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Acta Biotheoretica 26, 3:181-195 (1977) DER TYPUS - ][DEE UND REALIT)kT ROBERT KASPAR 1230 Wien, Ziedlergasse 28/2/9, Osterreich (Eingegangen 20-V-1976: revidiert 5-X1-1976) Alles Vergangliche ist nur ein Gleichnis. J. W. v. Goethe - -- and niemand wider- sprach ihm. K. Lorenz ABSTRACT One of the fundamental problems inherent in the research of biological relationships is the question, whether the system of organisms corresponds to their natural order or not. This question is a crucial topic in the discussion concerning 'Numerical Taxonomy' vs. Phylogenetic Morphology. In the work submitted, this criticism of morphology by the American School, i.e., that of Sokal and Sneath as well as that of B. Hassenstein is dealt with. The typus-problem forms the central theme, as it obviously represents the key to solving the issue. In addition to the discussion of the thesis, that the morphological typus could correspond to a Platonic 'Form', the justification of the morphological method will be given as well. This justification is based on the realization, that the typus possesses an actual correspondence to the epigenetic cor- relation system, through which it can be shown, that the so called 'natural system? is indeed a natural one. The faculty of perception of the so called 'Ratiomorpher Apparat' is a product of evolution - exactly as the typus-eoncept itself. And the fact that morphology, at least in part, makes use of this perceiving apparatus, gives an essential support of this interpretation of the typus. l. EINLEITUNG UND AUFGABESTELLUNG Die wohl bedeutendste Grundlage der biologischen Verwandtschaftsforschung, die Morphologie, hat die uniJberschaubare Ftille an Gestalten, in der uns das Lebendige vor Augen tritt, zu einem System geordnet, dem an Kompliziertheit seinesgleichen fehlt. Wenn auch die Morphologen (wie man sehen wird, zu recht) behaupten, dab dieses der natiJrlichen Ordnung weitgehend entspricht, vollzog sich dennoch speziell am Typus-Problem ein bemerkenswerter Bruch innerhalb der Stammesgeschichtsforschung, ein Bruch, der die traditionelle Morphologie schlechthin in Frage zu stellen droht. Die Ursache dieser Verwirr- ung stammt letztlich daher, daft es bislang nicht mrglich war, eine kausale Grundlage der Morphologie und somit auch des Typus zu formulieren. In tier vorliegenden Er6rterung soU die Kritik an der historischen Deutung

Der typus — Idee und realität

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Acta Biotheoretica 26, 3:181-195 (1977)

DER TYPUS - ][DEE UND REALIT)kT

ROBERT KASPAR

1230 Wien, Ziedlergasse 28/2/9, Osterreich (Eingegangen 20-V-1976: revidiert 5-X1-1976)

Alles Vergangliche ist nur ein Gleichnis.

J. W. v. Goethe

- - - and niemand wider- sprach ihm.

K. Lorenz

ABSTRACT

One of the fundamental problems inherent in the research of biological relationships is the question, whether the system of organisms corresponds to their natural order or not. This question is a crucial topic in the discussion concerning 'Numerical Taxonomy' vs. Phylogenetic Morphology. In the work submitted, this criticism of morphology by the American School, i.e., that of Sokal and Sneath as well as that of B. Hassenstein is dealt with. The typus-problem forms the central theme, as it obviously represents the key to solving the issue. In addition to the discussion of the thesis, that the morphological typus could correspond to a Platonic 'Form', the justification of the morphological method will be given as well. This justification is based on the realization, that the typus possesses an actual correspondence to the epigenetic cor- relation system, through which it can be shown, that the so called 'natural system? is indeed a natural one. The faculty of perception of the so called 'Ratiomorpher Apparat' is a product of evolution - exactly as the typus-eoncept itself. And the fact that morphology, at least in part, makes use of this perceiving apparatus, gives an essential support of this interpretation of the typus.

l. E INLEITUNG UND A U F G A B E S T E L L U N G

Die wohl bedeutendste Grundlage der biologischen Verwandtschaftsforschung, die Morphologie, hat die uniJberschaubare Ftille an Gestalten, in der uns das Lebendige vor Augen tritt, zu einem System geordnet, dem an Kompliziertheit seinesgleichen fehlt. Wenn auch die Morphologen (wie man sehen wird, zu recht) behaupten, dab dieses der natiJrlichen Ordnung weitgehend entspricht, vollzog sich dennoch speziell am Typus-Problem ein bemerkenswerter Bruch innerhalb der Stammesgeschichtsforschung, ein Bruch, der die traditionelle Morphologie schlechthin in Frage zu stellen droht. Die Ursache dieser Verwirr- ung stammt letztlich daher, daft es bislang nicht mrglich war, eine kausale Grundlage der Morphologie und somit auch des Typus zu formulieren.

In tier vorliegenden Er6rterung soU die Kritik an der historischen Deutung

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des biologischen Typus untersucht werden, jene Kritik, die besonders yon Bernhard Hassenstein (1951) und der sogenannten Numerical Taxonomy vor- gebracht wurde. Beider Vorwarfe werden sich als unhaltbar erweisen. Beach- tung finden soil ferner die Interpretation des als Motto voranstehenden Zitates yon Goethe durch Konrad Lorenz (1973). Es wird zu zeigen sein, dab nach dem heutigen Bild yon den kausalen Grundlagen des Typus das Wort des Dichters nicht im Sinne Lorenz' zu deuten ist, ja dab im Gegenteil bier die L6sung des Problemes offenbar schon angedeutet ist. Diese nun wird darin bestehen, die Ursache des Typus zu zeigen.

Methodisches Bei der Darstellung komplexer Kausalzusammenhfinge, wo vielfach die Folgen einer Ursache fiber Umwege auf diese wieder zuriickwirken, entsteht das nicht v611ig 16share Problem, solche Kausalnetze in derlinearen Darstellung sprach- licher Formulierung 'systemgerecht' wiederzugeben. Es ist eine der wesent- lichen Eigenschaften vernetzter Systeme, dab jedes ihrer Elemente grund- sfitzlich nur im Kausalzusammenhang des Ganzen verstanden werden kann. (Besonders deutlich wird das z. B. dann, wenn man versucht, ein Okosystem zu beschreiben.) Keines dieser Elemente liegt in einer linearen Kausalkette, son- dern es besitzt jedes mehrere Ursachen, die selbst wieder zum Teil von den Folgen bzw. qqirkungen des Elementes beeinftuBt werden. Man bezeichnet diese Form der Vernetzung als funktionale Kausalit~it (ira Gegensatz zur exekutiven oder linearen Kausalit/it). Darunter versteht man jene Form ursfichlicher Beziehungen, bei der die Wirkung einer Ursache auf diese selbst wieder als Ursache zurtickwirkt. Urn solche Systeme in ihrer Ganzheit ver- stgndlich zu machen, ist es notwendig, oft einen Gedankengang abrupt zu verlassen, urn an anderer Stelle und von anderer Seite auf ihn wieder zuri~ck- zukommen. Auch in unserem Fall wird sich diese Umstgndlichkeit der Darstel- lung kaum vermeiden lassen, denn der Gesamtzusammenhang l~iBt sich auf anderem Wege nicht einmal andeuten.

2. ZUR HISTORISCHEN SITUATION

Die Geschichte des Typus-Begriffes ist eine Geschicht der Ratlosigkeit, in der sich die Strukturforschung befand (und das nicht erst seit Goethe), wenn es darum ging, ihren eigentlichen Gegenstand, n~mlich die allgemeine, einer Verwandtschaftsgruppe gemeinsame Gestalt zu begrfinden. Die pr~i-d.arwinis- tische Morphologie (abet auch die sp~tere) wuBte nichts yon den kausalen Grundlagen der Gestalt, alsojenen biologischen Mechanismen, die das So-Sein der nattirlichen Strukturen verursachen. Und das Problem der Homologie blieb ebenso ungel/Sst wie heftig kritisiert. Es war kein Mechanismus denkbar,

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der bewirkt h/itte, daft einmal etablierte Strukturen auch beibehalten werden*, die Homologie mugte also eine Erfindung der Systematiker sein, die ihnen half, das Wirrwarr des Lebendigen zu ordnen.

Wenn er auch nicht begrtindbar war, der Typus war dennoch so offenkundig, dab man um ihn nicht herumkam. Man versuchte, ihn deskriptiv darzustellen und verzichtete auf jede Erkl/irung. Er wurde damit zur Idee im Sinne Platons, und philosophisch gebildete Biologen begannen den Typus aus dem Gedan- kengut idealistischer Philosophie abzuleiten**. Abgesehen davon, dab eine solche Interpretation des Typus ftir die Biologie wertlos ist, bot sie einen der wesentlichen Ansatzpunkte fiir jene Kritik, die der Morphologie schlechthin den Rang einer Wissenschaft abzusprechen begann. Das bedeutet aber, daft das Riickgrat der gesamten biologischen Strukturforschung fragwtirdig (ira Sinne einer Naturwissenschaft) wurde, und man wird sp~itestens hier dieTrag- weite dieser Problematik erkennen, wenn man weiB, dab es eben diese Mor- phologie war, der der Mensch seine Einsicht in die Deszendenz der Organismen verdankt.

Grund genug also, hier nach Klarheit zu sehen und ein in 150 Jahren gesam- meltes Wissen nicht tiber Bord zu werfen. Alle Kritik an der Morphologie und speziell am Typus hat den Fehler begangen, die Widersprtichlichkeit der philo- sophischen Deutungen auf das Gesamtproblem zu extrapolieren und die Tat- sache zu tibersehen, daB unsere Denkmuster keine a priori sind, sondern das Ergebnis nattirlicher Selektion. Doch wir mtissen der Reihe nach vorgehen. Zun/ichst ist zu zeigen, dab die These, der Typus sei eine Idee im Sinne Platons, falsch ist.

3. DIE PHILOSOPHISCHE INTERPRETATION UND DIE KRITIK VON KONRAD LORENZ

Was man sich unter der Idee eines Dinges vorstellen soil, beschreibt Platon im 10. Buch seiner Politeia. Die drei Erscheinungsformen jedes Dinges werden am

*Man mag hier vielleicht einvoenden, dab dies ja durch die Evolutionstheorie Darwins bereits erkl/irt wurde. Mit dem Darwinismus l/igt sich jedoch nur die Entstehung yon angepagten Struk- turen erkl~iren; die Konstanz homologer Merkmale l~iBt sich aus einem gleichwertigen Wirken yon Mutation und Selektion nicht ableiten. Diese wird n~imlich erst dann verst~indlich, wenn man erkenfit, dab der Zufall unter den Systembedingungen der Organismen selbst erheblich einge- schr/inkt wird, und zwar umso mehr, je h6her organisiert diese sind. Nur so k6nnen Stammesent- wicklungen gerichtet verlaufen, und Richtung heiflt ja nichts anderes als real vorhandene relative Konstanz der wesentlichen Strukturen.

** Wenn man Platon als Idealisten bezeichnet, so ist zu beachten, dab dies nur fiir die erkennt- nistheoretische Seite seiner Ideenlehre gilt. Der ontologlsch-metaphysische Aspekt wird dieser Bezeichnung nicht gerecht, da nach allgemeiner Vorstellung im Idealismus eine subjektunabh~n- gige Wirklichkeit nicht angenommen wird (vgl. z .B .A. Diemer: Fischer-Lexikon der Philosophie, p. 34).

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Beispiel der Lagerstatt erl~iutert. Diese wird vom 'Wesensbildner' (Gott) als Idee geschaffen. Der 'Werkbildner' (Handwerker) erschafft nun eine Reihe von Lagerst~tten, also viele reale Dinge, denen eine ldee gemeinsam ist. Schliefflich kann noch der 'Nachbildner' (Ktinstler) bildliche Darstellungen dieses Dinges schaffen. Allerdings bildet er nicht mehr die Idee nach, sondern die vom Werkbildner hergestellten Dinge.

An einem anderen Beispiel, dem des Zaumzeuges, wird klargemacht, daft drei Kunstfertigkeiten mit diesem zu tun haben, die in einer bemerkenswerten Beziehung zueinander stehen: Der Gebrauch des Zaumzeuges (Reiter), seine Herstellung (Sattler) und seine Abbildung (z. B. Maler). Im Vergleich mit dem ersten Beispiel stellt sich hier die Frage, von welcher Art nun die Parallelit~it sei, in der uns hier einerseits der Wesensbildner Gott und andererseits der Reiter erscheinen. Georg Picht deutet diesen Zusammenhang so, daft der Reiter jenes Strukturgefiage kennt, welches die Beziehung zwischen Pferd und Mensch (das Reiten) m6glich macht. Er weiff auch, daff diese (m6gliche) Beziehung durch das Zaumzeug verwirklicht werden kann. Das vom Reiter gewuffte Strukturgefiige hat nach Platon Gott geschaffen. Dieses ist aber die M6glich- keit der Funktion des Zaumzeuges, und diese M6glichkeit bezeichnet Platon als Idee des Zaumzeuges.

Wir kommen hier unmittelbar zu jener wichtigen Frage, n~mlich, von wel- chef Art nun die Existenz solcher ldeen oder Gestalten ist. Im Parmenides gibt Platon drei M6glichkeiten der Beantwortung dieser Frage. Die Idee k6nnte in den Dingen selbst sein, gleichsam ein Bestandteil yon ihnen, sie k6nnte ferner ein Gedanke sein und nur im subjektiven Bewufftsein 'existieren' (man erinnere sich spater an diese Deutung, besonders im Zusammenhang mit der Kritik Hassensteins), und schliefflich k6nnte sie Vorbild, ein Paradigma sein, also etwas, was vor den Dingen sein muff; (auch daraufwerden wir zurtickkom- men).

Im Verlauf des Dialoges werden alle diese Annahmen als logisch unhaltbar erwiesen, und Platon lafft dieses Problem (wie so oft) in eine Aporie mtinden. Die Fragestellung wird sp~iter auf eine andere Ebene verlegt, n~imlich auf das Problem der Teile und des Ganzen - doch das k6nnen wir hier aufier acht las- sen.

Wie C. F. von Weizs~icker gezeigt hat, fiJhrt die Ansicht, die Idee sei etwas, woran gewisse Dinge gemeinsam teilhaben, letztlich zum Sprachrelativismus und wiirde eine umfassende Auseinandersetzung mit der aristotelischen Logik erfordern. Wir wissen namlich, daff die sogenannte Suhjekt-Pr~idikat-Relation, ein grundlegendes Element dieser Logik, keine ontologische Begrtindung er- fahren kann (was aber Platon angenommen hat), sondern ihre Wurzel in einer grammatikalischen Struktur hat, die den indogermanischen Sprachen eigen ist. DaB wir wissen, was wir meinen, wenn wir sagen: der Dackel ist ein Hund, ist keineswegs selbstverst~indlich, sondern entspricht eben unserer sprachlich-

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logischen Tradition. Naher daft aber hier nicht darauf eingegangen werden, wollen wir den roten Faden nicht verlieren*.

Diejenige Auffassung nun, die vonder deutschen idealistischen Philosophie tibernommen wurde, betrachtet die Idee als ein Paradigma. Im Parmenides heifit es (132 d): 'Aber . . . . es scheint mir eigentlich so zu sein, daft die Begriffe in der Natur gleichsam als Urbilder dastehen, die anderen Dinge j e d o c h . . . deren Nachbilder sind, und die Aufnahme der Begriffe in die Dinge ist nichts anderes, als daft diese den Begriffen nachgebildet werden.' Der griechische Ausdruck 'paradeigmata' wurde mit 'Urbilder' iibersetzt; er bedeutet ursprtin- glich Vorbild, Muster oder Modell. Da es sich bei diesem Satz ja offenbar um eine klassische Darstellung der Ideenlehre handelt, scheint es erlaubt, para- deigmata mit archetypos zu paraphrasieren und mit Urbild zu tibersetzen (in Anlehnung an yon Weizs~icker). Die Idee ist in diesem Sinne also einerseits als Urbild zu verstehen, andererseits tritt sie stets als Beispiel in der Natur in Er- scheinung. So ist etwa eine einzelne Rose ein Beispiel des Urbildes aller Rosen. Man beachte: Um diesen Sachverhalt zu veranschaulichen, haben wir wieder ein Beispiel verwendet (das der Rose). So entstand die Frage, ob man nicht grundsiitzlich nur durch Beispiele etwas erkennen kann. In diesem Sinne wird fibringens yon Platon das Wort paradeigma an anderer Stelle erl~iutert: 'Ein Beispiel brauche ich nun wieder daftir, um zu zeigen, was ein Beispiel ist.' (Poli- tikos, 277 d). Soviel von der Ideenlehre Platons**.

Diese paradeigma-Interpretation der ldee wurde zur Deutung des Typus oft (explizit oder implizit) herangezogen. Sie setzt voraus, dab das Allgemeine stets vor dem Besonderen existiert und daft jede Einzelerscheinung eine Nachbildung oder ein (iihnliches) Abbild ihres Urbildes darstellt. Dasjenige

*Zum Sprachrelativismus vgl. die Arbeiten yon B. L, Whorf, sowie C. F, v. Weizs~icker: [~rber Sprachrelativismus (1970).

**Ich danke Herrn Prof. Dr. Erhard Oeser ftir den Hinweis, daft die hier dargestellte Platon- Interpretation insoferne einseitig ist, als sie fast ausschlieglich die metaphysisch-ontologische Seite des platonischen Ideenkonzeptes behandelt. Mir schien diese besonders in Hinblick auf die anschliegenden Oberlegungen zur Behandlung des ldeenbegriffes ausreichend, doch ist es zweifellos richtig, daft damit tiber die erkenntnistheoretischen Konsequenzen des 'Ideeismus' Platons nichts ausgesagt wird. Den Schltissel zum erkenntnistheoretischen Verstfindnis der Ideenlehre bildet die sog. Anamnesis- Lehre. Die Anamnesis als Bindeglied zwischen den Ideen und ihren Abbildern ist alsjene Fi~hig- keit des erkennenden Subjekts zu verstehen, die durch 'Wiedererinnerung' eine Art asymptotische Anniiherung der Erkenntnis an die ldeen erm6glicht. Sie bedarf dazu des Anstofies durch die GegenstAnde der Wahrnehmung. Allerdings kann das Suhjekt niemals eine reine Schau der Ideen selbst erreichen, denn diese ist nach platonischer Vorstellung nur in einem Stadium der Vollendung m6glich, bei welchem die erkennende F~thigkeit der Seele durch den K6rper nicht mehr 'gest6rt' wird. Die Anamnesis erkennt also die Ideen nur insoferne, als sie durch ihre integrative Leistung das hinter den Einzeldingen stehende Allgemeine erschaut, so z.B. mathematische Gesetze. Diese Gesetze sind aber nicht die Ideen selbst, sondern deren der Erkenntnis zugAngliche Manifestation. Die Bedeutung der Anamnesis kommt in jener Stelle im Menon klar zum Ausdruck, in der durch reines Befragen eines Sklaven der kehrsatz des Pythagoras aus ihm 'herausgehoben' wird; (Menon, 82 b9-85 e8).

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also, was unser 'perceiving apparatus' (Karl Popper) verrechnet und uns mel- det, Gestalten, Ideen, Urbilder, wird als das Wirklich-Seiende betrachtet, die Dinge selbst jedoch seien unvollkommene Schatten (es liegt auf der Zunge, zu sagen: Gleichnisse; wir werden davon noch zu sprechen haben), Schatten also dieses Seienden, denen ein nicht so hohes Mag an Realit/it zugeschrieben wird wie jenen Ideen. Selbst die Summe aller Graug~inse ist nicht so 'wirklich' wie deren Urbild, wir k6nnen sagen: Typus.

An diesem Punkt nun beginnt die Kritik yon Lorenz an dem Wort Goethes: Alles Verg/ingliche ist nut ein Gleichnis (Faust II, V 12104/5). Wie wir sehen werden, besteht diese Kritik auf der einen Seite zu recht (nfimlich als Kritik am Idealismus), andererseits aber scheint sie nicht alle Konsequenzen zu ziehen, und problematisch diirfte auch ihr Bezug auf Goethe sein. Aus methodischen Grfinden mfissen wir diese Komponenten trennen und zunfichst zeigen, warum sie berechtigt ist. Erst spfiter werden wir sehen, wo ihre Fehler liegen.

Wie Lorenz (1973) hervorhebt, beruht die hier dargestellte Typus-Interpreta- tion (wie tibrigens alle idealistische Philosophie) letztlich auf einem Zweifel an der Realit~it alles Augersubjektiven. Dieser Zweifel diirfte einer Ursache entstammen, die man in der Phylogenie des Menschen die Entdeckung des eigenen Ichs nennen kann. Oberw~iltigt von der wahrhaftigen Gr6fSe dieser Entdeckung, begann der Mensch, nur noch sein eigenes Denken ffir wirklich zu halten. Der Welt um ihn herum sprach er nicht so viel Wirklichkeit zu wie seinen Vorstellungen, und so konnte die h6chst merkwfirdige Situation entstehen, dab die reale Gegebenheit ftir ein Bild dessen gehalten wurde, was in Wirklichkeit ihr Abbild ist. (Man beachte, daft bereits bier die Wurzel eines entscheidenden Problemes liegt, mit dem wir uns noch auseinandersetzen werden, n~imlich die Beziehung zwischen Denk- und Realmustern.)

Eine zweite Ursache dieser 'ideeistischen' Vorstellung vom Typus ist nach Lorenz die Anthropomorphisierung des Sch6pfungsvorganges. Idealia sunt realia ante rein, ist einmal gesagt worden, und wir wissen bereits, dag die Para- digma-lnterpretation ohne diese Voraussetzung nicht m6glich ist. DaB aber die Idee eines Dinges vor dem Ding existiert (in zeitlicher Hinsicht), ist in dem Augenblick falsch, in dem man diesen Satz auf die Phylogenie anwendet. Bei allen menschlichen Artefakten ist in der Tat die ldee vorher existent, und das Ding ist ihr Abbild. Betrachten wir aber die Idee als Paradigma und behaupten, ein Lebewesen oder eine Art sei das Abbild seiner (schon vorher existierenden) Idee, so fiihrt diese Anschauung zu unl6sbaren Widerspriichen zu allem, was wir fiber die Evolution wissen. Mit dieser Behauptung mfigten wir n~imlich auch eine prfistabilierte Harmonie zwischen Umwelt und Organismus postulie- ren. Deren Vorhandensein ist jedoch aus einer Reihe von Griinden (die hier aus Platzmangel leider nicht angeftihrt werden k6nnen) so unwahrscheinlich, dag wir diese M6glichkeit getrost auger acht lassen k6nnen, wenn wir nicht auf mystische Annahmen zurtickgreifen wollen.

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Restimierend k6nnen wir mit Lorenz feststellen: Das Lebendige wird nicht (yon Ideen) geschaffen, sondern es erschafft sich selbst durch ein ihrn inne- wohnendes Prinzip, welches wir kurz das 6konomische Prinzip des Erreichens eines bestm6glichen Selektionswertes nennen k6nnen. Auchwenn es manchen Denkgewohnheiten und Vor-Urteilen widerspricht: Der Sch6pfer ist der Sch6p- fung immanent.

Wit mtissen an dieser Stelle Platon und Lorenz verlassen und uns dem zuwen- den, was Bernhard Hassenstein (1951) der Morphologie vorwirft.

4. DENKMUSTER UND REALMUSTER

Nach einer gr~ndlichen Auseinandersetzung mit der Morphologie Goethes kommt Hassenstein (1951) zu dem Schluff, daff das biologische System der Organismen eine mehr oder weniger willkiirliche Konstruktion sein muff, ja daff es so etwas wie ein 'nattirliches System' gar nicht geben k6nne.

Wie wit schon feststellten, war die Morphologie bislang nicht in der Lage, die kausalen Zusammenh~nge der Gestalt zu nennen, hat abet (wenn wirjetzt bei Goethe bleiben) behauptet, daff Gestalt und Lebensweise in wechselseitiger Abh/ingigkeit stehen. Das wird besonders deutlich bei der Metamorphose, und gerade bier hat Goethe auch die Notwendigkeit erkannt, das reine allgemeine Ph/inomen der Gestalt, also den Typus, zu beschreiben; eineAufgabe, die aus- schliefflich dem Subjekt zukam. Die Ges ta l t ' . . . beh/ilt immerfort eine esoteri- sche Eigenschaft . . . ' , ist bei Goethe nachzulesen. Der Typus ist abermals das Produkt subjektiver Abstraktion -und wir befinden uns wiederum bei der Idee.

An diese (wie es scheint !) methodische Unzul~tnglichkeit der Morphologie kntipft Hassensteins Kritik an. Zunachst erscheint der Anspruch der biologi- schen Strukturforschung, eine Naturwissenschaft zu sein, suspekt, weil es ja sehr fraglich sein muff, ob das, was sie aussagt, im objektiven Sinn auch wirklich ist. Die Konsequenz Bernhard Hassensteins lautet: Die Morphologie arbeitet (explizit seit Goethe) mit der 'esoterischen Eigenschaft' der Gestalt, sie fragt nicht nach Ursache und Wirkung, und der Typus wird auf rein subjektive Weise bestimmt. Daher k6nnen die Gestaltgesetze, die es erlauben, Arten, Gattun- gen, Familien usw. zu ordnen, nur eine Projektion unserer Denkgesetze sein. Der Ausdruck 'Nat~rliches System' wird somit eine contradictio in adiecto- ein Widerspruch in sich selbst. Denn entweder ist es ein System, dann ist es ein Produkt unserer Logik und kann nicht die natitliche Ordnung wiedergeben, oder es repr/isentiert tats~ichlich die phylogenetischen Zusammenh/inge, dann abet kann es kein 'System' sein.

Hassenstein geht offensichtlich v o n d e r Anschauung aus, ein System sei stets eine menschliche Erfindung, wobei die natfirlichen Objekte den subjek- tiven Denkgesetzen untergeordnet werden. Wit sind damit beim Idealismus

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Immanuel Kants angelangt, bei dem wir folgende Formulierung lesen: 'Der Verstand sch/3pft seine Gesetze nicht aus derNatur, sondern schreibt sie dieser vor.', sowie an anderer Stelle: 'Wenn die Anschauung sich nach der Beschaffen- heir der Gegenstfinde richten mtiBte, so sehe ich nicht ein, wie man a priori yon ihr etwas wissen kbnne; richter sich abet der Gegenstand (als Objekt der Sinne) nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsverm6gens, so kann ich mir diese Mbglichkeit ganz gut vorstellen.' (Aus der 'Kritik der reinen Vernunft', 178 l, 1787).

Das Problem, um das es hier geht, ist also folgendes: Stehen unsere Denk- muster in einer ad~tquaten Beziehung zur realen AuBenwelt oder nicht? Die Beantwortung dieser Frage ist deshalb yon so entscheidender Bedeutung, well sie nicht nur das Vorgehen der Morphologie rechtfertigen kann, sondern well von ihr die erkenntnistheoretische Haltung der Biologie schlechthin abhfingt. Wenn Hassenstein hier Parallelen zwischen Goethe und Kant zieht, muB erzu dem SchluB kommen, dab das System der Organismen eine Erfindung ist. Um den Irrtum zu zeigen, der in dieser Anschauung liegt, mtissen wir welter ausho- len.

Wenn also der Verstand der Natur seine Gesetze vorschreiben soil und die Ordnung der biologischen Systematik lediglich unserer Logikfiquivalent ist (oder den vor der Erfahrung gegebenen Kategorien unserer Anschauungsfor- men), dann besteht die Beziehung zwischen Innen- und AuBenweltja offenbar nut in einer Richtung, nfirnlich in der Projektion der Denkmuster aufdie Real- muster (die fibrigens dann selbst als solche fragwClrdig werden). Das Wissen fiber die AuBenwelt mfigten wir uns somit (wenn ~berhaupt) fiber den Umweg einer 'Urnordnung' der Sinnesempfindung und ihrer Verrechnung in die (an- ders strukturierten) Denkgesetze aneignen. Damit verliert jede Erfahrung den Charakter eines Abbildes der Realitfit, und man wird bereits ahnen, dab hier der Fehler in der stillschweigend gernachten Voraussetzung liegt, die nat~rliche Ordnung und die Ordnung unseres Denkens seien v611ig ver- schieden.

Es wird also hier gfinzlich tibersehen, dab nicht nur alle Organismen, son- dern auch alle Leistungen dieser Organismen grundsfitzlich nur in Wechsel- wirkung mit ihrer natiirlichen Umwelt entstehen; 'W~tr' nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne k6nnt' es nie erblicken'. Die Evolutionsbiologie hat uns l~ngst verstehen gelehrt (ja es klingt beinahe schon banal), dab Leben- diges stets in Auseinandersetzung mit und in Anpassung an die Natur her- vorgebracht wird bzw. sich hervorbringt. Welcher Grund sollte dennvorliegen, dab unser 'Weltbildapparat', also derjenige physiologische Mechanismus des zentralen Nervensystems, der unsere Erfahrung und unser Denken ermbglicht, auf andere Art entstanden sein soll?

Aber diesen Apparat, den wir mit Campbell und Lorenz den ratiomorphen Erkenntnisapparat nennen, sollten wir an dieser Stelle nSherbetrachten.

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5. DER RATIOMORPHE APPARAT

Dieser Apparat wurde im wesentlichen von D. T. Campbell, Konrad Lo- renz und Karl Popper beschrieben, nun versuchte injtingster Zeit Rupert Riedl (1975, 1976), seine Mechanismen zu erkl/~ren*.

Wit verstehen unter ihm jenen in der Stammesgeschichte vor unserer Ratio entstandenen Verrechnungsapparat, ohne dessen Leistungen sich das rationale Denken nicht h~itte entwickeln k6nnen und heute noch unm6glich write. Es ist heute nicht nur dem Biologen selbstverst~indlich, dab Anpassung in der Natur immer bedeutet, Information tiber bestimmte Verh~ltnisse der Augenwelt in sich aufzunehmen. Der Informationserwerb des Genoms l~tfSt sich in (zwar etwas grober) Analogie als Lernen durch Versuch und Irrtum darstellen. Jeder Organismus wird dadurch in gewissem Sinne ein Abbild seiner Umwelt, die ihn im ~ionenlangen Werden und Vergehen der Genesis geformt hat. Die Umweh war es zweifellos auch, die diesen ratiomorphen Apparat entstehen liel3, es war ihr Selektionsdruck und es waren ihre Bedingungen, die ibm seine Funktions- gesetze aufpr~igten. Wie sollte er also nicht ebenso ein Abbild real herrschen- der Zustfinde dieser Welt sein und diese Welt ~iquivalent abbilden, wie auch die Fischflosse manche Eigenschaften des Wassers abbildet? Und ebenso wie die Fischflosse nicht dem Wasser seine Form vorschreibt, schreiben auch unsere Denkgesetze nicht der Natur ihre Form vor. Denn diese Denkgesetze sind ohne das 'ratiomorphe Gertist', man m6chte fast sagen: undenkbar.

Wit wissen, dag dieser Apparat ftir die Konstanzleistungen unserer Wahr- nehmung verantwortlich ist (Lorenz, 1959), wir beginnen zu verstehen, dat~ das Zurechtfinden in einer Welt aus Zufall und Notwendigkeit ohne ihn und seine Hypothesen ausgeschlossen w/~re, wir sehen, dag sein grunds~ttzlichster Kalktil die 'Hypothese des scheinbar Wahren' ist, 'unser erster Anker im Unge- wissen' (Riedl, 1976), und alas Ph~inomen der Koinzidenz zwischen den Struk- turen der Natur und denen unseres Denkens h6rt auf, unverst~indlich zu sein, ein Ph~.nomen, das auch schon Goethe gesehen hat: 'Es ist etwas unbekanntes Gesetzliches im Objekt, welches dem unbekannten Gesetzlichen im Subjekt entspricht.' Wir wissen heute, warum es entsprechen mug.

Wenn also Natur- und Denkordnung nicht grunds~itzlich verschieden sind, wird auch die Argumentation Hassensteins letztlich unhaltbar, weil sie ja (wie wir sahen) auf dieser Voraussetzung aufbaut. Es war eben dieser ratiomorphe Apparat, es war das Gestaltsehen, wodurch die Morphologen die nattirlichen Zusammenhfin~e erkannten, auch wenn es empirisch nicht nachweisbar war,

*Niiheres fiber den ratiomorphen Apparat und fiber die evolutionistische Erkenntnislehre findet man u.a. bei D. T. Campbell ( 1974): Evolutionary Epistemology. In: P. A. Schilpp (Ed.), 1974: The Library of living philosophers. Vol. 14, I and If: The philosophy of Karl Popper; Vol. 1: p. 413-463. Open Court, Lasalle (Illinois), oder bei R. Riedl (1976): Die Strategie der Genesis. Naturgeschichte der realen Welt. Piper (Mfinchen).

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ob ein Merkmal nun wesentlich ist oder nicht. Daher ist das Natfirliche System kein Widerspruch, sondern ein Abbild der Realit~t.

Damit alleine ist abet zur Kl~irung des Typus noch wenig getan, und wit massen, bevor wit eine Synthese versuchen, noch einmal zur Kritik an der Morphologie zurfickkehren und uns das Problem der Wfigung von Merkmalen vornehmen.

6. DIE WAGUNG DER MERKMALE

Hier dfirfen wir uns kurz fassen, ohne Wesentliches zu t~bergehen. Die Numeri- cal Taxonomy (eine Art m etrische Systematik) hat der Morphologie bekanntlich den Vorwurf gemacht, sie unterscheide wesentliche von unwesentlichen Struk- turen, ohne diese Vorgangsweise begrfinden zu k6nnen. Keine Methode war definiert, nach der man den systematischen Wert eines Merkmales h~itte ange- ben k6nnen, die Homologie war unbegrfindet und damit auch die Konstanz der Strukturen: Eine Unterscheidung von Merkmalen und ihrer Bedeutung mufite unm6glich erscheinen. Der Vorwurf trifft somit letztlich wieder das Konzept des Typus, der Schauplatz ist zwar nun ein anderer, die Kontroverse aber die gleiche.

Weitreichend sind auch bier die Konsequenzen. Wenn man nichts Gewisses fiber die 'wesentlichen Strukturen' und schon gar nicht fiber den Typus aussa- gen kann, so wird behauptet, dann sind auch Arten, Gattungen, Familien etc. keine naturgegebenen Realit~iten, sondern Denkhilfen (Gilmour, 1940). Dann wird die Methode der Strukturforschung fadenscheinig, die Systematik bedeu- tungslos; und abermals schliefit sich der Reigen der Kritiker.

Der Ausweg, den die Numerical Taxonomy (besonders Sokal und Sheath, 1963) vorschlggt, ist folgender: Man verzichtet aufjede W~igung der Merkmale und verleiht jedem den gleichen taxonomischen Wert*. Damit werden systema- tische Kategorien aufgrund willk~rlich ausgesuchter Merkmale, deren statis- tische H~iufigkeitsverteilung verrechnet wird, erstellt. Ffihrt man diese Methode konsequent dutch (die numerischen Taxonomen tun dies ja wohlweislich nicht), so kommt man dorthin, was Rupert Riedl beschrieben hat: 'Man kann sich das Chaos in der Verwandtschaftsforschung vorstellen, w~rde man das System der Wirbeltiere z. B. tiberwiegend nach einzelnen Hautanh/~ngen, den

*In einer neuen Publikation der 'Numerical Taxonomy' wird yon dem anffinglichen radi- kalen Verzicht auf W/igung abgegangen, das Homologie-Theorem zum Teil wieder anerkannt. Dennoch aber bleiben die grundsfitzlichen Differenzen zwischen Evolutionisten, Phylogenetikern und Phgnetikern im wesentlichen bestehen. Vgl. Sneath P. & Sokal R. (1973): Numerical Taxo- nomy. The principles and practice of numerical classification. Freeman (San Francisco).

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Details der Fgrbungsmuster und den Abmessungen aller Einzelheiten errich- ten, die ja fraglos in der Oberzahl sind. Was gegen diese Riesenzahlen bedeutete schon der Verlust eines Aortenbogens, die Teilung einer Herzkam- mer oder die Entscheidung 'Haar oder Feder', die uns bisher Reptil, Vogel oder S~iuger unterscheiden halfen? . . . Diese Homologa bilden ja den allein m6gli- chen Grund-Bezugspunkt jeglichen Vergleiches, sollen nicht auch noch Kraut und RiJben durcheinandergebracht werden.' (Aus der 'Ordnung des Lebendi- gen', p. 92).

Die Unterscheidung zwischen akzessorischen, selektiven und differential- diagnostischen Merkmalen ist zum GroBteil eine keistung der Gestaltwahrneh- mung (Lorenz, 1959), also des ratiomorphen Apparates. Er vermittelt jenes 'systematische Feingeftihl', mit dem der erfahrene Biologe stammesgeschicht- liche Beziehungen genauso erken nt wiejedes Kleinkind den ersten Bernhardiner als Hund bezeichnet, wenn er vielleicht in seinem UmriB einem Kalb ~hnlicher ist als einem Dackel. Und auch bei Naturv61kern, die nicht den Vorzug eines systematisch-anatomischen Zoologie-Unterrichtes geniegen, finden wir die F~ihigkeit, natiJrliche Verwandtschaftsgruppen richtig zu ordnen (Diamond, 1966). Aber die numerischen Taxonomen durchbrechen ihre Forderungen selbst, wenn sie z. B. bei Arten mit ausgeprfigtem Sexualdimorphismus die / und die ~ Vertreter nicht in verschiedene Gattungen oder Familien stellen.

N~iher muB bier auf das W~tgeproblem nicht eingegangen werden. Nach dem bisher Gesagten dtirfte klar sein, dab erstens das Typus-Konzept unentbehrlich ist und dab zweitens die Forderungen der Numerical Taxonomy aus einer ver- meintlichen in eine wirkliche Sackgasse ftihren.

7. DIE URSACHE DES TYPUS

Wo also befinden wir uns? Rekapitulieren wir kurz: Wir konnten zeigen, dab die platonisch-idealistische Auffassung des Typus unhaltbar ist, wir haben jenen Aspekt der Lorenz-Kritik, der sich auf den Idealismus in der Biologie bezieht, als richtig erkennen k6nnen, wir fanden, dab die Vorw~rfe Hassen- steins an die Morphologie aufgrund unseres Wissens vom ratiomorphen Appa- rat aus prinzipiellen Grtinden unhaltbar sind (weil es eine Koinzidenz zwischen Denk- und Naturmustern gibt), und schlieBlich erwies sich auch die Kritik der Numerical Taxonomy als unberechtigt, ihr L6sungsvorschlag als undurchftihr- bar.

Wir sind somit an einem der Knotenpunkte der hier zur Diskussion stehen- den Wege angelangt, und war auch die Fragestellung verschieden, hier schei- hen alle diese Wege in die Frage zu mtinden: Was nun, wenn er keine Idee ist, steckt hinter dem Typus, ohne den wir in der Strukturforschung offenbar nicht aus kommen ? W enn als o eine k6sung dieses Problem es m6glich ist, dann muff sie

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bei einer kausalen Morphologie gesucht werden, und wir brauchen nur zu Goethe zur0ckzukehren und finden den Weg zur k6sung bereits angedeutet, wenn wir fragen: Wovon ist alles Verg/ingliche ein Gleichnis? Akzeptieren wit die Realitfit des Typus (und eben diese werden wit zu zeigen haben), wird sich auch die Morphologie Goethes als keineswegs so idealistisch erweisen, wie sie von ihren Kritikern (darunter Lorenz) interpretiert wird. Denn wenn der Typus auf kausal-biologischen Gesetzen beruht, dann ist tatsfichlich alles Vergfing- liche (so auch bekanntlich das Lebendige) ein Gleichnis dieser hinter ihm ste- henden Gesetzm~iBigkeit; dann verhfilt sich Typus zu Organismus wie Gesetz zu Fall, und welcher Grund sollte noch vorliegen, dem einen weniger Realitgt zuzusprechen als dem anderen?

Wenn der Typus einer Verwandtschaftsgruppe eine 'systemimmanente' Eigenschaft derselben sein soll, die in den Struktur- und Funktionsgesetzen der Organismen selbst begrtindet ist, so k6nnen wir ihn als die Gesamtheit der Homologa definieren, welche in einem dem Zufall entzogenen System yon Ahnlichkeiten (einer natarlichen Verwandtschaflsgruppe also) erkennbar sind. Ist es nun m6glich, die Evolution jener homologen Merkmale kausal zu be- grfinden, muB das gleiche laut Definition auch ffir den Typus gelten.

Wir sind damit beim Kern der Sache, und die Reichweite des Problemes be- ginnt (wie der Erfahrene sehen wird) Dimensionen anzunehmen, die unsere Darstellung schon aus rfiumlichen Grtinden nicht mehr zu erfassen vermag. Apodiktische Ktirze ist daher geboten, die weiteren Zusammenh~inge finden sich vor allem bei R. Riedl (1975).

Um sich ein Bild von der Entstehung des Typus zu machen, ist es vielleicht am besten, sich vor Augen zu halten, wie es denn dazu kommen kann, dab die Wahrscheinlichkeit einer mutativen Anderung yon Merkmalen im Laufe der Evolution sinkt, dab sie also dem Zufall weitgehend entzogen werden und als notwendige (und daher fixierte) Elemente in das System einer Organismen- gruppe eingehen. Die Fixierung eines Merkmals erweist sich dabei stets als Folge seiner wachsenden strukturellen und funktionellen Btirde. Merkmale treten zun~tchst als Artmerkmal auf und zeigen in dieser Position am Beginn maximale Freiheitsgrade; man denke an die Blfitenblfitter yon Orchideen, an die Schmuckfedern der Paradiesv6gel, die Geh6rne der Boviden u.v.a.m. Dies deshalb, weil sie sfimtlich an marginalen Positionen liegen und kein anderes Merkmal yon ihnen abhfingigist. Dahersind sie nahezu bfirdelos. Tritt ein Merk- real nun aus einer peripheren in eine zentrale Position (was nicht immer rfium- lich verstanden werden mug), wenn dem Merkmal also neue vorgelagert wet- den, die in ihrer Struktur und Funktion yon ihm abhgngen, so tritt es infolge wachsender Btirde in einen Fixierungsweg (der nun auch die Grenzen der Art iiberschreiten kann) und wird allm~ihlich vom einst akzessorischen zum diffe- rentialdiagnostischen Merkmal. Das Wachstum der B/irde ist eine Folge des Differenzierungsvorganges, dieser somit die Voraussetzung der Stabilisierung,

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deren Ergebnis schlieglich sind homologe Merkmale. Die generellen Eigen- schaften der Homologa sind daher durch ihre Korrelation yon Bi~rde und Fix- ierung, Freiheit und Stetigkeit bestimmbar. Dabei erweist sich ihre Stetigkeit als alles andere denn zuf~illig, wo doch ihre zeitliehe Dimension in Jahrmillio- hen zu messen ist. An ihrer Realit/it wird man daher kaum zweifeln k/3n- nen. Ebensowenig wie (als Konsequenz dessen) an der Summe dieser Homologa einer Systemgruppe, nftmlich dem Typus.

Aber dies ist nur eine Seite. Wir haben auch verstehen gelernt, dab dieser Verwandtschaft der Gestalten eine solche der Entscheidungen im molekularen Bereich entsprechen muB. Auch bier aber mtissen wir aufeine n~ihere Ausftih- rung verzichten, k6nnen jedoch abermals auf die Darstellung bei Riedl (1975) verweisen. Soviel abet sei gesagt: Ph~inokopie und Homodynamie zeigen wohl am deutlichsten die Realit~it des epigenetischen Systems, der Summe determi- nierter Gen-Wechselwirkungen. Unter Ph~inokopie versteht man dasErgebnis yon Eingriffen, bei denen der Ph~inzustand bestimmter Spontanmutanten 'kopiert' wird; so etwa bei der Bithorax-Mutante der Obstfliege Drosophila sp. und vielen anderen Doppelbildungen. Dutch die Phiinokopie gewinnen wir Einblick in den Ablauf der molekularen Entscheidungen, durch Homodynamie in ihre Verwandtschaft. Nicht nur die Strukturen sind also homolog, sondern auch deren genetische Entscheidungssysteme, die sie hervorbringen, lnduk- tionsm uster und Organisatoren zeigen Ahnlichkeitsgrade his zu Unterstfimmen (z. B. Vertebrata) ; man kann etwa das Induktions- und Differenzierungsmus- ter des Wirbeltierauges darstellen (Coulombre, 1965). Auch die xenoplasti- schen Transplantationsversuche zeigen, dab die Determinationsbefehle homologer Strukturen ebenfalls homolog sind.

Das epigenetische System entsteht durch den Vorgang des sog. 'Self-design', indem es die Muster des Ph~insystems kopiert, denn es muBja ein Riickkoppel- ungsmechanismus zwischen Ph~in-und Gen-Wechselwirkungen bestehen. Damit schlieBt sich ein Kreis funktionaler Kausalit/it. [lbrigens erkl~irt dieser Kreislauf von Wechselwirkungen auch die Ursache des biogenetischen Geset- zes yon E. Haeckel, denn der Epigenotypus erweist sich dadurch als eine Reka- pitulation - hier k6nnen wir start Phylogenie sagen: seiner eigenen Geschichte. Doch das nur nebenbei. Ftir uns hat sich gezeigt, dab derTypus keine Erfindung sein kann, sondern auf biologischen Gesetzen beruht.

8. ZUSAMMENFASSUNG

Was ist also gewonnen? Sehr viel. Da an der Realit~it der Homologa nicht zu zweifeln ist, mug auch dem morphologischen Strukturgeftige der in einer Gruppe von Organismen repr~isentierten Homologa die gleiche Realit~it zuge- sprocherl werden. Die Gesamtheit dieser homologen Merkmale nennen wir

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den Typus. Jeder Typus kann dabei nur in seiner hierarchischen Position ver- standen werden: der/)bergeordnete Typus verleiht ihm Sinn, die untergeord- neten Inhalt.

In kausaler Wechselwirkung mit dem morphologischen Typus steht das epi- genetische System als Summe der molekularen Wechselwirkungen, die ihn erm6glichen, deren Systemgesetzlichkeit aber andererseits von ihm selbst beeinfluBt wird. Hinter jeder nat•rlichen Verwandtschaftsgruppe steht somit ein allgemeines Gesetz, dessen Fall eben diese Gruppe darstellt und das nicht mehr und nicht minder real ist als irgend ein konkretes Individuum.

Die Erkenntnis dieser Gesetzm/iBigkeit des Lebendigen beruht (wie wit gese- hen haben) auf dem vorbewuBten Verrechnungs-apparat unserer Wahrneh- mung, besonders auf dessen F~ihigkeit des Vergleichens von Wahrscheinlich- keiten; aber ebenso auf der Gestaltwahrnehmung. Unsere Denkordnung ist ein Produkt dieser Evolution, daher eine Nachbildung der Naturordnung. Nur so war es m6glich, daf~ die Morphologen auch ohne kausales Verstfindnis der Ge- staltbildung die Natur des 'Natfirlichen Systems' erkannten, welches sich voll und ganz als natiirliches System erwiesen hat.

Wenn wir nun nochmals auf das eingangs erw~ihnte Wort Goethes zurtick- blicken, sehen wit, dab auch die vorhin gestellte Frage: Wovon alles Verg~ing- liche ein Gleichnis sein soil, nun beantwortet sein ram3. Das Verg~ngliche ist stets der Einzelfall, und dieser zeigt sich nun als Gleichnis der hinter ihm ruben- den Gesetzm/~t~igkeit. Dies ist nun kein Idealismus, denn diese Gesetzm~t3ig- keit haben wir als mete- und beschreibbare Realitfit erkannt. Daher scheint Lorenz' Kritik an jenem Punkt unberechtigt, wo sie Goethes Wort als idealis- tische Projektion bezeichnet, mit dem Argument: 'Das Lebewesen ist nicht Gleichnis von irgend etwas.' (Lorenz, 1973; p. 326). Denn dab wir gerade ein Lebewesen als Gleichnis eines allgemeinen Gesetzes begreifen konnen, ~st eine Konsequenz, die Konrad Lorenz selbst vorbereitet hat. Was soll denn anderes die Voraussetzung der Koinzidenz zwischen Natur - und Denkmustern sein, wenn nicht die Identit/it der hinter beiden stehenden Grundgesetze?

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Fgr viele Anregungen in zahlreichen Gespr~tchen zum Thema dieser Abhandlung danke ich meinem Lehrer Prof. Dr. Rupert Riedl, sowie Prof. Dr. Erhard Oeser und nicht zuletzt Herrn Prof. DDr. Konrat Lorenz.