Er setzte sich auf und versuchte, wiederauf die Beine zu kommen. Es ging, auchwenn es sich seltsam anfühlte mit der Emp-findung, keinen linken Oberschenkel mehrzu haben. Aber wenn er die Hand darauf be-hielt und auf diese Weise spürte, wo sich derSchenkel befand und wie sich die Muskelnbewegten, konnte er gehen. Ungelenk undwacklig, aber er kam vorwärts. Er nahm denKommunikator aus der Gürteltasche undhumpelte damit zu einer der Werkbänke.

»Was hast du vor?« wollte Bull wissen.»Es gibt noch etwas zu tun«, antwortete

Skill nur.Ja, es gab noch etwas zu tun. Etwas, von

dem er gehofft hatte, er würde es nicht tunmüssen.

*

Reginald Bull betrachtete das Bild derVerwüstung, soweit er es durch die schmaleÖffnung überblicken konnte, und überlegte,wie oft er in seinem Leben schon in ähnlichaussichtslosen Situationen gesteckt hatte. Zuoft jedenfalls, um noch in Panik geraten zu

können. Und oft genug, um dem Tod leiden-schaftslos ins Gesicht blicken zu können.

Aber noch war es nicht soweit. Aus allden aussichtslosen Situationen der Vergan-genheit hatte es ein Entkommen gegeben,und auch diesmal hatte er noch nicht das Ge-fühl, am Ende seines Weges angekommenzu sein.

Ich habe mich schon so daran gewöhnt,daß ich es wahrscheinlich nicht bemerkenwerde, wenn es tatsächlich soweit sein wird!dachte er.

Ein Zellaktivator bewahrte nur vor demnatürlichen Tod. Das hieß, der Tod, der dannauf ihn wartete, würde ein unnatürlicher, ge-waltsamer Tod sein.

Nun ja. Sinnlos, sich jetzt darüber Gedan-ken zu machen.

Die Stille beunruhigte ihn. Die Korragowaren gegen ihren gepanzerten Unterschlupfangerannt, hatten mit geballten Feuerstößenversucht, seine Verteidigung zu überwinden.Dann hatte all das plötzlich aufgehört, undsie waren verschwunden. Die Körper derzerstörten Korrago - Bull weigerte sich, denBegriff »getötet« zu verwenden - hatten sieachtlos liegenlassen.

Das war natürlich keine Kapitulation. Daswar die Ruhe vor dem Sturm. Bull konntebeinahe körperlich spüren, daß die Andro-iden einen Angriff planten, gegen den er miteinem Thermostrahler allein nichts würdeausrichten können.

»Skill - was haben die vor?« fragte erhalblaut.

»Uns zu überwältigen«, erwiderte der Ky-bernetiker einfach, ganz vertieft in seine Ar-beit.

»Ach! Danke für den Hinweis. Sag mal,was machst du da eigentlich?«

»Ich versuche, es zu verhindern.«Dieser Mann liebte es, in Rätseln zu re-

den. Bull stand auf und warf einen Blick aufden Tisch, an dem Skill in verkrümmter Hal-tung stand und mit fremdartigen, teilweiseüberaus filigranen Instrumenten hantierte.Das war doch der Kommunikator, an dem erarbeitete? Der Kybernetiker hatte die Rück-

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wand des Geräts geöffnet und war nun damitbeschäftigt, zwei positronische Anschlußad-apter so darauf zu befestigen, daß sie, unge-fähr eine Fingerlänge

voneinander entfernt, aus den Schaltele-menten herausragten wie zwei schlanke Tür-me, jeder etwa zehn Zentimeter

lang. Im Moment schliff er die Adapter-spitzen nach, schliff sie scharf zu wie zweiWaffen. Bull hatte keine Ahnung, was dasalles sollte.

»Ich muß mit Hilfe der Syntroniken inmeinem Kopf das positronische Netz derKorrago unter Kontrolle bekommen«, er-klärte Skill, als er Bulls Blick bemerkte.»Das ist unsere letzte Chance.«

»Ich denke, das geht nicht?«»Vielleicht doch.« Der dunkelhaarige

TLD-Agent legte das Werkzeug beiseite. Erblickte nicht besonders glücklich drein.»Eine Möglichkeit gibt es, die ich noch nichtausprobiert habe.«

»Und was für eine Möglichkeit ist das?«Skill antwortete nicht, sondern klemmte

sich den Kommunikator unter den Arm, leg-te die andere Hand auf seinen linken Ober-schenkel und setzte sich in Richtung derTreppe in Bewegung, die zur Zentralpositro-nik hinaufführte. »Ich gehe jetzt nach oben«,sagte er mit bebender Stimme. »Wünsch miralles Gute!«

»Alles Gute«, meinte Reginald Bull irri-tiert. »Ich hoffe, du weißt, was du tust.«

»Das weiß ich. Glaub mir, das weiß ichverdammt genau.«

Bull hatte keine Zeit, über diese Antwortnachzudenken, denn in diesem Augenblickwaren von draußen wieder heranstürmendeKorrago zu hören. Die zweite Angriffswellebegann.

*

Skill Morgenstern ließ sich gegen einender schwarzen Zylinder sinken. Sein Atemging schwer, als hätte er eine übermenschli-che körperliche Anstrengung hinter sich.Der Weg die Treppe hoch war anstrengend

gewesen, aber das war nicht der Grund. DerGrund war, daß er Angst hatte.

Als er Bull gesagt hatte, er könne mit sei-nen Syntroniken den gesamten Stützpunktder Korrago kontrollieren, war ihm zugleichdieser Gedanke gekommen, dieser grauen-hafte, über alle Maßen entsetzliche Gedan-ke. Und er hatte ihn nicht mehr verdrängenkönnen, nachdem er einmal dagewesen war.

Die ganze Zeit hatte er versucht, nichtdaran zu denken, und nun mußte er sehen,daß er geradewegs darauf zugesteuert war,als wäre alles unausweichlich gewesen. Nunsaß er hier und spürte sein Gesicht allmäh-lich taub und gefühllos werden.

Natürlich hatte Professor Ubarat die syn-tronischen Implantate nicht mit einerSchnittstelle versehen, und er hätte ein sol-ches Ansinnen auch entrüstet zurückgewie-sen. Die Implantate, hätte er argumentiert,waren keine Werkzeuge, sondern Prothesen.Sie in der gleichen Weise netzwerkfähig zumachen wie zum Beispiel die Schaltelemen-te von Haushaltsgeräten hätte die Würde ei-nes vernunftbegabten Wesens verletzt.

Er sah hinab auf den Kommunikator inseinem Schoß. Auf die beiden Adapter, dieaus dessen Rückseite herausragten wie zweischarf geschliffene Dolche.

Aber es gab eine Schnittstelle, trotz allem.Es gab eine positronische Leitung, die mitdem Netz der Syntroniken in seinem Schä-del verbunden war. Diese positronische Lei-tung diente ihm seit dem Ausbruch derKrankheit als Sehnerv.

Hinter seinen Augen. Es gab eine Schnitt-stelle, aber sie lag hinter seinen Augen.

*

Diesmal kamen sie mit wenigstens zehn-mal so vielen Kriegern. Bull feuerte und feu-erte, um ihren Vormarsch aufzuhalten, doches wollte ihm nicht gelingen. Die Waffe inseiner Hand begann heiß zu werden, und derGenerator seines Schutzschirms jaulte im-mer wieder auf, wenn ein Strahl seinen Wegdurch den Türspalt fand.

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Querschläger, Strahlschüsse also, die sei-nen Schutzschirm nur streiften und von demFeld abgelenkt wurden, hatten schon überallhinter ihm schwarzgekohlte Furchen inWände und Maschinen geschlagen. Irgend-wo hinter den Werkbänken hatte etwas Feu-er gefangen und begann, den Raum mit stin-kendem Qualm zu erfüllen.

»Perry!« brüllte er in das Mikrofon seinesFunkgeräts, unentwegt weiterfeuernd. »Fallsdu mich hören solltest, dann, bitte, beeildich! Skill ist ausgefallen, und ich versuchegerade, an die fünfhundert angreifende Kor-rago aufzuhalten.

Das überfordert mich etwas, muß ich zu-geben. Also bitte, was immer du tust - tu esschnell!«

Einen Augenblick lang durchzuckte ihndie Vorstellung, wie Perry Rhodan - nach-dem er festgestellt hatte, daß sie beide aufLokyrd den Tod gefunden hatten - den licht-schnellen Funksprüchen nachflog, sie ein-holte und abhörte wie einen letzten Gruß.Vielleicht sollte er noch etwas anfügen fürdiesen Fall, irgend etwas, das als letzterGruß auch taugte. Etwas, das er schon im-mer hatte sagen wollen …

Aber so etwas gab es nicht. Perry und erhatten einander alles gesagt, was Menscheneinander sagen können. Und ein letztes Le-bewohl wollte er sich für den Moment auf-heben, der tatsächlich der letzte sein würde.

Die nachtschwarzen Androiden kamenimmer näher. Er glaubte, bereits die Optikenhinter ihren senkrechten Augenschlitzenfunkeln zu sehen. In Gedanken hatte Bulllängst eine unsichtbare Linie in das Gebietgezogen, das vor dem Druckschott lag, unddiese Linie waren die Korrago gerade imBegriff zu überschreiten.

Rückzug war angesagt. Er packte den Me-tallblock, den er anstelle des Werkzeugs alsHindernis zwischen die Schotten gelegt hat-te, zog ihn mit einem Ruck heraus und ließdie beiden Hälften des Schotts vollends zu-fahren. Ende der Verteidigung.

Einen Herzschlag lang herrschte atemloseStille, dann waren wilde, rumorende Ge-

räusche auf der anderen Seite der Panzerungzu hören. Bull trat mit gezückter Waffe zu-rück in die Mitte des Raums, ohne dasDruckschott aus den Augen zu lassen. Eineautomatische Sprinkleranlage hatte das Feu-er gelöscht, dafür zogen jetzt helle Dampf-schwaden an der Decke entlang und misch-ten sich mit dem schwarzen Rauch. Es stanknach Zerstörung.

Viel schneller, als er gewettet hätte, zeich-neten sich die ersten rotglühenden Punkteauf der Innenseite des Schotts ab.

Die Hitze, die von ihnen ausging, brannteauf seinem Gesicht. Er weigerte sich immernoch zu glauben, daß dies das Ende seinsollte, aber sonderlich überzeugend kam ihmdiese Haltung nicht mehr vor.

*

Ich kann das nicht tun. Ich kann es nicht.Die Augen offen haben - und ich muß sie of-fen haben, um genau zielen zu können - undauf diese Spitzen starren, unbewegten Augesauf diese goldglänzenden Dolche starrenund …und zudrücken!? Ich kann es nicht.Niemand kann das von mir verlangen. Nie-mand. Nicht einmal, wenn ich andernfallssterben sollte …Niemand kann das von mirerwarten. Es geht nicht, nein.

Skill ließ den Kommunikator sinken,spürte Tränen, die über seine Wangen liefen.Er schluchzte. Es ging nicht. Er konnte dasnicht tun. Dabei hatte er sich das so glasklarvorgestellt, schrecklich zwar, aber …

Er würde neue Augen bekommen, daswar doch kein Problem, man würde ihmneue Augen klonen …Das konnte auch dieKlinik in Alashan. Es würde ein paar Mona-te dauern, ein paar Monate der Blindheit.Kein zu großes Opfer, wenn sie dafür hierentkommen konnten. Weiterleben.

Aber es dann tatsächlich zu tun …Nein.Etwas, das stärker war als sein Wille, als alleEntschlußkraft, als alle Verzweiflung. Die-ses Vorhaben überschritt die Grenze dessen,was sein Körper mit sich machen lassenwollte. Da war eine Kraft, eine elementare,

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animalische Kraft, gegen die seine Armevergebens ankämpften, wenn sie den Kom-munikator, die beiden Adapter gegen seinGesicht führten.

Aber sterben? Und sie würden sterben,wenn es ihm nicht gelang, die Kontrolle zuübernehmen. Gab es nicht Tiere, die sichselbst einen Fuß abrissen, nur um aus einerFalle zu entkommen? Skill betastete seinGesicht, die Haut um die Augen herum. DasBetäubungsmittel wirkte bereits. Alles fühltesich völlig stumpf und leblos an. Er würdekeinen Schmerz spüren.

Er nahm das Gerät wieder auf, umfaßte esmit beiden Händen, das kühle Plastmetall,hart und fest, führte es vor sein Gesicht.

Die Adapter. Spitz und scharf geschliffen.Er mußte es nur tun.

Skill spürte ein Zittern in seinen Oberar-men, und sein Brustkorb ging wie ein Blase-balg. Da waren klagende, jammernde Lautezu hören, kamen die von ihm? Es war dochso einfach. Die Adapter würden müheloseindringen, schmerzlos, ohne Widerstand,würden den Kontakt herstellen zum Ver-bund der Korrago …

Die Korrago. Die in kristallener Klarheitlebten. Die einen Gesang der Stille sangen.

Die beiden schimmernden Punkte vor sei-nen Augen begannen zu verschwimmen. Erspürte einen Schrei, der sich aus der Tiefeseiner Kehle emporarbeitete. Nein. Nein.Das war mehr, als ein Mensch zu tun ver-mochte.

*

Bull hatte hinter einem widerstandsfähigaussehenden Maschinenblock, dessen Funk-tion ihm völlig unklar war, Deckung ge-sucht. Er beobachtete das Schott. Die rotglü-henden Punkte wurden weißglühend, ver-banden sich mit benachbarten Punkten zu ei-nem glühenden Oval.

Die Hitze wurde schier unerträglich, undalles wurde überlagert von einem nervenzer-fetzenden, kreischenden Geräusch, dasdurch die gepanzerten Wände drang und in

Bull die Vorstellung einer riesigen Maschinewachrief, eines Tunnelbohrers etwa, der vonder anderen Seite des gepanzerten Schottseingesetzt wurde, um gewaltsam einen Zu-gang zu schaffen.

Noch war er unsichtbar. Vor diesem chao-tischen Hintergrund würden sie ihn nichteinmal mit Infrarotdetektoren aufspürenkönnen. Aber er war hier drinnen gefangen.Wenn sie es einigermaßen klug anstellten,konnte es nicht lange dauern, bis sie ihn ein-gefangen hatten.

Das Kreischen erreichte seinen Höhe-punkt. Funken stoben von der Tür weg querdurch den Raum, dann brach das herausge-schmolzene Oval donnernd nach innen. DerLärm ließ nach, und ein schmaler Metallstegwurde durch die entstandene Öffnung ge-schoben. Bull hob den Kopf.

Die Ränder des Zugangs glühten nochhellgelb, aber die ersten Korrago-Kriegerkamen schon herein, mit gezückten Waffennach allen Seiten sichernd. Tatsächlich, aufder anderen Seite sah er ein gespanntesNetz. Keine Chance zu entkommen.

Draußen wurde die Maschine abgeschal-tet. Die Korrago verteilten sich ein paarSchritte voneinander entfernt im Raum undblieben dann stehen. Es wurde still bis aufdas Knacken des abkühlenden Metalls.

Ein bißchen zu still. Reginald Bull sahsich blinzelnd um. Was sollte das? Die Kor-rago rührten sich ja buchstäblich überhauptnicht mehr. Sie standen herum, als seien sieplötzlich zu Statuen erstarrt.

Bull stand auf. Nichts geschah. Wolltensie ihn anhand der Geräusche orten, die erverursachte? Noch übertönte das Knisternabkühlenden Metalls das Geräusch seinesAtems. Er verließ seine Deckung, ging einpaar Schritte auf die Korrago zu. Dieschwarzen Kolosse standen reglos. Ihre ver-tikalen Augenschlitze sahen blicklos auf ihnherab. Keine Reaktion.

Was ging hier vor? Hatte Skill es ge-schafft, das positronische System des Stütz-punkts zu übernehmen? Sein Blick fiel aufdie Werkbank, an der der junge Kyberneti-

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ker vorhin gearbeitet hatte. Neben der Rück-wand des Kommunikators lagen Injektions-ampullen des schmerzstillenden Mittels, dasBestandteil der Ausrüstung war.

Alle acht Ampullen. Alle leer.Eine ungute Ahnung beschlich Bull. Er

machte, daß er die Treppe hochkam.

8.

In seinem langen Leben hatte ReginaldBull viele schreckliche Dinge gesehen. Dieshier, das wußte er, war eines, das ihm langein Erinnerung bleiben würde.

Skill Morgenstern lag neben einem derschwarzen Zylinder auf dem Rücken, denKommunikator wie zum Schutz vor das Ge-sicht gepreßt. Die beiden Adapter staken tiefin den leeren Augenhöhlen, und blutige Gal-lerte lief ihm rechts und links über dieSchläfen in die Ohren und in die Haare.

»Ich habe es geschafft«, flüsterte er, alsBull neben ihm niederkniete. »Ich dachteerst, ich bringe es nicht fertig …Ich dachtewirklich, ich schaffe es nicht, aber ich hab'sgeschafft, nicht wahr?«

Bull schluckte mühsam. »Ja, Skill«,brachte er heraus. »Du hast es geschafft. DieKorrago rühren sich nicht mehr.«

»Ich sehe schrecklich aus, nicht wahr?«»Kann man sagen.«»Erschrick jetzt nicht! Ich lasse zwei Kor-

rago die Treppe heraufkommen, damit ichdurch ihre Optiken sehen kann.«

»Alles klar.« In seinem Magen revoltierteetwas, aber Bull beugte sich trotzdem hinun-ter, um sich die Wunde genauer anzusehen.Er sah leere, fleischig klaffende Öffnungen,blutverschmiert. An den goldschimmerndenAdaptern hingen noch Reste der Augäpfel.Skill hatte sogar daran gedacht, die Umge-bung der Augen vorher zu desinfizieren.

Hinter sich hörte er schwere Schritte.Zwei der schwarzen Riesen kamen die Trep-pe heraufgestapft, kamen näher und bliebendann stehen.

»Ach so«, sagte Skill. »Würdest du bitteunsere Deflektoren abschalten?«

Reginald Bull zögerte. »Du hast wirklichden ganzen Stützpunkt im Griff?«

»Völlig. Ein unbeschreibliches Gefühl.Ich sehe durch Tausende von Augen, höredurch Tausende von Ohren, habe Tausendevon Händen. Es ist wundervoll.«

»Na schön.« Bull desaktivierte ihre De-flektorschirme. Er sah, wie es in Skills Ge-sicht zuckte, als der junge Terraner sichdurch die Augen der Korrago so liegen sah.

»Ich sehe ja wirklich schrecklich aus«,murmelte er.

»Sagte ich doch.« Bull warf den Korragoeinen mißtrauischen Blick über die Schulterzu. »Meinst du, deine neuen Hände könnenuns dabei helfen, dich zurück zur Kapsel zuschaffen?«

Skill atmete einmal tief ein und wiederaus. »Reginald …«

»Du sollst mich Bully nennen.«»Ich komme nicht mit zurück.«Bull stieß einen ärgerlichen Laut aus.

»Unfug! Du mußt so schnell wie möglich inärztliche Behandlung.«

»Mein neuer Platz ist hier.«»Du wirst neue Augen bekommen. Wir

bringen dich nach Alashan in eine Klinik,und in ein paar Wochen kannst du wiedersehen.«

»Ich sehe jetzt besser als je zuvor.«»Skill, du kannst nicht hierbleiben. Auch

wenn es noch so wundervoll sein mag, durchtausend Korrago-Augen zu sehen - irgend-wann wird das Schmerzmittel nachlassen,und dann ist es vorbei mit der Herrlichkeit.Und du hast selbst gesagt, die Korrago wür-den dich nie akzeptieren.«

»Ich bin nicht darauf angewiesen, daß siemich akzeptieren. Ich beherrsche sie.«

»Zu herrschen ist doch kein Lebensin-halt.«

Skill atmete ein paarmal schwer, ehe erweitersprach. »Du gehst«, sagte er. »Ichbleibe.«

»Skill, sei vernünftig! Du kannst das nichtdurchhalten.«

Hinter sich hörte Reginald Bull nochmehr schwere Schritte die Treppe herauf-

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kommen, ein ganzes Bataillon, wie es klang.Er sah hoch, als die Schatten von einemDutzend Korrago auf ihn herabfielen.

»Weißt du«, meinte Skill mit ersterbenderStimme, »wir brauchen darüber eigentlichnicht zu diskutieren.«

*

Sie nahmen ihm das Deflektorgerät ab, al-les übrige ließen sie ihm, sogar den Thermo-strahler. Dann eskortierten sie ihn, zwölfschwarze, massive Kolosse, und wohin sieauch kamen, standen so viele Korragoschweigend Spalier, so daß nicht einmal imTraum an Flucht zu denken war.

Bull traute kaum seinen Augen. Auf jederEbene des Herzdoms Tausende von ihnen,schwarze Statuen mit glänzender Haut, reg-los.

Der Pulk der Gleiter draußen rings umden Dom war ein düsterer Schwarm, dersich unruhig bewegte. Sie brachten ihn zueinem großen Transportgleiter, der genugPlatz bot für ihn und seine Eskorte, und alssie über den Stützpunkt flogen, sah er aufden Dächern der Gebäude Zehntausende,nein, Hunderttausende von Korrago stehen,ein unheimlicher, ameisenhafter Aufmarsch,der ihm Schauer über den Rücken jagte.

Große und kleine, zweiarmige und vierar-mige, schmale und breite Korrago, eine un-übersehbare Vielfalt, und sie standen allebewegungslos in Reih und Glied, ergebeneTruppen eines diabolischen Diktators.

Verfolgten sie den Flug des Gleiters, derpfeilschnell auf die Pyramiden zuhielt?Dachten sie sich vielleicht ihren Teil? Wahr-scheinlich nicht. Es waren Roboter, halbor-ganische Androiden bestenfalls, hergestellt,nicht geboren.

Sie lebten nicht, sie funktionierten. Undim Augenblick funktionierten sie genau so,wie Skill Morgenstern es wollte.

*

Skill Morgenstern fühlte, wie ihm der

Schweiß über den Körper lief. Er hatte zuge-packt und alles in einen harten Griff genom-men, aber nun spürte er, wie das, was er ge-packt hatte, sich unter seinem Griff zu bewe-gen begann, wie es anfing, ihm zu entglei-ten. Einfach, weil es zu groß war für einen.

Es ist der Gesang der Stille, auf den dieKorrago hören - eine Melodie, die aus dembesteht, was zwischen den Tönen ist. DerKlang hinter den Klängen.

Er hatte sich überschätzt. Die überwälti-gende Wahrnehmung durch Tausende undaber Tausende von Sinnesorganen zugleichhatte ihn berauscht, hatte ihn übermütig wer-den lassen. Genau, wie der unsterbliche Ter-raner es gesagt hatte, ganz genau so. Undnun lag er da und kämpfte mit all seinerKonzentration an gegen den zähen kollekti-ven Willen der Korrago.

Ich singe mit in diesem Chor. Breite michaus. Erhebe meine Stimme. Bin ein Vorsän-ger. Erzwinge Unterordnung.

Was wird, wenn die Schmerzen zurück-kommen?

Ich gebe der Melodie eine andere Wen-dung. Schlage einen neuen Rhythmus …

Nicht daran denken. Die Kontrolle behal-ten. Sein Atem ging schwer, und seine Beinefielen in einen zitternden Krampf.

Zu viele. Es waren zu viele.

*

Der Gleiter setzte dicht neben dem Ver-steck der Forschungskapsel auf. Einer derKorrago öffnete die Tür. Bull stand auf.

»Tja«, meinte er, »da wären wir. Skill,falls du mich hören kannst: Leb wohl! Ichhoffe, du hast das Richtige getan.«

Die zwölf schwarzen Gesichter sahen ihnausdruckslos an. Keine Antwort. TausendMünder hatte Skill offensichtlich nicht.

Doch einer der Korrago beugte sich vor,streckte einen Finger aus und begann, Figu-ren auf den Boden des Gleiters zu malen.Bull erkannte erstaunt, daß es Buchstabendes terranischen Alphabets waren.

Beeil dich! entzifferte er.

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Das klang gar nicht gut. Bull starrte denmächtigen Androiden beunruhigt an. Wasimmer es zu bedeuten hatte, er konnte nichtstun.

»Du hättest mitkommen sollen, Skill«,sagte er.

Der Korrago deutete mit einer herrischenGeste auf das Ausstiegsluk.

»Schon gut, schon gut«, brummte Bullund stieg aus. Hinter ihm wurde das Luk so-fort wieder zugeschoben, und der Gleiterhob sich mit sirrendem Antigrav in die Hö-he.

Bull sah ihm kurz nach, dann stapfte erhinüber zu der Forschungskapsel, die unver-sehrt zwischen den Steinreihen lag. Als dasverklingende Fluggeräusch des Gleitersplötzlich wieder lauter wurde, wandte ersich alarmiert um. Die Korrago hatten essich offenbar anders überlegt. Der Gleiterhatte nach wenigen Kilometern gewendetund kam zurück. Bull sah einen Korrago inder offenen Luke stehen, den Strahler imAnschlag.

Beinahe automatisch riß er seinen Ther-mostrahler hoch, feuerte und traf das Antrie-bsaggregat des Gleiters. Das Fluggerät ver-ging in einem qualmenden Feuerball. Ermußte sich ducken, als rings um ihn Trüm-mer herabregneten.

Und vom Stützpunkt her war schon eineWolke von Gleitern hierher unterwegs.

»Verdammt noch mal!« Da war etwas ge-waltig schiefgegangen mit den Plänen SkillMorgensterns.

Reginald Bull machte, daß er in die Kap-sel kam, fuhr die Triebwerke im Alarmstarthoch und hob ab, gerade rechtzeitig, ehe dieGleiter Schußreichweite erreicht hatten.

*

Vernünftig wäre gewesen, den Orbit so-fort zu verlassen und zur GLIMMER zu flie-gen, die irgendwo in der Nähe der Sonnewarten mußte. Das sagte er sich nach jederUmrundung, jedesmal, wenn er den Stütz-punkt der Korrago überflogen und wieder

kein Lebenszeichen von Skill empfangenhatte. Verdammt, er konnte den Jungen dochnicht im Stich lassen, ohne zumindest zuwissen, was mit ihm geschehen war!

Aber da war nichts. Nicht einmal eine Re-aktion auf seine Funksignale. Was ja der pu-re Leichtsinn war. Entweder war Skill längsttot, oder er empfand sich inzwischen selbstso sehr als Korrago, daß er keinen Kontaktmehr aufnahm. In beiden Fällen war der Or-bit um diesen Planeten kein sicherer Ort füreine unbewaffnete Forschungskapsel.

Doch bei der vierten Überfliegung - die,so schwor sich Bull wieder einmal, diesmalbestimmt die letzte sein würde - geschah et-was.

Zuerst konnte er die Meßimpulse nichtdeuten, die da in erschreckender Stärke aufdie Instrumente einprasselten.

Was war das, ein Angriff? Eine startendeFlotte von Abfangjägern? Es waren Mustervon Impulstriebwerken, ja, aber etwas waranders …

Die Abschirmung fehlte. Bull sah fas-sungslos auf den Bildschirm, der zeigte, wasunten auf dem Planeten geschah:

Das Forschungsraumschiff, das im Herz-dom gebaut worden war, startete - und esstartete mit nicht abgeschirmten Impulstrieb-werken!

Der winzige Bildschirm ließ das Infernonur schwach erahnen, das über den Stütz-punkt der Korrago hereinbrechen mußte.Der Herzdom zerplatzte förmlich, als dielichtschnellen Korpuskularströme unneutra-lisiert aus den Triebwerksschächten jagten.Eine Wand aus Feuer - aus etwas, das zer-störerischer und verheerender war als Feuer- fegte über die Bauten und Fabriken hin-weg.

Der schlanke Sendeturm, der in fünfhun-dert Jahren nie benutzt worden war, vergingin der flirrenden Explosion einer Gravito-nenreaktion. Dächer barsten, Maschinenteilewirbelten durch den Feuersturm, Schienenschnellten in die Höhe, um in einem Fun-kenregen zu vergehen. Eine Walze aus Feu-er und Staub breitete sich aus, und aus all

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dieser gnadenlosen Verwüstung stieg dasForschungsraumschiff empor, unbeschadet,von beinahe erhabener Eleganz und Anmut.

Bull hatte die Kapsel unwillkürlich in einehöhere, langsamere Umlaufbahn gesteuert.Noch ehe er ganz begriffen hatte, was er dasah, erreichte ihn ein Funkspruch auf derFrequenz, die für die Kommunikation mitder GLIMMER vorgesehen war.

Doch die Stimme, die aus den Lautspre-chern kam, als er auf Empfang ging, war ei-ne Stimme, die er noch nie zuvor gehört hat-te: eine maschinelle Stimme. Die Stimme ei-nes Roboters.

Oder eines Korrago, falls dieser eineStimme haben sollte.

»Reginald?« sagte die Stimme.

*

Bull hielt den Atem an. »Nenn mich bitteBully«, sagte er bedächtig, »wie jeder ande-re auch, okay?«

Ein Geräusch, das wie ein maschinellesLachen klang. »Weil der letzte Mensch, derReginald zu dir gesagt hat, deine Mutterwar.«

Bull starrte den Schirm an, das Raum-schiff darauf, das von seinen Ringen um-tanzt wurde. »Bist du das, Skill?«

»Ich wollte mich auf diesem Weg auswei-sen, weil …nun, ich klinge nicht mehr so,wie du mich kanntest.«

»Bist du an Bord des Korrago-Schiffes?«»Ja und nein«, erwiderte die Stimme.

»Vielleicht sollte man sagen, ich bin jetztdas Schiff.«

Bull mußte schlucken, während er sichvorzustellen versuchte, was das zu bedeutenhatte. »Du bist das Schiff? Was heißt das?«

»Es ist ein wunderbares Schiff. Unglaub-lich wendig, traumhaft zu fliegen …Wennman eins mit ihm ist. Mein Körper existiertnoch, aber ich werde ihn nicht mehr langebrauchen. Ich habe an die hundert Korragoan Bord, gerade so viele, wie ich müheloskontrollieren kann. Sie können sehr fähigeHelfer sein, weißt du?«

»Und wobei sollen sie dir helfen?«Maschinelles Gelächter. »Dies ist ein For-

schungsschiff. Ich werde forschen. Ich wer-de die Schmetterlingsgalaxis suchen. Unddas System der fünf Planeten …Wer weiß,wie lange ich leben werde ohne meinen Kör-per? Ich finde es sehr tröstlich, daß das Be-wußtsein nicht auf einen biologischen Kör-per angewiesen ist. Ja, ich werde die wun-derbarsten Orte des Universums besuchen.Und vielleicht begegnen wir uns wieder, ir-gendwann, irgendwo …«

Reginald Bull nickte langsam. »Ja«, sagteer. »Vielleicht. Es passieren die seltsamstenDinge.«

»Ach übrigens - in den Speichern desSchiffes habe ich etwas gefunden, das dichsicher interessieren wird. Ich bin sicher, esist dasselbe, was du auch in den Speicherndes Sendeturms gefunden hättest.«

Lange Zahlenkombinationen huschtenüber den Schirm. Koordinaten. Die Koordi-naten des geheimnisvollen Hauptquartiersder Korrago.

»Danke«, sagte Bull. Er schluckte, dannstellte er die Frage, die ihm als erstes auf derZunge lag. »Hast du noch weitere Informa-tionen für mich? Woher sind die Korrago?Und …«

»Es wird Zeit, aufzubrechen«, unterbrachihn Morgenstern. »Bleiben wir Freunde?«

»Na klar. Viel Spaß!«Ein winziges Zögern. »Spaß?« Es klang,

als habe das, was von Skill noch übrig war -oder das, wozu Skill geworden war -, schonfast vergessen, was das war. »Das ist dasfalsche Wort. Ich werde Freude empfinden.Klares, reines Glück, das die Stille meinerSeele erfüllen wird.«

Ach, du meine Güte! dachte ReginaldBull. Er ist zu einem philosophierendenRaumschiff geworden. Zu einem syntroni-schen Mystiker mit Lineartriebwerk.

»Meinetwegen. Dann wünsche ich direben viel Freude. Und klares, reines Glück,nicht zu vergessen.«

»Danke. Leb wohl!«»Leb wohl!«

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Die ineinanderlaufenden Ringe verdrehtensich in einer komplizierten Bewegung, umdie Triebwerke neu auszurichten. Es sah ab-solut faszinierend aus, beinahe spielerisch.Der Kranz der Strahldüsen flammte auf, dasRaumschiff, von dem Bull bereits als demRaumschiff MORGENSTERN dachte, setz-te sich in Bewegung und war Augenblickespäter außer Sicht.

Reginald Bull seufzte so abgrundtief, wiees ihm möglich war. Dann nahm er Kurs aufden Treffpunkt, der mit der GLIMMER ver-einbart war.

Er hatte Sehnsucht nach ein paar schlich-ten, körperlichen Freuden - nach einer aus-giebigen Dusche, nach etwas zu essen undeinem kühlen Getränk. Und nach einem wei-chen Bett. Besonders nach einem weichenBett.

Verdammt noch mal, er hatte doch ge-wußt, daß er mit blauen Flecken am ganzenKörper zurückkommen würde!

E N D E

Auch auf Lokyrd konnten weitere wichtige Hinweise gefunden werden, die belegen, wiestark Shabazzas Machtbasis in DaGlausch wirklich ist. Inwiefern es den Menschen um PerryRhodan aber gelingen wird, die zahlreichen Informationen rings um Shabazza und die SOL inden richtigen Zusammenhang zu bringen, bleibt abzuwarten.

Die Handlung des nächsten PERRY RHODAN-Bandes blendet erst einmal um, und zwar indie Milchstraße. In der Menschheitsgalaxis entwickelt sich offensichtlich auf einem Mond desPlaneten Saturn neues Unheil …

Mehr darüber schreibt Peter Terrid, von dem der nächste PERRY RHODAN-Roman ist.Der Band erscheint in der nächsten Woche unter folgendem Titel:

IM PARA-BUNKER

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