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Der Wandel des ungeschriebenen Völkerrechts im Zuge der Konstitutionalisierung Author(s): Niels Petersen Source: Archiv des Völkerrechts, 46. Bd., 4. H. (Dezember 2008), pp. 502-523 Published by: Mohr Siebeck GmbH & Co. KG Stable URL: http://www.jstor.org/stable/40800231 . Accessed: 18/06/2014 20:22 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Mohr Siebeck GmbH & Co. KG is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Archiv des Völkerrechts. http://www.jstor.org This content downloaded from 91.229.248.184 on Wed, 18 Jun 2014 20:22:29 PM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

Der Wandel des ungeschriebenen Völkerrechts im Zuge der Konstitutionalisierung

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Der Wandel des ungeschriebenen Völkerrechts im Zuge der KonstitutionalisierungAuthor(s): Niels PetersenSource: Archiv des Völkerrechts, 46. Bd., 4. H. (Dezember 2008), pp. 502-523Published by: Mohr Siebeck GmbH & Co. KGStable URL: http://www.jstor.org/stable/40800231 .

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Der Wandel des ungeschriebenen Völkerrechts im Zuge der Konstitutionalisierung

Dr. iur. Niels Petersen*

Wahrscheinlich kaum ein Gebiet des Völkerrechts ist derart umstritten wie die Theorie der Völkerrechtsquellen. Das Thema ist ein theoretisches Mi- nenfeld:1 Welche Quellen als Grundlage bindender völkerrechtlicher Nor- men anerkannt werden, hängt unmittelbar damit zusammen, welche theo- retische Konzeption des Völkerrechts man zugrunde legt. Sehr viel stärker noch als im nationalen Recht, wo man sich über die Rechtsquellen weitge- hend einig ist, wirken sich im Völkerrecht die theoretischen Grundannah- men unmittelbar auf die Rechtsdogmatik aus.2 Einigkeit besteht immerhin dahingehend, dass zumindest die in Art. 38 (1) lit. a-c des IGH-Statuts3 auf- geführten Quellen Rechtsquellen des Völkerrechts sind. Umstritten ist je- doch insbesondere die Reichweite der Quellen des ungeschriebenen Rechts (lit. b und c).

Traditionell ist das Völkergewohnheitsrecht dessen zentrale Rechts- quelle. Trotz der großen Bedeutung des Völkergewohnheitsrechts sind die Kriterien für seine Identifizierung jedoch hoch umstritten. Zwar bestimmt Art. 38 (1) lit. b des IGH-Statuts, dass Gewohnheitsrecht eine einheitliche Staatenpraxis und eine mit dieser einhergehende Rechtsüberzeugung vor- aussetzt. Über die Konkretisierung dieser beiden Elemente besteht jedoch keine Einigkeit. Insbesondere die Staatenpraxis ist Gegenstand vieler Kon- troversen. Völkerrechtler diskutieren, welche Art staatlichen Handelns als Praxis anzusehen ist und ob diese eine gewisse Dauer oder Häufigkeit vor- aussetzt. Zudem scheint es praktisch unmöglich, die Praxis von fast 200 Staaten zu beobachten, die mittlerweile zur internationalen Staatenge- meinschaft gehören. Daher sind entsprechende Untersuchungen oft hoch

* Der Autor ist wissenschaftlicher Referent am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn. Der Aufsatz ist eine Fortentwicklung eines Beitrags, der im American University International Law Review, Bd. 23 (2008) erschienen ist.

1 M. Koskenniemi, The Pull of the Mainstream, Mich. L. Rev. 88 (1990), S. 1946 (1947). ¿ ò.Kadelbacb, Wandel und Kontinuitäten des Volkerrechts und seiner Iheone, in: K. Gröschner/M. Morlok (Hg.), Rechtsphilosophie und Rechtsdogmatik in Zeiten des Um- bruchs, 1997, 178 (190). 3 Statute of the International Court of Justice, 26. Juni 1945, 30 UN Yb. S. 1052.

Archiv des Völkerrechts, Bd. 46 (2008), S. 502-523 © Mohr Siebeck - ISSN 0003-892X

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selektiv. Sie nehmen nur die mächtigsten oder die am meisten betroffenen Staaten in den Blick.4 Doch selbst unter diesem eingeschränkten Blickwin- kel fehlt es an einer einheitlichen systematischen Methode, Staatenpraxis wahrzunehmen und zu bewerten. Daher beinhaltet ein auf Gewohnheits- recht gestütztes Argument immer ein beträchtliches Maß an Beliebigkeit.5

Dieser Beitrag thematisiert den Wandel bei der Identifizierung von Gewohnheitsrecht in der modernen Völkerrechtsordnung. Es gibt in der neueren Völkerrechtswissenschaft Tendenzen, nicht mehr die Staaten- praxis als maßgebliches Kriterium für die Entstehung von Gewohnheits- recht abzustellen, sondern stärker interpretative Methoden ins Zentrum der Rechtsfindung zu stellen. Es wird hier die These vertreten, dass es im modernen Völkerrecht zwei Arten ungeschriebener Normen gibt, die je- weils unterschiedlichen Entstehungsvoraussetzungen unterliegen. Diese beiden Normarten sollen dabei unterschiedlichen Rechtsquellen zuge- ordnet werden, dem traditionellen Völkergewohnheitsrecht auf der einen sowie den allgemeinen Rechtsgrundsätzen auf der anderen Seite.

I. Das moderne Völkergewohnheitsrecht

Das Völkergewohnheitsrecht ist die zentrale Rechtsquelle des ungeschrie- benen Völkerrechts. Traditionell war seine Identifizierung durch ein stark induktives Vorgehen gekennzeichnet. Gerichte und Völkerrechtswissen- schaft versuchten staatliche Verhaltensmuster zu erkennen und zu syste- matisieren.6 Die opinio iuris spielte in diesem Prozess keine große Rolle, so dass es nicht weiter überrascht, dass etwa Guggenheim oder Kelsen die Rechtsüberzeugung als konstitutives Element für vollkommen entbehrlich hielten.7 Dieser faktenbasierte, induktive Ansatz ist jedoch in den letzten Jahrzehnten einem eher interpretativen Ansatz gewichen. Nicht nur hat die Rechtsüberzeugung als konstitutives Element erheblich an Gewicht gewonnen; auch die Bandbreite dessen, was als Staatenpraxis anerkannt wird, hat erheblich zugenommen. So wird heutzutage oft auf die so ge-

4 K. Wolfke, Custom in Present International Law, 1993, 78; M. Byers, Power, Obliga- tion, and Customary International Law, Duke J. Comp. & Int'l L. 11 (2001), S. 81 (84). 5 H. Hestermeyer, Access to Medication as a Human Right, Max Planck UNYB 8 (2004), 101 (158). 6 B. Simma, International Human Rights and General International Law: A Compara- tive Analysis, Collected Courses of the Academy of European Law 4 (1995), S. 153 (216). 7 P. Guggenheim, Les deux éléments de la coutume en Droit international, in FS Geor- ges Scelles, 1950, S. 275; H. Kelsen, Théorie du droit international coutumier, RITD 1 (1939), 253. Beide haben diese Auffassung jedoch in späteren Beiträgen revidiert: H. Kelsen, Prin- ciples of International Law, 1967, S. 440; P. Guggenheim, Traité de Droit international public, 1967, S. 101.

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nannte paper practice Bezug genommen, die auf staatliche Stellungnahmen und Resolutionen internationaler Institutionen rekurriert.8

In theoretischer Hinsicht problematisch wird dies dann, wenn unter Bezugnahme auf die genannte paper practice Rechtssätze postuliert wer- den, die nicht mit dem tatsächlichen Verhalten der Staatengemeinschaft in Einklang stehen. Dieses Problem ist insbesondere im Bereich der gewohn- heitsrechtlichen Menschenrechtsgarantien virulent. So werden etwa die Verbote des Völkermords, der Sklaverei, der Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlungen, willkürliche Haft und systematische rassische Diskriminierung weithin als Bestandteile des Völkergewohnheitsrechts anerkannt.9 Allerdings sind diese Verbote weit davon entfernt, überall auf der Welt einheitlich durchgesetzt zu werden. Es genügt, sich Berichte der UN Human Rights Commission oder von Am- nesty International durchzulesen, um sich vom Gegenteil zu überzeugen. Um dieser Problematik zu begegnen, haben sich in der Völkerrechtstheo- rie in den letzten Jahren unterschiedliche Ansätze herausgebildet. Diese Ansätze sollen im Folgenden zunächst diskutiert werden, ehe eine von Bruno Simma und Philip Aiston entwickelte Idee, bestimmte Völker- rechtssätze als allgemeine Rechtsgrundsätze zu qualifizieren, weiter ver- folgt werden soll.

1. Gewohnheitsrecht ohne Staatenpraxis Der wohl naheliegendste Ansatz, dem Problem entgegenstehender Staa- tenpraxis zu entgehen, ist, letzterer die konstitutive Bedeutung abzuspre- chen. Diesen Versuch hat als erster Bin Cheng in den 60er Jahren anhand der Weltraumresolutionen der UN- Generalversammlung10 unternom- men.11 Staatenpraxis ist danach nur noch Indikator für die Existenz einer Rechtsüberzeugung. Cheng stellt dabei ein logisches Argument auf: Wenn die Staaten sich implizit auf eine Regel geeinigt - und diese Einigung durch eine Resolution der Generalversammlung zum Ausdruck gebracht - ha-

8 R. Bernhardt, Customary International Law, in: EPIL I, 1992, 898 (900); M. Virally, Le rôle des „principes" dans le développement du droit international, in: FS Paul Guggen- heim, 1968, 531 (550); M. Akehurst, Custom as a Source of International Law, BYIL 47 (Ì974Ì. 1 (4).

9 B. Simma, International Human Rights and General International Law: A Compara- tive Analysis, Collected Courses of the Academy of European Law 4 (1995), S. 153 (219), der sich auf das Restatement (Third) Foreign Relations Law of the United States (1987), § 702 des American Law Institute bezieht.

10 GV-Resolutionen 1721 (XVI), UN GAOR 16th Sess., Supp. No. 17, UN-Dok. A/5026 (20. Dez. 1961); 1962 (XVIII), UN GAOR 18th Sess., Supp. No. 15 (13. Dez. 1963). 11 B. Cheng, United Nations Resolutions on Outer Space: „Instant" International Customary Law? Indian J. Int'l L. 5 (1965), S.23.

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ben, dann seien keine weiteren Erfordernisse denkbar, um dieser Regel normative Kraft zu verleihen.12

Aus ähnlichen Gründen verzichten auch einige Vertreter der Schule, die Völkerrecht mit Rational Choice-Modellen erklären wollen, auf den Nach- weis von Staatenpraxis.13 Geltungsgrund von Normen ist für sie deren Ef- fektivität. Diese ist jedoch nicht von vergangenem Verhalten, sondern al- lein von der Einstellung von Staaten zu diesen Normen abhängig. Daher bestimmt sich die Geltung von Regeln nur nach deren subjektiver Bewer- tung durch die Staatengemeinschaft, nicht nach der tatsächlichen Praxis. Letztere kann allein ein Indikator für die Existenz dieses subjektiven Ele- ments sein.14 Schließlich gibt es Autoren, die zwar nicht generell, aber doch in einigen Bereichen auf das Erfordernis einer konsistenten Staatenpraxis verzichten wollen. Dies soll etwa für solche Resolutionen der UN- Gene- ralversammlung gelten, die einen Konsens der internationalen Staatenge- meinschaft repräsentieren,15 oder für ethische im Gegensatz zu koordinie- renden völkerrechtlichen Normen.16

Der Verzicht auf Staatenpraxis bei der Identifizierung von Völkerge- wohnheitsrecht hat viel Kritik erfahren. Berühmt ist ein Kommentar von Sir Robert Jennings, demzufolge „most of what we perversely persist in calling customary international law is not only not customary law: it does not even faintly resemble a customary law."17 Schon begrifflich setzt Ge- wohnheitsrecht den Rekurs auf Staatenpraxis voraus. Gewohnheitsrecht ohne die Herausbildung einer Gewohnheit ist sprachlich nur schwer vor- stellbar. Zudem definiert Art. 38 (1) lit. b des IGH-Statuts das Gewohn- heitsrecht als „general practice accepted as law". Die Staatenpraxis wird man als Element des Gewohnheitsrechts daher nicht hinwegdefinieren können.

12 B. Cheng, On the Nature and Sources of International Law, in: ders. (Hg.), Interna- tional Law. Teaching and Practice, 1982, S. 203 (224). 13 A.T. Guzman, Saving Customary International Law, Mich. J. Int'l L. 27 (2005), S. 115 (122).

14 Ebd. 15 So L.B. Sohn, The Human Rights Law of the Charter, Tex. Int'l L. J. 12 (1977), S. 129

(133). 16 F.R. Tesón, Two Mistakes about Democracy, ASIL Proceedings 92 (1998), S. 126 (127). 17 R.Y. Jennings, The Identification of International Law, in: Cheng (Fn. 12), S.3 (5) (Hervorhebung im Original).

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2. Gewohnheitsrecht auf der Gleitskala

Ein weiterer Ansatz versucht die beiden konstitutiven Elemente des Ge- wohnheitsrechts auf einer Gleitskala zueinander in Verhältnis zu setzen.18 Je dichter die Anzeichen für die Herausbildung von Gewohnheitsrecht in ei- nem der beiden Elemente sind, desto weniger braucht man von dem ande- ren.19 Können wir also eine sehr dichte und konsistente Staatenpraxis fest- stellen, brauchen wir keine opinio iuris mehr nachzuweisen. Können wir dagegen eine eindeutige opinio iuris identifizieren, besteht keine Notwen- digkeit, ein hohes Maß an konsistenter Staatenpraxis darzulegen. Dieser Ansatz wird teilweise zusätzlich normativ aufgeladen, indem die Gleitskala mit substantiellen Kriterien angereichert wird. So soll das Fehlen der Staa- tenpraxis bei gleichzeitiger Existenz einer Rechtsüberzeugung dann un- schädlich sein, wenn es sich um Normen mit ethischem Gehalt handelt.20 Dieser Ansatz setzt sich jedoch derselben Kritik aus, wie der soeben behan- delte, der auf den Nachweis von Staatenpraxis vollständig verzichtet. Der Verzicht auf consuetudo ist bei Gewohnheitsrecht nur schwer vorstellbar.

3. Billigkeit statt Gewohnheit

Wenn wir die Staatenpraxis also nicht aus dem Gewohnheitsrecht heraus- definieren können, gilt es, alternative Konzepte zu suchen. Eines hat Martti Koskenniemi angeboten. Nachdem er in seiner Dissertation From Apo- logy to Utopia 21 die Theorie des bestehenden Völkergewohnheitsrechts zunächst zu dekonstruieren versucht, bietet er uns eine mehr auf Billigkeit denn auf Recht abzielende Alternative an: "But it is also, and more fundamentally, useless because we do not wish to condone anything that states may do or say, and because it is really our certainty that genocide or torture is ille- gal that allows us to understand state behaviour and to accept or reject its legal message, not state behaviour itself that allows us to understand that these practices are prohibited by law. It seems to me that if we are uncertain of the latter/tfct, then there is really little in this world we can feel confident about."22

Koskenniemi schlägt also vor, die Menschenrechte aus dem positiven Rechtsdiskurs auszuklammern, um ihnen nicht ihr kritisches Potential zu nehmen. Dies klingt jedoch wie eine Kapitulation vor den Herausforde- rungen moderner völkerrechtlicher Dogmatik. Will man erreichen, dass

18 EL. Kirgis, Custom on a Sliding Scale, AJIL 81 (1987), S. 146;/. Tasioulas, In De- fence of Relative Normativity: Communitarian Values and the Nicaragua Case, Oxford J. Legal Stud. 16 (1996), S.85 (109 ff.); A.E. Roberts, Traditional and Modern Approaches to Customary International Law: A Reconciliation, AJIL 95 (2001), S. 757 (774 ff.). 19 Kirsis (Fn. 18), S. 149.

20 Tasioulas (Fn. 18), S. 113: Roberts (Fn. 18), S. 774 ff. 21 M. Koskenniemi, From Apoloev to Utopia, 1989. 22 Koskenniemi (Fn. 1), 1952 (Hervorhebung hinzugefügt).

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Menschenrechte ernst genommen werden, muss man ihnen den natur- rechtlichen Beigeschmack nehmen, der ihnen immer noch anhaftet, und eine dogmatisch fundierte Konzeption anbieten.

4. Allgemeine Rechtsgrundsätze Den vielversprechendsten Ansatz haben Bruno Simma und Philip Aiston in einem grundlegenden Beitrag zu den Quellen von Menschenrechten an- geboten.23 Sie schlagen vor, Menschenrechte nicht als Völkergewohnheits- recht, sondern als allgemeine Rechtsgrundsätze aufzufassen.24 Diese un- terscheiden sich in ihrer Entstehung von Gewohnheitsrecht dadurch, dass die Geltung nur einen impliziten Konsens der Staatengemeinschaft vor- aussetzt, nicht jedoch auch eine konforme Praxis.25 Dieser implizite Kon- sens soll vor allem aus Resolutionen der UN- Generalversammlung ge- wonnen werden können. Konstitutiv ist also nur das subjektive Element des Gewohnheitsrechts.

Obwohl dieser Vorschlag das Problem der Normativität der Menschen- rechte bei fehlender Staatenpraxis überzeugend löst, verbleiben einige Pro- bleme. Wenn allgemeine Rechtsgrundsätze durch die bloße Akzeptanz durch die Staatengemeinschaft begründet werden können, dann liegt der Unterschied zum Gewohnheitsrecht darin, dass der Staatenpraxis keine konstituierende Bedeutung zukommt. Simma und Aiston begründen diese Privilegierung menschenrechtlicher Normen mit deren nach innen gerich- tetem Charakter.26 Staatenpraxis beziehe sich auf die Interaktion von Staa- ten, während Menschenrechtsstandards nicht mittels grenzübergreifenden Handelns von Staaten beschrieben werden könnten. Dies ist zwar ein struktureller Unterschied, jedoch ist allein dieser strukturelle Unterschied noch kein normativer Grund für eine Unterscheidung zwischen Gewohn- heitsrecht und allgemeinen Rechtsgrundsätzen.

Im Folgenden soll daher ein anderer Weg gegangen werden. Die Diffe- renzierung zwischen Gewohnheitsrecht und allgemeinen Rechtsgrundsät- zen soll nicht auf den externen oder internen Charakter einer Norm zu- rückgeführt werden, sondern ihr soll eine normtheoretische Unterschei-

23 B. Simma/P. Alston, The Sources of Human Rights Law: Custom, Jus Cogens, and General Principles, Austl. Yb. Int'l L. 12 (1992), S. 82. 24 Ebd., 102-6. Zustimmend: O. Schachter, New Custom: Power, opinio íuris and con- trary practice, in FS Krzysztof Skubiszewski, 1996, S.531 (539); A. Bleckmann, Zur origi- nären Entstehung gewohnheitsrechtlicher Menschenrerchtsnormen, in: E. Klein (Hg.), Menschenrechtsschutz durch Gewohnheitsrecht, 2002, S.29 (42 f.). Für eine Kritik dieses Ansatzes siehe R.B. Lillich, The Growing Importance of Customary International Human Rights Law, Ga. J. Int'l & Comp. L. 25 (1995), S. 1. 25 Simma/Alston (Fn.23),SA02. 26 Ebd., S. 99.

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dung zugrunde gelegt werden.27 Mit Robert Alexy soll zwischen Regeln und Prinzipien unterschieden und gezeigt werden, dass diese Klassifizie- rung auch für die Trennung von Gewohnheitsrecht und allgemeinen Rechtsgrundsätzen fruchtbar gemacht werden kann. Diese These soll im Folgenden in zwei Schritten näher ausgeführt werden. Zunächst wird die rechtstheoretische Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien erläu- tert und deren Verhältnis zueinander geklärt. Anschließend soll auf die Funktion der Staatenpraxis bei der Identifizierung von Völkergewohn- heitsrecht eingegangen und gezeigt werden, dass Praxis diese Funktion bei Rechtsprinzipien nicht erfüllen kann und für deren Konstituierung daher entbehrlich ist.

II. Regeln und Prinzipien im Völkerrecht

1. Die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien Die rechtstheoretische Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien ist auch im Völkerrecht sehr geläufig.28 Allerdings werden beide Begriffe nicht einheitlich verwendet.29 Der Begriff Prinzipien wird oft zur Bezeich- nung der grundlegenden, generelleren Normen einer Rechtsordnung ver- wendet, während die konkreteren Vorschriften als Regeln bezeichnet wer- den.30 Eine solche Unterscheidung hat jedoch einen geringen heuristischen Wert, da sie nur graduellen, keinen qualitativen Charakter hat. Für die fol- gende Untersuchung soll daher die Unterscheidung, die Robert Alexy in seiner Habilitationsschrift vorgeschlagen hat, zugrunde gelegt werden.31

Danach unterscheiden sich die beiden Konzepte vor allem in ihrem Ver- halten bei Normenkollisionen. Wenn zwei Regeln kollidieren, dann ist diese Normkollision durch spezielle Kollisionsregeln, wie etwa den lex specialis oder den lex posterior Grundsatz, aufzulösen.32 Prinzipienkolli-

27 Im Ansatz ähnlich S. Kadelbach/T. Kleinlein, Überstaatliches Verfassungsrecht. Zur Konstitutionalisierung im Völkerrecht, AVR 44 (2006), S. 235 (262 ff.). 28 D.W. Greig, The Underlying Principles of International Humanitarian Law, Austl. Yb. Int'l L. 9 (1985), S.46 (65); V. Lowe, The Politics of Law-Making: Are the Method and Character of Norm Creating Changing?, in: M. Byers (Hg.), The Role of Law in Internatio- nal Politics, 2000, S.207 (213 ff.); R. Kolb, Principles as Sources of International Law (with Special Reference to Good Faith), NILR 53 (2006), S. 1. 29 Vgl. R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1994, S. 72 ff. 30 Siehe nur allgemein G.C. Christie, The Model of Principles, Duke L. J. 1968 (1968), S. 649 (669);/ Raz, Legal Principles and the Limits of Law, The Yale Law Journal 81 (1972), S. 823 (838); für das Völkerrecht/./3. Truchimán, The Domain of WTO Dispute Resolution, Harv. Int'l L. T. 40 (1999), S.333 (350 f.).

31 Alexy (Fn.29), S. 75 ff. Ähnlich auch eine entsprechende Unterscheidung von R. Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977, S. 22 ff. Zu den Problemen von Dworkins Konzep- tion siehe jedoch noch unten II 2.

32 Alexy (¥n.29),S.7S.

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sionen werden dagegen nicht durch Kollisionsregeln, sondern durch eine Güterabwägung gelöst.33 Während das Verhältnis zweier Regeln daher im- mer statisch ist, ist das zwischen Prinzipien dynamisch. Es ist unmöglich, unabhängig von den tatsächlichen Umständen zu entscheiden, welches Prinzip die Oberhand behält.

Aus dieser Unterscheidung können wir weitere Schlussfolgerungen über das Verhältnis von Regeln und Prinzipien ziehen. Da Prinzipien sich im Konfliktfall durch eine Güterabwägung auszeichnen, dienen sie immer dem Schutz eines Gemeinschafts- oder eines Individualgutes. Im Gegen- satz dazu sind Regeln grundsätzlich verhaltensbezogen. Zwar gibt es in dieser Hinsicht Ausnahmen. So ist es vorstellbar, dass ein Rechtsgut abso- lut geschützt ist, also sein Schutz gegenüber jedweden konkurrierenden Rechtsgütern Vorrang genießt.34 Dann hat die Schutznorm Regelcharak- ter. Regeln dieser Art werden jedoch die Ausnahme sein. In einer Welt konkurrierender Ziele und Schutzgüter können letztere nur dann alle durch Regeln geschützt werden, wenn im Voraus eine Hierarchie zwischen diesen Gütern etabliert wird, die die Auflösung eines potentiellen Span- nungsverhältnisses im Konfliktfall erlaubt. Obwohl dies theoretisch denk- bar ist, würde solchen Rechtssystemen die notwendige Flexibilität fehlen, so dass ihre Existenz in der Praxis unwahrscheinlich ist.35 Regeln können weiterhin bestimmte Verhaltensweisen verbieten, um ein Rechtsgut zu schützen. So intendiert das Folterverbot den Schutz der Menschenwürde. In diesem Fall ist der Schutz des Rechtsgutes jedoch nur indirekt und zu- dem nicht vollständig - schließlich sind auch andere Verletzungshandlun- gen vorstellbar. Regeln dienen in diesem Fall der Durchsetzung von Prin- zipien, während letztere der normative Grund für die Existenz einer schüt- zenden Regel sind.36

Zur Verdeutlichung der Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzi- pien im Völkerrecht soll die Diskussion um die Zulässigkeit der humanitä- ren Intervention betrachtet werden. Der Kern der Debatte dreht sich dabei um den Konflikt zweier fundamentaler Prinzipien des Völkerrechts - der Friedenserhaltung auf der einen und dem Schutz der Menschenrechte auf der anderen Seite.37 Akzeptieren wir die humanitäre Intervention grund- sätzlich als Ausnahme vom Gewaltverbot, dann müssen wir die beiden im Hintergrund stehenden Prinzipien mit Blick auf die Umstände des tat-

33 R. Alexyi Zum Begriff des Rechtspinzips, in: W. Krawietz et al. (Hg.), Argumentation und Hermeneutik in der Turisprudenz, 1979, S. 59 (64).

34 Ein Beispiel ist etwa der Schutz der Menschenwürde im deutschen Grundgesetz. 35 M. Kumm, Liberale Gerechtigkeitstheorien und die Struktur der Grundrechte, in: R. Alexy (Hg.), Juristische Grundlagenforschung, 2005, S. 218 (220). 36 N. MacCormick, „Principles" of Law, Juridical Review 19 (1974), S. 217 (222); ders., Legal Reasoning and Legal Theory, 1994, S. 156. 37 N. Krisch, Review Essay: Legality, Morality and the Dilemma of Humanitarian In- tervention after Kosovo, EJIL 13 (2002), S. 323 (331).

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sächlichen Falles gegeneinander abwägen.38 Keines der beiden Prinzipien wird immer vorrangig sein. Vielmehr hängt das Ergebnis der Abwägung von der Schwere der Menschenrechtsverletzung, den potentiellen Kollate- ralschäden der humanitären Intervention und der Bedrohung, die von der Intervention für den internationalen Frieden und die internationale Sicher- heit ausgeht, ab.39

Allerdings gibt es Autoren, die sich vehement gegen eine Abwägung des Gewaltverbots im Rahmen der humanitären Intervention wenden.40 Diese Argumentation wendet sich jedoch nicht gegen das Prinzipienmodell an sich, sondern nur gegen seine Anwendung im Fall der humanitären Inter- vention. Die Erhaltung des internationalen Friedens ist nämlich nicht nur ein Prinzip. Vielmehr ist dieses auch in eine Regel inkorporiert worden: gem. Art. 2 (4) der Charta der Vereinten Nationen41 müssen alle Mitglieder der UN in ihren internationalen Beziehungen davon absehen, militärische Gewalt anzuwenden oder mit ihr zu drohen.

Kommt es zu einer Kollision zwischen einer Regel und einem Prinzip, dann genießt die Regel logisch den Vorrang, da sie die speziellere Norm ist

38 So z.B./.-P. L. Fonteyne, The Customary International Law Doctrine of Humanita- rian Intervention: Its Current Validity under the U.N. Charter, Cal. W. Int'l LJ. 4 (1974), S.203 (256); K. Ryan, Rights, Intervention, and Self-Determination, Denver J. Int'l L. & Pol'y 55 (1991), S. 55 (59 f.); A. Cassese, Ex iniuria ius oritur: Are We Moving towards Inter- national Legitimation of Forcible Humanitarian Countermeasures in the World Commu- nity?, EJIL 10 (1999), S.23 (26 f.); C. Tomuschat, International Law: Ensuring the Survival of Mankind on the Eve of a New Century, RdC 281 (1999), S. 13 (223 ff .); D. Thürer, Der Kosovo-Konflikt im Lichte des Völkerrechts: Von drei - echten und scheinbaren - Dilem- mata, AVR 38 (2000), S. 1 (6 f.); K. Doehring, Völkerrecht, 2004, Rn. 1014.

39 Siehe nur die entsprechenden Kriterienkataloge bei R.B. Lillich, Forcible Self-Help by States to Protect Human Rights, Iowa L. Rev. 53 (1967), S. 325 (347 ff.); ders., Humanita- rian Intervention through the United Nations: Towards the Development of Criteria, ZaöRV 53 (1993), S. 557 (562 í.);J.N. Moore, The Control of Foreign Intervention in Internal Conflict, Va. J. Int'l L. 9 (1969), S.205 (262); F. Ermacora, Geiselbefreiung als humanitäre Intervention im Lichte der UN-Charta, in FS Friedrich August Steinherr von der Heydte, 1977, S. 147 (169); Cassese (Fn. 38), 27. 40 /. Brownlie, Humanitarian Intervention, in: /.TV. Moore (Hg.), Law and Civil War in the Modern World, 1974, S.217; C. Westerdiek, Humanitäre Intervention und Maßnahmen zum Schutz eigener Staatsangehöriger im Ausland, AVR 21 (1983), S.383 (394); W.D. Ver- wey, Humanitarian Intervention under International Law, NILR 32 (1985), S. 357; O. Kim- minich, Der Mythos der humanitären Intervention, AVR 33 (1995), S.430 (455);//. Char- ney, Anticipatory Humanitarian Intervention in Kosovo, AJIL 93 (1999), S. 834; M. Bothe/B. Martenczuk, Die NATO und die Vereinten Nationen nach dem Kosovo-Konflikt, VN 47 (1999), S. 125; B. Simma, NATO, the UN and the Use of Force: Legal Aspects, EJIL 10 (1999), S. 1 (2 f.); M. G. Kohen, L'emploi de la force et la crise du Kosovo: vers un nouveau désordre juridique international, RBDI 32 (1999), S. 122 (134); N. Krisch, Unilateral Enforce- ment of the Collective Will: Kosovo, Iraq, and the Security Council, Max Planck UNYB 3 (1999), S. 59 (59 f.); M. Byers/S. Chesterman, Changing the rules about rules? Unilateral hu- manitarian intervention and the future of international law, in: J.L. Holzgrefe/ R. O . Keo- hane (Hg.), Humanitarian Intervention, 2003, S. 177 (178 f.). 41 Charter of the United Nations vom 26. Juli 1945, TS 993.

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und keiner Abwägung zugänglich ist.42 Regeln können somit nicht durch kollidierende Prinzipien in ihrem Anwendungsbereich eingeschränkt wer- den. Prinzipien kommen in einer solchen Kollision nur dann zum Tragen, wenn Ausnahmen von der kollidierenden Regel entweder explizit oder im- plizit auf bestimmte Prinzipien zurückgreifen. Als Beispiel sei hier auf das Welthandelsrecht verwiesen, in dem Art. XX GATT43 und Art. XIV GATS44 diese Funktion wahrnehmen. Diese beiden Normen lassen Aus- nahmen von den Regeln des GATT bzw. des GATS zu, wenn diese die in den Ausnahmenormen aufgezählten Ziele verfolgen. Prinzipien werden somit in der rechtlichen Argumentation in drei Konstellationen relevant: zum einen in Fällen, die durch Regeln überhaupt nicht erfasst werden, zum zweiten in Situationen, in denen Ausnahmeregeln explizit oder implizit auf Prinzipien verweisen, und schließlich in solchen Konstellationen, in denen eine Regel interpretationsoffen ist und im Lichte von Prinzipien konkreti- siert werden muss.45

Wenden wir diese Grundsätze auf unser Beispiel von der humanitären Intervention an, so entscheidet die Einordnung des Gewaltverbots als Re- gel oder Prinzip noch nicht die konkrete Rechtsfrage. Vielmehr hängt de- ren Beantwortung davon ab, ob wir Art. 2 (4) UN-Charta so interpretieren können, dass dessen Auslegung von einer Abwägung konkurrierender Prinzipien abhängt.46 Die Einordnung in das Regel-/Prinzipienmodell gibt uns nur die Struktur der Argumentation vor: sie zeigt uns, dass eine freihändige Abwägung konkurrierender Rechtsgüter gegen den Wortlaut von Art. 2 (4) UN-Charta nicht möglich ist. Allein der Verweis auf die Stellung der Menschenrechte im Völkerrecht vermag die humanitäre In- tervention also noch nicht zu rechtfertigen.

2. Einwände gegen allgemeine Rechtsgrundsätze und das Prinzipienmodell

Sowohl Prinzipien im rechtstheoretischen Sinne als auch allgemeine Rechtsgrundsätze im Sinne von Art. 38 (1) lit. c IGH-Statut sind, nicht ohne Grund, oft dafür kritisiert worden, ein Einfallstor für naturrecht- liche Maximen in den völkerrechtlichen Diskurs zu sein. Ausweislich der Entstehungsgeschichte wurden die allgemeinen Rechtsgrundsätze im Sinne von Art. 38 (1) lit. c des IGH-Statuts ursprünglich als Gegengewicht

42 i4/cxy(Fn.29),S.121. 43 General Agreement on Tariffs and Trade (30. Okt. 1947), 55 UNTS 194. 44 Agreement Establishing the World Trade Organization, Annex 1 B, General Agree-

ment on Trade in Services (15. Apr. 1994), ILM 33 (1994), S. 1167. 45 J.-R. Sieckmann, Regelmodelle und Prinzipienmodelle des Rechtssystems, 1990, S. 141.

46 Siehe zu dieser Frage TV. Petersen, Demokratie als ideologisches Prinzip - Zur Legiti- mität von Staatsgewalt im Völkerrecht, 2009, i.E., Kap. 3, II 1.

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zu einem übertriebenen Rechtspositivismus angesehen.47 Um den Rechts- diskurs zu rationalisieren wurde jedoch das Erfordernis der Anerkennung durch die »zivilisierten* Nationen hinzugefügt. Nur solche Prinzipien, die von der internationalen Gemeinschaft als solche anerkannt werden, sollen Teil des rechtlichen Diskurses werden können. Das Anerkennungserfor- dernis macht bereits deutlich, dass es sich bei den allgemeinen Rechts- grundsätzen nicht unbedingt um naturrechtliche Prinzipien handeln muss.

Sie beziehen sich vielmehr auf das Bestehen eines impliziten Konsenses der Staatengemeinschaft.48 Sie unterscheiden sich von Völkergewohnheits- recht dadurch, dass Staatenpraxis zu ihrer Begründung keine konstituie- rende Funktion hat. Vielmehr ist die Existenz einer entsprechenden Rechtsüberzeugung bereits konstitutiv.49 Der angesprochene implizite Konsens kann durch Rückgriff auf nicht unmittelbar bindende Willens- äußerungen eines beträchtlichen Teils der internationalen Staatengemein- schaft identifiziert werden. Dies können Resolutionen der UN-General- versammlung oder anderer repräsentativer internationaler Organisationen oder Organe sein. Weiterhin können auch Präambeln multilateraler Ver- träge oder Generalisierungen und Abstraktionen aus dem Vertragsrecht als Indikatoren für die Identifizierung von allgemeinen Rechtsgrundsät- zen dienen. Auch die Staatenpraxis kann eine Rolle spielen.50 Sie ist jedoch bei Prinzipien nicht konstituierendes Element, sondern vielmehr nur Indiz für das Bestehen einer Rechtsüberzeugung. Dabei kommt es auch nicht in erster Linie auf die tatsächliche Praxis, sondern vielmehr die Bewertung von Präzedenzfällen durch die internationale Gemeinschaft an.

Ein zweiter Kritikpunkt richtet sich gegen das rechtstheoretische Kon- zept der Prinzipien. Alexys Konzeption ist sehr von der Prinzipientheorie Ronald Dworkins beeinflusst worden. Für Dworkin selbst war das Prinzi- pienmodell ein Instrument, um Harts Rechtspositivismus51 anzugreifen.52 Dworkin kritisierte Harts Theorie, indem er zu zeigen versuchte, dass moderne Rechtssysteme nicht als reine Regelsysteme konzipiert werden könnten. Gerichte argumentierten vielmehr immer auch mit Prinzipien, die sie aus moralischen Erwägungen herleiteten und die sich nicht auf eine rule of recognition zurückführen ließen.53 Allerdings ist der von Dworkin hervorgehobene naturrechtliche Ursprung von Prinzipien nicht zwingend.

47 Vgl. G.J.H. v. Hoof, Rethinking the Sources of International Law, 1983, S. 138. 48 A. Verdross, Die Quellen des universellen Völkerrechts, 1973, S. 128. 49 Simma/Alston (¥n.23'SA04. 50 W. Weiß, Alleemeine Rechtserundsätze des Völkerrechts, AVR 39 (2001), S. 394 (410). 51 H.L.A. Hart, The Concept of Law, 2. Aufl. 1994. 52 Dworkin (Fn.3ì'S.2S ff. 53 Ebd., S. 22 ff.

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Nach der hier vertretenen Konzeption kann für die Herleitung für Prinzi- pien gerade nicht allein auf moralische Erwägungen zurückgegriffen wer- den. Vielmehr bedarf es, wie gezeigt, durch die Rückbindung an die allge- meinen Rechtsgrundsätze i.S.v Art. 38 (1) lit. c IGH-Statut formaler Krite- rien, an denen sich die Herleitung von Prinzipien messen lassen muss.

Ein weiterer theoretischer Einwand gegen das Prinzipienmodell wendet sich gegen den qualitativen Charakter der Unterscheidung von Regeln und Prinzipien.54 Prinzipien seien nichts anderes als unbestimmte Regeln, de- ren Abgrenzung sich allein durch Auslegung vornehmen lasse. Die Auf- gabe der Normkonkretisierung und damit der Abgrenzung im Einzelfall falle dabei der Rechtsprechung zu. Allerdings vermischt diese Kritik un- terschiedliche Ebenen. Da juristische Entscheidungen notwendig binären Charakter haben, müssen Prinzipienkollisionen für einen konkreten Fall durch Abwägung immer zu definitiven Regeln konkretisiert werden.55 Schauen wir also allein auf das Ergebnis juristischer Auslegung und Norm- konkretisierung, lässt sich ein Unterschied zwischen Regeln und Prinzi- pien nicht festmachen. Die Prinzipientheorie will jedoch gerade den Pro- zess der Normkonkretisierung beschreiben. In diesem Zusammenhang unterscheidet sich eine konkrete Abwägung konkurrierender Rechtsgüter durchaus qualitativ von der abstrakten Auflösung eines Normenwider- spruchs durch Kollisionsregeln.

III. Rechtsprinzipien und Staatenpraxis

Diente der vorherige Abschnitt dazu, die quellentheoretische These zu er- läutern, soll diese im Folgenden argumentativ fundiert werden. Dabei soll gezeigt werden, dass es die Funktion von Staatenpraxis ist, ungeschriebene Rechtsnormen zu stabilisieren (1.). Diese Funktion kann sie jedoch nur bei Regeln erfüllen. Rechtsprinzipien unterscheiden sich von Regeln dagegen in struktureller Hinsicht, so dass das Erfordernis der Staatenpraxis bei ih- nen keine stabilisierende Funktion ausüben kann und daher entbehrlich ist (2.). Schließlich soll gezeigt werden, dass Prinzipien als allgemeine Rechts- grundsätze im Sinne von Art. 38 (1) lit. c IGH-Statut qualifiziert werden können (3.).

54 A. Jakab, Prinzipien, Rechtstheorie 37 (2006), S. 49 (55 f.). M Dieckmann (Fn. 45), S. 250.

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1. Die Funktion von Staatenpraxis im Völkergewohnheitsrecht

Die Funktion von Staatenpraxis hängt von der Theorie ab, mit der wir ver- suchen, die Normativität von Völkergewohnheitsrecht zu begründen. Im Folgenden sollen die gängigsten Ansätze diskutiert und auf die Rolle, die sie der Staatenpraxis zugestehen, hin untersucht werden.56

a) Gewohnheitsrecht als Pactum Taciturn

Die ersten Versuche, das Völkergewohnheitsrecht theoretisch zu beschrei- ben, betrachtete dieses als pactum taciturn, als konkludenten Vertrag. Diese Ansicht wird etwa in den Werken von Francisco Suarez57, Hugo Grotius58, Christian Wolff59 und Emer de Vattel60 zum Ausdruck gebracht. Nach dieser Theorie ist Völkergewohnheitsrecht nichts anderes als ein konkludenter Vertrag zwischen Staaten. Konkludente Verträge beruhen jedoch allein auf dem Willen der Parteien, ohne dass eine entsprechende affirmative Staatenpraxis erforderlich wäre. Letztere ist ein Indiz für das Bestehen eines entsprechenden Willens. Staatenpraxis ist damit nach dieser klassischen Auffassung nur ein Hilfsmittel zur Ergründung der opinio iuris, jedoch kein konstituierendes Element des Völkergewohnheitsrechts.

b) Steuerungstheorien des Völkergewohnheitsrechts

Neuere, vor allem aus der US-amerikanischen Völkerrechtswissenschaft kommende Ansätze versuchen die Geltung von gewohnheitsrechtlichen Normen von ihrer Steuerungsfähigkeit abhängig machen. Der erste ent- sprechende Ansatz wurde von Thomas Franck in seinem Werk zu The Power of Legitimacy among Nations61 entwickelt. In diesem schlägt Franck vor, die Geltung von ungeschriebenen Normen des Völkerrechts von ihrer Legitimität abhängig zu machen. Nur legitime Normen üben seiner Ansicht nach einen hinreichenden Anreiz zur Normbefolgung aus.62 Zu diesem Zweck identifiziert Franck - wie bereits angedeutet - vier Kriterien zur Bestimmung völkerrechtlicher Normen: Tradition, Bestimmtheit sowie innere und äußere Kohärenz.63 In diesem Konzept

56 Für einen ausführlichen Überblick über die verschiedenen klassischen Theorien des Völkergewohnheitsrechts siehe A. Verdross, Entstehungs weisen und Geltungsgrund des universellen völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts, ZaöRV 29 (1969), S. 635. 57 F. Suarez, Tractatus de leeibus ac Deo legislatore, 1612, VII, Kap. 13, S. 6. 58 H. Grotius. De iure belli ac pacis, 1625, Prolegomena, § 17. 59 C. Wolff, lus gentium methodo scientifica pertractatum, 1749, Prolegomena, §24. 60 E. de Vattel, Le droit des gens, ou principes de la loi naturelle appliqués à la conduite et aux affaires des Nations et des Souverains, 1758, Introduction, §25. 61 T. M. Franck, The Power of Legitimacy among Nations, 1990. 62 Ebd., S. 25. 63 Ebd., S. 49.

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spielt Staatenpraxis keine konstitutive Rolle. Sie ist allenfalls Hilfsmittel, um eines dieser vier Elemente zu bestimmen.

Andere Völkerrechtler, die die Rechtsbefolgung als Geltungskriterium in den Blick nehmen, stützen sich auf rational choice Modelle und benut- zen ein spieltheoretisches Instrumentarium, um vorherzusagen, ob Staaten bestimmte Normen befolgen werden und diese daher Geltung beanspru- chen können.64 Sie schlagen vor, Gewohnheitsrecht durch die Identifizie- rung des Gleichgewichts staatlicher Verhaltensmuster zu identifizieren. Die rational choice Ansätze unterscheiden sich jedoch stark hinsichtlich der Konsequenzen, die sie aus ihren Analysen ziehen.

Der Beitrag, der für das meiste Aufsehen gesorgt hat, ist die normative Kritik des Völkerrechts von Jack Goldsmith und Eric Posner.65 Die Auto- ren versuchen, staatliche Verhaltensmuster in internationalen Beziehungen durch spieltheoretische Modelle zu erklären. Ihnen zufolge können kohä- rente Verhaltensmuster in multilateralen Situationen nur dann beobachtet werden, wenn entweder Zwang ausgeübt wird oder die Staaten überein- stimmende Interessen haben.66 In beiden Fällen bedarf es jedoch nicht des Rechts, um Verhalten zu koordinieren. Daher müsse jedes Völkergewohn- heitsrecht notwendigerweise ineffektiv sein.67

Andere rational choice Ansätze bestreiten demgegenüber nicht die grundsätzliche rechtliche Qualität von Völkergewohnheitsrecht. Aller- dings unterscheiden sich die Ansätze darin, welche Bedeutung sie der Staa- tenpraxis bei der Bestimmung des Gewohnheitsrechts zumessen. Einige Autoren stellen auf beobachtete staatliche Verhaltensmuster ab, so dass Staatenpraxis zentrales Instrument der Rechtsbestimmung ist.68 Dagegen konzentriert sich Andrew Guzman für die Bestimmung von Gewohn- heitsrecht auf die subjektive Bewertung von rechtlichen Regeln durch Staa- ten. Staatenpraxis ist dabei ein Hilfsmittel zur Bestimmung einer Rechts- überzeugung, jedoch kein konstitutives Element.69

Wenn die Geltung von Rechtsnormen von ihrer Fähigkeit, Rechtsbefol- gung zu gewährleisten, abhängen soll, dann wird vorausgesetzt, dass die primäre Funktion von Recht die Steuerung menschlichen Verhaltens ist. Diese Charakterisierung ist jedoch nicht zwingend. So spricht viel dafür,

64 E.T. Swaine, Rational Custom, Duke L. J. 52 (2002), S. 559; G. Norman/].?. Tracht- man, The Customary International Law Game, AJIL 99 (2005), S. 541;/.L. Goldsmith/E. A. Posner, The Limits of International Law, 2005, 21 ff.; A.T. Guzman, How International Law Works. A Rational Choice Theory, 2008, S. 183 ff.

65 Goldsmith/ Posner (Fn. 64), S. 21 ff. Die Kritik am Völkergewohnheitsrecht wurde zu- erst ausgearbeitet in dies., A Theory of Customary International Law, U. Chi. L. Rev. 66 (1999), 1113. 66 Ebd., S. 1131. 67 Ebd., S. 1132.

68 Swaine (Fn. 64); Norman/ Trachtman (Fn. 64). 69 Guzman (Fn. 13), S. 122.

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die Haupteigenschaft von Recht in seiner Kontrafaktizität zu sehen.70 Recht stabilisiert und rechtfertigt Verhaltenserwartungen.71 Ob es jedoch faktisch gelingt, das Recht zu verwirklichen, hängt von Voraussetzungen ab, die das Recht selbst nicht sicherstellen kann.72 Selbst wenn man jedoch die Verhaltenssteuerung als konstitutives Merkmal von Recht ansieht, dann ist die Fähigkeit einer Norm, aufgrund ihres Inhalts Rechtsbefol- gung zu gewährleisten, kein taugliches Identifikationskriterium. Recht ist nämlich nur dann effektiv, Verhalten zu beeinflussen, wenn Staaten Rechts- normen aus inhaltsfremden Gründen befolgen.73 Wenn ein entsprechendes Staatenverhalten also auch ohne die Existenz von Rechtsnormen erwartet werden könnte, etwa weil es ohnehin im Interesse aller beteiligten Staaten liegt, dann würde Recht keinen sozialen Zweck erfüllen, sondern wäre nur eine Beschreibung ohnehin bestehender faktischer Zustände.

Spieltheoretisch motivierte oder legitimitätsbezogene Ansätze mögen hilfreiche Erklärungsmodelle sein, warum bestimmte gewohnheitsrecht- liche Normen entstehen.74 Sie geben jedoch keine Gründe, warum Staaten Normen befolgen. Völkergewohnheitsrecht ist nur dann effektiv, wenn die Verletzung seiner Normen Staaten zusätzliche Kosten auferlegt. Dies müs- sen keine formalen Sanktionen sein - Reziprozitätsüberlegungen oder Be- fürchtungen, den eigenen Ruf zu beschädigen, wären ausreichend.75 Diese Frage ist allerdings eine empirische und kann weder durch rational choice Modelle noch durch Legitimitätserwägungen beantwortet werden. An- schaulich ist in dieser Hinsicht die zirkuläre Argumentation von Golds- mith und Posner. Beide schließen ohne detailliertere Begründung a priori aus, dass Völkerrecht das Potential habe, Staatenverhalten aus inhaltsfrem- den Gründen zu beeinflussen.76 Dann ist es allerdings auch keine große

70 N. Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, ,S. 84. Siehe auch S. Oeter, Inter- national Law and General Systems Theory, GYIL 44 (2001), S. 72 (88); U. Solte, Völkerrecht und Weltgesellschaft aus systemtheoretischer Sicht, ARSP 89 (2003), S.519; A. Fischer- Lescano/P. Liste, Völkerrechtspolitik, ZIB 12 (2005), S. 209 (212); M. Byers, Custom, Power and the Power of Rules, 1999, S. 6. 71 Verhaltenssteuerung und Erwartungsstabilisierung schließen sich als Funktionen von Recht jedoch nicht gegenseitig aus, Luhmann (Fn. 70), S. 74. 72 Ebd., S. 84. 73 Zu der Unterscheidung zwischen Rechtsbefolgung und Effektivität siehe A. v. Aaken, Making International Human Rights Protection More Effective: A Rational- Choice Ap- proach to the Effectiveness of lus Standi Provisions, Conf. on New Pol. Econ. 23 (2006), S.29 (30 ff .). Der Begriff der Rechtsbefolgung beschreibt die Simultaneität von beobachte- tem Verhalten und Norminhalt, ohne auf deren Gründe einzugehen. Demgegenüber setzt sich das Konzept der Effektivität gerade mit diesen auseinander. Selbst wenn Staaten Nor- men befolgen, sind diese nur dann effektiv, wenn sie dies aus inhaltsfremden Gründen tun.

74 A.v. Aaken, To Do Away with International Law? Some Limits to ,The Limits of In- ternational Law', EJIL 17 (2006), S. 289 (292). 75 Guzman (Fn. 64), S. 33 ff. identifiziert drei Faktoren, die Staaten zur Rechtsbefolgung anhalten: Reziprozität, die Furcht vor Gegenmaßnahmen, sowie die Angst um den guten Ruf.

76 Goldsmith/Posner (Fn. 65), S. 1132.

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Der Wandel des ungeschriebenen Völkerrechts im Zuge der Konstitutionalisierung 517

Überraschung, wenn sie im Ergebnis zu dem Schluss kommen, dass ge- wohnheitsrechtlichen Normen jegliche Effektivität fehle.

c) Positivistisch er Ansatz

Nach heute herrschendem Verständnis setzt sich das Völkergewohnheits- recht deswegen aus den beiden Elementen der Staatenpraxis und der Rechtsüberzeugung zusammen, weil es in dieser Form als Recht von der internationalen Staatengemeinschaft anerkannt wird.77 Diese Theorie des Völkergewohnheitsrechts legt ein Hart'sches Rechtsverständnis zugrunde. Hart unterscheidet in seiner Rechtstheorie zwischen den primären Verhal- tensregeln und den sekundären rules of recognition.78 Letztere haben die Funktion, die primären Regeln zu bestimmen und damit zu determinie- ren, was Recht ist. Die rules of recognition können jedoch normativ nicht mehr begründet werden. Vielmehr werden sie dadurch identifiziert, dass sie von den Gerichten und Beamten in der Praxis anerkannt werden.79 In diesem Sinne ist Völkergewohnheitsrecht deswegen als Rechtsquelle anzu- sehen, weil sie als solche von der Staatengemeinschaft anerkannt wird.

Die Begründung des Völkergewohnheitsrechts sagt uns allerdings noch nichts über die Funktion der Staatenpraxis als deren konstitutivem Ele- ment. Wenn wir die Unterscheidungsmerkmale von Gewohnheitsrecht und allgemeinen Rechtsgrundsätzen herausarbeiten wollen, müssen wir allerdings den Grund für die konstitutive Funktion der Staatenpraxis ana- lysieren. Ursprünglich hat die Staatenpraxis keine konstitutive Rolle ge- spielt. Wie wir gesehen haben, haben die klassischen Theoretiker des Völ- kerrechts das Gewohnheitsrecht noch als einen stillschweigenden Vertrag verstanden. Die heute vorherrschende induktive Methode geht auf den so- ziologischen Positivismus von Auguste Comte80 zurück.81 Diesem zufolge beruht Erkenntnis allein auf Erfahrung und wird durch Abstraktion aus der Beobachtung von Verhaltensmustern gewonnen. Allerdings hat Recht immer einen normativen, nie nur einen deskriptiven Charakter. Eine allein empirische Bestimmung von Rechtsnormen würde diesen gerade ihren normativen Charakter nehmen.82

Der Grund für die Einführung von Staatenpraxis als konstitutivem Ele- ment ist daher ein bescheidenerer: Recht sollte nicht aus abstrakten, utopi- schen Normen bestehen, sondern vielmehr einen Bezug zur Realität ha- ben. Das Praxiserfordernis ist daher nicht selbst ein normativer Grund,

77 Statt vieler Bernhardt (Fn. 8), S. 901. 78 //*ri (Fn. 51), S. 100 ff. 79 Ebd., S. 105 ff. 80 A. Comte. Discours sur l'esprit positif, 1844. 81 O. Schachter, International Law in Theory and Practice, RdC 178 (1982), S. 9 (60). 82 Ähnlich M. Koskenniemi, The Politics of International Law, EJIL 1 (1990), S. 4 (1 1).

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sondern nur ein Mittel, um Recht und Wirklichkeit miteinander in Ein- klang zu bringen. Dies hat insbesondere bei den gewohnheitsrechtlichen Normen eine große Bedeutung, die eine bilateral-koordinierende Struktur haben. Das Erfordernis der Staatenpraxis hat in diesem Zusammenhang gleichzeitig eine koordinierende und vertrauensbildende Funktion. Staa- ten befolgen die Normen, weil sie selbiges auch von den übrigen Mitglie- dern der internationalen Gemeinschaft erwarten. Die Normen haben da- mit in der Regel einen direkt reziproken Charakter; d.h. Staaten, denen ge- genüber eine entsprechende Regel gebrochen wird, reagieren ihrerseits mit einer Nichtbefolgung dieser Regel. Würden diese koordinierenden Nor- men daher nicht von einer weitgehend konsistenten Staatenpraxis getra- gen, verlören sie ihre verhaltenssteuernde Funktion. Staatenpraxis soll dem Recht damit eine gewisse Stabilität verleihen.

2. Der qualitativ -strukturelle Unterschied von Regeln und Prinzipien In diesem Punkt unterscheiden sich Regeln und Prinzipien jedoch qualita- tiv. Während Regeln zumeist verhaltensbezogen sind, müssen Prinzipien notwendigerweise rechtsgutsbezogen sein. Insofern können Prinzipien auch nicht durch bloßes Verhalten beschrieben werden, da sie abstrakter sind als verhaltensbezogene Regeln. Sicherlich ist es möglich, auch Prinzi- pien im Wege einer induktiven Abstraktion aus der Analyse von Verhal- tensmustern zu gewinnen. Allerdings ist eine solche Art der Begründung immer indirekt. Staatenpraxis ist in diesem Fall keine formale Bestätigung eines bestehenden Konsenses mehr, sondern nur noch ein Indiz für die Existenz eines abstrakteren Prinzips. Daher gibt es bei Prinzipien keinen normativen Grund, Staatenpraxis bei der Identifizierung von ungeschrie- benen Rechtsnormen anders zu behandeln als andere Indikatoren für die Existenz einer Rechtsüberzeugung.

Des Weiteren würde der Verzicht auf den Nachweis von Staatenpraxis bei Prinzipien die Rationalität des juristischen Diskurses nicht schwächen, sondern eher steigern. Wie wir gesehen haben,83 können Prinzipien nie dazu verwendet werden, den Anwendungsbereich von Regeln einzu- schränken. Sie kommen immer dann ins Spiel, wenn Regeln entweder auf Prinzipien verweisen, oder wenn eine bestimmte Situation nicht durch Re- geln gedeckt ist. Im ungeschriebenen Völkerrecht wird dabei insbesondere letztere Konstellation relevant sein. Prinzipien dienen in diesem Zusam- menhang zwei Zielen: zum einen dem Schutz öffentlicher Güter, zum an- deren dem individueller Menschenrechte.

Für eine Rechtsordnung ist es unmöglich, für jede denkbare Situation eine Regel parat zu haben. Da das Völkerrecht durch eine dezentralisierte

83 Siehe oben III.

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Rechtssetzung charakterisiert wird, ist das Fehlen detaillierter Regeln noch häufiger als in nationalen Rechtsordnungen. Ein non liquet kann je- doch nie das Ergebnis juristischer Entscheidungen sein.84 Daher müssen Juristen alternative Lösungen für solche Probleme finden, die nicht durch Regeln gedeckt werden. Der klassische Ansatz der Völkerrechtswissen- schaft und der völkerrechtlichen Judikatur, mit diesem Problem umzuge- hen, ist das Lotus-Prinzip.85 Nach Lotus folgt aus dem Prinzip der staat- lichen Souveränität, dass der Staat eine allgemeine Handlungsfreiheit hat, die nur durch ein ausdrückliches rechtliches Verbot (in Form einer Regel) beschränkt werden kann. Allerdings sind Fälle vorstellbar, in denen sich beide Staaten auf ihre Souveränität berufen. In diesem vermag das Lotus- Prinzip keine Lösung zu vermitteln, da eine klare Abgrenzung konkurrie- render Freiheiten abstrakt nicht möglich ist.86 Vielmehr wird in der inter- nationalen Spruchpraxis zur Auflösung dieser Konflikte oft auf allgemeine Gerechtigkeitsprinzipien zurückgegriffen. 87

In dieser Hinsicht können Prinzipien für einen Rationalitätsgewinn in der juristischen Argumentation sorgen. Zwar kann die Verwendung von Prinzipien juristische Entscheidungen nicht vollständig determinieren.88 Indem jedoch eine formale Herleitung der Prinzipien erfordert wird,89 bil- den die Prinzipien einen Rahmen, mit Hilfe dessen bestimmte Argumente, die sich nicht mit formal hergeleiteten Prinzipien in Einklang bringen las- sen, im juristischen Diskurs als unzulässig erkannt werden können.90 Prin- zipien stellen damit Leitlinien für die Auflösung von Freiheitskonflikten

84 Stellvertretend für die ganz herrschende Lehre H. Lauterpacht, Some Observations on the Prohibition of ,Non Liquet' and the Completeness of the Law, in FS Verzijl, 1958, S. 196; P. Weil, „The Court Cannot Conclude Definitively ..." Non Liquet Revisited, Col. J. Transnat'l L. 36 (1998), S. 109. Anders lediglich U. Fastenrath, Lücken im Völkerrecht, 1990, S. 272 ff., der davon ausgeht, dass es im Völkerrecht kein Verbot des non liquet gebe, da sich weder eine entsprechende Praxis mit einhergehender Rechtsüberzeugung finde, noch ein entsprechendes Prinzip als allgemeiner Rechtsgrundsatz aus den staatlichen Rechtsordnun- gen hergeleitet werden könne. Allerdings handelt es sich bei der Frage der Vollständigkeit einer Rechtsordnung um eine konzeptionelle Frage, die der Rechtsordnung selbst voraus- geht und sich daher nicht durch den Rekurs auf Staatenpraxis und allgemeine Rechtsgrund- sätze beantworten lässt.

85 StIGH, Urt. v. 7. Sept. 1927, Lotus, Serie A, Nr. 10, S. 18. 86 M. Koskenniemi, From Apology to Utopia. The Structure of the International Legal Argument, 2005, S. 257. 87 Ebd., S. 258-68. 88 M. Kumm, Constitutional rights as principles: On the structure and domain of con- stitutional justice, I.CON 2 (2004), S. 574 (582). w Siehe oben II 2.

90 Siehe M. Koskenniemi, General Principles: Reflexions on Constructivist Thinking in International Law, Oikeustiede-Jurisprudentia 18 (1985), S. 120 (142), demzufolge Prinzi- pienabwägung immer von einer bestimmten Hintergrundtheorie geleitet wird, wobei der Konstruktion der Hintergrundtheorie allerdings durch Prinzipien Grenzen gesetzt wer- den.

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bereit und dienen so als Orientierungsmaßstab in der juristischen Diskus- sion.

Die zweite Konstellation, in denen Prinzipien relevant werden können, ist der Schutz der Menschenrechte. Menschenrechte sind nach innen ge- richtet. Ihre Befolgung hängt also nicht davon ab, ob auch andere Staaten Menschenrechte beachten. Sie können bestenfalls utopisch sein, ihre Nicht- beachtung allein gefährdet jedoch noch nicht die Stabilität der internatio- nalen Ordnung.91 Da bei der Befolgung von Menschenrechten Reziprozi- tät insofern keine Rolle spielt, ist auch der Nachweis von Staatenpraxis als stabilisierendem Element nicht erforderlich.

3. Prinzipien als allgemeine Rechtsgrundsätze Haben wir soeben gesehen, dass Prinzipien sinnvollerweise nicht unter die Kategorie des Gewohnheitsrechts einzuordnen sind, ist im Folgenden zu zeigen, dass sie als allgemeine Rechtsgrundsätze qualifiziert werden kön- nen. Einige Völkerrechtswissenschaftler nehmen an, dass allgemeine Rechts- grundsätze nur aus einer Analogie zum forum domesticum gewonnen wer- den können.92 Begründet wird dies mit der Entstehungsgeschichte des Sta- tuts des Ständigen Internationalen Gerichtshofes (StIGH), dem Vorläufer zum heutigen IGH-Statut.93 Allerdings ist dieser Schluss aus der Entste- hungsgeschichte nicht zwingend. Zudem ist zu berücksichtigen, dass der Entstehungsgeschichte gem. Art. 32 der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVRK)94 bei der Interpretation von Verträgen nur eine subsidiare Bedeu- tung zukommt.

Allgemeinen Rechtsgrundsätzen war ursprünglich die Rolle zugedacht worden, Lücken zu füllen, wenn weder Verträge noch Gewohnheitsrecht eingreifen.95 Um ein non liquet zu vermeiden, führten die Urheber des Sta- tuts für den StIGH die „general principles of law recognized by civilized

91 Anstatt Verhaltenserwartungen zu stabilisieren ist die Funktion der Menschenrechte eher eine gestaltende. Es wird nicht vergangenes Verhalten festgeschrieben, Staaten sollen vielmehr zu einer zukünftigen Verhaltensänderung angehalten werden, siehe dazu N. Petersen, Rational Choice or Deliberation? - Customary International Law between Co- ordination and Constitutionalization, JITE 165 (2009), i.E.

92 Siehe die Nachweise bei B. Vitanyi, Les positions doctrinales concernant le sens de la notion de „principes généraux de droit reconnus par les nations civilisées", RGDIP 86 (1982), S. 48 (96 f f.). 93 //oo/(Fn.47),S.139. 94 Vienna Convention on the Law of Treaties (23. Mai 1969), 1155 UNTS 331.

95 J.G. Lammers, General Principles of Law Recognized by Civilized Nations, in: F. Kalshoven/P.J. Kuyper/J.G. Lammers (Hg.), Essays on the Development of the Internatio- nal Legal Order, 1981, S. 53 (64); M.C. Bassiouni, A Functional Approach to „General Prin- ciples of International Law", Mich. J. Int'l L. 11 (1990), S. 768 (776 ff.); A. Pellet, Article 38, in: A. Zimmermann/ C Tomuschat/K. Oellers-Frahm (Hg.), The Statute of the Internatio- nal Court of Justice. A Commentary, 2006, Rn. 245.

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nations" ein.96 Dieses Erfordernis der Anerkennung durch alle zivilisier- ten Nationen sollte verhindern, dass die allgemeinen Rechtsgrundsätze zu einem Einfallstor für naturrechtliche Maximen werden. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze zielen dabei auf den impliziten Konsens der Staatenge- meinschaft ab.

Als das Statut des StIGH ausgearbeitet wurde, gab es keine anderen Mittel, einen impliziten Konsens zu ermitteln, als auf die internen Rechts- ordnungen der Staaten zurückzugreifen.97 Solche Analogien zum natio- nalen Zivilrecht entsprachen dem koordinierenden Charakter des Völ- kerrechts der damaligen Zeit.98 Heute hat sich die Struktur der Völker- rechtsordnung jedoch grundlegend gewandelt; es gibt mittlerweile andere Methoden, das Bestehen eines Konsenses zu identifizieren, namentlich den Rückgriff auf Resolutionen der UN- Generalversammlung und an- derer repräsentativer Organe. Folglich ist die autonome Identifikation des impliziten Konsenses neben der Analogie zu den nationalen Rechts- ordnungen als zweite Methode zur Identifikation allgemeiner Rechts- grundsätze anzuerkennen.99

IV. Prinzipien und die Konstitutionalisierung des Völkerrechts

Es gehört zu den Gemeinplätzen der heutigen Völkerrechtswissenschaft, dass sich das Völkerrecht von einer Koordinations- zu einer Kooperations- ordnung entwickelt habe.100 Mit dem Begriff der Kooperationsordnung wird dabei die zunehmende Institutionalisierung der internationalen Ord- nung beschrieben. Doch auch das ungeschriebene Völkerrecht war in den vergangenen Jahrzehnten einer erheblichen Wandlung unterlegen. Es ist nicht mehr nur reine Koordinations-, sondern gleichzeitig auch Wertord- nung.101 Dieser Wandel lässt jedoch die völkerrechtliche Quellentheorie nicht unberührt. Während eine Koordinationsordnung als reines Regel-

96 Art. 38 (3) des Statute of the Permanent Court of International Justice, 16. Dez. 1920, 6 LNTS 389.

97 Simma/ Aiston (Fn. 23), S. 102. 98 Bleckmann (Fn.24),S.39. 99 Lammers (Fn.95), S.59; Bassiouni (Fn.95), S. 772; Weiß (Fn.50), S. 399 ff. Vgl. auch H. Mosler, General Principles of Law, in: EPIL II, 1995, S. 511 (519 ff.); Kadelbach/ Kleinlein (Fn.27), S. 255, die jeweils drei Kategorien von allgemeinen Rechtsgrundsätzen unterschei- den: (1) solche, die aus den nationalen Rechtsordnungen hergeleitet werden können; (2) sol- che, die auf einem impliziten Konsens auf internationaler Ebene beruhen; und schließlich (3) solche, die jeder Rechtsordnung inhärent sind. Letztere Gruppe kann jedoch auch als eine Untergruppe einer der ersten beiden Kategorien verstanden werden.

100 Grundlegend W. Friedmann, The chaneine structure of international law, 1964. 101 Siehe nur B. Fassbender, Der Schutz der Menschenrechte als zentraler Inhalt des völ-

kerrechtlichen Gemeinwohls, EuGRZ 30 (2003), S. 1; S. Kadelbach, Ethik des Völkerrechts unter Bedingungen der Globalisierung, ZaöRV 64 (2004), S. 1.

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system denkbar ist, kann sie doch allein über Verhaltensnormen beschrie- ben werden, müssen in einer Werteordnung die einzelnen Rechtsgüter zu- einander in Beziehung gesetzt und Spannungen zwischen diesen aufgelöst werden.

In einer Rechtsordnung mit konkurrierenden Rechtsgütern, ist es un- möglich, zwischen diesen abstrakte Wertehierarchien aufzustellen. Prinzi- pien verleihen der Rechtsordnung in diesem Zusammenhang die notwen- dige Flexibilität, indem sie erlauben, Normkonflikte gemäß den konkreten Umständen aufzulösen.102 Stefan Kadelbach und Thomas Kleinlein haben daher jüngst zu recht herausgestellt, dass die Herausbildung von Prinzi- pien das entscheidende Charakteristikum der völkerrechtlichen Konstitu- tionalisierung ist.103 Prinzipien sind ein entscheidendes Element der Ent- wicklung des Völkerrechts zu einer modernen Rechtsordnung.104

In einer Zeit, in der zunehmend die Fragmentarisierung des Völker- rechts diskutiert wird,105 haben Prinzipien das Potential zu übergreifenden Strukturelementen der Völkerrechtsordnung zu avancieren. So gibt es in der völkerrechtlichen Dogmatik Ansätze, verschiedene spezielle Vertrags- regime, wie die WTO, oder Institutionen, wie die Weltbank, und deren Regelwerke nicht mehr isoliert zu betrachten, sondern mit anderen Regi- mes und dem allgemeinen Völkerrecht zu koordinieren.106 Entscheidun-

102 Kumm (Vn.l>5),S.22O. 103 S. Kadelbach/T. Kleinlein, International Law - a Constitution for Mankind? An Attempt at a Re-appraisal with an Analysis of Constitutional Principles, GYIL 50 (2007), S.303.

104 Petersen (Fn.91). 105 M. Koskenniemi/P. Leino, Fragmentation of International Law? Postmodern Anxie-

tis, LJIL 15 (2002), S.553; A. Fischer- Lescano/G. Teubner, Regime-Collisions: The Vain Search for Legal Unity in the Fragmentation of Global Law, Mich. J. Int'l L. 25 (2004), S.999.

106 Siehe allgemein zur Koordination völkerrechtlicher Ordnungen/. Pauwelyn, Con- flict of Norms in Public International Law. How WTO Law Relates to other Rules of Inter- national Law, 2003; M. Koskenniemi, Fragmentation of International Law: Difficulties Arising from the Diversification and Expansion of International Law, UN-Dok. A/ CN.4/L.682 (4. Apr. 2006); B. Simma/D. Pulkowski, Of Planets and the Universe: Self- Contained Regimes in International Law, EJIL 17 (2006), S. 483. Aus der vielfältigen Litera- tur zur Koordination der WTO mit menschen- und umweltrechtlichen Standards siehe nur /. Neumann, Die Koordination des WTO-Rechts mit anderen völkerrechtlichen Ordnun- gen, 2002; G. Rao, The Law applied by World Trade Organization Panels, Temple Int'l & Comp. L.J. 17 (2003), S. 125; S.Harrell, Beyond „Reach"? An Analysis of the European Union's Chemical Regulation Program under World Trade Organization Agreements, Wis. Int'l L.J. 24 (2006), S.471. Zur Menschenrechts- und Demokratieverantwortlichkeit der Weltbank siehe A. Leftwich, Governance, democracy and development in the Third World, Third World Quarterly 14 (1993), S.605; N.H. Möller, The World Bank: Human Rights, Democracy and Governance, Neth. Q. Hum. Rts. 15 (1997), S.21; M.E. Wadrzyk, Is It Ap- propriate for the World Bank to Promote Democratic Standards in a Borrower Country? Wis. Int'l L.J. 17 (1999), S.553; I.F.I. Shihata, Issues of „Governance" in Borrowing Mem- bers - the Extent of Their Relevance Under the Bank's Articles of Agreement, in: ders., The World Bank Legal Papers, 2000, S.245; S. Killinger, The World Bank's Non-Political Man- date, 2003.

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gen können dort nicht mehr vollkommen unabhängig von menschen- oder umweltrechtlichen Standards getroffen werden. Da dabei nur Normen mit universeller Geltung herangezogen werden können, muss hierbei auf die Prinzipien des ungeschriebenen Völkerrechts zurückgegriffen werden.

Auch in Zeiten der zunehmenden Institutionalisierung der internatio- nalen Ordnung verliert das ungeschriebene Völkerrecht damit nicht an Be- deutung. Allerdings ist es einem grundlegenden Wandel unterlegen. Die traditionellen Instrumente der Identifizierung von Völkergewohnheits- recht, die Beobachtung und Systematisierung von Staatenpraxis, treten zu- gunsten stärker interpretativer Methoden in den Hintergrund. Die einst eher stiefmütterlich behandelten allgemeinen Rechtsgrundsätze gewinnen dagegen an Bedeutung: sie sind die Quelle der völkerrechtlichen Struktur- prinzipien, die auch vor dem Hintergrund einer stärkeren Ausdifferenzie- rung die Einheit des Völkerrechts zu garantieren versuchen.

Summary

The role of state practice in the formation of unwritten international law has attracted a lot of attention in recent decades. According to the traditional view, state practice is one of the two constituent elements of customary international law. In practice, its importance is however decreasing. Modern international law scholarship increasingly turns to interpre- tative methods when identifying customary law. In this process, international courts and tribunals as well as international law scholars only pay lip service to state practice. This contribution analyzes this development and proposes to distinguish two types of unwrit- ten norms. On the one hand, there is customary law, which still requires the evidence of state practice as a constituent element. On the other hand, however, there are general prin- ciples. These general principles can be identified by the mere recurrence to opinion iuris. The distinction between both types of norms is based on a classification drawn from legal theory. This classification distinguishes conduct-related rules from interest-related prin- ciples. While the former are to be seen as customary norms in the traditional sense, the lat- ter may be qualified as general principles. In the final section, this proposal is related to the discussion on the constitutionalization of international law. It is argued that the emergence of legal principles is a necessary step in international law's development to a modern legal order.

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