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Plenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt: Nachträgliche Gratulation zum 65. Geburtstag des Abgeordneten Dr. Wolfgang Bötsch . . . . Gratulation zum 60. Geburtstag der Abgeord- neten Erika Lotz und des Abgeordneten Peter Dreßen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachträgliche Gratulation zum 60. Geburtstag der Abgeordneten Erika Steinbach und Dr. Herta Däubler-Gmelin . . . . . . . . . . . . . . Abwicklung und Erweiterung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . Begrüßung des Präsidenten des Bundesrech- nungshofes Dr. Engels . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Geschäftsordnung: Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos . . . . . . . . . . Wilhelm Schmidt (Salzgitter) SPD . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 1: a) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haus- haltsjahr 2004 (Haushaltsgesetz 2004) (Drucksache 15/1500) . . . . . . . . . . . . . b) Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Finanzplan des Bundes 2003 bis 2007 (Drucksache 15/1501) . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Haus- haltsbegleitgesetzes 2004 (Haushalts- begleitgesetz 2004 – HBeglG 2004) (Drucksache 15/1502) . . . . . . . . . . . . . d) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der Gewerbe- steuer (Drucksache 15/1517) . . . . . . . . . . . . . e) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Proto- kollerklärung der Bundesregierung zur Vermittlungsempfehlung zum Steuervergünstigungsabbaugesetz (Drucksache 15/1518) . . . . . . . . . . . . . f) Antrag der Abgeordneten Dr. Günter Rexrodt, Jürgen Koppelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Regierung muss Haushalts- sicherungsgesetz vorlegen (Drucksache 15/997) . . . . . . . . . . . . . . g) Antrag der Abgeordneten Dietrich Austermann, Friedrich Merz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Nachtragshaushalt um- gehend vorlegen (Drucksache 15/1218) . . . . . . . . . . . . . h) Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesminis- teriums der Finanzen: Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 2001 – Vor- lage der Haushaltsrechnung und Vermögensrechnung des Bundes (Jahresrechnung 2001) – 4847 B 4847 B 4847 B 4847 B 4848 C 4864 C 4849 B 4849 D 4850 B 4850 B 4850 C 4850 C 4850 C 4850 D 4850 D

Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

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Plenarprotokoll 15/58

Deutscher BundestagStenografischer Bericht

58. Sitzung

Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

I n h a l t :

Nachträgliche Gratulation zum 65. Geburtstagdes Abgeordneten Dr. Wolfgang Bötsch . . . .

Gratulation zum 60. Geburtstag der Abgeord-neten Erika Lotz und des AbgeordnetenPeter Dreßen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Nachträgliche Gratulation zum 60. Geburtstagder Abgeordneten Erika Steinbach undDr. Herta Däubler-Gmelin . . . . . . . . . . . . . .

Abwicklung und Erweiterung der Tagesord-nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . .

Begrüßung des Präsidenten des Bundesrech-nungshofes Dr. Engels . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Zur Geschäftsordnung:

Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos . . . . . . . . . .

Wilhelm Schmidt (Salzgitter) SPD . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 1:

a) Erste Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes über die Feststellung desBundeshaushaltsplans für das Haus-haltsjahr 2004 (Haushaltsgesetz 2004)(Drucksache 15/1500) . . . . . . . . . . . . .

b) Unterrichtung durch die Bundesregie-rung: Finanzplan des Bundes 2003bis 2007 (Drucksache 15/1501) . . . . . . . . . . . . .

c) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Haus-haltsbegleitgesetzes 2004 (Haushalts-

4847 B

4847 B

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4847 B

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4850 B

4850 B

begleitgesetz 2004 – HBeglG 2004) (Drucksache 15/1502) . . . . . . . . . . . . .

d) Erste Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Reform der Gewerbe-steuer (Drucksache 15/1517) . . . . . . . . . . . . .

e) Erste Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Umsetzung der Proto-kollerklärung der Bundesregierungzur Vermittlungsempfehlung zumSteuervergünstigungsabbaugesetz(Drucksache 15/1518) . . . . . . . . . . . . .

f) Antrag der Abgeordneten Dr. GünterRexrodt, Jürgen Koppelin, weitererAbgeordneter und der Fraktion derFDP: Regierung muss Haushalts-sicherungsgesetz vorlegen (Drucksache 15/997) . . . . . . . . . . . . . .

g) Antrag der Abgeordneten DietrichAustermann, Friedrich Merz, weitererAbgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU: Nachtragshaushalt um-gehend vorlegen (Drucksache 15/1218) . . . . . . . . . . . . .

h) Beschlussempfehlung und Bericht desHaushaltsausschusses

– zu dem Antrag des Bundesminis-teriums der Finanzen: Entlastung der Bundesregierungfür das Haushaltsjahr 2001 – Vor-lage der Haushaltsrechnung undVermögensrechnung des Bundes(Jahresrechnung 2001) –

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II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

– zu der Unterrichtung durch denBundesrechnungshof: Bemerkungen des Bundesrech-nungshofes 2002 zur Haushalts-und Wirtschaftsführung (ein-schließlich der Feststellungen zurJahresrechnung des Bundes2001)

(Drucksachen 14/8729, 15/345 Nr. 43,15/60, 15/973 Nr. 1, 15/1262) . . . . . .

i) Beschlussempfehlung und Bericht desHaushaltsausschusses zu dem Antragdes Präsidenten des Bundesrechnungs-hofes: Rechnung des Bundesrech-nungshofes für das Haushaltsjahr2001 – Einzelplan 20 – (Drucksachen 15/1047, 15/1258) . . . .

j) Beschlussempfehlung und Bericht desHaushaltsausschusses zu dem Antragdes Präsidenten des Bundesrechnungs-hofes: Rechnung des Bundesrech-nungshofes für das Haushaltsjahr2002 – Einzelplan 20 – (Drucksachen 15/1048, 15/1259) . . . .

in Verbindung mit

Zusatztagesordnungspunkt 1:Erste Beratung des vom Bundesrat einge-brachten Entwurfs eines Soforthilfegeset-zes für die Gemeinden (SofortHiG)(Drucksache 15/1470) . . . . . . . . . . . . . . . .

Hans Eichel, Bundesminister BMF . . . . . . . .

Friedrich Merz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . .

Christine Scheel BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Joachim Poß SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Hartmut Schauerte CDU/CSU . . . . . . . . .

Dr. Günter Rexrodt FDP. . . . . . . . . . . . . . . . .

Antje Hermenau BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dietrich Austermann CDU/CSU . . . . . . . . . .

Walter Schöler SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Bartholomäus Kalb CDU/CSU . . . . . . . .

Dr. Hermann Otto Solms FDP . . . . . . . . . . . .

Anja Hajduk BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gerda Hasselfeldt CDU/CSU . . . . . . . . . . . .

Horst Schild SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Michael Meister CDU/CSU . . . . . . . . . .

Jörg-Otto Spiller SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gerhard Rübenkönig SPD . . . . . . . . . . . . . . .

4851 A

4851 A

4851 B

4851 B

4851 C

4864 D

4868 C

4871 A

4874 D

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4881 B

4886 A

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4890 B

4891 B

4893 C

4896 A

4897 C

4900 B4902 A

Tagesordnungspunkt 3:

a) Erste Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs einesDritten Gesetzes zur Änderung derHandwerksordnung und andererhandwerksrechtlicher Vorschriften(Drucksache 15/1481) . . . . . . . . . . . . .

b) Erste Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zu Reformen am Arbeits-markt (Drucksache 15/1509) . . . . . . . . . . . . .

c) Erste Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zu dem Protokoll von Car-tagena vom 29. Januar 2000 über diebiologische Sicherheit zum Überein-kommen über die biologische Vielfalt (Drucksache 15/1519) . . . . . . . . . . . . .

d) Antrag der Abgeordneten CorneliaPieper, Ulrike Flach, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der FDP:Stärkung der europäischen Raum-fahrtpolitik – Gewinn für den Wirt-schafts- und ForschungsstandortDeutschland(Drucksache 15/1230) . . . . . . . . . . . . .

in Verbindung mit

Zusatztagesordnungspunkt 2:

Antrag der Abgeordneten GünterBaumann, Wolfgang Bosbach, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Unterstützung für ehemalige poli-tische Häftlinge umgehend sicher-stellen (Drucksache 15/1524) . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 4:

Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Abkommen vom30. Juli 2002 zwischen der Regierungder Bundesrepublik Deutschland undder Regierung der Französischen Repu-blik über die deutsch-französischenGymnasien und das deutsch-franzö-sische Abitur (Drucksachen 15/717, 15/1364) . . . . . . . .

Zusatztagesordnungspunkt 3:

Zweite Beratung und Schlussabstimmungdes von der Bundesregierung eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zu-satzabkommen vom 5. November 2002

4903 D

4904 A

4904 A

4904 A

4904 B

4904 C

Page 3: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 III

zum Abkommen vom 11. April 1967zwischen der Bundesrepublik Deutsch-land und dem Königreich Belgien zurVermeidung der Doppelbesteuerungenund zur Regelung verschiedener ande-rer Fragen auf dem Gebiete der Steuernvom Einkommen und vom Vermögeneinschließlich der Gewerbesteuer undder Grundsteuern (Drucksachen 15/1188, 15/1401) . . . . . . .

Zusatztagesordnungspunkt 4:

Erste Beratung des von den Fraktionender SPD, der CDU/CSU und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Modernisie-rung der gesetzlichen Krankenversiche-rung (GKV-Modernisierungsgesetz –GMG) (Drucksache 15/1525) . . . . . . . . . . . . . . . .

in Verbindung mit

Zusatztagesordnungspunkt 5:

Erste Beratung des von den Fraktionender SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Einordnung des Sozialhil-ferechts in das Sozialgesetzbuch (Drucksache 15/1514) . . . . . . . . . . . . . . . .

in Verbindung mit

Zusatztagesordnungspunkt 6:

Antrag der Abgeordneten Dr. DieterThomae, Detlef Parr, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion der FDP: Zukunft ge-stalten statt Krankheit verwalten(Drucksache 15/1526) . . . . . . . . . . . . . . . .

Einzelplan 15

Bundesministerium für Gesundheit undsoziale Sicherheit

Ulla Schmidt, Bundesministerin BMGS . . . .

Horst Seehofer CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . .

Birgitt Bender BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Dieter Thomae FDP . . . . . . . . . . . . . . . . .

Helga Kühn-Mengel SPD . . . . . . . . . . . . . . .

Andreas Storm CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . .

Markus Kurth BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4904 D

4905 A

4905 B

4905 C

4905 C

4908 C

4911 C

4913 B

4914 D

4917 C

4919 A

Detlef Parr FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Rolf Stöckel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos . . . . . . . . . .

Annette Widmann-Mauz CDU/CSU . . . . . .

Hilde Mattheis SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Ursula von der Leyen, Ministerin (Niedersachsen) . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Michael Luther CDU/CSU . . . . . . . . . . .

Einzelplan 17

Bundesministerium für Familie, Senioren,Frauen und Jugend

Renate Schmidt, Bundesministerin BMFSFJ

Maria Eichhorn CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . .

Nicolette Kressl SPD . . . . . . . . . . . . . . . .

Ekin Deligöz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Maria Eichhorn CDU/CSU . . . . . . . . . . .

Otto Fricke FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anton Schaaf SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Antje Tillmann CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . .

Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ina Lenke FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Christel Humme SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Thomas Dörflinger CDU/CSU . . . . . . . . . . .

Einzelplan 06

Bundesministerium des Innern

Otto Schily, Bundesminister BMI . . . . . . . . .

Thomas Strobl (Heilbronn) CDU/CSU . . . . .

Silke Stokar von Neuforn BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Max Stadler FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Rüdiger Veit SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Norbert Barthle CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . .

Wolfgang Zeitlmann CDU/CSU . . . . . . . . . .

Otto Schily, Bundesminister BMI . . . . . . . . .

Einzelplan 10

Bundesministerium für Verbraucherschutz,Ernährung und Landwirtschaft

Renate Künast, Bundesministerin BMVEL . .

Ilse Aigner CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . .

4920 B

4921 B

4922 C

4923 C

4925 B

4926 B

2927 C

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4933 D

4935 C

4936 A

4938 A

4939 C

4941 A

4943 B

4945 A

4946 B

4948 D

4951 A

4953 D

4955 D

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4963 B

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Page 4: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

Manfred Helmut Zöllmer SPD . . . . . . . . . . .

Dr. Christel Happach-Kasan FDP . . . . . . . . .

Jella Teuchner SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Albert Deß CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Max Straubinger CDU/CSU . . . . . . . . . .

Friedrich Ostendorff BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4968 C

4970 C

4973 A

4974 B

4975 B

4976 A

4976 D

Dr. Peter Jahr CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . .

Waltraud Wolff (Wolmirstedt) SPD . . . . . . .

Ursula Heinen CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . .

Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Berichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . .

4978 B

4979 B

4981 B

4983 A

4983 C

4985 A

Page 5: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4847

(A) (C)

(B) (D)

58. Sitzung

Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

Beginn: 10.00 Uhr

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Sitzung ist eröffnet.

Ich begrüße Sie sehr herzlich zur Wiederaufnahmeder Parlamentsarbeit nach der Sommerpause. Auf unswarten intensive Arbeit und sicherlich heftige Diskussio-nen. Ich wünsche mir für uns, dass trotz aller Kontrover-sen Ergebnisse erzielt werden, die die gesellschaftlicheSituation in Deutschland verbessern.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, gratuliereich zunächst dem Kollegen Dr. Wolfgang Bötsch imNamen des Hauses herzlich zu seinem gestrigen65. Geburtstag.

(Beifall)

Ebenso herzlich gratuliere ich der Kollegin ErikaLotz und dem Kollegen Peter Dreßen zu ihrem heuti-gen 60. Geburtstag.

(Beifall)

Die besten Wünsche nachträglich gehen auch an dieKolleginnen Erika Steinbach und Dr. Herta Däubler-Gmelin, die während der Sommerpause ebenfalls ihren60. Geburtstag feiern konnten.

(Beifall)

Wir kommen nun zur heutigen Tagesordnung. Nacheiner interfraktionellen Vereinbarung soll die Beratungdes Einzelplans 15 – Gesundheit und SozialeSicherung – heute erfolgen. Der Einzelplan 10 – Ver-braucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft – sollbereits heute als letzter Tagesordnungspunkt, der Einzel-plan 07 – Justiz – in Verbindung mit Einzel-plan 19 – Bundesverfassungsgericht – soll erst am Don-nerstag als letzter Tagesordnungspunkt beraten werden.

Die Tagesordnung soll außerdem um die in einer Zu-satzpunktliste aufgeführten Punkte erweitert werden:

1 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Soforthilfegesetzes für die Ge-meinden (SofortHiG)

– Drucksache 15/1470 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Ausschuss für Wirtschaft und ArbeitHaushaltsausschuss gemäß § 96 GO

2 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-fahren

(Ergänzung zu TOP 3)

Beratung des Antrags der Abgeordneten GünterBaumann, Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU: Unterstützung für ehemalige politi-sche Häftlinge umgehend sicherstellen

– Drucksache 15/1524 – (vom 8. September2003)Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)RechtsausschussAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeHaushaltsausschuss

3 Weitere abschließende Beratung ohne Ausspra-che

(Ergänzung zu TOP 4)

Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Zusatzabkommen vom5. November 2002 zum Abkommen vom11. April 1967 zwischen der BundesrepublikDeutschland und dem Königreich Belgien zurVermeidung der Doppelbesteuerungen undzur Regelung verschiedener anderer Fragenauf dem Gebiete der Steuern vom Einkommenund vom Vermögen einschließlich der Gewer-besteuer und der Grundsteuern

– Drucksache 15/1188 –

(Erste Beratung 53. Sitzung)

Redetext

Page 6: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

4848 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

(A) (C)

(B) (D)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses (7. Ausschuss)

– Drucksache 15/1401 –

Berichterstattung:Abgeordnete Lydia WestrichLeo Dautzenberg

4 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD,der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Modernisierung der gesetzlichen Kran-kenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz –GMG)

– Drucksache 15/1525 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f)InnenausschussSportausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und LandwirtschaftAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

5 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPDund des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einord-nung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetz-buch

– Drucksache 15/1514 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f)Auswärtiger AusschussInnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und LandwirtschaftVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

6 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Dieter Thomae, Detlef Parr, Dr. Heinrich L.Kolb, weiterer Abgeordneter und der Fraktion derFDP: Zukunft gestalten statt Krankheit ver-walten

– Drucksache 15/1526 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f)InnenausschussSportausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und LandwirtschaftAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll – so-weit erforderlich – abgewichen werden.

Interfraktionell ist darüber hinaus Folgendes verein-bart worden: Die Gesetzentwürfe der Koalitionsfraktio-nen und der Bundesregierung zur Verordnungsfähigkeitvon Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung– Drucksachen 15/800 und 15/1071 – sowie die dazu vor-liegende Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ge-sundheit und Soziale Sicherung auf Drucksache 15/1203sollen an den Ausschuss für Gesundheit und Soziale Si-cherung zurücküberwiesen werden. In gleicher Weisesoll mit dem Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU und FDP zur Sicherung der Beitragssätze in der ge-setzlichen Krankenversicherung und in der gesetzlichenRentenversicherung – Drucksache 15/542 – und einemAntrag der CDU/CSU-Fraktion zum Beitragssatzsiche-rungsgesetz auf Drucksache 15/652 (neu) sowie derdazu vorliegenden Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Gesundheit und Soziale Sicherung – Druck-sache 15/1202 – verfahren werden. Erneute Mitberatun-gen anderer Ausschüsse sind nicht vorgesehen.

Weiterhin mache ich auf nachträgliche Überweisun-gen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:

Die in der 48. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Unterrichtung soll zusätzlichdem Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesenzur Mitberatung überwiesen werden.

Unterrichtung durch die Bundesregierung

Zweiunddreißigster Rahmenplan der Gemein-schaftsaufgabe „Verbesserung der regionalenWirtschaftsstruktur“ für den Zeitraum 2003bis 2006

– Drucksache 15/861 –überwiesen:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)FinanzausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für Tourismus Haushaltsausschuss

Der in der 56. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz-lich dem Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO überwie-sen werden.

Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zur Förde-rung der Steuerehrlichkeit

– Drucksache 15/1309 –überwiesen:Finanzausschuss (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung

Der in der 56. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz-lich dem Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4849

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

und Landwirtschaft zur Mitberatung überwiesen wer-den.

Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zur Ände-rung des Tabaksteuergesetzes und andererVerbrauchsteuergesetze

– Drucksache 15/1313 –überwiesen:Finanzausschuss (f)Ausschuss für Gesundheit und Soziale SicherungHaushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Die in der 56. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesenen nachfolgenden Anträge sollen zusätzlichdem Ausschuss für Menschenrechte und humanitäreHilfe zur Mitberatung überwiesen werden.

Antrag der Abgeordneten Hans Büttner (Ingol-stadt), Reinhold Hemker, Karin Kortmann, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowieder Abgeordneten Thilo Hoppe, Hans-ChristianStröbele, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeord-neter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Unterstützung von Landreformen zur Be-kämpfung der Armut und der Hungerkrise imsüdlichen Afrika

– Drucksache 15/1307 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss (f)Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und LandwirtschaftAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Antrag der Abgeordneten Reinhold Hemker,Sören Bartol, Dr. Herta Däubler-Gmelin, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPD sowieder Abgeordneten Thilo Hoppe, Volker Beck(Köln), Katrin Göring-Eckardt, Krista Sager undder Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN

Verbesserung der Welternährungssituationund Verwirklichung des Rechts auf Nahrung

– Drucksache 15/1316 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f)Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –Ich sehe, es gibt eine Wortmeldung zur Geschäftsord-nung. Frau Dr. Lötzsch, bitte schön.

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Hiermit beantrage ich im Namen meiner KolleginPetra Pau und im eigenen Namen, die Zusatzpunkte 4und 6 nicht auf die Tagesordnung zu setzen.

Das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichenKrankenversicherung – Drucksache 15/1525 – ist ges-

tern um 20.50 Uhr in mein Fach gelegt worden. DiesesGesetz soll nun heute beraten werden. Es umfasst, wieSie alle wissen, 472 Seiten. Ich gebe ehrlich zu: Ich habees nicht geschafft, heute Nacht das Gesetz zu lesen undaußerdem noch Expertinnen und Experten zu konsultie-ren.

Nun werden Sie sagen: Das ist doch die erste Le-sung. – Aber Ihr Fahrplan ist bekanntermaßen sehr eng.Am 26. September soll das Gesetz bereits durch denBundesrat gebracht werden. Ich denke, Sie werden mirzustimmen: Eine ordentliche Diskussion ist so nichtmöglich.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich würdegern einmal eine Blitzumfrage bei Ihnen machen, werden Gesetzestext wirklich vollständig gelesen und ihnvielleicht auch mit vorhergehenden Entwürfen vergli-chen hat. Ich glaube, es wäre eine solide Minderheit.

(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Aber solide!)

Wir beantragen, die Zusatzpunkte 4 und 6 nicht aufdie Tagesordnung zu setzen, weil wir darin eine Ent-machtung des gewählten Parlaments sehen. Es darf nichtsein, dass Experten und Kungelrunden der Parteiführun-gen das Parlament ersetzen. Wenn Sie in Ihre Wahlkreisekommen, können Sie nicht Herrn Rürup oder den Frak-tionsvorsitzenden mitnehmen. Er wird Ihnen nicht dieArbeit abnehmen, es Ihren Wählerinnen und Wählern zuerklären. Ich glaube, sie würden diesen Experten, HerrnRürup, auch nicht verstehen.

Wir beantragen, die Zusatzpunkte 4 und 6 nicht auf-zusetzen, weil es hier nicht um irgendein Gesetz geht,sondern um den radikalen Umbau des Gesundheitssys-tems. Grundpfeiler dieses Systems werden mit diesemGesetz infrage gestellt. Ich nenne nur ein einziges Bei-spiel: die paritätische Finanzierung des Gesundheitssys-tems durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer.

Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, meine liebenKolleginnen und Kollegen: Nehmen Sie sich selbst ernstund setzen Sie das Gesetz nicht auf die heutige Tages-ordnung!

Vielen Dank.

(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zur Gegenrede Kollege Schmidt.

Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der KolleginLötzsch geht ins Leere.

Erstens hat sie wie alle anderen Mitglieder des Hau-ses die Unterlagen in der vorigen Woche zugestellt be-kommen. Das ist übrigens nachweisbar. Auch das istzwar relativ kurzfristig, aber ein ganz anderer Zeithori-zont als der, den Sie gerade geschildert haben. Woran esliegt, dass Sie diesen Gesetzentwurf erst gestern Abend

Page 8: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

4850 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Wilhelm Schmidt (Salzgitter)

persönlich in die Hand bekommen haben, müssen Siebei sich und Ihren Informationsströmen untersuchen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wohl wahr!)

Zweitens mache ich im Namen aller Fraktionen desHauses darauf aufmerksam, dass wir uns diesemKomplex der Gesundheitsreform nicht erst seit den ver-gangenen Tagen und Wochen widmen. Vielmehr habenwir uns schon vor der Sommerpause nach Einbringungdes Gesetzentwurfs der Koalition mit diesem Themaauseinander gesetzt. Ganz frisch ist die Materie also je-denfalls nicht.

Drittens haben wir gerade auch vor dem Hinter-grund der Notwendigkeit sehr intensiver Beratungenden Termin für die zweite und die dritte Beratung vom23. auf den 26. September verlegt. Dadurch eröffnenwir uns zusätzliche Möglichkeiten, uns in den zuständi-gen Ausschüssen mit dem Gesetzentwurf auseinanderzu setzen.

Schließlich will ich auch darauf hinweisen, dass wiralle – jedenfalls die Koalition; ich denke, alle hier inDeutschland – darüber hinaus der Auffassung sind: Wirbrauchen Reformen, gerade auch auf diesem Sektor. Daskann und darf nicht durch Verfahrenstricks und durchsolche Verfahrensweisen aufgehalten werden.

Deswegen bitte ich darum, die Tagesordnung in dervon allen Fraktionen vereinbarten Form zu beschlie-ßen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Ich lasse jetzt über den Antrag auf Aufsetzung derZusatzpunkte 4 und 6 auf die Tagesordnung abstimmen.

Wer ist für die Aufsetzung der Zusatzpunkte? – Werist dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist die Aufset-zung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 1 a bis c auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieFeststellung des Bundeshaushaltsplans für dasHaushaltsjahr 2004 (Haushaltsgesetz 2004)

– Drucksache 15/1500 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierung

Finanzplan des Bundes 2003 bis 2007

– Drucksache 15/1501 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Haushaltsbegleit-gesetzes 2004 (Haushaltsbegleitgesetz 2004 –HBeglG 2004)

– Drucksache 15/1502 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss (f)InnenausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und LandwirtschaftAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

Außerdem rufe ich die Tagesordnungspunkte 1 d bis1 j sowie Zusatzpunkt 1 der Tagesordnung auf:

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reformder Gewerbesteuer

– Drucksache 15/1517 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Tourismus

e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Um-setzung der Protokollerklärung der Bundes-regierung zur Vermittlungsempfehlung zumSteuervergünstigungsabbaugesetz

– Drucksache 15/1518 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

f) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Günter Rexrodt, Jürgen Koppelin, OttoFricke, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDP

Regierung muss Haushaltssicherungsgesetzvorlegen

– Drucksache 15/997 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss

g) Beratung des Antrags der Abgeordneten DietrichAustermann, Friedrich Merz, Volker Kauder,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU

Nachtragshaushalt umgehend vorlegen

– Drucksache 15/1218 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss (f)FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und Arbeit

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4851

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

h) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

– zu dem Antrag des Bundesministeriums derFinanzen

Entlastung der Bundesregierung für dasHaushaltsjahr 2001 – Vorlage der Haus-haltsrechnung und Vermögensrechnung desBundes (Jahresrechnung 2001) –

– zu der Unterrichtung durch den Bundesrech-nungshof

Bemerkungen des Bundesrechnungshofes2002 zur Haushalts- und Wirtschaftsfüh-rung (einschließlich der Feststellungen zurJahresrechnung des Bundes 2001)

– Drucksachen 14/8729, 15/345 Nr. 43, 15/60,15/973 Nr. 1, 15/1262 –

Berichterstattung:Abgeordneter Gerhard Rübenkönig

i) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)zu dem Antrag des Präsidenten des Bundesrech-nungshofes

Rechnung des Bundesrechnungshofes für dasHaushaltsjahr 2001

– Einzelplan 20 –

– Drucksachen 15/1047, 15/1258 –

Berichterstattung:Abgeordnete Anja Hajduk Iris Hoffmann (Wismar)Bernhard Kaster Otto Fricke

j) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)zu dem Antrag des Präsidenten des Bundesrech-nungshofes

Rechnung des Bundesrechnungshofes für dasHaushaltsjahr 2002

– Einzelplan 20 –

– Drucksachen 15/1048, 15/1259 –

Berichterstattung:Abgeordnete Anja Hajduk Iris Hoffmann (Wismar)Bernhard Kaster Otto Fricke

ZP 1 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Soforthilfegesetzes für die Ge-meinden (SofortHiG)

– Drucksache 15/1470 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Ausschuss für Wirtschaft und ArbeitHaushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie heutige Aussprache im Anschluss an die Einbrin-gung des Haushalts neun Stunden, für Mittwoch achtein-halb Stunden, für Donnerstag acht Stunden und fürFreitag eineinhalb Stunden vorgesehen. – Dagegen er-hebt sich kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Freitag sind wir sparsam!)

Das Wort zur Einbringung des Haushalts hat der Bun-desminister der Finanzen, Hans Eichel.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Friedrich Merz [CDU/CSU]:Der letzte Applaus!)

Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren!

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie sehen ja so geschminkt aus!)

Dies ist der fünfte Haushalt, den ich als Bundesfinanz-minister einbringe.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Schlimm genug!)

Zweifelsfrei ist es der Haushalt mit den bisher größtenRisiken. Das größte Risiko besteht allerdings darin, dassinsbesondere Sie von der Union in dieser kritischen Si-tuation unseres Landes überhaupt nicht wissen, was Sieim Bundesrat, in dem Sie eine entscheidende Verantwor-tung tragen, selbst wollen. Darauf werde ich im Zuge derHaushaltseinbringung im Einzelnen noch zurückkom-men.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Da ruiniert ihr die Staatsfinanzen unddann so was! Beschimpfung der Oppositionals Ersatz für die Regierungspolitik! –Friedrich Merz [CDU/CSU]: Im ersten Satz sowas!)

Ich habe gesagt, dass es in der Tat der Haushalt mitden größten Risiken ist. Im Jahre 1999 sind wir mit einerHaushaltskonsolidierung gestartet, durch die wir, bezo-gen auf den Bund, in den Jahren 1999, 2000 und 2001Erfolge erzielt haben. Im Jahre 2000 hatten wir die mitgroßem Abstand geringste Neuverschuldung seit derWiedervereinigung. Sie betrug 1,2 Prozent des Bruttoin-landsprodukts. Das war weniger als die Hälfte von dem,was Sie drei Jahre vorher noch abgeliefert hatten.

Wahr ist aber, dass durch die dreijährige wirtschaftli-che Stagnation das meiste von dem, was wir erreicht hat-ten, wieder infrage gestellt wurde. Die entscheidendeFrage ist, wie wir da wieder herauskommen. Das ist Ge-genstand unseres Konzepts.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Geben Sie doch mal eine vernünftigeAntwort!)

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4852 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Bundesminister Hans Eichel

Im vorigen Jahr, also im zweiten Jahr der wirtschaftli-chen Stagnation, belief sich das Defizit des öffentlichenGesamthaushalts nach der Maastricht-Abgrenzung auf74 Milliarden Euro. In diesem Jahr wird es möglicher-weise noch etwas mehr sein. Wenn wir nicht eingreifen,wird dies im nächsten Jahr in gleicher Weise der Fall sein.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das haben Sie bisher immer bestritten!)

Diese Situation des Bundes, der Länder, der Gemeindenund der sozialen Sicherungssysteme kann nicht hinge-nommen werden.

Dabei ist eines klar: Wer sich die Haushaltspolitik ge-nau ansieht, stellt fest, dass alle Konsolidierungsmaß-nahmen, die wir 1999 eingeleitet haben, auch in denHaushalten voll gegriffen haben.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Er ist pleite und redet von Konsolidierung!)

Als Folge der Stagnation der letzten drei Jahre habensich zwei Dinge verändert: Die Steuereinnahmen sindweggebrochen und die Ausgaben für den Arbeitsmarktsind wesentlich höher.

Das macht sich überall bemerkbar. Für den Bundes-haushalt gilt dies in besonderer Weise, weil er sowohlvon der Einnahmeseite – den wegbrechenden Steuerein-nahmen – als auch von der Ausgabenseite her – ichnenne die Ausgaben für den Arbeitsmarkt – betroffen ist.Die Länder werden an dieser Stelle übrigens nicht ingleicher Weise belastet. Bei den Kommunen ist dasschon eher der Fall, weil die Kosten der Sozialhilfe vollauf sie durchschlagen. Bei den sozialen Sicherungssyste-men macht sich das durch Defizite – zum Beispiel beiden gesetzlichen Krankenkassen – bemerkbar; heutewird ja noch über die Reformen im Gesundheitswesenberaten. Das sind die Folgen von drei Jahren Stagnation.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Rot-grüner Politik!)

Übrigens gibt es diese Stagnation nicht nur inDeutschland, sondern überall in Europa. Wer jetzt nachden Ursachen fragt, der kommt zu einem ganz einfachenErgebnis.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Eichel!)

Sehen wir uns den Unterschied zwischen dem Jahr 2000und dem Jahr 2001 an. Im Jahr 2000, in dem wir die mitgroßem Abstand niedrigste Neuverschuldung seit derWiedervereinigung und ein Wirtschaftswachstum von2,9 Prozent hatten, verzeichneten die Vereinigten Staatenals Lokomotive der Weltwirtschaft ein Wirtschafts-wachstum von 3,8 Prozent. In 2001 hatten sie nur nocheines von 0,3 Prozent. Das war ein richtiges Entgleisender Lokomotive der Weltwirtschaft. Wie eng der Zusam-menhang zwischen den Vereinigten Staaten, der Welt-wirtschaft und uns ist, hat der Sachverständigenrat inseinem entsprechenden Gutachten deutlich gemacht.Das bedeutet auch bei uns einen Absturz von 2,9 Prozent– das hatten wir ursprünglich berechnet – auf 0,6 Prozentbzw. 0,8 Prozent, wie wir heute wissen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das trans-atlantische Unschuldslamm!)

Die enge Verflechtung unseres Landes mit der Welt-wirtschaft und seine große Stärke im Welthandel wirdauch in Zukunft Bestand haben. Diese Stärke hat sichauch in diesen schwierigen Zeiten bewährt; aber sie be-deutet zugleich, dass wir das Auf und Ab der Weltwirt-schaft mehr zu spüren bekommen als viele andere.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die amerika-nische Volkswirtschaft wächst in diesem Quar-tal um 3,5 Prozent!)

Deutschland hat auch eigene Wachstumsschwächen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Aha!)

– Seien Sie ganz vorsichtig! Wir haben nämlich die EU-Kommission gebeten, diese Wachstumsschwächen imZusammenhang mit der Wiedervereinigung zu untersu-chen. Übrigens will ich mit diesem Thema keinen Streitauslösen. Aber Sie werden schon merken, dass jeder seinPäckchen selber tragen muss.

Was ist das Ergebnis dieser Untersuchung? Etwa zweiDrittel der deutschen Wachstumsschwäche, also dergrößte Teil, sind Folgen der Wiedervereinigungspolitik.Ich meine das gar nicht negativ; denn eines ist klar: Das,was wir politisch machen mussten, muss kein anderesLand in Mittel- und Osteuropa ökonomisch leisten. Alleanderen Volkswirtschaften können sich der Europäi-schen Union erst dann anschließen, wenn sie eine funk-tionierende Marktwirtschaft und wettbewerbsfähige Be-triebe haben. Beides war in der ehemaligen DDR nichtvorhanden. Trotzdem haben wir uns sozusagen überNacht wiedervereinigt und die ostdeutsche Wirtschaftder Weltwirtschaft ausgesetzt.

Die Folgen, die politisch zwingend waren, aber öko-nomisch einen Prozess der Massenarbeitslosigkeit undder Deindustrialisierung der alten DDR mit sich brach-ten, zu bewältigen dauert eine ganze Generation. Dieshätte besser am Anfang gesagt werden sollen, damit klargeworden wäre, wo die Probleme liegen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich will das im Einzelnen gar nicht weiter ausführen.Aber eines muss deutlich gemacht werden: Dies ist einbesonderes Paket, das wir zu tragen haben und das wirauch gerne tragen. Man darf jedoch nicht, wie es damalspassiert ist, den Menschen vormachen, dass die Wieder-vereinigung aus der Portokasse bezahlt werden könne.Man muss ehrlich sagen: Dies bedeutet, eine ganze Ge-neration von Deutschen muss mehr als alle anderen ar-beiten, um die Folgen der Wiedervereinigung wirklichmeistern und die Vereinigung vollziehen zu können. Dasist so.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – MaxStraubinger [CDU/CSU]: Der Eichel wardagegen!)

Jedes Jahr wird in der Größenordnung von 3,5 Pro-zent des Bruttoinlandsprodukts für den Transfer in dieneuen Bundesländer verwendet. Davon wird ein erheb-licher Teil in die sozialen Sicherungssysteme gesteckt.

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4853

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Bundesminister Hans Eichel

Dieser Anteil wird nämlich als Ausgleich zwischen Ostund West in Deutschland benötigt, weil es andernfalls zueinem Auseinanderbrechen käme. Sie sollten sich daranerinnern, dass Ihr Kanzlerkandidat genau diesen solida-rischen Zusammenhang zwischen Ost und West infragegestellt hat. Eine Konsequenz davon war, dass man ihmin Ostdeutschland nicht vertraut hat. Diese Solidaritätmit Ostdeutschland müssen wir aufbringen und auchökonomisch abarbeiten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt auch hausgemachte Probleme, auf die ichgleich zu sprechen komme. In einer solchen Lage – wa-rum sollte man darum herumreden? – muss alles auf denTisch;

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Der Regierungs-schwindler spricht von der Wahrheit!)

denn nur das, was klar angesprochen wird, kann auch ge-löst werden. Allerdings muss klar sein: Unser Land stehtnicht am Abgrund. Es ist, gemessen am Weltmaßstab,ein außerordentlich starkes Land, wie unsere Position imWelthandel jedes Jahr erneut beweist.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich verweise auf die Internationale Funkausstel-lung, die gerade zu Ende gegangen ist, oder die Interna-tionale Automobilausstellung, die vor uns liegt.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Weniger Auf-tragseingänge!)

Lesen Sie auch, was die Chefs der großen Unternehmen,die in Deutschland investieren, über den StandortDeutschland sagen, zum Beispiel Jürgen Schrempp. Manmuss zwar mit ihm nicht immer einer Meinung sein;aber er weiß, wovon er redet, wenn er Standorte in derWelt vergleicht. Wenn er den Standort Deutschland fürsehr gut hält und in Deutschland investiert, dann heißtdas: Wir haben eine Chance, unsere Probleme zu lösen.Wir befinden uns nicht in einer Position der Schwäche,sondern in einer Position der Stärke, aus der heraus wirunsere Problem anpacken können.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir stehen vor großen Herausforderungen. Die ersteHerausforderung – ich habe sie erwähnt – ist die Gestal-tung der deutschen Einheit. Wo gibt es das denn, dass einSolidarpakt II, wie wir ihn ausgehandelt haben, miteiner Laufzeit von 15 Jahren und fünf Jahre im Vorausabgeschlossen wird? Das ist eine Zusage an unsere „ost-deutschen Brüder und Schwestern“, wie wir frühergesagt haben, an unsere Landsleute, dass sie sich daraufverlassen können: Die innere Einheit Deutschlands wirdhergestellt! Aber das muss erarbeitet werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben eine besondere Chance und Herausforderungdurch die europäische Einigung, insbesondere durch die

Osterweiterung der Europäischen Union. Ich will da-rauf hinweisen, dass die Wachstumsraten in den mittel-osteuropäischen Reformstaaten relativ hoch sind und un-ser Handel mit ihnen bereits unseren Handel mit denVereinigten Staaten überschreitet. Daran sieht man, wel-che Chancen in diesem Bereich liegen.

Als Finanzminister sage ich aber auch, ohne gegen-wärtig über Zahlen zu reden: Von 2007 bis 2013, bei dernächsten finanziellen Vorausschau, wird es ein knüppel-hartes Geschäft werden, zu erreichen, dass der deutscheStaatshaushalt dann die Kosten der Erweiterung tragenkann, die auf uns zukommen. Ich sage einmal an denspanischen Ministerpräsidenten gewandt: So wie er kön-nen auch wir verhandeln.

(Lachen bei der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Das merkt man!)

Der entscheidende Punkt, die Konsequenz langerFehlentwicklungen, ist der demographische Wandel.Jetzt muss ich einmal einige Zahlen nennen. Schauen Siesich den Bundeshaushalt von 1961 an. Damals musstenwir gerade einmal 16 Prozent des Bundeshaushalts alsZuschuss an die Rentenversicherung zahlen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist aller-dings 43 Jahre her!)

Das war zu einem Zeitpunkt, als auf 100 Menschen imerwerbsfähigen Alter, das heißt zwischen 20 und 60 Jah-ren, 33 kamen, die im Rentenalter waren. Heute ist derBundeszuschuss an die Rentenversicherung bereits beieinem Drittel des Bundeshaushalts angelangt. Gleichzei-tig aber ist die Zahl der Rentner, bezogen auf 100 Men-schen im erwerbsfähigen Alter, auf 44 gestiegen. LassenSie mich eine Generation oder noch etwas weiter den-ken, nämlich bis zum Jahr 2050.

(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Nicht zu weit!)

Dann lautet das Verhältnis nicht mehr 44 zu 100, son-dern mindestens 80 zu 100. Daran wird die Dramatik derAlterung unserer Gesellschaft sichtbar. Auch das wird indiesem Herbst noch Gegenstand unserer Debatte undvon Vorschlägen der Bundesregierung sein.

Es ist schön, dass wir immer älter werden, und wirwollen das genießen. Dass wir aber so wenig Kinder ha-ben und weltweit auf einem der letzten Plätze stehen, istein Drama für die Familien- und Gesellschaftspolitik indiesem Lande. Das muss nicht so sein; das hätte auch an-ders sein können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]:Er spricht zum Bundeskanzler! Herr Bundes-kanzler, was ist los? Herr Bundeskanzler, HerrFischer, wo sind Ihre Kinder?)

Darauf geben wir Antworten, und zwar keine, die kurz-fristig wirken. Das weiß wohl jeder.

Ich möchte ein Wort zu den innerdeutschen Verhält-nissen sagen. Man kann und muss vieles kritisch überdie DDR sagen, weil sie eine Diktatur war und mandiese nicht akzeptieren konnte. Aber die Ostdeutschen

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4854 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Bundesminister Hans Eichel

sind mit einer jungen Bevölkerung in das wiederverei-nigte Deutschland gekommen. Die Frauen dort und fastüberall in Europa hatten und haben mehr Chancen, Kin-derwunsch und Berufstätigkeit zu verbinden als bei unsim Westen. Darüber muss nachgedacht und daraus müs-sen Konsequenzen gezogen werden. Wir tun das.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir brauchen

(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Eine neue Regierung!)

Reformen für ein nachhaltiges Wachstum und für Kon-solidierung.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir brauchenvor allem einen ehrlichen, ungeschminktenFinanzminister!)

Denn eines ist klar geworden: Es gibt – anders als ich zudem Zeitpunkt betont habe, der Konsolidierungskurseingeleitet wurde und wir ein Wirtschaftswachstum hat-ten – keine Haushaltskonsolidierung ohne nachhaltigesWachstum. Es gibt allerdings auch kein nachhaltigesWachstum ohne konsolidierte Staatsfinanzen. Das einewie das andere sind zwei Seiten derselben Medaille.

(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Beides kön-nen Sie nicht!)

– Da müssen Sie ganz vorsichtig sein! Ich habe vorhinnoch ganz freundlich über den Bericht der EU-Kommis-sion geredet.

Deswegen musste der Reformstau aufgehoben wer-den, der Ihre Politik in den letzten 16 Jahren gekenn-zeichnet hatte.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Jetzt haben wir 2003!)

Wir haben damit durch die Einleitung der Haushaltskon-solidierung, die Steuerreform und die Einführung der ka-pitalgedeckten Altersvorsorge begonnen. Aber ich stehenicht an zu sagen: Das war zu wenig. Es war zu wenig,um unser Land durch diese Fährnisse zu bringen. Wirmüssen das Reformtempo drastisch erhöhen und wirmüssen unser Land auf allen Feldern der Gesellschaftmodernisieren. Das ist das Konzept, das wir Ihnen vorle-gen. Das ist anstrengend und das muss in diesem Herbstverabschiedet werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was wir Ihnen vorlegen – übrigens liegt bereits einGroßteil davon zur Beratung im Hause vor; ein weitererTeil ist schon im Bundeskabinett verabschiedet worden,sodass nur noch wenige Punkte im Kabinett verabschie-det werden müssen –, ist ein Dreiklang aus Strukturre-formen, Haushaltskonsolidierung und Wachstumsimpul-sen. Dieses Paket enthält Zumutungen für sehr viele, jafür alle. Denn wenn im öffentlichen Gesamthaushalt einDefizit von 70 bis 80 Milliarden Euro besteht, dann kanndies nicht beseitigt werden, ohne dass es alle merken. Es

kann auch nicht beseitigt werden, ohne dass alle – jeden-falls die bedeutenden Gruppen dieses Landes, sofern siepolitische Verantwortung tragen – zusammenwirken.Wir leben schließlich im Föderalismus und nicht ineinem Zentralstaat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dabei sind sehr viele Besitzstände nicht nur infragezu stellen, sondern abzuschaffen. Das geht gar nicht an-ders, wenn man die Zukunft gewinnen will. Ich glaubeschon, dass die Menschen dazu bereit sind, aber – das istder entscheidende Punkt – unter einer Voraussetzung:dass sie sehen, dass auch wirklich jeder seiner Leis-tungsfähigkeit entsprechend seinen Beitrag leistet.

Ich sage mit aller Freundlichkeit – zu der ich auch inder Lage bin, meine Damen und Herren –,

(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN)

aller Zurückhaltung und Vorsicht – wir werden nochüber die Gesundheitsreform diskutieren –: Auch ich alsFinanzminister stehe zu dem, was Sie verabredet habenund bin froh darüber, dass wenigstens an dieser Stelleein Zeichen der Zusammenarbeit gesetzt werden konnte.Passen Sie aber bei dem, was Sie mitgestalten, auf, dassSie die Klientel, von der Sie meinen, dass Sie sie vertre-ten müssen, genauso gerecht in die Zumutungen mit ein-beziehen, wie auch alle anderen einbezogen werden!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich bin Graf Lambsdorff und Herrn Professor Pinkwartsehr dankbar dafür, dass sie dies auf der FDP-Seite in al-ler Offenheit ausgesprochen haben. Ich bitte Sie sehrherzlich, dies auch in der großen Volkspartei CDU/CSUso zu diskutieren.

Denn wir werden in einer Demokratie den großen Re-formprozess, der vor uns liegt und der enorm anstren-gend ist, nur dann bewältigen können, wenn ihn dieMenschen akzeptieren und diesen Weg mitgehen. Siewerden ihn aber nur dann akzeptieren, wenn sie nichtmeinen, einige seien privilegiert und blieben außen vor,während sie selbst das ganze Päckchen tragen müssten.Das geht nicht an. Es unterminiert den gesamten Prozessund damit unsere Zukunftsfähigkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zu dem ersten Punkt, den wir zu entscheiden haben,nämlich zu den Strukturreformen, will ich nur wenigsagen, weil Ihnen bereits alles vorliegt oder in sehr kur-zer Zeit vorliegen wird. Worum geht es? Es geht zumeinen darum, die sozialen Sicherungssysteme – ich habeIhnen die Zahlen genannt – an die Herausforderungendes demographischen Wandels anzupassen. Es ist einebittere und harte Entscheidung, die in diesem Zusam-menhang fällig ist.

Es geht dabei auch um eine völlige Neubestimmungdes Verhältnisses von Solidarität und Eigenverantwor-tung. Grundsätzlich muss Solidarität gewahrt bleiben.

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4855

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Bundesminister Hans Eichel

Der Kranke muss wissen, dass er das medizinisch Not-wendige bekommt, ganz unabhängig davon, wie viel erverdient. Jeder muss wissen, dass er im Alter nicht inArmut fällt. Das haben wir geschafft und das muss auchin Zukunft gelten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber gleichzeitig gilt vor dem Hintergrund dieserHerausforderungen auch: Kleinere Risiken – die in derVergangenheit von der Allgemeinheit getragen werdenkonnten – müssen wir wieder selber tragen.

(Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Richtig!)

Sie, verehrter Herr Kollege Dr. Gerhardt, haben in die-sem Zusammenhang einmal von der Vollkaskomentalitätunserer Gesellschaft gesprochen. Daran ist sehr vielWahres. Ich bitte nur um eines: Spitzen Sie das nicht aufeinzelne Gruppen der Bevölkerung zu! Es gilt nämlichfür alle. Diese Mentalität gibt es bei Arbeitnehmern wiebei Unternehmern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb gilt meine Feststellung, dass wir wieder bereitsein müssen, kleinere Risiken selber zu tragen, wirklichfür alle.

Ich komme damit auf Ihren Zwischenruf zurück, HerrKollege Rexrodt. Sie werden nämlich in diesem Herbstdie Gelegenheit haben, bei den Strukturreformen zu be-weisen, ob Sie das auch wirklich selber meinen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Können Sie mal etwas zum Haushalt sagen?)

Bei den sozialen Sicherungssystemen geht es darum, dieLohnnebenkosten zu senken, weil nämlich hohe Lohn-nebenkosten ein Einstellungs- und ein Jobhindernis sind.

Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit eine Grund-satzbemerkung machen –

(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Macht er die Arbeit von Herrn Clement oder was?)

ich könnte im Übrigen fast den Kollegen Waigel zitie-ren –: Die Versuchung, in einer Reihe von Fällen – zumBeispiel in den sozialen Sicherungssystemen – die Pro-bleme nicht wirklich zu lösen, sondern nur nach anderenFinanzquellen, nach Umfinanzierung zu suchen und dieProbleme in den Haushalt zu verschieben, ist nicht ge-ring.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU undder FDP – Steffen Kampeter [CDU/CSU]:Ökosteuer!)

– Seien Sie da einmal ganz vorsichtig. – Ich will auf die-sen Punkt nur ausdrücklich hinweisen. Wenn die Pro-bleme im System gelöst sind, kann man über die Fragereden, was die günstigste – auch die volkswirtschaftlichund für den Arbeitsmarkt günstigste – Finanzierung sei.Die Voraussetzung ist aber, dass alle anderen Problemein den Systemen gelöst worden sind. Das darf nicht etwa

eine Ausflucht sein, weil man sich die Einschnitte, dieman wirklich machen muss, nicht zutraut.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derCDU/CSU und der FDP)

Es geht außerdem um die Flexibilisierung des Ar-beitsmarktes, um die Chancen für Ältere, um die Besei-tigung von Fehlanreizen, um die Chancen für geringQualifizierte, wieder eine Arbeit zu bekommen. Das istdas, was mit Hartz I bis IV vorliegt und zum Teil auchschon beschlossen worden ist.

Es geht auch – Herr Dr. Rexrodt, das habe ich vorhingemeint, als Sie „Richtig!“ gesagt haben – um die Flexi-bilisierung der Handwerksordnung. Es gilt nicht nurdann, verkrustete Strukturen aufzubrechen, wenn es umArbeitnehmer geht. Es gilt auch dann, wenn es um dasHandwerk und um viele andere Bereiche geht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Lassen Sie mich dazu eine Grundsatzbemerkung ma-chen, die sehr viel mit der europäischen Einpassung un-serer Politik zu tun hat.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Jetzt will er den Stellenmarkt auch noch ruinieren!)

Herr Kollege Clement hat ein paar Mal deutlich ge-macht, dass Betriebe aus den Niederlanden oder dem-nächst aus Polen, die die Anforderungen, die wir stellen,nicht stellen, bei uns auftreten und arbeiten können. Dieentscheidende Frage, die wir uns jetzt stellen müssen,ist, ob dann nicht auch Inländer dieselben Chancen ha-ben sollten wie die Ausländer. Der Meisterbrief sollnicht abgeschafft werden. Im Gegenteil, ich denke, erkann an Wert gewinnen, wenn er als Herausforderungangesehen wird, der sich jeder persönlich stellt, um da-mit sozusagen seinen Betrieb zu qualifizieren. Das ist es:nicht staatlich verordnet, sondern als eigene Herausfor-derung, die man besteht. Da werden sie Chancen haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Miese Einbringungsrede!)

Es geht in der Agenda 2010 um die Investitionsfähig-keit der Gemeinden. Es geht um die Gemeindefinanzre-form. Meine Damen und Herren, wir haben dazu einKonzept auf den Tisch gelegt.

(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: SchauenSie in Ihre eigenen Reihen! Da sitzen Ihre Ge-treuen!)

– Vorsicht! Ich komme gleich zu Ihnen, verehrter HerrKalb.

Darüber sind wir uns noch nicht in allen Teilen, aberin den Grundsätzen einig in der Koalition. Ich sage „inden Grundsätzen einig“, weil wir genau dem folgen, wasdie große Mehrheit der Gemeindefinanzreformkommis-sion beschlossen hat, nämlich die Gewerbesteuer zu mo-dernisieren.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die Fraktion hat Sie rausgeprügelt!)

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4856 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Bundesminister Hans Eichel

Bei uns ist das klar. Es gibt Streit – das wissen wir alle –um die Frage, ob so genannte ertragsunabhängige Ele-mente einbezogen werden sollen oder nicht, und in wel-chem Umfang. Sie wissen, der Gesetzentwurf der Bun-desregierung sieht das nicht vor. Er sieht aber – darinsind wir uns einig – eine starke Verbreiterung der Be-messungsgrundlage der Gewerbesteuer und damit einegewaltige Stabilisierung vor. Das ist, glaube ich, nochnicht richtig bei den kommunalen Spitzenverbänden an-gekommen. – Das ist die gemeinsame Grundlage. Jetztreden wir im Zusammenhang mit der Frage, ob noch et-was hinzugerechnet wird oder nicht, über Einzelheiten.Ich sage Ihnen: Wenn das Gesetzgebungsverfahren mitden Anhörungen gelaufen ist, dann wird es dazu aucheine einvernehmliche Position in der Koalition geben; dabin ich mir ganz sicher.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Nun, meine Damen und Herren, komme ich zu Ihnen.Das ist eine spannende Veranstaltung. In der Kommis-sion sitzen alle Finanzminister oder auch Innenministerder CDU- bzw. CSU-geführten Landesregierungen. Allebeschließen – alle! –, es solle zum 1. Januar nächstenJahres eine grundlegende Reform geben. Die grundle-gende Reform soll aufbauen auf einer modernisiertenGewerbesteuer. Was passiert dann bei Ihnen? Ich sage andieser Stelle zum ersten Mal – und komme darauf zu-rück –, wo das Risiko liegt, das Sie für den Konsolidie-rungsprozess in Deutschland darstellen. Da sagt HerrMerz: Die Gewerbesteuer muss weg; ich will das BDI/VCI-Modell. Das ist ja eine ehrenwerte Position.

(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das habe ich nie gesagt! Bleiben Sie bei der Wahrheit!)

– Gut, dann nehme ich es zurück. Herr Kollege Merz,das mag eine Überinterpretation sein. Sie haben aber ge-sagt, Sie wollten einen Zuschlag auf die Einkommen-und die Körperschaftsteuer.

(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das habe ich auch nicht gesagt!)

– Also nur die Gewerbesteuer weg? Herr Merz, dasmacht die Sache nicht besser; denn das bedeutet, dassSie zwar wissen, was Sie nicht wollen, dass Sie abernicht wissen, was Sie wollen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Friedrich Merz [CDU/CSU]:Hören Sie auf, einen solchen Unsinn zu re-den!)

Das ist doch das Problem. Das ist das Problem der ge-samten Opposition.

Herr Stoiber, der sich in besonderem Maße als derje-nige aufspielt, der die Kommunen schützt, bringt es glattfertig, dass die bayerischen Kommunen im vergangenenJahr weit vor allen anderen ihre Verschuldung erhöht ha-ben. Warum weisen denn 2002 die Kommunen im wirt-schaftsstarken Bayern im Vergleich zu allen anderen denhöchsten Zuwachs bei der Neuverschuldung auf? WeilBayern – das alles kann man im Einzelnen nachweisen –

mit seinen Kommunen noch nie gut umgegangen ist.Aber das ist ein anderes Thema.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSUund der FDP)

– Das ist so, weil es in Bayern den geringsten kommuna-len Finanzausgleich gibt und weil dort Staatsaufgabenvon den Kommunen wahrgenommen werden.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir warten gelassen den nächsten Sonntag ab!)

Was hört man aus Bayern? Obwohl Herr Faltlhauserin der Kommission für die Modernisierung der Gewer-besteuer und für das In-Kraft-Treten der Reform am1. Januar 2004 gestimmt hat, fordert der bayerische Mi-nisterpräsident ein Sofortprogramm. Aber die grundsätz-liche Lösung wird in die Zukunft verschoben. Das hat inder Kommission niemand gewollt, weder die kommuna-len Spitzenverbände noch die Landesregierungen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Koch hat gefordert, dass ertragsunabhängigeElemente in die Gewerbesteuer einbezogen werden.Herr Merz, Herr Stoiber und Herr Teufel sagen dagegen:Ertragsunabhängige Elemente sollen einbezogen wer-den? Mit uns nie! – Sehr verehrte Frau Merkel, wie sollman denn zu einer Verständigung mit Ihnen kommen,wenn nicht einmal im Grundsatz klar ist, ob Sie die Ge-werbesteuer modernisieren wollen oder nicht, weil es beiIhnen so stark widerstreitende Auffassungen gibt?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zu einer Verständigung müssen wir aber kommen. DieKommunalhaushalte zu sanieren ist aber zuallererst Län-dersache; denn nach unserer Verfassung gehören dieKommunen zu den Ländern. Es gibt einen Vorschlag desBundes zur Sanierung der Kommunalhaushalte, den Sienicht mögen müssen. Aber wo sind denn die Vorschlägeder Länder, aus denen hervorgeht, wie die Kommunal-haushalte saniert werden können? Wo ist Ihr Vorschlag?Es gibt von Ihrer Seite keinen Vorschlag, obwohl Sie dieMehrheit im Bundesrat stellen. So kann das nicht weiter-gehen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir sind uns in der Koalition auch über die Summeneinig. Die Kommunen sollen im nächsten Jahr auf jedenFall um 4,5 Milliarden Euro – anwachsend auf 5 Milliar-den Euro – entlastet werden. Eine leichte Steigerung derEntlastung wird es auch in den Folgejahren geben. Da-rauf kommt es an. Wir werden den Kommunen mit demHaushaltsstabilisierungskonzept

(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Konzept ist übertrieben!)

– jedenfalls wenn es auf die Kommunalhaushalte ent-sprechend übertragen wird – eine zusätzliche Entlastungvon knapp 2 Milliarden Euro verschaffen. Das bedeutetalso, dass die Kommunalhaushalte bereits im nächsten

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4857

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Bundesminister Hans Eichel

Jahr um knapp über 6 Milliarden Euro – in den Folgejah-ren ansteigend auf über 7 Milliarden Euro – entlastetwerden. Das ist ein Wort.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die Zahlen stimmen doch vorne und hinten nicht!)

– Natürlich stimmen sie.

Natürlich können die Kommunalhaushalte nicht ausdem Bundeshaushalt saniert werden. Der Bund leistet le-diglich einen freiwilligen Beitrag. Aber nur in einem Ge-samtpaket von Gewerbesteuerreform, Zusammenführungvon Arbeitslosen- und Sozialhilfe – auch das bedeuteteine Entlastung für die Kommunen – und einem Konsoli-dierungskonzept für alle öffentlichen Haushalte könnendie Probleme des Bundes, der Länder, der Kommunenund der sozialen Sicherungssysteme gelöst werden.

(Beifall bei der SPD – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Müder Beifall!)

Jetzt komme ich auf einen weiteren Baustein unseresKonzepts zu sprechen: das Haushaltsstabilisierungs-gesetz im Vollzug der Haushalte 2003 und 2004. Ichmöchte darauf hinweisen, dass der Haushalt 2003 zwei-felsfrei wieder eine wesentlich höhere Nettoneuver-schuldung aufweist, die eine Verdoppelung dessen be-deutet, was wir ursprünglich veranschlagt haben. Ichwerde im Spätherbst im Zusammenhang mit der Steuer-schätzung im Kabinett und im Bundestag einen Nach-tragshaushalt einbringen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Der ist längst überfällig!)

Dieser Haushalt zeigt aber eindeutig: Alle Maßnahmen,die wir zum Zwecke der Konsolidierung seit 1999 be-schlossen haben, werden in vollem Umfang fortgesetzt.Die unbereinigten Ausgaben des Bundes sind von 1999bis 2004 insgesamt nur um 2 Prozent gestiegen. Das sindgerade einmal 0,4 Prozent pro Jahr. Das gibt es in kei-nem anderen Land. Hessen ist beispielsweise deswegenin der Bredouille, weil es in den letzten vier Jahren überdie Stränge geschlagen hat. Es muss nun alle Leistungen,die es gewährt hat, quasi wieder einsammeln. Das gilt inder Tat für uns nicht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das, was uns große Probleme bereitet – darauf habe ichschon hingewiesen –, sind das Wegbrechen der Steuer-einnahmen und die Situation auf dem Arbeitsmarkt. Dasalles zusammen bringt den Bundeshaushalt sehr stark indie Bredouille.

Wir werden aber – das ist auch mit Brüssel verabre-det – in einer solchen, von Wachstumsschwäche ge-kennzeichneten Situation dem Konjunkturabschwungnicht noch „hinterhersparen“. In dieser Phase müssen dieautomatischen Stabilisatoren wirken. Deswegen ist es indieser Situation richtig, Probleme nicht etwa durch zu-sätzliche Sparmaßnahmen zu verschärfen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir habendoch keine Nachfragelücke in Deutschland!Das ist doch dummes Zeug!)

Auch wenn das heute eher etwas fern erscheint, gilt:Wenn der Aufschwung kommt und es wieder richtig auf-wärts geht, dann muss in Deutschland das gemacht wer-den, was bisher zu wenig gemacht worden ist, nämlicheine beinharte Konsolidierung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Damit komme ich zum Haushalt 2004.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder FDP – Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]:Nach 40 Minuten!)

Die Grundlage der gesamtwirtschaftlichen Eckdaten lau-tet: 2 Prozent Wachstum nächstes Jahr. Dazu habe ichdie unterschiedlichsten Äußerungen gelesen. Wir habengesagt – darauf komme ich nun zurück –, dass wir mitdem Vorziehen der Steuerreform unseren Beitrag dazuleisten wollen, dass es im nächsten Jahr wirklich zueinem Wachstum von 2 Prozent kommt. Wir wollen die-ses Maß an sich verfestigender Arbeitslosigkeit nichthinnehmen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie täuschen doch schon wieder das Parlament!)

Dieses Maß an Arbeitslosigkeit ist die entscheidendeStörung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, diebeseitigt werden muss, und zwar durch offensive Maß-nahmen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wenn Sie we-nigstens nur zu 2 Prozent die Unwahrheit sa-gen würden!)

Mittlerweile haben sich einige Indikatoren wieder einStückchen verändert. Auch das muss man festhalten. Amnächsten Wochenende treffen wir, die EU-Finanzminis-ter, uns in Stresa. Eine Woche später treffen sich dieFinanzminister im Rahmen der IWF-Tagung und desTreffens der G 7 in Dubai. Vermutlich werden wir fest-stellen, dass zum ersten Mal seit über einem Jahr dieChancen etwas größer als die Risiken sind. Das ist nochnicht gesichert. Man muss das mit aller Vorsicht sagen.

Ich verweise auf den Ifo-Index zum Weltwirtschafts-klima. Ich verweise darauf, dass der Ifo-Geschäftsklima-index zum vierten Mal in Folge für Deutschland einenAnstieg – dieses Mal ist es ein starker – prognostiziert.Nicht nur die Zukunftserwartungen, sondern auch dieGegenwartsbeurteilungen sind positiv. Ich verweiseauch auf das, was das ZEW seit längerem sagt. Übri-gens, es spiegelt nur das wider, was an den Aktienmärk-ten passiert. Derartige Prognosen werden in der Wirt-schaft in der Regel nach einem halben Jahr real.

Außerdem verweise ich – ich tue das ganz vorsichtig,weil ich noch nicht weiß, wie gefestigt das ist – auf harteFakten wie die Zahl der Auftragseingänge bei der Indus-trie. Zum ersten Mal hat ein Institut, das Ifo in München,mit Hinweis auf unser Konzept – Strukturreformen,Haushaltskonsolidierung und das Vorziehen der Steuer-reform – seine Wachstumsprognose – sie lag unter unse-rer – von 1,5 Prozent auf 1,75 Prozent nach oben korri-giert. Das sind jedenfalls ein paar Hoffnungszeichen.

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4858 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Bundesminister Hans Eichel

Eines ist in Deutschland komplett out, sozusagenmega-out, nämlich Schwarzmalerei. Die Wirtschaft hatbegriffen, dass auch Schwarzmalerei ein Standortnach-teil ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Man soll die Dinge beim Namen nennen, aber nichts ka-puttreden. Ich verweise noch einmal auf das Interviewmit Jürgen Schrempp.

Mein Ziel war,

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die Öffent-lichkeit zu täuschen!)

bei einer ohne Gegenmaßnahmen für das nächste Jahr zuerwartenden Neuverschuldung des Bundes von 38 Mil-liarden Euro zunächst die Neuverschuldung unter dieveranschlagten Investitionen zu drücken. Mein Ziel waralso, die Neuverschuldung auf 24 Milliarden Euro zusenken. Das damit verbundene Sparpaket ist ein harterSchritt. Er hat dieselbe Größenordnung wie die von uns1999 mit allen Folgewirkungen eingeleitete Konsolidie-rung. Allerdings hat dieser Schritt erhebliche positiveFolgewirkungen für die Entlastung der Landes- undKommunalhaushalte, wenn eine gleichgerichtete Über-tragung erfolgt. Da sind sie dann wieder mit am Zuge.

Dabei wird klar, dass der Weg zur Haushaltskonsoli-dierung von uns nicht verlassen wird – im Gegenteil.

(Lachen des Abg. Friedrich Merz [CDU/CSU] – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: DerHauptsünder Europas spricht von Haushalts-konsolidierung! Der Schuldenmeister Nummereins! Mit Grausen denkt die EU-Kommissionan diesen Haushalt!)

Ohne dass man über den Stabilitäts- und Wachstums-pakt im Einzelnen diskutieren muss, kann man fest-stellen, dass es zum Beispiel zwischen den europäi-schen Finanzministern und den Ländern in Europatrotz mancher Differenzen eine grundlegende Überein-stimmung gibt: dass die mit der alternden Gesellschaftverbundenen Herausforderungen erzwingen, dass wir diedamit einhergehenden Belastungen in der Zukunft nichtmit hohen Schulden aus der Vergangenheit kombinie-ren dürfen. Deswegen müssen wir für einen ausgegli-chenen Haushalt sorgen, sobald das irgendwie mög-lich ist.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie nicht mehr!)

In einer Zeit der Wachstumsschwäche und der Stagna-tion werden wir das allerdings nicht schaffen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen müssen wir aus dieser Situation herauskom-men.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen ist die Konsolidierung erforderlich. Des-wegen wird sie auch gemacht.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wo denn?)

Was sind die Wege zur Konsolidierung? Ich nenne zu-nächst die Einschränkung des Staatsverbrauchs.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Explosion beider Öffentlichkeitsarbeit! Explosion bei denPersonalstellen!)

Wir haben den Haushalt des Bundes 2004 auf11,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gedrückt. Derletzte Haushalt, den Sie verantwortet haben, lag bei12,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das ist in derheutigen Währung eine Differenz in der Größenordnungvon 20 Milliarden Euro. Das ist die Konsolidierung aufder Ausgabenseite! Die wischen Sie mit nichts vomTisch, weil die Zahlen ganz eindeutig sind.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie haben nur auf der Einnahmeseite etwas gemacht!)

– Die Zahlen sind klar. Da hilft Ihr Zwischenruf auchnichts mehr.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir hörenIhnen wenigstens noch zu – im Gegensatz zuIhrer Fraktion!)

Wenn ich „Einschränkung des Staatsverbrauchs“sage, dann heißt das zum Beispiel: Eingriffe bei denSonderzahlungen im öffentlichen Dienst. Wir reduzierendas Weihnachtsgeld sowohl für die Pensionsempfängerals auch für die noch aktiven Bediensteten. Das Urlaubs-geld fällt weg. – Übrigens: Ich erinnere mich noch daran,dass der hessische Ministerpräsident unmittelbar vor derHessenwahl noch der Meinung war, der Tarifabschlussmüsse sofort und in vollem Umfang auch auf die Beam-ten übertragen werden; da könne man nichts machen.Noch nicht einmal ein halbes Jahr später sieht man dasauch dort ganz anders. Die Realität holt Sie überall ein,meine Damen und Herren!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich will auf etwas hinweisen, das im Land nur wenigbekannt ist: Die Stellenzahl des Bundes liegt heute, imwiedervereinigten Deutschland, unter der Stellenzahl,die die alte Bundesrepublik vor der Wiedervereinigunghatte, und unter der, die die alte, kleinere Bundesrepub-lik 1970 hatte. Es gibt 287 000 Mitarbeiterinnen undMitarbeiter im öffentlichen Dienst. 300 000 waren es1970 in der alten Bundesrepublik.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Weil Sie neue Gesellschaften gegründet haben!)

Das ist eine wirkliche Einschränkung des Staatsver-brauchs und das ist auch vernünftig; denn in einerschrumpfenden Gesellschaft muss auch der öffentlicheDienst kleiner werden, weil wir anderenfalls Steuererhö-hungen in der Zukunft vorprogrammieren.

Wir haben die Finanzhilfen – in dem Punkt sind wirganz allein entscheidungsfähig, weil wir nicht die Zu-stimmung des Bundesrats brauchen – ordentlich abge-

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Bundesminister Hans Eichel

baut, nämlich seit 1998 um mehr als 30 Prozent, von11,4 Milliarden Euro auf 7,7 Milliarden Euro in diesemJahr. Im nächsten Jahr werden es 7 Milliarden Euro sein.Das ist viel mehr, als sich Herr Steinbrück und HerrKoch – darauf komme ich noch zu sprechen – vorge-nommen haben. Wir müssen da sehr viel härter herange-hen und wir werden es auch tun.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie haben diehöchste Subventionierung eingeführt, die Öko-steuer!)

Ich bin gespannt, wie Sie reagieren, wenn wir zumBeispiel über die Agrarsubventionen – es geht nicht umdie Steinkohle; da sinken die Subventionen systematischdegressiv – reden. Ich habe dazu aus Bayern schon wie-der die alten Töne vernommen.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Bauernfeind!)

Wenn Sie sich als Schutzheiliger von einzelnen Subven-tionen aufspielen, meine Damen und Herren, werden Sieden Staatshaushalt nie in Ordnung bringen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – MaxStraubinger [CDU/CSU]: Windkraft! – Wei-tere Zurufe von der CDU/CSU: Kohle!)

Damit komme ich zu den Subventionen, die sich aufder Einnahmeseite finden. Da sind sie ja sehr schön ver-steckt. Ich habe schon im Haushaltsausschuss gesagt:Ich glaube, dass das bayerische Modell – nein, das gibtes ja gar nicht; ich hätte aber nichts dagegen, wenn esdas gäbe, weil wir in Bayern dann schon einen Verbün-deten hätten –, das Schweizer Modell, bei dem Subventi-onen nicht mehr bei den Steuern versteckt werden –Subventionen sollen, wenn sie überhaupt gegeben wer-den, auf der Ausgabenseite stehen, damit sie jeder sehenkann, damit man sie leichter überprüfen kann und damitman leichter an sie herankommt –, ein vernünftiger Wegist. – Darüber müssen Sie bei Gelegenheit auch einmalnachdenken.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – SteffenKampeter [CDU/CSU]: Etwa bei der Öko-steuer! – Max Straubinger [CDU/CSU]: Wind-kraft! Ökosteuer!)

– Für die Windkraft ist nichts im Haushalt veranschlagt.Das will ich hier gar nicht diskutieren. Das sollten Siediskutieren, wenn es um die Novellierung des Erneuer-bare-Energien-Gesetzes geht.

Nun komme ich auf einzelne Subventionen zu spre-chen. Da ist zunächst die Eigenheimzulage zu nennen.Ich habe vorgeschlagen, sie gänzlich zu streichen.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Immer gegen die Eigentümer!)

Der Sachverständigenrat ist dafür. Die Bundesbank istdafür. Der gesamte ökonomische Sachverstand ist dafür.Was, verehrte Frau Merkel, ist jetzt Ihre Position?

(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)

Ich höre Gemeckere an der einen oder anderen Stelle.Ich habe von Herrn Merz gehört, als wir zusammen beiChristiansen waren, man könne vielleicht darüber reden.Andere – Herr Stoiber oder auch Herr Koch – sagen, dasgehe überhaupt nicht.

Meine Damen und Herren, wie können wir eine Sub-vention vertreten in einem Markt, der überwiegend, vonganz wenigen Regionen in Deutschland abgesehen,übersättigt ist?

(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Eigenheim-zulage streichen und Genossenschaftswoh-nungsbau neu auflegen!)

Es geht um eine Subvention, die – da ist in diesem Jahrnoch einmal ein ordentlicher Zuwachs zu verzeichnen –nachhaltig 8 bis 10 Milliarden Euro beträgt. Können Siedas wirklich noch vertreten, meine Damen und Herren?

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Es hat mitVermögensbildung zu tun! Sie bleiben einerote Socke!)

Können wir nicht in diesem Herbst zu dem Ergebniskommen, dass diese Subvention abgebaut wird?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU!)

– Wenn wir über Finanzpolitik reden, dann will ich dazunoch einen Satz sagen. Macht es eigentlich Sinn, dassder Staat Schulden macht, damit Private Eigentumschaffen können?

(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])

Über den Punkt müssen Sie einmal nachdenken. Daskann doch keinen Sinn machen.

Nächster Punkt: Wir wollen die Subvention in Formder Entfernungspauschale auf die Hälfte des bisherigenNiveaus zusammenstreichen. Auch daran wird nur an al-len Ecken herumgemosert. Wie sieht denn nun Ihre Posi-tion aus? Das Defizit des Gesamthaushaltes liegt zwi-schen 70 und 80 Milliarden Euro.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Eher 90 Milliarden!)

Wir können das nicht beseitigen, ohne dass die Men-schen es merken und viele etwas abgeben müssen. SindSie bereit, diesen Weg mitzugehen, meine sehr verehrtenDamen und Herren? In diesem Zusammenhang kommeich wieder auf die Landeshaushalte, für die Sie doch inden meisten Fällen die Verantwortung tragen, und dieKommunalhaushalte zu sprechen. Alle sind ja davon be-troffen: zu 42,5 Prozent die Länder und zu 15 Prozentdie Kommunen. Wir reden hier über richtig viel Geld.Allein die Entfernungspauschale macht 3 MilliardenEuro aus – jedes Jahr. Sie müssten doch irgendwann zueinem Ergebnis kommen.

Oder wie stehen Sie zu der Abschaffung der Verein-fachungsregelungen bei den Abschreibungen? Wie sollman denn jemandem erklären, dass im Dezember ange-schaffte Wirtschaftsgüter rückwirkend ab Juli abge-schrieben werden können? Das hat man früher gemacht,als die Buchführungsmöglichkeiten noch schlechter

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4860 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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waren; heute sind sie aber prima. Hierbei handelt es sichum eine reine Steuersubvention, die schön für denjeni-gen ist, der sie bekommt, die aber angesichts des Defizitsdes öffentlichen Gesamthaushaltes nicht verantwortbarist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nächster Punkt: Der Kampf gegen die Schwarz-arbeit ist ein schwieriges und sehr mühevolles Unter-nehmen. Über die Maßnahmen hinaus, die wir auf demVerwaltungswege ergreifen können, werden wir Ihnen indiesem Herbst in einem Gesetzentwurf Vorschläge un-terbreiten. Ich hoffe, dass wir uns über die vorgesehenenMaßnahmen gegen Schwarzarbeit und Steuerhinterzie-hung verständigen können. Wir haben zwar eine Reihevon Maßnahmen ergriffen, aber sie reichen nicht aus. Soist mittlerweile ziemlich klar, dass dem Staat allein beider Umsatzsteuer durch den so genannten Karussellbe-trug pro Jahr zwischen 12 bis 13 Milliarden Euro verlo-ren gehen. Wir werden auch da viel härter eingreifenmüssen, um dieses Problem zu lösen.

Wenn es wahr ist, dass die Schattenwirtschaft inDeutschland etwa 15 bis 16 Prozent des Bruttoinlands-produkts ausmacht, dann ergibt sich daraus folgerichtig,dass wir kein Problem mit unseren Staatsfinanzen hät-ten, wenn jeder seine Sozialabgaben und Steuern sozahlte, wie es gesetzlich vorgesehen ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es sind die ehrlichen Arbeitnehmer und die ehrlichenUnternehmer, die geschädigt werden, wenn wir zulassen,dass sich andere illegal bereichern. Deswegen müssenwir diese Dinge angehen. Ich setze sehr darauf, dass Siealle dabei mitmachen denn allein durch Kontrolle kannman diese Dinge nicht ausrotten. Das ist auch gar nichtmeine Vorstellung. Wir brauchen in diesem Lande wie-der eine andere Kultur und eine andere Einstellung zudiesen Dingen. Wir wollen die Steuern senken – der Vor-schlag ist ja in unserem Paket enthalten –, aber umge-kehrt muss dann auch jeder das, was er dem Staat schul-det, geben, damit nicht die Ehrlichen die Dummen indiesem Lande sind. Ansonsten schwindet nämlich dieZustimmung zur Demokratie.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Darüber hinaus müssen wir natürlich auch weitereSubventionen abbauen. Vorschläge hierfür erwarten wiraus der von den Ministerpräsidenten Koch und Stein-brück initiierten Arbeitsgruppe. Wenn die Arbeitsgruppenichts liefern sollte, werden wir selber Vorschläge ma-chen. Grundsätzlich begrüße ich natürlich, dass es dieseArbeitsgruppe gibt und sie sich dem Thema, wenn auchin Trippelschritten, langsam nähert. Ich erwarte alsokonkrete Vorschläge aus dieser Arbeitsgruppe, machemich davon aber – das sage ich ganz deutlich – nicht ab-hängig.

(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Was haben Sie gegen Herrn Steinbrück?)

Die Einsparungen auf der Ausgabenseite und den Ab-bau von Steuersubventionen – das ist nicht das Ende derVeranstaltung, ich komme gleich darauf zurück – neh-men wir nicht allein um des Sparens willen vor – natür-lich muss das Defizit weg –, sondern auch, um Gestal-tungsspielraum für die Zukunft zu gewinnen. Diealternde Gesellschaft – darüber gibt es ja schon vieleGrundsatzdebatten – wird dann zu einem Albtraum füralle, wenn es uns nicht gelingt, deutlich höhere Wachs-tumsraten zu erzielen; denn ansonsten werden wir Ver-teilungskämpfe erleben, die ziemlich schaurig sind.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Vertreibung von Arbeitsplätzen aus Deutschland!)

Es stellt sich deswegen, meine Damen und Herren, jetztdie Frage, wie der Beitrag der Finanzpolitik aussieht. Ichsehe hier zwei Schwerpunkte:

Zum einen brauchen wir mehr Mittel für Zukunfts-felder wie Familienpolitik, Kinderbetreuung, Bildung,Ausbildung, Forschung und Entwicklung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben in den letzten Jahren die entsprechenden Aus-gaben gegenüber 1998 schon um 30 Prozent erhöht. Wirsind dabei auch besser als vergleichbare Staaten in Eu-ropa. Wir haben aber noch nicht das Niveau erreicht, dasin Skandinavien herrscht. Wir haben auch noch nicht soviel erreicht wie die Amerikaner, die Japaner und dieKanadier. An dieser Stelle müssen wir also noch vielbesser werden. Der Erfolg der Strategie Europas, zu ei-ner der wettbewerbsfähigsten Regionen zu werden,hängt in großem Umfang davon ab, ob es uns gelingt,unser Erneuerungspotenzial in allen Bereichen zu stär-ken.

(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Fangen Sie doch an!)

– Ja, wir machen es ja, indem wir die entsprechendenAusgaben seit 1998 um 30 Prozent erhöht haben, alleinevon 2003 auf 2004 um 6 Prozent.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ihr macht nichts!)

Dazu muss man natürlich ausdrücklich sagen, dass indiesen Zahlen das Ganztagsschulprogramm enthalten istund auch die Kinderbetreuung für unter Dreijährige.Ebenso sind in das Finanztableau die Forschungsorgani-sationen eingearbeitet, die wieder mehr Geld bekom-men.

Dasselbe gilt – ich sage das ausdrücklich – für dieöffentlichen Investitionen. Die Verkehrsinvestitionen bis2007 belaufen sich immerhin auf knapp 10 MilliardenEuro

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Reden Sie doch mal von dem Mautbetrug!)

– unter Einschluss der Maut.

Die bislang für die Eigenheimzulage verwendetenMittel fallen nicht ersatzlos weg. Mit 25 Prozent diesesVolumens richten wir ein neues Investitionsförderpro-

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Bundesminister Hans Eichel

gramm für die Städte und Gemeinden ein und wir schla-gen den Ländern und Kommunen vor, dasselbe zu tun.Das ist, denke ich, der richtige und moderne Weg, mitdem auf die unterschiedlichen Situationen am Woh-nungsmarkt reagiert werden kann.

(Beifall der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Worauf kommt es bei der Finanzpolitik an, wenn siezum Wachstum beitragen soll? Auf der einen Seite ste-hen die Zukunftsaufgaben, auf der anderen Seite – dassage ich mit allem Nachdruck – geht es um die Rente.Es geht nicht so weiter, wie wir es bisher gemacht haben.Ich habe Ihnen vorhin die Zahlen genannt. Deswegenhaben wir im Haushaltsentwurf eine Absenkung desBundeszuschusses um 2 Milliarden Euro vorgesehen.Gleichzeitig muss eine Stabilisierung des Rentenversi-cherungsbeitrages erfolgen. Das alles wird ein hartesGeschäft.

Meine Damen und Herren, wir werden uns angesichtsder Dramatik der Zahlen darauf konzentrieren müssen,sicherzustellen, dass Altersarmut, die wir heute Gott seiDank nicht mehr haben, trotz der dramatischen demo-graphischen Veränderungen auch in Zukunft nicht ent-steht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Damit wir das leisten können, werden wir uns in derFinanzpolitik von vielen schönen Dingen verabschiedenmüssen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Seit acht Jah-ren machen Sie alles zunichte!)

Auch das ist ein Argument dafür, warum wir uns die Ei-genheimzulage und anderes nicht mehr leisten können.Wir sind voll dadurch gefordert, Altersarmut in der Zu-kunft zu vermeiden. Wenn Sie die vielen schönen großenUmverteilungstöpfe, die wir im Steuersystem in derMitte der Gesellschaft eingerichtet haben, behalten wol-len, dann kommen Sie um massive Steuererhöhungennicht herum. Das wäre die Alternative, aber das ist genauder Weg, den ich nicht gehen will.

Ich bin froh, dass die Mehrwertsteuerdebatte einensanften Tod gestorben ist; denn der Subventionsabbau istin der Tat der richtige Weg.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jürgen Koppelin [FDP]:Weiß Frau Simonis das?)

Das Gesamtpaket, das wir zur Konsolidierung vor-schlagen, umfasst 14 Milliarden Euro für den Bundes-haushalt, 23 Milliarden Euro für den gesamtstaatlichenHaushalt – Bund, Länder und Gemeinden außer Acht ge-lassen; das geschieht im Rahmen der Agenda 2010 zurKonsolidierung der sozialen Sicherungssysteme.

Man wird sich fragen müssen, meine Damen und Her-ren – das ist der entscheidende Punkt –, wie Konsolidie-rungspolitik in einer Phase der Stagnation aussieht.Muss sie anders sein als in einer Phase des Wirtschafts-

wachstums wie 1999/2000, als wir diese Politik eingelei-tet haben? Ich sage ausdrücklich: ja. Denn wenn wir ineiner Phase der Stagnation 23 Milliarden Euro – 14 Mil-liarden Euro allein für den Bund – aus dem Kreislaufherausnehmen, dann wirkt das natürlich zunächst kon-traktiv.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!)

Das Wichtigste aber ist: Wir müssen heraus aus der Stag-nation und hinein ins Wachstum,

(Lachen bei der CDU/CSU – HartmutSchauerte [CDU/CSU]: Das machen Sie dochkaputt!)

weil wir anderenfalls unsere Probleme nicht lösen. Des-wegen legen wir dieses Konzept auf den Tisch.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Angesichts dieses Konsolidierungspaketes, das wirauf den Tisch legen, ist es auch richtig, dass wir vor-schlagen, die nächste Stufe der Steuerreform, die für2005 vorgesehen ist, um ein Jahr vorzuziehen, um einenWachstumsimpuls zu geben und dafür zu sorgen, dassdie Finanzpolitik in einer stagnativen Phase nicht kon-traktiv wirkt. Darauf kommt es an, meine Damen undHerren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Übrigens ist es schon verwunderlich, wie sich bei Ih-nen die Positionen ändern. Ich denke, diese Spielchensollten wir jetzt einmal lassen. Sie waren bereit, Steuer-senkungen auch in ganz anderen Phasen vorzunehmen,völlig unabhängig davon, welche Staatsverschuldungdas nach sich zieht. Ich erinnere mich lebhaft daran, wasSie hinsichtlich der Steuerreform 2000 gesagt haben –das war Ihnen alles nicht genug. Ich erinnere mich leb-haft daran, was Sie vorigen Sommer erzählt haben, unddaran, was Herr Koch noch vor der Landtagswahl gesagthat, nämlich das sei eine Phase, in der man Schuldenmachen müsse. Die Konsequenz ist jetzt, dass Hessenvon einer Ratingagentur heruntergestuft worden ist.

Ich wiederhole es: Wenn man den Mut hat, nicht aus-zuweichen und auch in Phasen der Stagnation harteStrukturreformen in den Sozialsystemen und im Haus-halt durchzuführen, ist man quasi gezwungen, vonseitender Finanzpolitik einen Wachstumsimpuls zu geben.Deshalb wundere ich mich darüber, dass in den letztenTagen in der Presse zu lesen ist, wir würden unserWachstumsziel aufgeben. Wir geben es nicht auf; aberwir sagen, dass es schwer zu erreichen ist. Das Vorzie-hen der nächsten Stufe der Steuerreform ist ein Elementzur Abwehr der Störung des gesamtwirtschaftlichenGleichgewichts und zur Erreichung des Wachstums unddes Beschäftigungsaufbaus. Darum geht es.

Den Vorteil haben der Mittelstand wegen seiner ver-besserten Investitionsbedingungen und eine große Zahlvon privaten Haushalten.

(Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Reiner Hohn!)

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4862 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Bundesminister Hans Eichel

Was die Finanzierung angeht, so sage ich: Wir bauenSteuersubventionen ab. Ich habe schon wieder gehört:Was Sie da machen, passt uns nicht. – Im Rahmen derUmsatzsteuer beseitigen wir einige Ungleichbehandlun-gen der Landwirtschaft.

Ferner setzen wir Privatisierungserlöse ein. Dadurchwerden die 7 Milliarden Euro, die der Bund braucht, um2 Milliarden Euro reduziert. Das kann auch mehr wer-den. Aber ich kann nur das veranschlagen, was ich jetztzusagen kann. Ich will die Märkte nicht negativ beein-flussen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Bei Maastricht hilft Ihnen das nicht!)

Wenn es am Aktienmarkt so weitergeht, wie es gegen-wärtig der Fall ist, dann wird man möglicherweise auchfrüher über andere Privatisierungserlöse reden können,aber auch nur dann. Ich privatisiere nur, wenn es vomKurs her vertretbar ist, andernfalls nicht.

Ferner haben wir eine Erhöhung der Nettokreditauf-nahme vorgesehen. Eine der Bedingungen dafür lösenwir selber ein, indem wir die Finanzhilfen weiter ab-bauen, nämlich im Zeitraum der mittelfristigen Finanz-planung jedes Jahr mindestens um 5 Prozent. Außerdembieten wir dem Bundesrat an, dass wir uns über einenweiteren Abbau steuerlicher Subventionen ab 2005 ver-ständigen, einen Abbau, der über das hinausgeht, was inunserem Konzept steht und was die Herren Koch undSteinbrück nach meinen Erwartungen vorlegen werden;denn es ist vernünftig, diesen Weg des Abbaus von Sub-ventionen konsequent weiterzugehen, egal welcher Lobby-ist jeweils gerade dagegen ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich sage ausdrücklich: Das Vorziehen der Steuer-reform, das die öffentlichen Haushalte mit insgesamt16,6 Milliarden Euro belastet, ist mit dem 23-Milliar-den-Paket längst abgegolten. Dass die Länder sagen,sie wollten noch mehr zur Konsolidierung ihrer Haus-halte tun, ist in Ordnung. Der Bund tut das ja auch.Infolgedessen kann ich das nur begrüßen. Aber ichbetone: Der Bund hat die Bedingungen geschaffen,die man vernünftigerweise schaffen kann. Es liegt amBundesrat und an den Länderregierungen, dem Vor-ziehen der Steuerreform und damit einem Wachstums-impuls in einer stagnativen Phase zuzustimmen. Dawird auch die FDP, wenn die CDU nicht will, in denLandesregierungen, in denen sie mitregiert, denke ich,ein Wort mitzureden haben. Da werden Sie sich ent-scheiden müssen.

Meine Damen und Herren, dies ist eine Politik, diemit dem Dreiklang von Strukturreformen, Haushaltskon-solidierung und Wachstumsimpulsen auch unsere euro-päischen Verpflichtungen erfüllt.

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Sie können – das mag Ihnen nicht passen – geradeheute Morgen im „Handelsblatt“ lesen, was der zustän-dige Kommissar der Europäischen Union dazu sagt. Die

Bundesregierung bekennt sich zum Stabilitäts- undWachstumspakt mit all seinen Elementen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Nur noch formell!)

– Ich komme gleich darauf zurück. – Wir werden allesdaransetzen, dass wir das 3-Prozent-Kriterium imnächsten Jahr erfüllen. Das wird schwierig. Darum istüberhaupt nicht herumzureden. Es bedarf auch eines hö-heren Wirtschaftswachstums. Es bedarf aller Anstren-gungen, die ich eben geschildert habe.

In Brüssel ist übrigens bekannt – man muss sich nurdie Zahlen ansehen –, dass Deutschland bei all denSchwierigkeiten, die es hat, das Land mit den geringstenSchätzabweichungen bei der Projektion von Finanzie-rungssalden ist.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Jetzt sind wir auch noch die Musterschüler in Europa!)

– Seien Sie vorsichtig! Ich glaube nicht, dass Sie gelesenhaben, was der schwedische Ministerpräsident GöranPersson, der die großen Länder zu Recht kritisiert hat,gesagt hat.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Der Spitzen-pleitier als Musterschüler!)

Er hat nämlich gesagt: Die großen Länder haben in den90er-Jahren, als wir, die kleinen, die Konsolidierung ein-geleitet haben, dies nicht gemacht. – Der Vorwurf richtetsich nicht an uns; denn als wir an die Regierung kamen,haben wir die Konsolidierung sofort eingeleitet.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie sind ein übler Täuscher!)

Hätten Sie drei Jahre früher angefangen, wären wirnicht mit 1,2 Prozent Defizit, sondern – wie die kleine-ren Länder – mit einem ausgeglichenen Haushalt odermit einem kleinen Überschuss in die Stagnationsphasegegangen und mit dem 3-Prozent-Kriterium gäbe eskeine Probleme. Deswegen sind jetzt alle gefordert.

Verehrter Herr Storm, Sie haben, wie in der Zeitungnachzulesen war, gesagt, die sozialen Sicherungssys-teme seien nicht dazu da, dem Bundesfinanzminister zuhelfen, das 3-Prozent-Kriterium zu erfüllen. Das ist völ-lig falsch. Das 3-Prozent-Kriterium ergibt sich aus derSituation der sozialen Sicherungssysteme, des Bundes-haushalts, der Länderhaushalte und der kommunalenHaushalte. Ich bin bereit, für all das die Verantwortungzu übernehmen, über was ich entscheiden kann. Aber esgibt Dinge, über die andere entscheiden. Deswegen sageich ausdrücklich: Bei der Konsolidierung der Sozialsys-teme, des Bundeshaushaltes, der Länderhaushalte undder Kommunen ist ein Zusammenwirken aller gefordert.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was in Europa und in Deutschland fehlt, ist nicht Sta-bilität. Deutschland ist in Sachen Stabilität der Muster-schüler der Europäischen Union.

(Lachen bei der CDU/CSU)

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Bundesminister Hans Eichel

Dabei bleibt es. Was aber fehlt, ist Wachstum – das istwahr –, und zwar im dritten Jahr infolge.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie sind ein Schauspieler! Ein schlechter obendrein!)

Deutschland hat als größte Volkswirtschaft in der Euro-päischen Union eine besondere Verantwortung.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist schon tragisch! Diese Rede ist tragisch!)

Auch kleinere Länder, die sehr lange auf einem ziem-lich hohen Roß gesessen haben, schauen inzwischensehr nachdenklich – das Pendel ist stark zur anderenSeite ausgeschlagen – auf ihr Wachstum und ihre Haus-haltsdefizite. Polen, die Beitrittsländer und die kleinerenLänder um uns herum stellen jetzt die Frage – es istnicht nur die eine von Herrn Balcerowicz, die ich gele-sen habe –: Was ist mit eurem Wachstum? Wir wollenaus diesem Loch endlich herauskommen. – Vor uns liegteine riesige Aufgabe.

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Was istdenn mit dem Wachstum? – Steffen Kampeter[CDU/CSU]: Ihre Politik wird in Schwedenals Argument gegen die Einführung des Euroangeführt! Das ist die Wahrheit!)

– An dem Beispiel Schweden sehen Sie, dass Sozialde-mokraten eine gute Politik machen; das ist überhauptkeine Frage.

Wir müssen ein großes Paket schnüren. Unsere Ant-wort liegt in dem Dreiklang von Strukturreformen,Haushaltskonsolidierung und Wachstumsimpulsen. Eswird in diesem Herbst für alle in diesem Lande sehr an-strengend werden, übrigens auch für die gesetzgebendenKörperschaften. Unsere Antwort wird in Brüssel wieauch beim Internationalen Währungsfonds verstanden.Stimmen von außerhalb Deutschlands sagen: Wir hättennicht gedacht, dass Deutschland in Bewegung kommt; inDeutschland geht es richtig voran.

(Lachen bei der CDU/CSU)

Darauf kommt es an.

(Zuruf von der CDU/CSU)

– Ich will gar nicht mehr über die Vergangenheit reden.Wenn ich das tun würde, dann müsste ich auch über IhreVergangenheit reden. Was soll denn das? Wir müssenvorankommen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Dass Sie von Ihren Taten ablenken wol-len, kann ich verstehen!)

Die Menschen wollen,

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Eine neue Regierung! Das würde alle freuen!)

dass das Land für die Zukunft fit gemacht wird, auchwenn es schmerzlich ist. Es gibt eben keine Medizin, dienicht bitter schmeckt.

Unsere Vorschläge liegen, wie Sie es immer geforderthaben, auf dem Tisch. Sie müssen sie nicht mögen. Wirhaben unsere Verhandlungsbereitschaft längst erklärt.Ich habe dem Finanzplanungsrat angeboten, eine ge-meinsame Arbeitsgruppe von Bund, Ländern und Ge-meinden einzurichten und über die Folgekosten vonBundesgesetzen zu reden. Die B-Seite war aber vor derBayernwahl nicht in der Lage, zu verhandeln. Was istdenn das für ein Verständnis von den Problemen in die-sem Land?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Damit komme ich zu Ihrer Verantwortung. Man kannder Meinung sein, dass die Opposition keine Vorschlägemachen muss; die Regierung muss Vorschläge machen.Das ist in Ordnung. Aber die meisten Entscheidungenkönnen im föderalen System – ich bin Föderalist, auchwenn ich inzwischen an manchen Stellen ein Fragezei-chen setzen würde – von Bundestag und Bundesrat, indenen es gegenwärtig unterschiedliche Mehrheiten gibt,nur gemeinsam getroffen werden.

(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das ist jaganz neu! – Volker Kauder [CDU/CSU]:Haben Sie von Lafontaine gelernt?)

– Ja, das ist ganz neu.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Als Sie imBundesrat blockiert haben, hörten sich IhreAusführungen anders an!)

Es gibt drei Möglichkeiten, wie Sie sich mit IhrerMehrheit verhalten können. Sie können erstens die Lan-desregierungen ihre verfassungsmäßige Pflicht tun las-sen. Das ist in Ordnung. Wir kommen damit klar, wennSie die Landesregierungen nicht an die parteipolitischeLeine legen wollen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie können zweitens eine Blockadepolitik machen – ichkomme gleich noch darauf zurück –, weil Sie sich nichteinigen können.

(Widerspruch bei der CDU/CSU – Zurufe von der CDU/CSU: Schröder! Lafontaine!)

Das ist aber unverantwortlich. Drittens können Sie eineigenes Konzept vorlegen, weil Sie, Frau Merkel, nichtwollen – das kann ich verstehen –, dass die Bundesparteiund die Union in den Ländern nicht einig sind. Aberdann müssen Sie auch ein Konzept auf den Tisch legen.Wo sind denn Ihre Vorschläge zu den Strukturreformenin diesem Land?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was ist denn Ihr Konzept zur Haushaltskonsolidie-rung beim Bund, bei den Ländern und Gemeinden? Wasist Ihr Konzept zum Vorziehen der Steuerreform? Was istIhr Konzept zur Gemeindefinanzreform? Wo sind diegemeinsamen Stellungnahmen der Union zu einigenSchwerpunkten der Haushaltskonsolidierung, zur Eigen-heimzulage, zur Entfernungspauschale und zu anderen

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Bundesminister Hans Eichel

Punkten? Wo ist das gemeinsame Konzept der Union,sehr verehrte Frau Merkel? Man hat gedacht: Die mo-geln sich durch – das kann ich politisch verstehen –, umbei den Wählern besser dazustehen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Erledigen Sie endlich einmal Ihre Arbeit!)

Denn nichts, was man jetzt auf den Tisch legt, ist ange-nehm. Das ist wahr; Medizin ist bitter.

Nach der Hessen- und der Niedersachsenwahl habeneine Reihe Unionskollegen gesagt, nun könne man an-fangen, miteinander zu reden. Nichts ist geschehen! Siehaben wieder Zeit gebraucht. Einen ganz kleinen Teildes Gesetzes zum Abbau von Steuervergünstigungen ha-ben Sie schließlich zuwege gebracht.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Weil ihr nichts zustande bringt!)

Dann war die Frage: Vielleicht geht es nach der Bremen-wahl? Es ging wieder nicht.

Jetzt heißt der neue Termin: Bayernwahl. Herr Kochund Herr Steinbrück werden nichts vorlegen, bevor dieBayernwahl nicht vorüber ist. Was heißt denn das? Dasheißt, dass Sie vor der Bayernwahl nicht sagen wollen,was Sie im Hinblick auf die Eigenheimzulage, die Pend-lerpauschale und viele andere Dingen vorhaben. Ist dasein Verhalten, das in dieser Situation unseres Landes an-gemessen ist?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir werden uns wohl damit abfinden müssen, dass dasso ist. Wir werden aber auch den Menschen im Lande sa-gen müssen, dass das so ist.

Nach der Bayernwahl ist definitiv Schluss: EntwederSie versündigen sich an diesem Lande – ich hoffe dasnicht –

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das haben wirvon Lafontaine gelernt! – Weitere Zurufe vonder CDU/CSU: Oh! – Pfui!)

oder Sie kommen nach der Bayernwahl mit einemschlüssigen Konzept oder Sie lassen die Landesregierun-gen ihre verfassungsmäßige Pflicht tun.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

So viele Reformnotwendigkeiten und – auch das sageich – so viele Reformmöglichkeiten wie gegenwärtig hates nie zuvor in Deutschland gegeben. Wir müssen diejetzige Situation, die verdammt schwierig ist, nutzen. Esbraucht eine große gemeinsame Kraftanstrengung in die-sem föderalen Staat. Das erwarten die Menschen und dasist unsere Verantwortung für dieses Land und fürEuropa.

Die Chancen stehen besser als je zuvor in den letztendrei Jahren, dass wir aus der Stagnation herauskommen,dass wir, wenn wir das zart keimende Pflänzchen desAufschwungs mit einer entschlossenen Politik der Struk-turreformen, der Haushaltskonsolidierung und der

Wachstumsimpulse richtig begießen, aus der Wachs-tumsschwäche herauskommen und wieder in ein ordent-liches Wirtschaftswachstum hineinkommen.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Mit Rot-Grün passiert das nie!)

Es kann gelingen und es wird gelingen, wenn Sie bereitsind, Ihren Teil der Verantwortung, der Ihnen nach derVerfassung über den Bundesrat zugewiesen ist, zu über-nehmen. Wir sind zu jedem vernünftigen Gespräch undauch zu Kompromissen, die in der Sache weiterführen,bereit.

Dies ist der Weg, Deutschland aus einer schwierigenLage herauszuführen. Lassen Sie uns das gemeinsam an-packen!

(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bevor ich die Aussprache eröffne, begrüße ich auf der

Tribüne den Präsidenten des Bundesrechnungshofes,Herrn Dr. Engels.

(Beifall)

Herr Engels, ich freue mich, dass Sie an diesen Beratun-gen teilnehmen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat dasWort der Kollege Friedrich Merz von der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Friedrich Merz (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion wurdeam Wochenende in verschiedenen Zeitungen aus derKlausurtagung der Fraktion der SPD am letzten Don-nerstag mit den Worten zitiert: Hans, das reicht erst mal!

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Diese Worte hätte man auch heute Morgen sagen kön-nen. Wahrscheinlich reicht es bald endgültig.

Herr Eichel, das, was Sie heute Morgen dargebotenhaben, war eine bizarre Veranstaltung:

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

30 Minuten Kritik an der Opposition!

(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Völlig zu Recht!)

Das Einzige, was Sie offensichtlich noch mit Ihrer Frak-tion und Ihrer Regierung verbindet, ist die Kritik an derOpposition.

(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie machen es uns auch leicht!)

Wer während Ihrer Rede – Herr Eichel, Sie konntenes nicht beobachten – das Mienenspiel der Regierung– insbesondere das des Bundeskanzlers – gesehen hat,

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Friedrich Merz

der konnte sich ein Bild davon machen, wie der Standdes Bundesfinanzministers in der Regierung ist.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Herr Bundeskanzler, Sie haben während dieser Rede ge-nauso wie in den letzten Tagen vor dem Abgang RudolfScharpings geschaut. Mit dem gleichen Gesichtsaus-druck haben Sie hier auf der Regierungsbank gesessen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie wissen doch, dass das, was heute vorgelegt wor-den ist, keinen Bestand hat. Sie wissen doch, dass wirhier einen Haushaltsentwurf beraten, dessen Grundlageschon überholt ist, bevor er überhaupt in der ersten Le-sung im Deutschen Bundestag beraten worden ist. Sie,Herr Eichel, wissen doch, dass es so ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das haben Sie sich wohl auf-schreiben lassen!)

Sie kämpfen hier ganz offenkundig Ihren letzten Kampf.Sie stehen mit dem Rücken zur Wand.

(Joseph Fischer, Bundesminister: Peinlich!)

Sie sind politisch, fachlich und auch persönlich geschei-tert.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Eine tragische Figur!)

Herr Eichel, in einer solchen Situation müsste die Oppo-sition eigentlich den Rücktritt des zuständigen Finanz-ministers fordern.

(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Ach, das ist ja langweilig! Sagen Sie etwas zurGemeindefinanzreform! – Joseph Fischer,Bundesminister: Peinlich!)

– Ich lasse mich durch Zwischenrufe normalerweisenicht irritieren, aber die Art und Weise, in der Sie, HerrBundesaußenminister, sich auf der Regierungsbank auf-führen, ist für einen Außenminister der BundesrepublikDeutschland unerträglich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es ist wirklich unerträglich, wie Sie auf der Regierungs-bank herumröhren. So hat sich noch kein deutscher Au-ßenminister benommen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Uwe Küster [SPD]: Sohat sich ein Herr Merz noch nie blamiert!)

Es ist noch kein Jahr her

(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie laufen ja davon!)

es war am 12. September 2002,

(Walter Schöler [SPD]: Da waren Sie noch Fraktionsvorsitzender!)

dass wir über den Bundeshaushalt 2003 beraten haben.Herr Finanzminister, Sie haben damals Ihren Konsoli-dierungskurs verteidigt und zehn Tage vor der Bundes-tagswahl – wohl wissend, dass die Zahlen eine ganz an-dere Sprache sprachen – hier im Deutschen Bundestaggesagt – ich zitiere –:

Nach 21,1 Milliarden Euro in diesem Jahr bleibt esbei der für 2003 geplanten Neuverschuldung inHöhe von 15,5 Milliarden Euro. An diesem Wertwerden wir festhalten.

Das Protokoll verzeichnet „Beifall bei der SPD sowiebei Abgeordneten des Bündnisses 90/Die Grünen“.

Als wir den Haushalt im März dieses Jahres verab-schiedeten – wissend, dass auch diese Zahlen schon wie-der überholt waren –, haben wir über 18,9 MilliardenEuro Neuverschuldung gesprochen und abgestimmt.Heute hätten Sie zunächst einmal dem Deutschen Bun-destag einen Nachtragshaushalt zum Haushalt 2003vorlegen müssen;

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

denn als Sie Anfang September der EU-Kommissionnach Brüssel richtigerweise die zu erwartende Defizit-überschreitung meldeten, wussten Sie auch, wie sich derHaushalt des laufenden Jahres 2003 bis zum Jahresendevoraussichtlich entwickeln wird.

Warum haben Sie heute keinen Nachtragshaushalt fürdas laufende Jahr 2003 vorgelegt? Sie hätten es tun müs-sen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie hätten dabei eingestehen müssen, dass Sie die Defi-zitgrenze des laufenden Budgets wegen der Minderein-nahmen bei den Steuern um 7 Milliarden und wegen deserhöhten Zuschusses an die Bundesanstalt für Arbeit um10 Milliarden Euro noch einmal überschreiten werden.Sie hätten eingestehen müssen, dass Sie bei der Arbeits-losenhilfe 2 Milliarden Euro drauflegen müssen undwahrscheinlich ein Liquiditätsproblem in der Rentenver-sicherung bekommen werden, sodass im Oktober wahr-scheinlich – erstmalig in der Geschichte der Bundesre-publik Deutschland – ein Zuschuss an die deutscheRentenversicherung gewährt werden muss, damit dieRenten überhaupt noch ausgezahlt werden können.

Sie hätten ferner darauf hinweisen müssen, dass Siebereits im laufenden Haushaltsjahr 2003 ein unkalkulier-bares Zinsrisiko tragen; denn der Schuldendienst desStaates hat sich in kürzester Zeit erheblich verteuert. DaSie zu Beginn Ihrer Amtszeit von den so genanntenLangläufern auf die Kurzläufer umgestellt haben, tragenSie kurzfristig ein Zinsrisiko für das laufende Haushalts-jahr 2003 in einem beträchtlichen Umfang und in einemnoch höheren für das Jahr 2004.

Das alles hätten Sie hier heute sagen müssen. Statt-dessen haben Sie eine halbe Stunde lang die Oppositionbeschimpft.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

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Friedrich Merz

Sie haben es erneut für richtig gehalten, die deutscheEinheit als Erklärung dafür heranzuziehen, warum Sieso große Schwierigkeiten haben. Im selben Atemzughaben Sie gesagt, dass wir in Deutschland im Jahr 2001– zu diesem Zeitpunkt war die deutsche Einheit bereitszehn Jahre her – ein hohes Wachstum gehabt haben.Danach ist das Wachstum in diesem Land abrupt einge-brochen. Das hat doch nichts mehr mit der deutschenEinheit zu tun! Es ist geradezu perfide, 17 MillionenDeutsche in den neuen Bundesländern für die Erklärungder Probleme in Anspruch zu nehmen, die diese Regie-rung hat. Die Probleme haben nichts mit den Menschendort und mit der deutschen Einheit zu tun, sondern mitIhrer Regierung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Franz Müntefering [SPD]: Sie sind frech unddumm! Das, was Sie hier gerade gemacht ha-ben, ist nicht in Ordnung! Das hat der Finanz-minister so nicht gesagt!)

– Herr Müntefering, ich sage Ihnen das zum wiederhol-ten Male von dieser Stelle aus: Wir lassen uns von Ihnen,von denjenigen, die damals abseits gestanden haben, alses darum ging, eine der größten Aufgaben dieses Landeszu bewältigen, keine Vorwürfe hinsichtlich einer fal-schen Finanzierung der deutschen Einheit machen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Franz Müntefering [SPD]: Sie sind frech unddumm!)

Meine Damen und Herren, es gibt gegenwärtig einenhochinteressanten Vortragszyklus an der Humboldt-Uni-versität zu Berlin. Zu diesen Vorträgen werden diejenigenMänner und Frauen eingeladen, die damals in der Treu-handanstalt gesessen haben – es war parteiübergreifendKonsens, dass das die richtigen Männer und Frauen ge-wesen sind – und die schwierigste Aufgabe im Zusam-menhang mit der deutschen Einheit – man muss bessersagen: bei der Überwindung der deutschen Teilung – zubewältigen hatten. In dieser Vortragsreihe brachten alleBeteiligten, die dort bisher gehört wurden, übereinstim-mend zum Ausdruck, dass die Finanzierungsmethode,wie sie von der Regierung Kohl/Waigel gewählt wordenist, nämlich ein Drittel über höhere Verschuldung, einDrittel über die sozialen Sicherungssysteme und ein Drit-tel über höhere Steuern – diese sind erhoben worden – zufinanzieren, damals richtig gewesen ist und dass sie auchaus der Rückschau zu keinerlei grundlegenden Korrektu-ren Anlass gibt. Das muss hier gesagt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Franz Müntefering [SPD]: Darum geht es dochüberhaupt nicht!)

Ich weiß, dass große Teile der Regierung dabei sind,die deutsche Geschichte umzuschreiben.

(Widerspruch bei der SPD und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, hier geht es nicht nur um dieDetails einer Haushaltsdebatte, hier geht es um ganzgrundlegende Richtungsentscheidungen für dieses Land.Mit diesen stereotyp wiederholten Vorwürfen an die frü-

here Regierung versuchen Sie, vergessen zu machen,was Sie damals im Deutschen Bundestag – er war nochin Bonn – zur Bewältigung dieser Aufgabe beigetragenhaben.

(Franz Müntefering [SPD]: Darum geht es doch überhaupt nicht!)

Es ist eine jämmerliche Leistung, die Sie damals er-bracht haben. Das wollen Sie heute alle miteinander ver-gessen machen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Bevor ich auf die Haushaltsdaten eingehe, muss ichnoch einige Bemerkungen machen, weil es der Bundes-finanzminister wieder einmal für richtig gehalten hat, dieOpposition und zum Teil auch mich persönlich zu kriti-sieren. Sie haben völlig zu Recht auf die demographi-sche Entwicklung hingewiesen, Herr Eichel. Aber werhat denn den demographischen Faktor in der Rentenver-sicherung eingeführt und wer hat ihn wieder abge-schafft? Das war nicht die Opposition, das war Ihre Re-gierung!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Jetzt führen Sie lauthals Klage darüber, dass ein Drittelder Ausgaben im Bundeshaushalt in die Rentenversi-cherung fließt. Wer hat das denn zu verantworten? Dochnicht die Opposition. Ihre fatale Fehlentscheidung, dieRentenreform so zu strukturieren, hat dazu geführt, dassmittlerweile mehr als ein Drittel der Rentenauszahlun-gen nicht mehr über Beiträge finanziert wird, sondernüber Steuern finanziert werden muss. Das Problem ha-ben Sie verursacht, Herr Eichel, nicht die Opposition.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das wusstenSie vor der Wahl!)

Sie haben hier etwas zur Gewerbesteuer gesagt. Siewaren nach den Koalitionsverhandlungen 1998 keinBundesminister – das wurden Sie erst später –, kennenaber sicherlich den dort verabschiedeten Koalitionsver-trag. In diesem Koalitionsvertrag zwischen SPD undBündnis 90/Die Grünen gibt es eine Verabredung, zurReform der Kommunalfinanzen eine Kommission ein-zusetzen. Das muss nicht immer falsch sein. Häufig stelltdie Einsetzung einer Kommission die Flucht aus der po-litischen Verantwortung dar, manchmal kann es aberauch richtig sein. Ich vermute, in diesem Fall war dieseEntscheidung richtig. Aber hätten Sie es nur getan. Eshat über drei Jahre gedauert, bis diese Kommission insLeben gerufen wurde. Sie ist im Juni 2001 berufen wor-den. Dann haben Sie dort anderthalb Jahre beraten. Essind sieben verschiedene Modelle diskutiert, zwei sindkonkret gerechnet worden.

Als dann die Bundesregierung – am 13. August wares wohl – ein eigenes Konzept vorlegte, waren alle Be-teiligten dieser Kommission hoch überrascht, dass nichtModell eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs oder sieben vor-geschlagen wurde, sondern ein achtes Modell. Plötzlichsaßen Sie mit Ihrem Vorschlag zur Gewerbesteuer zwi-schen allen Stühlen. Das ist doch nicht das Problem der

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4867

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Friedrich Merz

Opposition. Es ist Ihr Problem, Herr Eichel, dass Sie dieDinge nicht im Griff haben

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

und dass Sie selber nicht wissen, was Sie bei der Gewer-besteuer nun wirklich machen wollen, dürfen, sollenoder müssen. Ihr Entwurf ist Ihnen in der letzten Wochedoch nicht von unserer Fraktion aus der Hand genom-men worden, sondern von Ihrer.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Herr Bundeskanzler, da Sie so fröhlich schauen:

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Sie haben es für richtig gehalten, die Grünen bei dieserFraktionsklausur zu kritisieren und zum Besten zu ge-ben, was Sie da alles „zum Kotzen“ fänden. Mit Verlaub,angesichts dessen, was wenige Tage später die „Leipzi-ger Volkszeitung“ geschrieben hat, fällt es mir schwer,dem zu widersprechen:

Politisch aber, um in des Kanzlers Sprachgebrauchzu bleiben, darf man „zum Kotzen“ finden, was dieMächtigen bei Rot-Grün in Sachen Vertrauen undVerlässlichkeit zustande bringen. Allein die ange-kündigte Nachbesserung des nachgebessertenEichel-Clement-Vorschlages zur finanziellen Bes-serstellung der Gemeinden ist eine Zumutung.

Meine Damen und Herren, das richtet sich an Sie, nichtan die Opposition im Deutschen Bundestag.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Ihr Vorgehen war nicht gerade vertrauensbil-dend!)

Ich will Ihnen klar und deutlich sagen: Es gibt bei unsbei diesem sehr komplexen Thema in der Tat unter-schiedliche Auffassungen.

(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Ach, immer noch? – Katrin Göring-Eckardt[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Siedas immer noch nicht hingekriegt?)

– Entschuldigung, auch wir sind eine Volkspartei.

(Zuruf des Bundesministers Joseph Fischer)

– Jetzt meckert und lacht er wieder auf der Regierungs-bank herum! Ich weiß nicht, ob Sie etwas von Gewerbe-steuer und Kommunalpolitik verstehen, Herr Bundes-außenminister.

Dies ist in der Tat ein komplexes Thema. Aber einesist doch klar – insofern gibt es hier eine gemeinsameVerantwortung –:

(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja ganz neu!)

Wir wollen mit Ihnen zusammen

(Zuruf der Abg. Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

– Frau Scheel, auf Sie komme ich gleich auch noch –

(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Joseph Fischer, Bundesmi-nister: Er ist aber empfindsam!)

den Gemeinden im Jahr 2004 helfen. Den Gemeindenmuss geholfen werden. Wir machen hier erneut den Vor-schlag, die Gemeinden stärker an der Umsatzsteuer zubeteiligen und die Gewerbesteuerumlage abzusenken.

(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die wollen aber etwas anderes, Herr Merz!)

Wir machen auch den Vorschlag, den Gemeinden aufder Ausgabenseite zu helfen. Denn nicht nur auf derEinnahmenseite haben sie ein Problem, sondern nachmeiner Einschätzung sogar ein größeres auf der Ausga-benseite.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Aber glauben Sie denn im Ernst, dass nach einer lan-gen, fruchtlosen Debatte in der Regierung in den Mona-ten September, Oktober, November und Dezember einegrundlegende Reform der Kommunalfinanzen nochwirklich möglich ist? Was Sie jetzt diskutieren, wäre– wenn es denn verabschiedet würde, wenn wir sozusa-gen völlig willenlos all dem zustimmen würden, was Sieda machen – Pfusch und Flickwerk. Das ist doch keinewirkliche Reform.

Ich biete Ihnen deswegen noch einmal an: Lassen Sieuns gemeinsam den Gemeinden helfen.

(Franz Müntefering [SPD]: Für wen sprechenSie denn? – Katrin Göring-Eckardt [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sprechen Sie füralle? Haben Sie sich jetzt mit Ihrem Vorschlagdurchgesetzt? Das wäre neu!)

– Für uns.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

– Man kann nicht alle Papiere lesen, die im DeutschenBundestag vorgelegt werden. Herr Müntefering, das ge-stehe ich Ihnen gerne zu. Aber lesen Sie doch einmal dieAnträge, die die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dazu ge-stellt hat.

Wir haben Ihnen in Form eines Antrages den konkre-ten Vorschlag gemacht, den Gemeinden mit einer Ab-senkung der Gewerbesteuerumlage und mit einer höhe-ren Umsatzsteuerbeteiligung zu helfen. Wir stehen zudiesem Antrag. Sie brauchen dem nur zuzustimmen.Dann haben wir für das Jahr 2004 geholfen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, wir reden mit Ihnen leidernoch nicht über den Nachtragshaushalt 2003; das wirdirgendwann im November kommen, im Nachhinein. Wirreden jetzt über den Haushalt 2004. Jedenfalls solltenwir den Versuch unternehmen, einmal wieder über die-sen Haushalt zu sprechen.

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4868 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Friedrich Merz

Heute Morgen hat die Vorsitzende des Finanzaus-schusses im Radio ein Interview gegeben. Sie hat dabeierstaunlich offen eingeräumt,

(Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist so ein Plappermäulchen!)

dass es erhebliche Probleme mit einer der ganz wesentli-chen Grundvoraussetzungen für einen soliden Haushaltgibt, nämlich mit den Wachstumserwartungen für dasJahr 2004. In der dazugehörigen Agenturmeldung – ichhabe das Radiointerview nicht hören können – steht:

Nach Einschätzung der Grünen-FinanzexpertinChristine Scheel

– Vorsitzende des Finanzausschusses des DeutschenBundestages –

ist auch die Konjunkturannahme von 2 ProzentWirtschaftswachstum für 2004 überholt. Gegen einsolches Wachstum sprächen derzeit alle Indika-toren ...

(Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört! –Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist ja zumKotzen!)

– Zu solchen Äußerungen fällt einem dann wieder derBundeskanzler ein.

Uns wird heute, am 9. September, der Haushaltsent-wurf dieser Bundesregierung für das Jahr 2004 vorge-legt. Dieser basiert auf einer Wachstumsannahme derBundesregierung von 2 Prozent. Am selben Tag, zweiStunden bevor die Beratungen im Parlament beginnen,erklärt die Vorsitzende des Finanzausschusses des Bun-destages – eine Abgeordnete der Grünen! –, dass eineder wesentlichen Grundannahmen dieses Haushaltesnicht zu halten sei, da derzeit alle Indikatoren gegen siesprächen.

(Michael Glos [CDU/CSU]: So ist sie! – MaxStraubinger [CDU/CSU]: So sind die Grü-nen!)

Meine Damen und Herren, was sollen wir von einersolchen Politik halten?

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Nichts! –Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist zum Kot-zen!)

Ich sage Ihnen: Das, was Sie hier heute vorgelegt haben,ist keine beratungsfähige Grundlage. Damit verschau-keln und verladen Sie das ganze deutsche Parlament.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Merz, erlauben Sie eine Zwischenfrage

der Kollegin Scheel?

Friedrich Merz (CDU/CSU): Gerne.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön, Frau Scheel.

(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Jetzt korrigiert sie sich!)

Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Merz, ich finde es beachtlich, dass Sie die Agen-

turmeldungen so intensiv lesen. Ich bitte Sie allerdings:Wenn Sie schon zitieren, dann zitieren Sie auch zu Ende!Da Sie das nicht getan haben, will ich es gerne tun.

(Zurufe von der CDU/CSU: Frage!)

– Finden Sie nicht auch, dass es darum geht, was danachnoch kommt?

Als wichtigsten Punkt für den Haushalt 2004 be-zeichnete Scheel die anstehenden Entscheidungenzum Subventionsabbau.

Bezogen auf die Indikatoren steht dort vorher noch:

Es sei nun an der Politik, darauf zu reagieren.

Diese Reaktionen hat Hans Eichel in seiner Rede vorge-stellt.

(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Union ist aufgefordert – auch das steht in dieserAgenturmeldung –, die Karten auf den Tisch zu legen,damit das Wachstum, das wir erreichen müssen, tatsäch-lich erreicht werden kann.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Gott schütze mich vor einem solchen Koalitionspartner!)

Das gehört dazu, wenn man vollständig zitiert, unddazu stehe ich auch; ich halte es nämlich für richtig. Siesind am Zug. Sagen Sie uns endlich einmal Ihre Vor-schläge zum Haushalt 2004, zum Subventionsabbau undzur Gemeindefinanzreform. Davon haben wir bis heutenichts gehört.

Friedrich Merz (CDU/CSU): Frau Scheel, ich bin mir nicht ganz sicher, ob es nicht

besser gewesen wäre, wenn ich Ihnen diese Zwischen-frage nicht ermöglicht hätte; denn diese in eine Zwi-schenfrage gekleidete Wortmeldung hat noch einmal dasganze Dilemma Ihrer rot-grünen Finanzpolitik schlag-artig beleuchtet.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie haben in dem Interview, das Sie heute Morgen ge-geben haben,

(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Sie sind das Risiko!)

die Opposition aufgefordert, jetzt die Gesetze zu verab-schieden, die Grundlage für die Haushaltsplanung der ei-genen Regierung sind. Das zeigt doch das ganze Aus-maß des rot-grünen Regierungschaos, mit dem wir auchheute Morgen hier konfrontiert werden. Damit Sie in Ih-rer Koalition über die Runden kommen, appellieren Siean die Opposition, Gesetzen zuzustimmen, die noch gar

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4869

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Friedrich Merz

nicht eingebracht, erst recht nicht verabschiedet sind, dieaber bereits heute die Grundlage für die Daten IhresHaushaltsplans für das Jahr 2004 darstellen.

(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Reden Sie mal mit Ihren Kollegen in den Län-dern darüber, wie sie darüber denken!)

Frau Scheel, das, was Sie tun, ist abenteuerlich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren auf der Regierungsbank,nun legen Sie uns einen Haushalt vor, der, anders als imletzten Jahr, schon von den Plandaten her Art. 115 unse-res Grundgesetzes verletzt, weil die Ausgaben für In-vestitionen niedriger sind als das bereits in den Datenangelegte zusätzliche Defizit. Geplant sind Schulden inHöhe von 30,8 Milliarden Euro, bei Investitionen inHöhe von 24,8 Milliarden Euro.

Für das Jahr 2004 kommt erneut ein beachtliches zu-sätzliches Haushaltsrisiko hinzu: Sie werden erneutSteuerausfälle einbeziehen müssen; Sie werden einenZuschuss an die Bundesanstalt für Arbeit leisten müssen,der um 5 Milliarden höher sein wird, als Sie planen; Siewerden bei der Arbeitslosenhilfe drauflegen müssen undSie werden die Frage beantworten müssen, wie bei derRente Einsparungen in Höhe von 2 Milliarden realisiertwerden sollen.

Meine Damen und Herren, ich will Ihnen eine Kost-probe davon geben, wie diese rot-grüne Bundesregie-rung arbeitet.

Laut Haushaltsbegleitgesetz wird ein um 2 MilliardenEuro niedrigerer Zuschuss des Bundes für die Renten-versicherung veranschlagt. Das dafür notwendige Ge-setz, mit dem dieser Zuschuss zur Rentenversicherungum 2 Milliarden Euro reduziert werden soll, liegt unsnoch nicht vor. Trotzdem schreibt die Bundesregierungin dem angesprochenen Haushaltsbegleitgesetz Folgen-des:

Ausgehend von der beabsichtigten Stabilisierungdes Beitragssatzes zur Rentenversicherung in 2004bei 19,5 v. H. werden die allgemeinen Bundeszu-schüsse zur Rentenversicherung um 2 MilliardenEuro jährlich reduziert. Einzelmaßnahmen zur Ab-sicherung der Stabilisierung werden später durchÄnderungen des Sozialgesetzbuches umgesetzt.

Die dafür zuständige Ressortministerin, die es garnicht für nötig hält, heute Morgen hier anwesend zusein, denkt überhaupt nicht daran, Ihnen diese 2 Milliar-den Euro zusätzlich zur Verfügung zu stellen, HerrEichel, damit Sie diese 2 Milliarden Euro in den Haus-halt einstellen können. – So etwas nennt man unseriöseFinanzpolitik, Herr Eichel.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ganz unabhängig davon, wie Sie den Haushalt be-schließen und im nächsten Jahr umsetzen: Sie werden injedem Falle das Grundgesetz verletzen. Nun enthält dasGrundgesetz eine Ausnahmebestimmung, die eine sol-che Überschreitung der Defizitgrenzen erlaubt, undzwar zur – nicht „bei“! – Abwendung der Störung des

gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Wie immer ma-chen Sie es sich im Umgang mit Institutionen undGesetzen – hier dem Grundgesetz – relativ leicht undlassen einfach im Kabinett beschließen: Nach 2002 und2003 wird auch für 2004 die Störung des gesamtwirt-schaftlichen Gleichgewichts festgestellt.

(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Die Bundes-regierung ist gestört!)

So einfach kann man dies nicht machen; es war auchvom Grundgesetz nicht so vorgesehen. Denn erstensmüssen die Maßnahmen, die Sie beschließen, zur Ab-wendung der Störung des gesamtwirtschaftlichenGleichgewichts geeignet sein und zweitens muss dieStörung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts anden Fakten bemessen werden können.

Dazu hat Ihnen der Sachverständigenrat Folgendesaufgeschrieben, und zwar nicht vor drei oder vier Jahren,sondern in seinem Gutachten 2002/2003:

Der Sachverständigenrat sieht nicht, wie eine hö-here Nettokreditaufnahme geeignet sein könnte,mögliche Zielverfehlungen in Form eines zu gerin-gen Wachstums oder einer zu hohen strukturellenArbeitslosigkeit zu korrigieren. Allenfalls könnteeine höhere Staatsverschuldung bei einer schwerenRezession als geeignetes Instrument zur Abwehr ei-ner solchen Störung in Erwägung gezogen werden.Von einer Rezession kann gegenwärtig aber nichtgesprochen werden.

Wir haben keine Rezession. Wir haben rezessive Ten-denzen. In zwei Quartalen ist das Wachstum unter derNulllinie geblieben. Aber eine schwere Rezession ist dasnicht.

Im Übrigen befinden Sie sich in einem fundamentalenWiderspruch, wenn Sie auf der einen Seite für dasnächste Jahr ein Wachstum von 2 Prozent prognostizie-ren und auf der anderen Seite im Kabinett beschließen,die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtsfeststellen zu lassen. Diesen Widerspruch müssen Sieauflösen. Das passt nicht zusammen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Was nun allerdings aus meiner Sicht noch schwererwiegt als dieser rein innerstaatliche Vorgang – den kannman vielleicht noch unterschiedlich beurteilen –, ist diemassive erneute Verletzung des Maastricht-Vertrages.Sie haben eben in einer Nebenbemerkung gesagt: Das,was der spanische Ministerpräsident kann, können wirauch. Es macht die Sache nicht besser, dass es um je-manden geht, der uns politisch näher steht als Ihnen.Wenn die Bundesregierung bei den Verhandlungen überdie Agenda 2000 zu Beginn ihrer Amtszeit etwas härterund klarer verhandelt hätte, dann wäre das, was dort zu-gunsten Spaniens verabredet worden ist, nicht beschlos-sen worden. Das wird uns noch sehr lange belasten. Aberin Wahrheit geht diese Bemerkung über diesen eigent-lichen Sachverhalt weit hinaus.

Herr Bundeskanzler, Sie haben in der letzten Woche,unbemerkt von großen Teilen der Öffentlichkeit, in derBeachtung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes eine

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4870 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Friedrich Merz

Kurskorrektur eingeleitet, indem Sie darauf hingewiesenhaben, dass dieser Vertrag nicht Stabilitätspakt, sondernStabilitäts- und Wachstumspakt heißt. Das ist unter-schwellig mehrfach gesagt worden, darüber ist keinegrößere öffentliche Debatte geführt worden. Tatsächlichaber verändern Sie mit dem, was Sie gerade machen,nicht nur den Schwerpunkt innerhalb des europäischenStabilitäts- und Wachstumspaktes, sondern Sie walzenihn nieder.

Im Zusammenwirken mit Frankreich und Italien besei-tigen Sie dieses Korsett, das wir Deutsche damals mitbesonderem Nachdruck gefordert haben, weil wirwussten, was es bedeutet, eine stabile Währung habenzu müssen. Das wird jetzt von Ihnen infrage gestellt.Das Defizit wird nicht nur bei 3,8 Prozent, sondern beimehr als 4 Prozent im laufenden Jahr liegen und damitüberschreiten Sie die Defizitgrenze von 3 Prozent ein-deutig.

(Franz Müntefering [SPD]: Wie heißt denn nun der Pakt?)

– Der Pakt heißt Stabilitäts- und Wachstumspakt.

(Franz Müntefering [SPD]: Richtig!)

– Danke für den Zwischenruf, Herr Müntefering.

Die Möglichkeit eines Defizits von bis zu 3 Prozentist eben einer der automatischen Stabilisatoren, die füreine Zeit schwieriger Haushaltslage und Konjunktur imVertrag verankert wurden – in politisch normalen Zeitengeht der Vertrag von ausgeglichenen Haushalten bzw.Haushaltsüberschüssen aus –; diese 3 Prozent bedeutendoch gerade die Möglichkeit, in schwieriger Zeit dieStaatsverschuldung etwas zu erhöhen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie überschreiten diese Grenze jetzt, was der Vertragausdrücklich nicht zulässt. Im Zusammenwirken mitFrankreich und Italien wollen Sie ihn in Wahrheit besei-tigen, weil Ihnen Währungsstabilität weniger wichtig istals das Strohfeuer, das Sie mit dem, was Sie planen, inder Volkswirtschaft entfachen wollen.

Das ist der Rückfall in die kreditfinanzierten Kon-junkturprogramme der 70er-Jahre,

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!)

wie wir sie unter den Regierungen des BundeskanzlersWilly Brandt und des Bundeskanzlers Helmut Schmidtschon einmal hatten.

(Joachim Poß [SPD]: Dummes Zeug!)

An den Lasten der massiven Überschuldung der öf-fentlichen Haushalte tragen Bund, Länder und Gemein-den 30 Jahre später immer noch. Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu-rufe von der SPD: Unglaublich!)

Sie, Herr Bundeskanzler, sind dabei, genau die Poli-tik zu wiederholen, die Ihr Vorgänger Helmut Schmidteinmal mit den Worten charakterisiert hat: „Mir sind5 Prozent Inflation lieber als 5 Prozent Arbeitslosig-

keit.“ Am Ende seiner Regierungszeit hatte er von bei-dem mehr als 5 Prozent. Auf genau diesen Weg bege-ben Sie sich. Sie sind nicht mehr in der Lage, die fürunser Land notwendigen Strukturreformen durchzuset-zen, weil Sie sich am Anfang völlig vergaloppiert ha-ben und weil Sie plötzlich merken, dass Ihnen dieVolkswirtschaft zwischen den Fingern zerfließt und ins-besondere im Export und mit der Abwanderung vonUnternehmen aus Deutschland ein Trend eingesetzt hat,den Sie mit der Politik, die Sie machen, nicht korrigie-ren können.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei der FDP)

Das ist die Wahrheit über die Lage unserer Volkswirt-schaft: katastrophale Fehleinschätzungen hinsichtlichKonjunktur, Wachstumserwartungen und Arbeitsmarkt-entwicklungen!

Herr Eichel, Sie führen so beredt darüber Klage, dassdie Menschen im ersten Arbeitsmarkt nicht mehr genü-gend arbeiten. Ich will Ihnen sagen: Der wesentlicheGrund dafür ist, dass die Betroffenen, die Arbeitneh-mer, die Arbeitgeber und die Verbraucher, das Verhält-nis von Leistung und Gegenleistung im ersten Arbeits-markt nicht mehr als angemessen empfinden. Deshalbweichen sie in die Schattenwirtschaft aus. Das wer-den Sie mit noch so viel Reglementierung, Bürokratieund 12 000 zusätzlichen Beamten bei der Bundesan-stalt für Arbeit

(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: 16 000!)

niemals korrigieren können, wenn Sie nicht dafür sor-gen, dass sich reguläre Arbeit im ersten Arbeitsmarkt zuakzeptablen Bedingungen für alle Beteiligten wiederlohnt. Das ist der entscheidende Zugang zu mehr Wachs-tum und zu mehr Beschäftigung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich möchte zum Abschluss sagen: Sie machen es derOpposition mit der Art und Weise, wie Sie Politik betrei-ben und diesen Haushalt vorlegen, ziemlich leicht.Trotzdem macht es ziemlich wenig Freude, sich mit Ih-nen auseinander zu setzen, wenn man das hört, was Sieheute Morgen gesagt haben. Es erfüllt uns mit tiefsterSorge, was Sie diesem Land in den nächsten zwölf Mo-naten zuzumuten beabsichtigen. Was diese Bundesregie-rung anrichtet, wird dazu führen, dass sich die nachfol-genden Generationen

(Lachen bei der SPD)

wünschen werden, dass Sie schon früher zum Teufel ge-gangen wären, als es ohnehin bald der Fall sein wird.

Danke schön.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Bei-fall bei der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Poß von der

SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4871

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Joachim Poß (SPD): Herr Kollege Merz! Meine Damen und Herren! Herr

Präsident! Die 3 Prozent im Jahr 2004 können wir ein-halten

(Lachen bei der CDU/CSU)

– wie Sie selbst wissen –, und zwar dann, wenn Sie IhrenKurs der Obstruktion aufgeben und endlich Ihrer staats-politischen Verantwortung für Bund, Länder und Kom-munen gerecht werden.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Böse Opposi-tion!)

Dann können wir wirklich die 3 Prozent im Jahr 2004einhalten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das hat der Bundesfinanzminister auch heute im Einzel-nen dargestellt. Wünschenswert wäre es, wenn Sie sichbewegen und schon heute – vor der Bayernwahl – Sig-nale geben würden, dass Sie dieser Verantwortung end-lich gerecht werden wollen.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das hat doch mit der Bayernwahl überhaupt nichts zu tun!)

– Das ist doch das magische Datum. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie verstehenvon Bayern überhaupt nichts! – MaxStraubinger [CDU/CSU]: Die SPD kriegt so-wieso 20 Prozent!)

Heute haben Sie im Übrigen bewiesen, dass ökonomi-sche Zusammenhänge Ihre Sache nicht sind, finanzpoli-tische ohnehin nicht. Eines muss deutlich gesagt werden:Bei aller Härte in der Auseinandersetzung hat die Artund Weise, in der Sie heute den Bundesfinanzministerauch persönlich angegangen sind, Herr Merz,

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Zu Recht!)das Maß des Erträglichen und Akzeptablen bei weitemüberstiegen,

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

im Übrigen auch wider besseres Wissen. Man muss sichdabei schon die Frage stellen: Was bilden Sie sich ei-gentlich ein?

Hans Eichel hat als Bundesfinanzminister seit 1999Enormes geleistet und tut dies noch immer.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das gilt für die Haushaltskonsolidierung, den Umbauund die Modernisierung des Steuersystems wie auch dieReform des Bank- und Börsenwesens und der Finanz-verwaltung. Dafür gebührt ihm unser aller Respekt,meine Damen und Herren. Es ist schlicht unfair, die fi-nanziellen Probleme, die sich aus der wirtschaftlichenSituation – drei Jahre Stagnation – ergeben,

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Die ihr herbei-geführt habt!)

Hans Eichel anzulasten.

Wenn ich mir dagegen Ihre Bilanz anschaue, HerrMerz, komme ich zu dem Schluss, dass Sie mit HerrnEichel persönliche Probleme haben müssen. Ich kannmich an kein finanzpolitisches Gesetz erinnern, dem Siehier oder im Vermittlungsausschuss Ihren Stempel auf-gedrückt haben. Sie sagen immer, was Sie nicht wollen,aber nie, was Sie wirklich wollen. Konstruktiv waren Sienie, Herr Merz.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ich glaubeeher, dass Sie Probleme mit Herrn Merz ha-ben! Die politische Größe von Friedrich Merzwerden Sie nicht erreichen!)

Das werden Sie noch lernen müssen. Gefragt sind sach-orientierte Problemlösungen, aber außer blumigen Re-den haben Sie nichts bewirkt, Herr Merz. Das aber reichtnicht!

Im Übrigen scheuen Sie nicht davor zurück, zu täu-schen. Sie haben Hans Eichel vorgeworfen, dass er fürseine Finanzpolitik 17 Millionen Ostdeutsche in diePflicht genommen habe.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Das ist eine Täuschung, Herr Merz. Herr Eichel hat denSachverständigenrat zitiert, der auf die ökonomischenKonsequenzen der deutschen Einheit hingewiesen hat.Das ist die Wahrheit. Warum täuschen Sie im DeutschenBundestag die Öffentlichkeit?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben dem Einigungsvertrag im Deutschen Bun-destag mit voller Überzeugung zugestimmt. Wir habenaber stets auf die ökonomischen und sozialen Konse-quenzen hingewiesen. Wir haben auch 1990 – zu einemZeitpunkt, als Sie systematisch getäuscht und mit diesenMitteln auch die Wahlen gewonnen haben – die Wahr-heit gesagt. Das ist die historische Wahrheit über dasJahr 1990.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Im Übrigen zählen auch noch andere Tatsachen. Wirhaben tatsächlich in der Koalitionsvereinbarung 1998die Bildung einer Kommission zur Reform der Ge-meindefinanzen in Aussicht gestellt. Dann aber zogenEdmund Stoiber und Herr Teufel – andere haben sich ih-nen angeschlossen – mit der Forderung, den Finanzaus-gleich neu zu ordnen, vor das Bundesverfassungsgericht,Stichwort Solidarpakt II. Das waren die Töne, die auchin Ostdeutschland für Verstörung gesorgt haben. Erstnachdem wir diese Neuordnung gemeinschaftlich ge-schultert hatten, konnten wir uns der anderen Aufgabezuwenden, wie jeder wissen müsste, der sich mit Finanz-politik beschäftigt. Das ist die Wahrheit, meine Damenund Herren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

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4872 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Joachim Poß

Hinsichtlich der Gemeindefinanzen gilt das, wasPetra Roth am 4. September nach dem Gespräch mit Ih-nen, Frau Merkel und anderen festgehalten hat, nämlichdass Sie über dieses Thema einen Grundsatzstreit füh-ren. Wir setzen uns mit einem Modell auseinander; Siehingegen führen einen Grundsatzstreit. Frau Roth hatvöllig zu Recht festgestellt, dass ein Sofortprogrammniemals das ersetzen kann, was die Kommunen fordernund was wir ihnen gewähren wollen, nämlich eine um-fassende Gemeindefinanzreform zum 1. Januar 2004.

Darum geht es. Davon lenken Sie ab.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Bundesregierung hat am 13. August in mehrerenGesetzentwürfen ein umfassendes und detailliertes fi-nanz-, arbeitsmarkt- und sozialpolitisches Maßnahmen-bündel beschlossen, das von heute an Stück für Stück imBundestag beraten wird. Dieses Konzept bietet wichtigeLösungsschritte für zentrale aktuelle und strukturelleProbleme der Gesellschaft und der öffentlichen Finan-zen. In einem sehr schwierigen ökonomischen Umfeld,das der Bundesfinanzminister überhaupt nicht geleugnethat, hat Hans Eichel mit dem Haushaltsentwurf und demHaushaltsbegleitgesetz 2004 eine schlüssige und alterna-tivlose Konzeption vorgelegt. Von großer Bedeutungsind insbesondere seine Vorschläge zum nachhaltigenUmbau der Haushaltsstrukturen.

Was die Opposition angeht, so herrscht leider nachwie vor ein heilloses Durcheinander; es ist überhauptkein Lösungsansatz zu sehen. Auch Herr Merz hat einensolchen Lösungsansatz nicht geliefert, wie jeder, der zu-hören kann, gemerkt haben wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wo ist denn ein konkretes, ein realistisches, ein einver-nehmliches Maßnahmenbündel der Union zur Sicher-stellung der dauerhaften finanziellen Handlungsfähigkeitvon Bund, Ländern und Kommunen? Jede Maßnahme,die wir hier vorschlagen und die helfen könnte, wird vonvornherein abgelehnt. Das ist weder konstruktiv nochverantwortungsvoll und schon gar nicht zukunftssi-chernd. Wo ist also die Strategie der Union zur nötigenschnellen Belebung der Wirtschaft? Was ist aus denWahlversprechen der Union geworden, die Steuern stär-ker und schneller zu senken? Haben Sie all Ihre Wahl-versprechen – Programm „3-mal 40 Prozent“ etc. – ein-gesammelt? Dann erklären Sie doch einmal deutlich,dass Sie vor der Wahl Versprechungen gemacht haben,von denen Sie wussten, dass Sie sie niemals würden ein-halten können. Das ist die Wahrheit, meine Damen undHerren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Im Bundestagswahlkampf galt Ihnen das Senken vonSteuern noch als ökonomisches Allheilmittel. Da müss-ten Sie uns jetzt doch ohne Wenn und Aber zustimmen,wenn die bereits vor Jahren beschlossene Steuerentlas-tung 2005 um ein Jahr vorgezogen wird.

Seit Jahren redet die Union vom notwendigen Sub-ventionsabbau. Welche Maßnahmen sie aber konkretdamit meint, verschweigt sie bis heute. Auch heute, inder Rede von Herrn Merz, war wieder kein konkreterVorschlag zum Subventionsabbau, nur heiße Luft – dasist das Programm der Union.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Immer wenn wir etwas vorschlagen – Hans Eichel hatdas heute Morgen noch einmal unterstrichen –, findenSie sofort irgendwelche Gründe, diese Vorschläge abzu-lehnen. Wann wollen Sie endlich mit dieser Blockadeaufhören? Wird das wirklich nach der Bayernwahl sein?Bisher, noch im Frühjahr, war es doch so, dass jeglicherAbbau von steuerlichen Privilegien und steuerlichenSubventionen von Ihnen gleich als Steuererhöhung dis-kreditiert und torpediert wurde. Damit haben Sie übri-gens – was öffentlich gar nicht so bekannt ist – Maßnah-men für eine größere steuerliche Gerechtigkeitverhindert, zum Beispiel zur verstärkten Bekämpfungvon Steuerhinterziehung und zur Besteuerung von Ver-äußerungsgewinnen. Sie, die Union, verhindern mehrsoziale und steuerliche Gerechtigkeit in der Bundesre-publik Deutschland. Das müssen die Menschen wissen,auch diejenigen, die Ihnen in den Umfragen zustimmen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Union ist im Übrigen nicht erst im Bundesrat ge-fragt, sondern bereits hier im Parlament. Wir brauchenbereits hier verbindliche Antworten von Ihnen. FrauMerkel wird diese Antworten morgen sicherlich geben.Herr Merz war dazu nicht in der Lage. Das war womög-lich ein Grund, weshalb er von der Spitze der Fraktionverschwinden musste: Er war nicht in der Lage, Antwor-ten zu geben. Frau Merkel ist jetzt aber gefordert, dieseAntworten zu geben. Wir warten also gespannt. Wennheute keine Antworten kommen, wollen wir morgenAntworten von dieser Opposition hören. Die Bevölke-rung hat ein Recht darauf, konkrete Antworten zu hören.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir brauchen also eine Oppositionsfraktion im Bun-destag, die sich ihrer Verantwortung stellt. Es kann dochnicht sein, dass sich eine große Volkspartei wie die CDUin fast allen wichtigen Fragen zu keiner eindeutigenMeinung durchringen kann oder will, nur weil ihrem re-gionalen bayerischen Partner, der CSU, Landtagswahlenwichtiger sind.

(Lachen des Abg. Max Straubinger [CDU/CSU])

Unsere Vorschläge zu den wichtigen Problemen undHerausforderungen liegen in detaillierten Gesetzesinitia-tiven auf dem Tisch. Zum einen geht es dabei um dieAntwort auf strukturelle Probleme. Zum anderen geht esum die richtige Reaktion auf kurzfristige konjunkturelleProbleme.

Auch wenn es bei den Strukturreformen der Agenda2010 erst um mittel- und langfristige Wirkungen geht,bedeutet das nicht, dass die Umsetzung der Struktur-

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reformen noch weiter aufgeschoben werden darf. Verzö-gerungen bei der Umsetzung der Strukturreformen – vonwem auch immer zu verantworten – werden zu einerweiteren Verunsicherung der privaten Investoren undKonsumenten führen und so die konjunkturelle Entwick-lung in den nächsten Monaten negativ beeinflussen. Dasist die Wahrheit.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert)

Wenn auch Sie die wirtschaftliche Entwicklung zum Gu-ten wenden wollen, dann müssen Sie eine andere Hal-tung einnehmen, dann müssen Sie die Haltung teilen,wie sie zunehmend – das ist auch erkennbar – in derWirtschaft eingenommen wird. Ihr Weg des Schwarzma-lens hat uns zusätzliche Probleme beschert. Ich hoffe,dass Sie diesen Weg bei den jetzigen Haushaltsberatun-gen verlassen werden. Es wird höchste Zeit.

Wir haben als Ergänzung zu unserer Haushaltskonso-lidierungspolitik und der Agenda 2010 vorgeschlagen,die für 2005 geplante Steuerentlastungsstufe auf den1. Januar 2004 vorzuziehen. Nicht das Vorziehen, aberdie Entlastungsstufen hatten wir schon vor Jahren be-schlossen. Herr Merz wird sich bestimmt noch gut an diebemerkenswerte Bundesratssitzung vom 14. Juli 2000erinnern.

(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Sie können dasnicht mehr bezahlen, Herr Poß! Das ist IhrProblem!)

Durch das Vorziehen der für 2005 geplanten Steuer-entlastungsstufe – das ist keine übertriebene Maßnah-me – sollen diejenigen Kräfte gestärkt werden, die einekonjunkturelle Belebung in den nächsten Monaten er-warten lassen. In diesem Zusammenhang werden wiruns über die Auslegung von Art. 115 des Grundgesetzesauseinander setzen müssen, also darüber, ob das eine ge-eignete Maßnahme ist, um die Störung des gesamtwirt-schaftlichen Gleichgewichts abzuwenden. Wir sind derMeinung, dass das eine geeignete Maßnahme ist. Da derStaat darüber hinausgehend nicht so viel im Köcher hat,haben wir das vorgeschlagen.

Die Union scheint uns im Grundsatz zuzustimmen.Bei dem vielstimmigen Chor der Unionssprecher ist esaber nicht immer einfach zu erkennen – sicher ist esschon gar nicht –, ob die Union das Vorziehen tatsäch-lich will. Auch darüber gab es in der bisherigen Debattekeinen Aufschluss von Herrn Merz. Die Steuerpflichti-gen werden jedenfalls durch das Vorziehen bereits imnächsten Jahr um 22 Milliarden Euro entlastet. Das isterheblich mehr als das, was im nächsten Jahr durch dasKonsolidierungspaket aus dem Wirtschaftskreislauf he-rausgenommen wird. Deshalb wird der stagnierendenWirtschaft damit bereits kurzfristig ein starker positiverImpuls gegeben, der helfen wird, das von uns ange-strebte Wirtschaftswachstum von 2 Prozent zu erreichen.Wir wissen, dass es keine Garantie für mehr Konsumund Investitionen gibt. Aber das Vorziehen bietet einegute Chance auf eine notwendige Stimmungswende undauf eine tragfähige Wirtschaftsbelebung. Bei ehrlicherund realistischer Betrachtung hat die Finanzpolitik kurz-fristig kein anderes Instrument, das ähnlich gute Erfolgs-

chancen bietet wie das Vorziehen der letzten Steuerent-lastungsstufe.

Mit dem Vorziehen bleiben wir in der Kontinuität un-serer Steuerpolitik seit 1998/99. Im Mittelpunkt unsererSteuerpolitik stand und steht die stetige Entlastung vorallem der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der Ge-ringverdiener, der Familien mit Kindern sowie des Mit-telstandes. Ich möchte Ihnen zwei Beispiele für Entlas-tungen nennen:

(Zuruf von der CDU/CSU: Ökosteuer!)

Ein Ehepaar mit zwei Kindern und einem zu versteuern-den Einkommen von 30 000 Euro wird nach geltendemRecht 2005 im Vergleich zu 1998 bei den Steuern um2 616 Euro entlastet. 2 616 Euro zusätzlich für die Fa-milie eines Durchschnittsverdieners! Ein verheirateterBäckermeister – Mittelstand! – mit einem Gewinn vorSteuern von 35 000 Euro wird 2005 im Vergleich zu1998 um 2 202 Euro entlastet. Wenn es nach uns geht,dann wird es diese Entlastungen durch das Vorziehenbereits 2004 geben. Blockieren Sie also nicht diesenSchritt, der für viele Normalverdiener, für Familien mitKindern und für den wirtschaftlichen Mittelstand wich-tig ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: In der Demokratie Blödsinn zu verhin-dern ist keine Blockade!)

– Herr Kampeter, Sie sind heute Morgen offenkundighierhin gesetzt worden, um nicht ganz saubere Bemer-kungen zu machen.

Die Menschen jedenfalls werden die Entlastungenmerken. Ihre Blütenträume angesichts der schönen Um-fragewerte werden sich schnell verflüchtigen, wenn dieMenschen immer mehr begreifen, dass Sie aus eigen-süchtigen, parteipolitischen und taktischen Gründen das,was jetzt wirtschaftlich notwendig ist, blockieren. DieseRolle spielen Sie und das spricht sich immer mehr he-rum.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Unsere Bitte lautet deswegen: Sortieren Sie sich jetztkonzeptionell und personell! Sie sind nämlich nicht auf-gestellt. Frau Merkel, Herr Stoiber, Herr Koch, auchHerr Merz, Sie sollten endlich etwas mehr als den partei-internen Kampf um Ihre eigenen Karrieren in den Blicknehmen. Das haben die Bürgerinnen und Bürger schonverdient.

Auch im kommenden Jahr – das wissen wir – werdendie Nachwirkungen der weltweiten und mehrjährigenkrisenhaften Konjunkturentwicklung sowohl bei denSteuereinnahmen als auch bei den Sozialausgaben zuspüren sein. Das gilt für alle öffentlichen Haushalte. Daalle öffentlichen Haushalte von der dreijährigen Stagna-tion betroffen sind, bieten die Beschlüsse der Bundesre-gierung vom 13. August dieses Jahres ganz folgerichtigan mehreren Stellen Maßnahmen an, die zur fiskali-schen Entlastung nicht nur des Bundes, sondern auch der

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Länder und der Kommunen führen würden. Herr Eichelhat diese Maßnahmen benannt.

Wenn Sie also auch den von Ihnen geführten Ländernund Kommunen etwas Gutes tun wollen, dann verlassenSie Ihre bisherige Haltung. Was die Bundesregierungvorgeschlagen hat, ist auch im Interesse der von Ihnengeführten Länder und Kommunen.

(Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Warum habt ihr es dann abgelehnt?)

Wie im Vermittlungsverfahren zum Steuervergünsti-gungsabbaugesetz im Mai dieses Jahres zwischen denBeteiligten parteiübergreifend vereinbart worden ist, sollder nach wie vor erhebliche steuerliche Gestaltungs-spielraum bei der Körperschaftsteuer vermindert undsomit das Körperschaftsteueraufkommen nachhaltig sta-bilisiert werden. Ich hoffe, dass Sie Ihre Propaganda ausdem Bundestagswahlkampf 2002 nicht vergessen, wennwir im Vermittlungsausschuss demnächst wieder darüberverhandeln, dass Sie nicht alles wieder vergessen, wasSie den Menschen erzählt haben, dass Sie wirklich mit-machen, wenn es um die Stabilisierung des Körper-schaftsteueraufkommens geht. Bei Ihnen sind Reden undHandeln nämlich immer zweierlei. Wir werden Sie andiesem Punkt stellen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zu diesen – erforderlichen – Maßnahmen liegen seitdem 13. August dieses Jahres ausformulierte Gesetzes-änderungen vor.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Schlampige Texte haben Sie vorgelegt!)

– Nein, ausformulierte, gute Texte,

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU –Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das von Ih-nen, Herr Poß! Oh Gott, oh Gott!)

auch zu den Sondertatbeständen Eigenheimzulage undEntfernungspauschale. Dazu hat der Bundesfinanzminis-ter hier ausreichend Stellung genommen.

(Dr. Uwe Küster [SPD] zu Abg. SteffenKampeter [CDU/CSU] gewandt: SchlampigeZwischenrufe, Herr Kampeter!)

Wir werden uns in den weiteren parlamentarischen Bera-tungen im Bundestag und auch im Bundesrat noch ein-gehend damit beschäftigen. Wir werden uns damit auchnoch koalitionsintern beschäftigen. Dabei gilt eine Ziel-richtung, der Sie sich eigentlich anschließen müssten:Jede Änderung der Regierungsvorschläge muss sicher-stellen, dass die beabsichtigten Entlastungen für dieHaushalte von Bund, Ländern und Kommunen soweit wie möglich erhalten bleiben.

Ich gehe davon aus, dass sich die unionsgeführtenLänder – jedenfalls die meisten – im Bundesrat dieseneinnahmeverbessernden Maßnahmen nicht mehr verwei-gern werden, nachdem ihnen ihre eigene Haushaltslagein den letzten Wochen schmerzhaft deutlich geworden

ist. Da von Etatrisiken die Rede war, will ich hier nocheinmal unterstreichen: Das größte Etatrisiko ist dieUnion selbst, und zwar auf allen staatlichen Ebenen,wenn sie die notwendigen Einnahmeverbesserungenweiterhin blockiert.

Bei den Ausführungen von Herrn Merz zum Stabili-täts- und Wachstumspakt ist der Eindruck entstanden,als trüge insbesondere der Bund die Verantwortung fürdie Einhaltung der Kriterien. Auch Herr Austermann hatsich kürzlich in ähnlicher Weise geäußert. Nein, die Ein-haltung dieser Obergrenze liegt in der Verantwortung al-ler: des Bundes, der Länder, der Kommunen und der So-zialversicherungen. Das Ergebnis wird eben nicht nurvon der Haushaltspolitik des Bundes und von HerrnEichel bestimmt.

(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Aber der größte Sünder ist der Bund!)

Ich erinnere daran, dass die Länder diese Verpflichtungmit ihrer Zustimmung zum Maastricht-Vertrag ausdrück-lich übernommen haben. Also kann diese Verantwortungnicht in billiger Weise beim Bundesfinanzminister abge-laden werden.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Wenn immermehr Sozialhilfeempfänger produziert werden,dann können die Kommunen nicht sparen!)

Es kann nicht sein, dass der europäische Stabilitäts- undWachstumspakt von den teilnehmenden Staaten ein „Hi-neinsparen in die Krise“ verlangt. Darüber sollte eigent-lich bei allen Klarheit bestehen. Bei sorgfältigem Lesendes Maastricht-Vertrages kann man feststellen, dass dereuropäische Stabilitäts- und Wachstumspakt den kon-junkturellen Erfordernissen gegenüber alles andere alsblind ist.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Poß, gestatten Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Schauerte?

Joachim Poß (SPD): Ja, gern.

(Zurufe von der CDU/CSU)

Hartmut Schauerte (CDU/CSU): – Ich versuche es. Ich gebe die Hoffnung, dass er bei

der Wahrheit bleibt, einfach nicht auf.

Herr Kollege Poß, Sie haben gerade mit Recht aufeine Mitverantwortung der Länder bei der Einhaltungdes Stabilitätspakts verwiesen. Das ist in Ordnung. SindSie mit mir der Meinung, dass die Hauptverantwortungdafür dennoch beim Bund liegt? Sind Sie nicht ebenfallsmit mir der Meinung, dass es besonders erstaunlich ist,dass sich die sozialdemokratisch regierten Länder in derBundesrepublik bei der Überschreitung der für die Neu-verschuldung geltenden Höchstgrenze in besondererWeise schuldig machen, während das Land Bayern indieser Frage sehr gut dasteht und alle Kriterien einhält?

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Joachim Poß (SPD): Die bemerkenswertesten Abweichungen der letzten

Jahre sind eindeutig im Fall Hessen festzustellen. Sievon der CDU/CSU haben in der Zwischenzeit leider dasSaarland sozusagen politisch erobert. Das Saarland undBremen waren Sonderfälle. Ansonsten kennen wir Län-der mit besonderen Strukturproblemen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie stottern sich an der Wahrheit vorbei!)

Das Problem auf die Frage der Parteifarbe zu reduzieren,wie Sie das wollen, lenkt hier ab. Der größte Sünder derletzten Jahre, was die Abweichungen angeht,

(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das ist Nordrhein-Westfalen!)

ist derjenige, der – so hat er es versprochen – „brutalst-möglich“ sparen will, nämlich Roland Koch. So viel zuIhrer Frage.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Reden Sie mal mit Herrn Steinbrück!)

Es kann doch niemand ernsthaft behaupten, dass dievon der Regierung Kohl und insbesondere vom damali-gen Bundesfinanzminister Waigel ausgegangene deut-sche Initiative zu einem europäischen Stabilitäts- undWachstumspakt die europäischen Partner zu einem öko-nomisch unsinnigen Verhalten zwingen wollte. Ich binsicher, dass die europäischen Partnerstaaten zusammenmit der Europäischen Kommission für eine ökonomischund politisch verantwortungsvolle Anwendung des Pak-tes und der mit ihm verbundenen Vorschriften sorgenwerden, die beidem gerecht wird, dem Stabilitäts- unddem Wachstumsgedanken.

Von zentraler Bedeutung für das gesellschaftliche Le-ben und auch für die ökonomische Entwicklung inDeutschland ist, dass es uns gelingt – davon wurdeschon gesprochen –, den Kommunen eine nachhaltigefinanzielle Perspektive zu geben. Ich will hier noch ein-mal unterstreichen: Die Kommunen – darüber sind sichdie Kommunalvertreter parteiübergreifend einig – brau-chen eine stabile und nachhaltig sichere Einnahme-quelle. Ein Sofortprogramm ist kein Ersatz dafür. Bun-desregierung und Regierungskoalition wollen, dass dieKommunen schon im nächsten Jahr erheblich und mitnachhaltiger Perspektive entlastet werden. Auch dafürgilt angesichts der Mehrheiten im Bundesrat: Wir kön-nen im Sinne der Kommunen nur erfolgreich sein, wenndie Mehrheit im Bundesrat mitspielt.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Es geht hiernicht um „spielen“, es geht um die Verantwor-tung für unser Land!)

Wenn Sie es mit den Bürgerinnen und Bürgern in denStädten und Gemeinden gut meinen, meine Damen undHerren, dann dürfen Sie nicht das machen, was sich hierandeutet: Sie gönnen der Bundesregierung nicht, einenpolitischen Erfolg zu erzielen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Es geht dochnicht um „gönnen“, es geht um unser Land,Herr Poß!)

Sie gönnen uns von der Koalition nicht, dass wir – zumersten Mal seit 30 Jahren – eine umfassende Gemeinde-finanzreform in Gang setzen. Deshalb wollen Sie hierblockieren. Das ist verantwortungslos! Das müssen dieBürgerinnen und Bürger wissen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich sage das vor dem Hintergrund anstehender Pro-teste in den Städten und insbesondere hier in Berlin, woEinrichtungen geschlossen werden müssen. Wir könnenes für die Kommunen richten, wenn sich die Union unddie FDP ihrer Verantwortung entsprechend verhalten.Bisher ist das nicht gewährleistet.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Regieren Sie oder wir? Wer regiert denn?)

In dem Sinne, meine Damen und Herren, wünsche ichmir noch viel Aufschluss und konstruktive Beiträge vonder Opposition im weiteren Verlauf der Haushaltsde-batte. Ich bin gespannt, ob demnächst jemand aus IhrenReihen das, was der Bundesfinanzminister konkret vor-geschlagen hat, konstruktiv aufgreift

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Der hat doch nur die Opposition beschimpft!)

und die Linie verlässt, die Herr Merz hier heute Morgenwieder angedeutet hat: täuschen, diffamieren, aber jedekonkrete Antwort gegenüber der Wahlbevölkerung ver-weigern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Bevor ich dem Kollegen Rexrodt als nächstem Red-

ner das Wort erteile, möchte ich einen kleinen Hinweisgeben. Mir liegen aus gegebenem Anlass Auszüge ausdem Wortprotokoll der heutigen Sitzung vor, in denensowohl aus den Reihen der Koalition als auch aus denReihen der Opposition gelegentlich Zwischenrufe ver-merkt sind, die man als persönlich herabsetzend verste-hen könnte. Ich will das zu Beginn dieser Debatte mitdem Energieüberschuss aus der Sommerpause entschul-digen und nicht ausdrücklich rügen, werbe aber dafür,dass wir im weiteren Verlauf der Haushaltsdebatte dienötige Schärfe in der Auseinandersetzung mit persönli-chem Respekt verbinden. Ich bin sicher, das bekommtdem Klima der Debatte und schadet der angestrebtenVerdeutlichung der Standpunkte nicht.

Nun hat der Kollege Rexrodt für die FDP-Fraktiondas Wort.

(Beifall bei der FDP)

Dr. Günter Rexrodt (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie, Herr

Präsident, geben mir ein gutes Stichwort. Herr KollegePoß, anstatt über den Haushalt zu sprechen, stellen Siesich hier 25 Minuten hin und beschimpfen die Opposi-tion. Nichts anderes haben Sie gemacht. Dann bezeich-nen Sie deren Kritik am Desaster Ihrer Finanz- und

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Dr. Günter Rexrodt

Haushaltspolitik als im Maß überzogen. Das Einzige,was alle Maßstäbe sprengt, ist das Ergebnis Ihrer Fi-nanz- und Haushaltspolitik. Es ist nicht mehr akzeptabelund ein Desaster, was Sie uns hier als Haushaltsentwurf2004 vorlegen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Es handelt sich nicht mehr nur um ein Zahleninferno,das einigen wenigen Fachleuten zugänglich ist, sonderndieses betrifft die Menschen in unserem Land, die immerhäufiger über schlechte Straßen und unpünktliche Zügeklagen; es trifft die jungen Wehrpflichtigen, die nichteinmal mehr eine Fortbildungsmaßnahme oder einenLehrgang bezahlt bekommen; es trifft die Unterneh-mensgründer und die kulturellen Einrichtungen; es trifftin besonderer Weise die neuen Länder.

Aus einem Land, das mit der Wiedervereinigung einegroße Herausforderung geschultert hat und nach vorneorientiert war, ist in wenigen Jahren ein Gemeinwesengeworden, in dem sich Verzagtheit breit gemacht hat unddem es an Vertrauen in die Zukunft mangelt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Darüber kann sich niemand freuen. Ich bin, Herr Eichel,sogar bereit, zuzugestehen, dass ich den allenthalben an-zutreffenden Pessimismus in seiner überzogenen Formund die Schwarzmalerei in ihrer überzogenen Form fürnicht berechtigt halte. Wir sind in vielen Bereichen im-mer noch ein leistungsfähiges Land. Wir sind aber nichtwegen, sondern trotz der rot-grünen Politik in den letz-ten fünf Jahren so leistungsfähig. Das ist Fakt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die Art und Weise, wie Sie, Herr Eichel, die Misere er-klären, indem Sie nämlich sagen, das Ganze sei mehroder weniger das Ergebnis einer schlechten weltwirt-schaftlichen Lage und des von der alten Koalition über-nommenen Schuldenberges, ist töricht und unverantwort-lich. Es muss sich angesichts dessen niemand wundern,dass der Vertrauensschwund in die Regierung immerstärker wird. Die schlechte wirtschaftliche Lage inDeutschland ist hausgemacht: Das Hinterherhinken inden letzten drei Jahren hinter den USA um durchschnitt-lich 2 Prozent und um etwa 1,5 bis 2 Prozent hinter demDurchschnitt der EU hat zu einer Wachstumslücke inDeutschland, die in der Summe 70 Milliarden Euro aus-macht, und zu einem Verlust von Arbeitsplätzen in einerGrößenordnung von mindestens 500 000 in diesen dreiJahren geführt. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.

(Jörg-Otto Spiller [SPD]: Über zehn Jahre, Herr Rexrodt, nicht über drei Jahre!)

– Den Maßstab, den ich anlege, müssen Sie mir überlas-sen. Tatsache ist, dass wir bedingt durch den Vereini-gungsboom bis 1995 ein überdurchschnittliches Wachs-tum hatten, dass wir im Jahre 1998 mit 2,7 ProzentWachstum wieder an der Spitze in Europa lagen, wassich in 1999 und 2000 fortsetzte, aber das Wachstum da-nach so tief wie noch nie zuvor einbrach. So stellen sichdie Fakten dar, Herr Spiller.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dabei hat Rot-Grün in den ersten beiden Jahren, dennoch fetteren Jahren, die Haushaltspolitik wie eine Mons-tranz vor sich hergetragen. Der Bundeskanzler und HansEichel konnten sich gar nicht einkriegen, als es darumging, den Menschen weiszumachen, dass sie gewisser-maßen die Erfinder der Konsolidierung und des Sparkur-ses seien, und es ist so getan worden, als sei das Wort Ge-nerationengerechtigkeit von Rot-Grün geradezu erfundenworden. Dabei waren Sie in den 90er-Jahren nie so fair– ich erinnere mich noch an die Jahre 1999/2000 –, diebesondere Herausforderung durch die Wiedervereini-gung, die zu diesen hohen Schulden geführt hat, anzu-erkennen. Heute führen Sie in Ihrer Not ebendieses Ar-gument für die Ergebnisse in Ihrer Regierungszeit an.Außerdem führen Sie als Argument – das zu drei Vier-teln falsch ist – die schlechte weltwirtschaftliche Ent-wicklung an. Aber Deutschland ist im Weltmaßstab wirt-schaftlich erfolgreich, weil die Zahl unserer Exporteenorm hoch ist. Von den Exporten kommen eher bele-bende Impulse in unsere Volkswirtschaft. Das ist einFaktum. Deshalb kann die weltwirtschaftliche Lagenicht zur Entschuldigung Ihrer verfehlten Wirtschafts-,Arbeitsmarkt- und Finanzpolitik herangezogen werden,Herr Finanzminister.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Fakten sind sehr bitter für Sie; aber Sie könnensie hier nicht mit verwirrenden Relationen, wie sie vorallen Dingen Herr Poß verwendet, verschleiern. Im Kernmuss sich Wirtschafts- und Finanzpolitik daran messenlassen, wie sich das Bruttoinlandsprodukt und der Ar-beitsmarkt entwickeln und ob wir am Ende auf Pumpleben oder nicht. Daran müssen Sie sich messen lassen.

Es bedarf nur weniger Bemerkungen, um das traurigeErgebnis Ihrer Politik zu beschreiben: Das Brutto-inlandsprodukt hinkt hinterher und wird in diesem Jahreher schrumpfen als wachsen. Die jahresdurchschnittli-che Arbeitslosigkeit erreicht 2003 mit voraussichtlich4,4 Millionen Arbeitslosen ihren traurigen Höhepunktund eine Besserung ist nicht abzusehen. Die Steuerein-nahmen des Bundes sind in einer konjunkturell schwieri-gen Situation in etwa gleich geblieben; ich werde auf dieEffekte der Steuerpolitik noch eingehen.

Bei den Ausgaben, Herr Eichel, die im Haushaltsent-wurf 2004 um etwa 8 Milliarden Euro über denen desJahres 1999 liegen, ist es Ihnen nie gelungen, wirklicheinschneidende Veränderungen nach unten vorzuneh-men. Der Anteil der Sozialausgaben – Sie haben esselbst gesagt – ist in dieser Zeit von 40,5 auf 45,4 Pro-zent gestiegen. Herr Eichel, keiner bestreitet angesichtsIhrer allgemeinen Zielbeschreibung, dass Sie sparenwollen. Welcher Finanzminister wollte nicht sparen! Dashat hier jeder gesagt und das wollte auch jeder. Aber denKurs verkünden und am Ende an der richtigen Stelle an-kommen, das ist zweierlei. Sie sind ganz woanders ange-kommen, als Sie vorher verkündet haben.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

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Dr. Günter Rexrodt

Das Ganze musste in dem Desaster enden, das wirnun haben. Sie veranschlagen 30,8 Milliarden EuroNeuverschuldung für 2004; aber realistischerweisewerden es zwischen 40 und 50 Milliarden Euro sein. Dasbestreiten Sie nicht einmal mehr. Wer so angetreten warwie Rot-Grün – und auch Sie, Herr Eichel – und nun sodasteht, wie die Bilanz es widerspiegelt, der braucht sichnicht zu wundern, wenn das Land gelähmt ist und nurnoch auf Impulse von außen wartet.

Die Gründe für dieses Desaster liegen in der Tatsache,dass Sie die notwendigen Reformen, Ihren Ankündigun-gen zum Trotz, nicht oder nur unzulänglich und immerverbunden mit einem hohen Maß an Unberechenbarkeitauf den Weg gebracht haben – Reformen, an denen ange-sichts der globalen Entwicklung und des demographi-schen Desasters kein Weg vorbeigeht.

Kernstück der Politik der letzten Legislaturperiodewar die Politik der Bündnisse und der runden Tische.Diese Politik, die im Grunde darauf zielt, dringend not-wendige Entscheidungen durch Konsensrunden zu um-gehen, ist total gescheitert.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Ihre Politik der Bündnisse ist in den letzten vier Jahrentotal gescheitert – vier vertane Jahre.

Jetzt ziehen Sie das Tempo an; das gebe ich zu. Aberdabei sind Sie nicht der Treibende, sondern der Getrie-bene.

(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sehr richtig!)

Sie werden von den Landtagswahlergebnissen der letz-ten Jahre getrieben. Das ist der Punkt.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Was Sie veranstalten, ist vielstimmig und kontroversund den Bürgern am Ende, selbst wenn es einmal in dierichtige Richtung geht – ich bin bereit, das zuzugeben –,nicht mehr vermittelbar. Diese Vielstimmigkeit und dieUnfähigkeit, sich auf einen Kurs zu einigen, haben zuder Vertrauenskrise und der Lähmung geführt. Die Men-schen begreifen das nicht mehr.

Das ist keine leere Aussage. Das ist zum Beispiel inder Steuerpolitik so. Dort hatten Sie zwar mit Steuersen-kungen den richtigen Ansatz, haben aber die Großunter-nehmen über Jahre hinweg sehr viel stärker entlastet alsden Mittelstand.

(Joachim Poß [SPD]: Quatsch!)

Dies hat im Mittelstand zu Ärger, Verdrossenheit undmangelnden Investitionen geführt.

(Joachim Poß [SPD]: Legendenbildung!)

Jetzt beginnen Sie das zu korrigieren. Aber es ist zu spät.Noch dazu haben Sie den aktiven Teil des Mittelstandsund der Menschen mit Ihrer unseligen Ökosteuer über-zogen. Sie haben also aus der einen Tasche wieder he-rausgeholt, was Sie ihnen in der anderen Tasche belassenhatten.

Darüber hinaus verunsichern Sie die Konsumentenund die Unternehmen mit der Erhöhung der Tabaksteuerund dann noch einmal mit der Erhöhung der Tabaksteuersowie mit der Versicherungsteuer. Sie stellen sich hinund sagen, das sei alles nicht so wichtig. Wichtig ist dasschon; denn das verunsichert die Investoren und dieKonsumenten. Das eigentliche Desaster und das eigent-liche Übel in diesem Land ist, dass die Menschen keinVertrauen mehr in diese Regierung haben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dann haben Sie auch noch gesagt, die höhere Öko-steuer würde zur Senkung der Rentenversicherungsbei-träge führen. Die Rentenversicherungsbeiträge sind ge-stiegen. Die Krankenversicherungsbeiträge steigen auch.Das Desaster in der Pflegeversicherung steht uns erst be-vor. Wer soll bei einer solchen Politik noch investieren?Das ist das Übel.

Meine Partei stellt einer solch erratischen Politik einklares und berechenbares Konzept bei den Ertragsteu-ern entgegen

(Joachim Poß [SPD]: Ach!)

– das werden Sie nicht bestreiten, Herr Poß; Sie sind einsehr dreister Mann, aber so weit können Sie nicht gehen –,verbunden mit konkreten Schritten zum Subventionsab-bau. Wir entwickeln ein System zur sauberen Reformder Gemeindefinanzen, das auf die systemfremde Ge-werbesteuer verzichtet und den Gemeinden mehr Gestal-tungsspielräume gibt. Das ist der richtige Ansatz.

(Beifall bei der FDP – Joachim Poß [SPD]: Das ist alles Wolkenkuckucksheim!)

– Das ist nicht Wolkenkuckucksheim. Sie bringen über-haupt nichts auf die Beine. Sie schaffen eine unmoderneSteuer, die ein Fremdkörper in unserem System ist. An-statt sie abzuschaffen, wird sie neu ausgestaltet. Das ver-unsichert die Gewerbetreibenden zusätzlich. Das wirdwiederum Arbeitsplätze vernichten.

(Beifall bei der FDP)

Wir sagen Ja zum Vorziehen der dritten Stufe der Steuer-reform, aber nicht auf der Basis von Verschuldung, son-dern auf der Basis des Abbaus von Subventionen.

In die Rentenversicherung – Kollege Merz hat dasschon gesagt – fließen mittlerweile mehr als 30 Prozentunseres Haushalts. Wir warnen davor, die Probleme derRentenversicherung durch eine Bürgerversicherung lö-sen zu wollen. Das begräbt jeden Leistungsanreiz. Dasbestraft diejenigen, die für ihr Alter selbst vorsorgen.Die Befürworter einer solchen Bürgerversicherung ver-gessen, dass die Rentenkassen – im Übrigen auch dieKrankenkassen – mit einer solchen Versicherung allen-falls für ein paar wenige Jahre entlastet werden können,dass die Zahl der Anspruchsberechtigten dann aber steigtund wir von neuem dasselbe Desaster haben werden.

(Beifall bei der FDP)

Die FDP hat schon vor vielen Jahren eine Umsteue-rung auf mehr private Vorsorge gefordert. Was sind wirdamals hier im Hause verteufelt worden. Heute nähern

Page 36: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

4878 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Dr. Günter Rexrodt

sich die anderen Parteien unseren Vorstellungen, die wirseit Jahren haben, unter Schmerzen und unter riesigenDiskussionen an. Ich will hier gar nicht in Hybris verfal-len. Für meine Partei, für die FDP – das ist die Wahrheit –,sage ich mit Selbstbewusstsein, aber auch mit Stolz: DiePrinzipien und Leitlinien der Politik, der Sie sich jetztunter Schmerzen annähern, sind von unserer Partei seitlangem am klarsten und deutlichsten vertreten worden.Sie aber haben uns dafür gescholten.

(Beifall bei der FDP)

Das sage ich mit großem Ernst und ohne die parlamenta-rische Schärfe, die hier manchmal angesagt ist.

Ich warne ausdrücklich davor, dass den Krankenkas-sen die so genannten versicherungsfremden Leistun-gen aus dem Bundeshaushalt vorab erstattet werden. Da-mit wird die Büchse der Pandora mit unglaublichenFolgen für den Bundeshaushalt, Herr Eichel, geöffnet.Wenn man damit einmal anfängt, dann nimmt das keinEnde.

Nun lassen Sie mich beim Haushalt 2004 – Wesentli-ches hat Herr Merz schon gesagt – noch einmal die Risi-ken in Erinnerung rufen. Das ist das eigentliche Kern-stück. Die Risiken liegen in dem bei 2 Prozentangesetzten Wachstum. Sie wissen, dass das nicht zu er-reichen ist. Die Risiken liegen ferner darin, dass Sie er-warten, aufgrund der Steueramnestie Steuern in Höhevon 2,1 Milliarden Euro einzunehmen. Dieses Geld wirdnicht zurückfließen; das wissen auch Sie. Andere Risi-ken liegen darin, dass Sie aufgrund der Bekämpfung derSteuerhinterziehung und Schwarzarbeit Mehreinnah-men erwarten. Ich weiß leider nicht, wie Sie das errei-chen wollen.

Weitere Risiken liegen in Ihrem Haushaltsbegleitge-setz – die Vielstimmigkeit im Zusammenhang mit derEigenheimzulage und mit der Entfernungspauschalekennen wir alle – und in der Unsicherheit, ob die Ar-beitsgruppe Koch/Steinbrück überhaupt etwas Konkre-tes liefert.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Rexrodt, denken Sie bitte an die Rede-

zeit.

Dr. Günter Rexrodt (FDP): Ja, ich komme gleich zum Schluss, Herr Präsident. –

Die Risiken liegen außerdem in den notwendigen Nach-besserungen, die Sie in Bezug auf die Finanzen der Ge-meinden leisten müssen.

Am größten aber ist das Risiko bei den Arbeitsmarkt-ausgaben. Bei der Umstellung auf das neue System in-folge von Hartz IV müssen Sie 28 Milliarden Euro aus-geben. Rechnet man die 19 Milliarden Euro dagegen, diedas alte System heute kostet, dann ergibt sich ein Risikovon 8 bis 9 Milliarden Euro.

In der Summe ergibt sich also ein Risiko in Höhe von40 bis 50 Milliarden Euro. Sie sprechen aber nur von30,8 Milliarden Euro. Das ist unverantwortlich, Herr

Eichel. Ich sage Ihnen deswegen: So können Sie mitdem Parlament nicht umgehen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich habe noch nicht von der 3-Prozent-Hürde vonMaastricht gesprochen, die wir zum dritten Mal reißen.Sie führen dafür konjunkturelle Gründe an. Die Kriterienvon Maastricht sind vor dem Hintergrund eingeführtworden, dass Volkswirtschaften damit gescheitert sind,das Wachstum durch eine höhere Nettoneuverschuldungzu beschleunigen. Darum hat man eine Grenze von ma-ximal 3 Prozent eingeführt. Viele Länder sind auf dieseLinie eingeschwenkt, Deutschland aber nicht.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege, es hilft alles nichts.

Dr. Günter Rexrodt (FDP): Das ist wahr, Herr Präsident.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Eine solche Politik funktioniert nur in einer offenenVolkswirtschaft. Ziehen Sie den Haushalt zurück, HerrEichel! Am besten gehen Sie gleich mit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Jawohl! Sehrrichtig!)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin

Antje Hermenau, Bündnis 90/Die Grünen.

Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich

möchte nochmal mit dem Haushalt beginnen. Wenn maneinmal die Kosten durch das Vorziehen der Steuerreform– wir begleichen sie mit einer höheren Neuverschuldung –herausrechnet, dann ist der Haushalt in Bezug auf die In-vestitionsgrenze, die uns das Grundgesetz vorschreibt,mit Ach und Krach verfassungsgerecht. Wenn wir unsdas aber nochmal genauer angucken, sehen wir, dass wirnoch 14 Milliarden Euro einsparen müssen, um diesesZiel zu erreichen. Viele Punkte sind dabei noch unsicher.Es ist völlig korrekt – auch wir haben das heute getan –,dieses zu erwähnen. Kein Mensch hat da irgendetwasverheimlicht oder beschönigt.

Wir werden noch Entscheidungen zur Rente, weitereEntscheidungen zum Arbeitsmarkt und auch zum Abbauder Steuersubventionen treffen müssen. Die entspre-chenden Gesetzgebungsverfahren laufen parallel. Aufder einen Seite schlagen Sie vor, diese Entscheidungenerst im nächsten oder im übernächsten Jahr zu treffen– diesen Vorschlag kann ich Ihren merkwürdigen Redenentnehmen; Sie sind anscheinend der Meinung, das allesginge zu schnell –, und auf der anderen Seite argumen-tieren Sie, dass wir seit Jahren nicht das gemacht haben,was hätte getan werden müssen. Dazu muss ich sagen:

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4879

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Antje Hermenau

Ich verstehe Sie nicht; ich bin strategisch ratlos. Ich kannnicht nachvollziehen, was Sie umtreibt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Als Haushälterin bin ich sehr erleichtert, dass wirnach drei Sparhaushalten, in denen es immer darumging, in einem letzten Kraftakt den Beamten sozusagendas Radiergummi aus den Händen zu winden, zu einemStrukturumbau kommen, den auch die Haushälter derrot-grünen Koalition seit langem immer wieder geforderthaben. Ich bin stolz darauf und wäre dankbar, wenn esden Haushältern aller Fraktionen gelänge, sich in denHaushaltsberatungen darauf zu konzentrieren, die struk-turellen Defizite endlich abzubauen.

Meine Erfahrung aus circa zehn Jahren Haushaltsbe-ratungen im Bundestag ist, dass in dieser Zeit, also seit1993, als Herr Waigel das Konsolidierungsprogrammvorgelegt hat, der Abbau des strukturellen Defizits we-der aufseiten des Bundes noch aufseiten der Länder nen-nenswert vorangekommen ist. In dem, was wir vorlegen,liegt die Chance, sowohl dem Bund als auch den Bun-desländern die Möglichkeit zu geben, ihre Strukturpro-bleme zu lösen, die sie daran hindern, konjunkturell ver-nünftig zu reagieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Wenn ich mir die Rede von Herrn Merz vor Augenführe, dann muss ich ihn fragen: Warum lamentieren Sieso, Herr Merz? Sie tun so, als ob wir Ihnen etwas wegge-nommen hätten, weil wir das tun, was Sie schon immergefordert haben. Ihre Rede wirkte furchtbar wehleidig.Ich habe nicht ein einziges Mal gehört, wohin Sie eigent-lich wollen.

Mein Wunsch wäre, dass wir in der Lage sind – dennder Haushalt ist nur ein Instrument, um Dinge deutlichzu machen und Prozesse zu begleiten –, auch in derHaushaltsberatung über folgende Fragen zu debattieren:Wohin wollen wir eigentlich? Wie wollen wir leben?Wie wollen sich die Deutschen in der EuropäischenUnion verhalten? Diese Fragen müssen wir beantworten.

Wir als Koalition haben das Haushaltsbegleitgesetzvorgelegt. Darin sind eine ganze Reihe von strukturellenVeränderungen enthalten. Eigentlich ist das seit dem vonmir vorhin zitierten Konsolidierungsprogramm vonTheo Waigel aus dem Jahre 1993 die größte Verände-rung der Finanzströme. Wie gesagt, hier findet eine ge-samtstaatliche Entlastung statt. Nicht nur der Bund pro-fitiert davon, wenn wir zueinander finden, sondern auchdie Länder. Ich glaube, dass das taktisch aufgehen wird –egal ob Frau Merkel gestern vollmundig behauptet hat,sie werde da eine Blockade oder sonst was betreiben.Mir kam die Reaktion von Frau Merkel ein bisschen wiebei Leonid Breschnew vor, von dem der Witz kursierte,er habe, als der Zug stillstand, die Gardine zugezogenund vorgetäuscht, der Zug fahre noch.

Die Öffentlichkeit ist weiter als eine ganze Reihevon Politikern, die auf der rechten Seite des Parlamentssitzen. Die Öffentlichkeit ist aufgrund der seit Monaten

anhaltenden Debatte gut über die fiskalischen und wirt-schaftlichen Probleme, die dieses Land hat, informiert.Die Öffentlichkeit hat sehr wohl mit Bauernschläue undgesundem Menschenverstand erkannt, welche Problemeals Nächstes angepackt werden müssen. Sie will keinelangen Debatten mehr darüber hören, wer 1997, 1995und 1993 welchen kleinen oder großen Fehler gemachthat. Sie will jetzt hören: Was sind die Ansagen für dieZukunft? Wird das ordentlich durchgezogen? Wird dieOpposition mitmachen oder wird sie nicht mitmachen?Die Beantwortung dieser Fragen ist in diesem Herbst ander Reihe.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Der Haushalt begleitet das als Instrument finanzpoli-tisch, nicht mehr und nicht weniger.

Ich bin sehr darüber enttäuscht, dass Sie sich in dieserDebatte einen schlanken Fuß machen und so tun, als obdie Länder hier keine Aktien hätten. Ich habe mir einmalherausgesucht – man soll ja in Haushaltsdebatten mitZahlen argumentieren –, wie hoch der Anteil der ge-samtstaatlichen Schulden, das heißt der des Bundes,der Länder, der Kommunen und der sozialen Siche-rungssysteme, am Bruttoinlandsprodukt ist: 1970, alsozwei Jahrzehnte vor der deutschen Einheit,

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wir wollen doch nicht von der Vergangenheit reden!)

lag er bei 18 Prozent, 1980 bei 31 Prozent und 1990 bei42 Prozent. Dann kam die deutsche Einheit. 2000 lag erbei 60 Prozent. Helmut Kohl – dies zum Abschluss derVergangenheitsdebatte – war eben nicht Maggie Thatcheroder Göran Persson. Diejenigen Länder, die wie Schwe-den oder Finnland Mitte der 90er-Jahre Strukturrefor-men angepackt haben, weil sie sich nicht selbst über-schätzt und gedacht haben, das Wachstum werde ewigweitergehen, haben inzwischen einen Substanzaufbaugeleistet, während wir unsere Substanz weiter verzehren.

Die gesamtwirtschaftliche Sparquote in Deutsch-land von 1990 bis 2001 – auch diese Zahl habe ich mirherausgesucht – ist um 3,5 Prozent gesunken. In Finn-land ist sie um 11,5 Prozent und in Schweden um fast6 Prozent gestiegen. Das heißt – wenn man es in einfa-ches Deutsch übersetzen möchte –, Deutschland lebt vonseiner Substanz, weil es ihm früher gut ging. Anderebauen neue Kapazitäten – auch in Richtung des Hu-mankapitals – auf. Der PISA-Schock hat nicht Finnlandereilt, sondern Deutschland. Nokia hat seinen Sitz inFinnland und nicht in Deutschland.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wo liegt jetzt unsere Zukunft? Wie bekommt man dieEntwicklung in den Griff, ohne eine exorbitante Ver-schuldung machen zu müssen und ohne eine neue gesell-schaftliche Spekulationsblase aufzubauen? Mitte der90er-Jahre haben viele Privatanleger an den Aktienmärk-ten erlebt, was es heißt, wenn eine privatwirtschaftlicheSpekulationsblase zusammenbricht. Damals ging derWert der Aktien steil bergab; da platzte die Blase der NewEconomy. Inzwischen besteht gesamtgesellschaftlich

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4880 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Antje Hermenau

etwas Ähnliches: Die Überschätzung unserer Wachs-tumskräfte hat zu einer Art gesellschaftlichen Spekula-tionsblase geführt, weil wir alle dachten, wir könntenuns weiter neu verschulden und bekämen irgendwannein wunderbares Bruttoinlandsprodukt und wahnsinnigeZuwächse, sodass wir alles zurückzahlen könnten.

Ich gehe nicht davon aus. Ich gehöre einer Partei an,die früher als sehr wachstumskritisch galt und inzwi-schen, wie ich finde, sehr realistische Wachstumspfadevorschlägt. Aber bei der Gegenseite höre ich eineWachstumsgläubigkeit heraus, die nicht gesund seinkann.

Wenn man jetzt beides hinter sich lässt und sich überrealistische Wachstumspfade, und zwar über Jahre hin-weg, unterhält und das Ganze mit den Zielen abgleicht,die wir insgesamt in der Europäischen Union im Früh-jahr 2000 in Lissabon vereinbart haben, als es darumging, ganz Europa zu der dynamischsten und wettbe-werbsfähigsten Wirtschaftsregion der Welt zu machen,dann ist festzustellen: Wir müssen uns jetzt zügig ranhal-ten.

Sie können – vielleicht zu Recht – mit Häme anmer-ken: Dieser Prozess hat bei Rot-Grün eine Weile gedau-ert.

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Fünf Jahre!)

Es fördert nicht gerade die Beliebtheit, wenn man keineZuwächse mehr verteilen kann, sondern wenn man imPrinzip ganz intelligent und auch ermutigend den Man-gel verwalten muss.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ist es!)

Diesen aber haben wir alle zusammen über Jahrzehntehinweg – jede Partei, jedes Bundesland, jede Kommuneund auch der Bund, egal wer regiert hat – aufgehäuft.Sie, Herr Rexrodt, waren einmal Wirtschaftsminister. Ichhabe das noch einmal nachgeschlagen: In den 90er-Jah-ren gab es mehrfach – 1994, 1995 und 1998 – eine Zin-seszinsfalle. Ganz so unschuldig, wie Sie gerade getanhaben, sind Sie also nicht, Herr Rexrodt; aber lassen wirdas.

Mir geht es um Folgendes: Wie können wir den Über-gang von der Industriegesellschaft des 20. Jahrhundertsin die globalisierte Wissensgesellschaft des 21. Jahrhun-derts schaffen? Dabei sind die Haushalte die Steuerungs-instrumente. Deswegen sind die Strukturreformen indiesem Herbst so enorm wichtig.

Seien wir ehrlich: Wenn wir es schaffen, die Bürger inöffentlichen Debatten davon zu überzeugen, dass dieStrukturreformen – ihnen stimmt nicht jeder in der Koa-lition mit freudigem Herzen zu, das wissen Sie und ichganz genau; Sie haben das mit Schmerzen beschrieben –unerlässlich sind, dann sollten auch Sie erkennen, dasswir die Zukunft gewinnen müssen.

Ich erinnere daran, wie verquer Sie in der Debatteüber die Frage der Zuwanderung und bezüglich der Fa-milienpolitik – beide Bereiche hängen mit unseren de-

mographischen, aber auch unseren wirtschaftlichen Pro-blemen eng zusammen – argumentiert haben. Ich frage:Wie wollen wir Zukunft moderner gestalten, wenn dasRegelungsgefüge in Deutschland die Zustimmung derOpposition und der Länder in vielen Bereichen erzwingt,während diese programmatisch noch den Zeichen derZeit hinterherhinken?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Herr Austermann, Sie haben im April in einer Aktuel-len Stunde gesagt – ich habe das herausgesucht –, dieRegierung fabuliere bislang nur über Reformen, es seivöllig ungewiss, ob sie sich gegen die Widerstände inden eigenen Reihen durchsetzen könne. Aber immerhinhaben Sie die Agenda 2010 für einen Schritt in die rich-tige Richtung gehalten.

Im Unterschied zum Frühjahr haben wir aufgrund derDebatten der letzten Monate eine neue Geschäftsgrund-lage. Die Koalition hat sich nämlich durchgerungen. Wirwerden die Reformen umsetzen. Die Gesetzentwürfe lie-gen auf dem Tisch. Im Haushaltsbegleitgesetz sind sehrviele Vorschläge enthalten. Jetzt sind Sie am Zug. Wirhaben nämlich den Spieß umgedreht, Herr Austermann.Auch die CDU/CSU muss jetzt damit anfangen, die Zu-kunft zu skizzieren, wenn sie unsere Skizzen ablehnenwill. Als Haushälter wissen Sie ganz genau, dass Sie ausder Debatte nicht herauskommen, wenn Sie nicht Vor-schläge vorlegen, die genauso viel Geld erbringen wieunsere Vorschläge. Wir können uns gern über die eineoder andere Sache unterhalten, aber in der Summe musses stimmen. Das ist Ihnen genauso klar wie allen ande-ren.

Ich kann Sie nur ermahnen: Dieser Herbst ist nichtder Herbst der politischen Showeffekte. Jetzt geht es da-rum, einen neuen Politikstil zu etablieren, der vielleichtauch mit den Herausforderungen des neuen Jahrhundertsangemessen verbunden werden kann. Die Gemeinwohl-orientierung ist nun einmal wichtiger als das parteipoliti-sche Hickhack.

Wir haben einen Finanzplanungsrat, in dem HerrEichel und die Länderfinanzminister Empfehlungen aus-sprechen können, wenn eine Landesregierung nicht inder Lage ist, das Defizit zu begrenzen. Eine solche Situa-tion gab es in den letzten zwei Jahren unter Herrn Kochin Hessen. Herr Koch in Hessen kümmerte sich einen ...darum.

(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Wie soll Ihr Hüsteln im Protokoll vermerkt werden?)

Nachdem Herr Stoiber ihn richtig zusammengepfiffenhat, war Herr Koch ein paar Wochen später der größte„Sparminator“ des Jahrhunderts. Ich frage mich da na-türlich: Machen sie Sachpolitik oder Machtpolitik?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Herr Carstens, der Vorsitzende unseres Haushaltsaus-schusses, hat in der Debatte im März gesagt, dass seitensder Regierung, aber auch seitens der Opposition nochmehr als bisher auf den Weg gebracht werden müsse. Ich

Page 39: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4881

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Antje Hermenau

kann ihm nur beipflichten. Herr Carstens hat 1993 insehr verantwortlicher Position gewirkt, er hat 1997 mit-erlebt, wie Deutschland versucht hat, das Maastricht-Kriterium einzuhalten. Er hat 1993 an Waigels Konsoli-dierungsprogramm mitgearbeitet.

Was stand vor über zehn Jahren im Konsolidierungs-programm Waigels? Da hieß es: Die zentrale finanzpo-litische Aufgabe in der derzeitigen Phase wirtschaftlicherRezession ist es, mit erneuten überzeugenden Konsoli-dierungsschritten die strukturellen Finanzierungsdefizitedes Bundes nachhaltig abzubauen und zugleich auf dennationalen und internationalen Finanzmärkten keinenZweifel aufkommen zu lassen, dass die BundesrepublikDeutschland in der Lage ist, die Herausforderungen ausder deutschen Einheit und der aktuellen Wirtschafts-schwäche mittelfristig zu bewältigen.

Ich denke, zehn Jahre sind ein mittelfristiger Zeit-raum. Wir haben die Strukturkrise nicht wirklich bewäl-tigt; deswegen wurden wir von der Konjunktur so starkin die Knie gedrückt. Ich sagte bereits, dass Länder undBund nicht wesentlich mit dem Abbau des strukturellenDefizits vorangekommen sind. Ein Grund dafür liegt inder Konjunkturschwäche seit 2001.

Nun liegen relevante Vorschläge auf dem Tisch. In ei-nem Zukunftsentwurf, wie wir, Rot-Grün, uns die Zu-kunft Deutschlands in der EU vorstellen, heißt es, Altesso zügig, wie es nur geht, abzuarbeiten – inzwischen ha-ben viele in der Bevölkerung begriffen, worum es geht –und Neues anzupacken. Dazu haben wir jede MengeVorschläge unterbreitet, zu denen Sie Stellung nehmenmüssen. Es ist nicht so, wie Herr Merz gesagt hat, dasswir es Ihnen zu leicht machen; vielmehr machen Sie essich selbst zu leicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile das Wort dem Kollegen Dietrich

Austermann, CDU/CSU-Fraktion.

Dietrich Austermann (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist

heute bereits mehrfach darüber gesprochen worden, dasswir uns seit drei Jahren in einer Phase der Stagnation be-finden. Dabei wurde der Eindruck vermittelt, als habedie Politik, insbesondere die Bundespolitik, zu dieser Si-tuation überhaupt keine Ursache geliefert. Ich denke, dasmuss gründlich untersucht werden, um daraus Folgen fürkünftiges Verhalten ableiten zu können. Das ist genausowichtig bei der Frage, welche Programme man für dieZukunft entwickeln will. Wenn man sich nicht über dieUrsachen klar wird, wird man die Fehler, die in den letz-ten vier Jahren gemacht wurden, möglicherweise wie-derholen.

Sehen wir uns die Situation einmal an. 1998 gab esin allen wesentlichen politischen Bereichen einen posi-tiven Trend – ich will die Vergangenheit nicht zu langebemühen und aufrollen –: Die Gemeinden hatten da-mals noch Überschüsse; auf dem Arbeitsmarkt ging die

Arbeitslosigkeit drastisch zurück; wir hatten bei denEnergiepreisen eine positive Situation; die gesamtstaat-liche Verschuldung lag etwa bei einem Drittel von dem,was wir in diesem Jahr zu verzeichnen haben werden.Im Jahre 1999 gab es einen kräftigen Schluck aus derPulle – Lafontaine stand dafür –, man hat die Ausga-ben aufgebläht. Heute liegt die Höhe der Ausgaben ingewaltigem Maße über der Höhe der Ausgaben des Jah-res 1998.

Weil man jetzt davon spricht, die Haushaltsstrukturwerde verändert, möchte ich, da auch der Finanzministerimmer mit vielen unleserlichen Zetteln wedelt, eine Gra-fik zeigen – das ist eigentlich nicht üblich und nichtmeine Art –, die vielleicht deutlich macht, welche Ent-wicklung wann eingetreten ist.

(Abg. Dietrich Austermann [CDU/CSU] hält eine Grafik hoch)

Die eine Kurve zeigt die Steuereinnahmen, die andereKurve die festen Ausgaben wie Sozial-, Versorgungs-,Zins- und Personalausgaben. Darin ist kein Cent für Ver-teidigung, für Familie, für Investitionen oder sonst etwasenthalten. Ab dem Jahre 2000 ist ein deutlicher Knickbei den Steuereinnahmen und ein Anstieg bei den sozia-len Ausgaben zu sehen. Dieser zeigt, dass Sie eine Haus-haltsänderung, eine Richtungsänderung eingeschlagenhaben, die zu einer Aufblähung der konsumtiven, der so-zialen Ausgaben führte, und dass immer weniger Ausga-ben für das bereitgestellt werden, was in der Zukunft vonden Menschen erwartet wird.

Das haben Sie durch eine regelrechte Orgie an Steuer-belastungen und an Energiekostenbelastungen begleitet,was natürlich jeden Mut zu Investitionen genommen hat.Ich kann das am Beispiel Ökosteuer und Energiepreisedeutlich machen: 1998 mussten wir für 1 Liter Sprit1,50 DM bezahlen, heute müssen wir umgerechnet etwa2,10 DM bis 2,20 DM bezahlen. Diese 60 Pfennig Diffe-renz treffen jeden Arbeitnehmer, der morgens zur Arbeitfährt, jeden, der investiert, jeden, der sich als Spediteurbetätigt usw.

(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fordert die Industrie auf, dieEntwicklung des Dreiliterautos voranzutrei-ben!)

Weil Sie gemerkt haben, dass das für die Arbeitneh-mer fatal ist, haben Sie einen Teil davon den Arbeitneh-mern als Entfernungspauschale zurückgegeben. Jetztfordern Sie uns auf, mit Ihnen zusammen die Entfer-nungspauschale zu streichen. Was bedeutet das im Er-gebnis? Sie kommen mit Konzepten, die eine zusätzlicheBelastung für die Menschen darstellen, die zusätzlichenDruck auf die Menschen ausüben, und sagen, das könnteeine positive Perspektive sein, Sie hätten den Haushaltumstrukturiert. Nein, das ist es nicht. Das wiederholenSie auch für das kommende Jahr, so wie wir es bei dem,was ersichtlich ist, erkennen können. Es sind nämlichnur Rudimente eines Haushaltes erkennbar. Das ist keinHaushalt, was vorgelegt worden ist. Ein Schweizer Käseist dagegen ein Betonklotz.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Page 40: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

4882 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Dietrich Austermann

Oder wie andere sagen: Sie legen Rührei vor und wirsollen nachträglich Spiegelei daraus machen. Das, wasHerr Eichel vorgelegt hat, kann kein Mensch als einenvernünftigen Ansatz bezeichnen, auf dessen Grundlageman seriös miteinander diskutieren kann.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Ich glaube, Sie sollten zunächst einmal die eigene Arbeitmachen.

Das betrifft auch andere Dinge. Frau KolleginHermenau, Sie haben gesagt, ich hätte in der AktuellenStunde gesagt, wir hielten das, was der Bundeskanzlerim März als Agenda 2010 beschrieben habe, für einenbrauchbaren Ansatz. – Das ist richtig. Das haben wir da-mals, im April, noch so gesehen. Aber mittlerweile istaus der Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozi-alhilfe ein bürokratisches Monstrum geworden. Jetztverlangen Sie den Ländern ab, mal eben 7 Umsatzsteuer-prozentpunkte an den Bund abzutreten, um das Ganzeauszugleichen. Man sehe sich auch die anderen Vor-schläge an, soweit sie überhaupt vorliegen.

Die so genannte Agenda 2010 – Friedrich Merz sagtimmer, sie reiche gerade bis zum 20.10.; dann müsse et-was Neues vorgelegt werden – ist bis heute nicht als einfertiges, schlüssiges Konzept erkennbar, das den Wegaus der Krise, in der sich unser Land befindet, aufzeigenkann. Insofern kann man gar nicht Ja sagen. Zu nichtskann man keine Alternative entwickeln – und das, wasvorgelegt wurde, ist nichts.

(Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Detaillierter!)

– Ich werde detailliert etwas zu unseren Plänen sagen.Machen Sie sich darum keine Sorgen!

Ich hätte eigentlich erwartet, dass sich der Bundes-finanzminister heute als Erstes beim deutschen Volk da-für entschuldigt, dass er es über drei Jahre lang durchfalsche Prognosen und falsche Zahlen in die Irre geführthat.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Heinz Seiffert [CDU/CSU]:Angelogen hat!)

Heute hat er das erste Mal die Wahrheit gesagt –

(Zuruf von der CDU/CSU: Eine Teilwahrheit!)

Nettoneuverschuldung 70 bis 80 Milliarden –, weil esgar nicht anders geht und weil wir ihm die Zahlen vor-halten. In der letzten Woche klang das noch etwas an-ders. Vorletzte Woche hat er noch von 3,5 Prozent Defi-zit gesprochen.

Der „Spiegel“ hat Recht. Er hat am 19. Mai diesesJahres getitelt: „Die Stunde der Wahrheit im Land derLügen“. Herr Eichel, Sie tragen einen erheblichen TeilVerantwortung für diesen Titel. Er ist gewissermaßen dieÜberschrift für Ihre Finanz- und Haushaltspolitik.

Heute ist die Stunde der Wahrheit. Sie müssen endlichdamit aufhören, die Menschen darüber zu täuschen, wasSie machen und welche Wirkungen das entfaltet. Ich bin

der Meinung, Sie sollten sich entschuldigen – ich gebe Ih-nen gerne die zwei Minuten von meiner Redezeit ab, diees dafür braucht –: Liebe Landsleute, ich habe das falschgemacht. Ich habe euch getäuscht. Ich habe euch belogen.

Sie können auch sagen: Ich habe es nicht besser ge-wusst und nicht besser gekonnt. – Allein das wäre einAnlass dafür, zu sagen: Jetzt ist es an der Zeit, dass ergeht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das wäreeinmal ein Anfang!)

Denn es gibt so viele Sachverständige, die von Monat zuMonat stärker gewarnt haben. Was wir zu diesem Haus-halt gesagt haben, gilt auf Punkt und Komma. Jeder un-ser Redner hat Ihnen das vorgehalten. Es hat vor einemJahr gegolten. Es hat vor der Bundestagswahl gegolten,als die Menschen mit den Zahlen, die Sie vorgetragenhaben, systematisch belogen worden sind.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Eichel, Sie haben vorhin gesagt: Wir können esnicht tun, ohne dass alle etwas merken. – Es mag ja sein,dass es so ist. Aber wenn alle etwas merken, dann nimmtman allen etwas weg. Wenn man allen etwas wegnimmtund gleichzeitig eine Steuersenkung ankündigt, die einbisschen ausgleicht, dann kann man sich davon dochnicht versprechen, dass die Menschen mit großer Freudeund großem Elan vor Weihnachten die Konsumtempelstürmen. Das täten sie vielleicht, wenn sie mehr Geld inder Hand hätten und sie sicher wären, dass es im nächs-ten Jahr bergauf geht.

Nein, Sie verfolgen das gleiche Prinzip wie bisher:linke Tasche, rechte Tasche. Auf der einen Seite hängenSie eine Wurst ins Schaufenster und auf der anderen Seitestehlen Sie den Menschen den Schinken. Genau so ma-chen Sie es auch mit Ihrer vorgezogenen Steuerreform.

(Joachim Poß [SPD]: Sie reden doch weiter schwarz!)

Es ist an der Zeit, die Dinge so deutlich zu benennen,wie sie sind.

Jetzt sage ich konkret etwas zu den Haushaltszahlen.In unserer Verfassung sind die Prinzipien von Haus-haltsklarheit, Haushaltswahrheit, Haushaltsvollständig-keit und Wirtschaftlichkeit vorgeschrieben. Es gibt darü-ber hinaus das Prinzip, dass man nicht mehr Schuldenmachen darf, als man an Investitionen tätigt. Das hat ei-nen Sinn: Schulden darfst du nur machen, wenn du wieein Häuserbauer dafür einen Wert schaffst.

Herr Eichel, Sie haben für das nächste Jahr eine Neu-verschuldung veranschlagt, die 6 Milliarden Euro überden Investitionsausgaben liegt. Das heißt, Sie verstoßengegen die Verfassung. Wir haben mehrfach deutlich ge-macht, dass es dafür keine Ausnahmegründe gibt. Sieverstoßen aber auch gegen die Grundsätze der Haushalts-wahrheit und der Haushaltsklarheit, indem Sie Einnah-men veranschlagen, die mit Sicherheit nicht kommen.Sie wissen, welche Haltung wir zur Entfernungspau-schale und zur Eigenheimzulage haben.

Page 41: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4883

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Dietrich Austermann

Sie können in Ihrem Haushalt doch nicht davon aus-gehen, dass Sie das nötige Geld vom Bundesrat schongebilligt bekommen. Sie können das auch an anderenBeispielen sehen.

(Joachim Poß [SPD]: Was schlagen Sie als Op-position denn vor?)

– Herr Poß, auf der Tribüne wurde der Präsident desBundesrechnungshofes begrüßt.

(Joachim Poß [SPD]: Sie haben sich über die Umsatzsteuer mokiert!)

Der Bundesrechnungshof hat in diesem Jahr etwa fünf Be-richte vorgelegt, in denen massive Verstöße der Verwal-tung gegen die Sparsamkeit und den wirtschaftlichen Um-gang mit dem Geld in Deutschland festgestellt wurden.

Herr Poß, der erste Vorschlag wäre,

(Joachim Poß [SPD]: Umsatzsteuer-erhöhungen!)

dass Sie sich mit uns die Berichte des Rechnungshofesanschauen. Wiederholen Sie nicht ständig die alten Feh-ler, die Sie in der Vergangenheit gemacht haben!

(Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Poß[SPD]: Welche Vorschläge machen Sie denn?Machen Sie doch einmal Vorschläge!)

In dem Haushaltsentwurf ist eine Reihe von Vorschlä-gen enthalten – –

(Joachim Poß [SPD]: Welche Vorschläge machen Sie denn?)

– Passen Sie auf, ich bin jetzt bei Ihren Vorschlägen. – Indem Haushaltsentwurf des Finanzministers, den Sie wieimmer abnicken, ist eine Reihe von Vorschlägen enthal-ten, bei denen noch nicht einmal Ihre eigene Zustim-mung sichergestellt ist. Wie soll der Haushalt auf demKonzept für die Gemeindefinanzen aufgebaut werden,wenn dieses Konzept in Ihrer Koalition nicht Konsensist? Wie soll durch die Rentenreform, die noch nicht ein-mal als Gesetzentwurf in den Köpfen vorhanden ist, einNachlass bei den Rentenausgaben um 2 Milliarden Euroerreicht werden?

Nein, Sie haben mit Ihrem Entwurf einen Haushaltaufgestellt, der nicht akzeptiert werden kann und der ge-gen die Verfassung verstößt. Sie werden uns nicht abver-langen können, dass wir sagen, dass auf der Basis dieserReform – –

(Joachim Poß [SPD]: Sie haben doch nichtsKonkretes gesagt! Ihre Rede war erwartungs-gemäß schwach!)

– Herr Poß, Sie brauchen sich hier nicht als Brüllwurstdarzustellen. Das, was Sie vorhin hätten sagen können,haben Sie nicht gesagt und das, was gemacht werdenmuss, haben Sie nicht erkannt.

(Joachim Poß [SPD]: Wir haben konkrete Gesetzentwürfe!)

Sie müssen nicht versuchen, anderen, die die Dinge sobeschreiben, wie sie tatsächlich sind, ins Wort zu fallen.

(Joachim Poß [SPD]: Nennen Sie doch einmal Ihre Alternativen!)

Herr Poß, im Übrigen haben Sie bei der Frage, wel-ches Land die meisten Schulden macht, Unrecht gehabt.Nicht weil jetzt die Wahlen in Bayern anstehen, sondernweil es den Fakten entspricht, will ich Ihnen das ganzkonkret sagen.

(Joachim Poß [SPD]: Ich habe Ihnen die Ab-weichungen genannt!)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Poß, Sie haben sich vorhin mit einer be-

wundernswerten Disziplin an Ihre Redezeit gehalten.Wenn Sie die vorhin nicht vorgetragenen Bemerkungenwährend der Reden von Kollegen vortragen wollen,wäre das nur begrenzt überzeugend.

(Joachim Poß [SPD]: Herr Lammert, weil Siedas sagen, akzeptiere ich das! – HartmutSchauerte [CDU/CSU]: Sehr liebevoll gesagt!)

Dietrich Austermann (CDU/CSU): Ich glaube, dass man einmal deutlich machen muss,

wie die Situation bezüglich der Verschuldungspolitik inden einzelnen Bundesländern aussieht. Unsere Haus-haltsgruppe war in Bayern – die Grünen waren auchdort; das hat aber offensichtlich nicht zur Erleuchtungbeigetragen – und hat festgestellt, dass der bayerischeHaushalt eine Verschuldungsquote von 1 Prozent auf-weist, während der Bundeshaushalt nicht eine Verschul-dungsquote von 2, 3 oder 4, sondern von 16 Prozent auf-weist. Es ist also eindeutig falsch, den Bundesländernvorzuwerfen, sie würden gegen die Maastricht-Kriterienverstoßen.

(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, Bayern, aber sonst?)

Das gilt im Übrigen auch für das Land Hessen.

Schauen Sie sich bitte einmal Nordrhein-Westfalenund andere Länder an. Welchem Land musste dennschon mehrfach bescheinigt werden, dass es gegen dieVerfassung verstößt? Das war Hessen, als Hans Eichelnoch Finanzminister war.

(Ilse Aigner [CDU/CSU]: So ist es!)

Darauf muss Koch aufbauen. Jetzt ist es in Nordrhein-Westfalen so, wo Steinbrück Finanzminister war. Des-wegen muss man sagen: Versuchen Sie nicht, von dertatsächlichen Situation abzulenken.

Meine Damen und Herren, unser Land befindet sichin der stärksten Finanzkrise der Nachkriegszeit.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Leider wahr!)

Diese stärkste Finanzkrise der Nachkriegszeit wurde vonRot-Grün verursacht – ich habe das nachgewiesen – undsie wird von Rot-Grün nicht beherrscht.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Auch wahr! –Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht!)

Page 42: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

4884 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Dietrich Austermann

In den Reihen der Wirtschaft wird diese Finanzkrise sodefiniert – dies sagte der Vorstandsvorsitzende derLinde AG –, dass diese Regierung dabei ist, den Staats-bankrott für die nächste Generation zu organisieren.

Ich will das an Zahlen deutlich machen. Wir hatten indiesem Jahr – –

(Heiterkeit auf der Regierungsbank)

– Dass die Leute bei diesem Thema lachen können,zeigt, dass sie das, was sie den Bürgern in der Zukunftzumuten, nicht ernst nehmen.

(Zuruf von der SPD: Sie lachen über Sie!)

Auf der Regierungsbank wird bei der Frage gefeixt, obdiese Regierung dabei ist, den Staatsbankrott für dienächste Generation zu organisieren, wie es der Vor-standsvorsitzende der Linde AG gesagt hat.

Ich will Ihnen das anhand konkreter Zahlen demons-trieren: Das gesamtstaatliche Defizit gemäß denMaastricht-Kriterien wird in diesem Jahr 90 MilliardenEuro, oder, in richtigem Geld ausgedrückt, etwa 180 Mil-liarden DM betragen.

(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das istzweimal der NRW-Haushalt! – Zuruf von derSPD: Das ist ein altes Ding!)

– Ein altes Ding? Schauen Sie sich doch an, wie es sichentwickelt hat. 1998 lagen wir nicht einmal bei einemDrittel dieses gesamtstaatlichen Defizits. Jetzt liegen wir– gemessen anhand der Maastricht-Kriterien – bei 90 Mil-liarden Euro. Dieser Betrag wurde auch mit den Schul-den, die allein in diesem Jahr gemacht werden, ange-häuft.

Man muss davon ausgehen, dass sich das gesamt-staatliche Defizit – gemessen anhand der Maastricht-Kriterien – im nächsten Jahr um 10 Milliarden Euroerhöhen, das heißt, sich in Richtung 95 bis 100 Milliar-den Euro bewegen wird. Sie können feststellen, dass inden letzten drei Jahren das Defizit jedes Jahr um etwa10 Milliarden höher war. Die Entwicklung zeigt alsoganz klar in eine dramatische Richtung. Diese Entwick-lung können Sie auch nicht dadurch beherrschen, dassSie immer mehr Schulden machen, um die Hauptkrise,nämlich die Zunahme der Arbeitslosigkeit und das Weg-brechen der Steuereinnahmen, aufzufangen. Dies ist mitzusätzlichen Schulden nicht möglich. Aber dies ist IhreAntwort.

Ich sage Ihnen ganz klar: Bei dem, was Sie bishervorgelegt haben, diesem Schweizer Haushaltskäse, istdie finanzielle Basis für das, was Sie Agenda 2010 nen-nen, eindeutig weggebrochen. Wie unzuverlässig Sie alsVertrags- und Verhandlungspartner sind, können Sie da-ran erkennen, dass Herr Eichel noch im Mai dieses Jah-res – er hat es wie immer etwas später gemerkt, er ist ge-wissermaßen die Regierungsschnecke – erklärte: Dienächste Stufe der Steuerreform vorzuziehen kommtüberhaupt nicht infrage. Diese Forderung ist abwegig.Schröder hat dies noch am 14. März abgelehnt. – Heutewill man uns dafür beschimpfen, dass wir nicht dabei

helfen, dieses Vorziehen der Steuerreform zu finanzie-ren.

(Joachim Poß [SPD]: Ist das Ihr letztes Wort?)

Sie haben die Finanzen in die Krise geführt. Sie gehenmit den Wörtern „Nachhaltigkeit“ und „Reform“ so um,als hätten Sie sie erfunden. Sie aber haben das ThemaNachhaltigkeit in der Finanzpolitik wie keine andere Re-gierung in Europa vor Ihnen verraten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie haben die Situation immer weiter verschärft. DiesePolitik hat Deutschland im Vergleich zu anderen Indus-triestaaten Jahr für Jahr ein Stückchen ärmer gemacht.Sie haben den Haushalt nicht saniert, sondern die Defi-zite immer weiter ansteigen lassen. Dies ist eine falschePolitik.

Angesichts dieser Entwicklung, die kein einziger Bür-ger positiv beurteilt – schauen Sie sich doch die Umfra-gen an –, empfinde ich die Ansage von Schröder undFischer, bei der nächsten Wahl wieder anzutreten, gera-dezu als Drohung. Das muss doch jeder Mensch als be-sorgniserregend empfinden. Der Kanzler an der Spitzeträgt doch die Verantwortung für die Regierung und derFinanzminister die Verantwortung für Finanz-, Haus-halts- und Steuerpolitik. Beide wollen nach den nächstenWahlen weitermachen, nachdem ein Jahr vergangen istund sie das Land in die Krise geführt haben. Das kanndoch nicht wahr sein und kann auch nicht akzeptiert wer-den.

Damit Sie mir nicht hinterher wieder vorwerfen, dieOpposition habe nicht gesagt, was sie will, will ich Ih-nen ganz konkrete Vorschläge nennen. Dazu werde ichdie mir verbleibenden vier Minuten nutzen.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ha-ben Sie gerade auf dem kleinen Zettel gefun-den!)

– Herr Schmidt, dafür brauche ich keinen Zettel, dafürnehme ich die Rückseite. Was auf diesem kleinen Zettelsteht, ist Ihre Politik.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Nein, Sie wollten gerade Ihre vortragen!)

Unsere Politik ist ganz eindeutig. Dieser Haushaltsent-wurf ist unbrauchbar. Sie müssen für das Jahr 2003 einenNachtragshaushalt vorlegen. Sie müssen einen Kassen-sturz machen.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Siewollten doch jetzt zu Ihren Vorschlägen kom-men!)

– Es gehört doch mit dazu, dass ich auf der Basis der Re-alität Haushaltspolitik mache und in diesem Jahr mitdem Sparen anfange. Ein Kassensturz muss gemacht,eine Haushaltssperre verhängt und ein Nachtrags-haushalt vorgelegt werden. Das ist der erste Vorschlag.Merken Sie es sich.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist doch kein Vorschlag!)

Page 43: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4885

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Dietrich Austermann

– Natürlich ist das ein Vorschlag. Herr Eichel lehnt ihnaber ab. Schon im Mai hätte er eine Haushaltssperre ver-hängen können. Damit hätte man viele Milliarden ge-spart.

Unser zweiter Vorschlag ist: Sie müssen erst einmalmit dem Sparen anfangen.

(Joachim Poß [SPD]: Heiße Luft!)

– Wieso „heiße Luft“? Mit diesen Vorschlägen könnenSie mindestens 4 Milliarden Euro im Verwaltungsvoll-zug sparen.

(Joachim Poß [SPD]: Werden Sie einmal kon-kret!)

Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass in der Ver-waltung bisher die Rückseite von Blättern beschriebenund Bleistifte angespitzt werden. Die Regierung nimmtbei der Öffentlichkeitsarbeit sogar noch einen kräftigenSchluck aus der Pulle. Die Ausgaben hierfür werden imnächsten Jahr steigen. Das Motto lautet wohl: Jeschlechter die Regierung, umso mehr muss für Öffent-lichkeitsarbeit ausgegeben werden. Dort können Sie zigMillionen sparen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie können auch dadurch sparen, dass Sie eine ver-lässliche Politik machen und mit der Bekämpfung desUmsatzsteuerbetruges endlich anfangen. Das, was derRechnungshof vor etwa 14 Tagen festgestellt hat, HerrEichel, ist den Eingeweihten, den Mitarbeitern in IhremHause seit langem bekannt. Ich meine diese Karussellge-schäfte in Form von Verschieben der Vorsteuern. Wir ha-ben hier seit langem Änderungen gefordert. Die Länder-finanzminister sprechen bei der Bekämpfung diesesUmsatzsteuerbetrugs von einem Einsparpotenzial – HerrPoß, hören Sie gut zu – von 20 Milliarden Euro. Andiese Sache muss man allerdings herangehen. Es reichtnicht, nur ein paar kleinere Korrekturen vorzunehmen.

(Joachim Poß [SPD]: Sie haben doch blo-ckiert!)

– Nein, dazu liegt doch von Ihnen gar kein Vorschlagvor. Die Regel im Parlament ist: Die Regierung machtVorschläge und die Opposition macht die Alternativendeutlich.

(Joachim Poß [SPD]: Schutzpatron der Steuer-hinterzieher!)

Aber wenn nichts auf dem Tisch liegt, können wir keineAlternative entwickeln.

Sie müssen ganz konkret die Entscheidung treffen,dass Sie nicht – ich habe das anhand der Grafik gezeigt –ständig die Sozialausgaben ausweiten. Mit Ihrem Kon-zept zum Arbeitslosengeld II werden zunächst einmal800 000 bis 1 Million Sozialhilfeempfänger Arbeitslo-sengeld II beziehen. Das heißt, sie bekommen eine hö-here Leistung. Anstatt das Lohnabstandsgebot zu be-achten, schöpfen Sie auch hier aus der falschen Quelle.

Wir sind der Meinung, dass man bei der aktiven Ar-beitsmarktpolitik, die in einer Weise ausgeufert ist, die

bisher nicht bekannt war, ansetzen sollte. Wir sind derMeinung, dass man durchaus noch entschieden privati-sieren kann. Wir sind der Meinung, dass man eine rich-tige Steuerreform machen sollte.

Wenn Sie einen verfassungsgemäßen Haushalt vorle-gen, wenn im Ergebnis nicht eine Mehrbelastung derBürger, sondern eine Entlastung herauskommt, undwenn die Entlastung nicht nur für ein Jahr, sondern aufDauer gilt, dann machen wir die vorgezogene Steuer-senkung mit. Aber ich vermute, dass es dazu nicht kom-men wird. Dann werden wir als Alternative unser Steu-erkonzept vorlegen.

(Jörg-Otto Spiller [SPD]: Ja, wann denn?)

Das bedeutet: Abschaffung der Ausnahmen und Sen-kung der Tarife, was einen gewaltigen Impuls für die Ar-beit ergeben wird.

(Joachim Poß [SPD]: Ein sehr konkreter Vorschlag!)

Für solch stümperhafte Steuerkonzepte, wie Sie siehaben, werden wir keine Vorschläge machen.

Das entscheidende Thema im Zusammenhang mitder Finanz- und Haushaltspolitik, dem wirtschaftlichenWachstum und dem Arbeitsmarkt ist Folgendes: Es gibtzurzeit kein Vertrauen der Bürger in diesem Land ineine verlässliche Regierungsarbeit.

(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das ist wohl wahr!)

Jeder von uns stellt bei seinen Besuchen in Betriebenfest, dass der eine oder andere jetzt eigentlich investierenmüsste und investieren könnte. Die Unternehmer sagenuns aber alle übereinstimmend: Solange so gewursteltwird und solange ich nicht weiß, welches Gesetz, dasvielleicht noch heute gilt, aber morgen eine Veränderungerfährt, mich trifft, investiere ich nicht. Solange für dieMenschen kein klarer Regierungskurs erkennbar ist, derzurzeit nicht da ist – das Schädlichste an der gegenwärti-gen Situation ist der Missbrauch des Vertrauens der Be-völkerung –, konsumieren sie nicht, sondern sie haltendas Geld zurück. Wir haben zurzeit die höchste Spar-quote aller Zeiten.

(Beifall des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU])

Unter dieser Regierung und diesen Rahmenbedingungenkonsumieren die Leute nicht.

Deshalb ist unsere wichtigste Forderung: Betreiben Sieeine verlässliche und vertrauenswürdige Politik. Dannbekommen Sie auch mehr Investitionen und mehr Ar-beitsplätze. Dann bekommen Sie auch unsere Zustim-mung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Joachim Poß [SPD]: Kein konkreter Vor-schlag! Heiße Luft!)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile das Wort dem Kollegen Walter Schöler,

SPD-Fraktion.

Page 44: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

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Walter Schöler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das

waren also die „knallharten Sparvorschläge“, mit denendie Union jetzt aus der Deckung kommen wollte. Das istder Originalton vom Kollegen Dietrich Austermann inder „Welt am Sonntag“ vom 31. August.

(Joachim Poß [SPD]: Knallharte Sparvor-schläge!)

Ich war im Übrigen noch hoffnungsvoll, als ich zu un-serer Klausur fuhr, dass Sie sich nicht wie in den letztenJahren verweigern, sondern wirklich mit eigenen Vor-schlägen aufwarten werden. Aber als ich dann nach IhrerKlausur Ihre Presseverlautbarung am 5. September las– viel Text, wenig Inhalt –, da zerbarst Ihre Ankündi-gung als Fata Morgana, weil sie nur aus heißer Luft be-stand, wie Ihre Rede gerade auch, in der Sie überhauptkeinen Vorschlag gebracht haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe die Befürchtung, auch nach dieser Rede wirdder Ruf in das Schattenkabinett Ihres Kollegen PeterHarry Carstensen aus Schleswig-Holstein problematischsein. Kollege Austermann wird uns sicherlich noch biszum Ende dieser Legislaturperiode erhalten bleiben. Wirwerden damit leben können.

(Ilse Aigner [CDU/CSU]: Sie gehen davon aus, dass die Wahl schon gewonnen ist!)

Die sich nun in das dritte Jahr hinziehende Sta-gnation belastet alle öffentlichen Haushalte auf der Ein-nahmen- und der Ausgabenseite mit noch nicht erlebterWucht. Um die Größenordnung des Problems einmal zuverdeutlichen: Das Bruttoinlandsprodukt liegt um 80 bis100 Milliarden Euro niedriger, als wenn wir ein mittel-fristiges durchschnittliches Wachstum von jährlich1,5 Prozent gehabt hätten. Die dadurch klaffende Lückeist, abgesehen von den Kosten der Wiedervereinigung,die größte Herausforderung, vor der die Finanzpolitik jegestanden hat. Dieser Herausforderung wollen wir unsmit dem Bundeshaushalt 2004 und dem Gesamtpaket derReformgesetze der Agenda 2010 annehmen und wirwollen dieses Problem meistern.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der Bundeshaushalt ist Teil eines Modernisierungs-programms, das auf die Förderung von Wirtschafts-wachstum und Beschäftigung zielt, ein Dreiklang, wie esder Finanzminister hier darstellte, von Strukturreformen,Haushaltskonsolidierung – –

(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Das glauben Sie noch nicht einmal selbst!)

– Sorg du einmal dafür, dass der Eurofighter so ausge-stattet wird, dass wir ihn auch einsetzen können, wennder Ernstfall eintreten sollte! Ich habe in diesem Zusam-menhang große Befürchtungen. Das ist auch ein Finanz-problem, das ihr uns in den Jahren, in denen ihr regierthabt, ins Nest gelegt habt. Davon wollt ihr heute nichtsmehr wissen.

(Beifall bei der SPD)

Kerngedanke des von der Bundesregierung vorgeleg-ten Pakets ist es, die von Hans Eichel vor vier Jahren be-gonnene Konsolidierung der Staatsfinanzen mit einerStärkung von Wachstum und Beschäftigung zu ver-binden.

(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Was verstehen Sie unter Konsolidierung?)

Die Stärkung von Wachstum und Beschäftigung musswieder mehr Menschen in Lohn und Brot bringen.

Wir sind die Probleme angegangen. Wenn sich jemandentschuldigen müsste, wie es der Kollege Austermanneben verlangt hat, dann müssten das diejenigen aus derschwarz-gelben Regierungszeit sein, die uns 1998 einDesaster hinterlassen haben.

(Beifall bei der SPD)

Das Angehen der Probleme, die vor uns liegen, ist mitschmerzhaften Einschnitten verbunden. Das wissen wiralle. Es funktioniert auch nicht wie in einer chemischenReinigung nach dem Motto „Heute gebracht, morgen ge-macht“. Wir wissen doch alle, dass die Wirkung vonReformgesetzen – ob Hartz I, II, III oder IV – ihre Zeitbraucht. Das beweisen auch Entwicklungen in andereneuropäischen Staaten, über die heute schon gesprochenworden ist und die seinerzeit, als die damalige Regie-rung versagt hat, rechtzeitig ihre Reformen begonnenhaben. Das hat in manchen Fällen einige Jahre ge-braucht.

Ich weiß, dass in Deutschland eine große Ungeduldherrscht. Das ist auch verständlich. Aber dass Sie Maß-nahmen schon zerreden, bevor sie in das Gesetzblattkommen und Wirkung entfalten können, ist nicht in Ord-nung. Das aber ist Ihre Politik: Sie schaffen Verwirrung.Sie schaffen kein Vertrauen; Sie wollen vielmehr Miss-trauen schüren. Das ist Ihr kurzsichtiges Ziel.

(Beifall bei der SPD)

Wir können mit der Konsolidierung nicht warten, biswir wieder ein ordentliches Wachstum erreicht haben.Im Jahr 2003 wird – das ist bereits dargestellt worden –die Neuverschuldung des Bundes durch die konjunk-turell bedingten Steuermindereinnahmen wie auch durchMehrbelastungen am Arbeitsmarkt mit einem Nach-tragshaushalt, den wir im Dezember beraten und sicher-lich auch verabschieden werden, auf rund 38 MilliardenEuro steigen. Dieses Niveau verlassen wir mit demHaushalt 2004 schleunigst wieder.

Was die Konsolidierung angeht, erfüllen wir den Ver-fassungsgrundsatz aus Art. 115 Grundgesetz – zu demheute die seltsamsten Interpretationen aus den Reihender Union vorgetragen worden sind – und zugleich auchdas Maastricht-Kriterium. Daran führt kein Weg vorbei.Wir sichern die Handlungsfähigkeit des Staates über denTag hinaus.

(Beifall bei der SPD)

Sehr interessant ist – man höre und staune –, dass esdafür auch einen neuen Kronzeugen gibt, nämlich denhessischen Ministerpräsidenten Koch. In den vergange-nen Jahren ist er sehr exzessiv in die Verschuldung ge-

Page 45: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4887

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Walter Schöler

gangen und hat nun dafür seine Quittung bekommen. Erist von den Ratingagenturen heruntergestuft worden; dasTriple A ist futsch. Das hat ihm wohl einen gehörigenSchrecken eingejagt. Denn der Verlust der Bonität isteine äußerst schlechte Empfehlung für einen Kanzler-kandidaten in spe. Nun reiße er das Ruder herum, be-hauptet er: Er will brutalstmöglich sparen. Der brutalst-mögliche Aufklärer mutiert jetzt zum brutalstmöglichenSparer. Festzuhalten ist in jedem Fall: Hessen hat mitKoch sein Triple A verloren. Die Bonität des Bundessteht hingegen außer Frage. Der Bund mit Finanzminis-ter Eichel hat sein Triple A.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, die Regierungskoalition im Bund betreibt seitJahren Konsolidierung mit Nachdruck, aber auch mitAugenmaß. Indikator dafür ist die Entwicklung bei denAusgaben; denn die bereinigten Ausgaben liegen imEntwurf 2004 rund 8,6 Milliarden Euro oder 4 Prozentniedriger als 1998, dem letzten Jahr von Schwarz-Gelb.Das Bruttoinlandsprodukt ist hingegen im gleichenZeitraum um 15 Prozent gewachsen.

Der Anteil der Bundesausgaben am Bruttoinlandspro-dukt betrug 1998 unter Kohl und Waigel noch 12,2 Pro-zent. Wir haben ihn über die Jahre bis zu dem Entwurf2004 auf 9,8 Prozent zurückgeführt. Das heißt, wir ha-ben auf der Ausgabenseite schon gewaltig konsolidiert.

Insofern ist unser Konzept, das sich auf dem schma-len Grat zwischen dem Konsolidierungserfordernis undder unstreitig existierenden Gefahr kontraktiver Effektebewegt, ausgewogen. Aber das Konzept entlastet denBund schon 2004 mit rund 14 Milliarden Euro. Es ent-lastet aber auch – das ist genauso wichtig – die Länderund Gemeinden 2004 um 9,1 Milliarden Euro, anstei-gend auf 11,6 Milliarden Euro bis zum Jahre 2007.

Mit dem Haushaltsstabilisierungskonzept wird derZuwachs der Sozialausgaben gebremst und es werdenSubventionen abgebaut. Glauben Sie mir, wir bemühenuns, die notwendigen Belastungen sozial gerecht aufviele Schultern zu verteilen. Das fällt uns auch nichtleicht; wir machen das schweren Herzens. Das Erforder-nis einer Konsolidierung ließ uns aber keine andereWahl. Dazu gehören auch die hier schon erwähnten4 Milliarden Euro im Bereich des Arbeitsmarktes unddie 2 Milliarden Euro jährlich als Zuschuss an die Ren-tenkassen. Kürzungen beim Weihnachtsgeld und Strei-chungen beim Urlaubsgeld für Beamte, Richter undSoldaten gehören ebenso dazu wie der Abbau von Sub-ventionen in dreistelliger Millionenhöhe. Wir bitten alleGruppen, die davon betroffen sind und die ihren Anteil– gerecht verteilt – erbringen müssen, dafür um Ver-ständnis, dass wir handeln müssen.

Auf der Einnahmenseite werden Steuervergünstigun-gen abgebaut oder gekürzt – ich nenne noch einmal dieEigenheimzulage und die Entfernungspauschale.Steuerhinterziehung und Schwarzarbeit werden ver-stärkt bekämpft. Das sind doch Handlungsfelder, die dieOppositionsfraktionen während ihrer Regierungszeitüber Jahre sträflich vernachlässigt haben. Wir ändern dasjetzt mit unserem Entwurf eines Gesetzes zur Bekämp-

fung von Steuerhinterziehung und Schwarzarbeit, dervon der Regierung in Kürze hier vorgelegt wird.

Der Bundesrechnungshof – sein Präsident ist hier an-wesend – ist erwähnt worden. Er hat für den Bereich derUmsatzsteuer dargelegt, dass durch wirksame adminis-trative und auch gesetzliche Maßnahmen zur Verhinde-rung der Steuerhinterziehung und des Umsatzsteuer-betruges hohe Mehreinnahmen für Bund, Länder undKommunen erwirkt werden können. Dazu erwarten wirdie Vorschläge für den weiteren Abbau von Steuer-vergünstigungen und Subventionen auf der Basis der An-kündigung der Ministerpräsidenten Koch und Steinbrück.Wir sind hier zu einer konstruktiven Zusammenarbeit be-reit. Es geht aber nicht, dass Sie, wie in der Vergangen-heit, einfach Ihre Mitarbeit verweigern.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Reden von Herrn Merz und auch vom KollegenAustermann soeben haben gezeigt, dass überhaupt keineVorschläge gekommen sind. Das ist nichts anderes alsdie Verweigerung einer Mitarbeit durch die Opposition.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden die Kon-solidierung durch schon umgesetzte Gesetze, aber auchdurch ein Paket von Maßnahmen, das in den nächstenWochen vor Verabschiedung des Haushaltes beraten unddie zweite und dritte Lesung hier im Parlament erreichenwird, begleiten. Die Konsolidierung der öffentlichenHaushalte ist nur durch Strukturreformen zu schaffen.Ich nenne hier die moderne Arbeitsmarktverfassung, diewir vorgesehen haben. Auch die Gesundheitsreform, aufdie wir uns verständigt haben und die heute einvernehm-lich – zumindest was die Koalitions- und die Unionsfrak-tionen betrifft – eingebracht wird, gehört dazu.

Ich will noch auf Folgendes hinweisen. Ich bin davonüberzeugt: Wir dürfen nicht in den Fehler verfallen, inZukunft weiter das von manchen Sozialpolitikern ange-strebte Ziel einer verstärkten Steuerfinanzierung derSysteme der sozialen Sicherung auf Kiel zu legen. Esgeht nicht so weiter. Wir werden auf Dauer – das zeigtsich bei den Renten – von diesem hohen Zuschussherunterkommen müssen.

(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Irrglaube!)

Wir können deshalb aus keinem Grunde auch noch an-dere Systeme, zum Beispiel gerade das System derKrankenversicherung, auf Dauer durch Schulden, ge-schweige denn durch Staatsschulden finanzieren.

(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Richtig!)

Auch da sind Sie aufgefordert, mitzuarbeiten. – Gut,Bartl, machen wir das. Wir werden ja die Debatte erleben.

Wir brauchen also keine Finanzierung aus Schulden.Wir brauchen keine Verlagerung der Finanzprobleme inunsolide Lösungen. Wir brauchen eine umfassende Kon-solidierung der Sozialversicherungssysteme. Daran ar-beiten wir.

(Beifall des Abg. Bartholomäus Kalb [CDU/CSU])

Page 46: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

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Walter Schöler

Das gilt auch für die Vorschläge zur weiteren Reform inder Rentenversicherung im Sinne der Generationenge-rechtigkeit, die gewährleistet sein muss.

Sie sehen also, meine Damen und Herren, liebe Kol-leginnen und Kollegen: Wir haben ein Konsolidierungs-konzept. Die Opposition hingegen steht völlig blank da.

(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Jetzt war es gerade so gut!)

Außer leeren Ankündigungen – wir haben es eben wie-der erlebt – ist nichts zu bieten. Herr Austermann wolltebis zu 4 Milliarden Euro einsparen. Das sollte dann einknallharter Vorschlag sein. Der Vorschlag ist nicht ge-kommen, es war heute nichts davon zu hören.

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Zuhören!)

Wir hingegen haben ein Paket von 14 Milliarden Euro inden Haushalt eingearbeitet. 14 bei uns, 4 bei Ihnen – dasist ein ganz eindeutiges Ergebnis.

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Null im Haushalt!)

Das ist die Wahrheit, von der der Kollege Austermanneben gesprochen hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie fordern gleichzeitig, die Neuverschuldung zusenken. Wie soll das denn zusammenpassen? Bei Ihnenwäre eine Neuverschuldung doch – nach Adam Riese –eine um 10 Milliarden Euro höhere Zusatzverschuldung.Damit lägen wir dann schon beim Basishaushalt – ohnedas Vorziehen der Steuerreform, das wir beschließen –über der Verfassungsgrenze.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Plus 10 Milliarden Risiken!)

Ohne das Vorziehen der letzten Steuerentlastungsstufeläge die Neuverschuldung im Haushalt 2004 unterhalbder Verfassungsgrenze. Aber Sie, die Sie schon unterKohl und Waigel in sehr fahrlässiger Weise auf Pumpgelebt und den Staat aus den Sozialkassen finanziert ha-ben, wollen jetzt das Schuldengebirge erhöhen, das Sieseinerzeit aufgebaut haben. Eine solch unsolide Politikmachen wir nicht mit.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns: Siesind unsolide und wir konsolidieren.

(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Was denn?)

Im laufenden Haushalt 2003 wird die Neuverschul-dung das Volumen der Investitionsausgaben wegen desVorziehens der dritten Stufe der Steuerreform deutlichübersteigen. Das ist verfassungsgemäß, da das gesamt-wirtschaftliche Gleichgewicht angesichts eines viel zugeringen Wachstums bzw. von Stagnation sowie ange-sichts einer viel zu hohen Arbeitslosigkeit ganz offen-sichtlich gestört ist. Das bekämpfen wir mit unserenMaßnahmen, unter anderem durch das Schaffen von In-vestitionsanreizen und das Vorziehen der dritten Stufe

der Steuerreform. Art. 115 des Grundgesetzes wird alsovon uns auch 2004 eingehalten.

Auch die Grundregel das Maastricht-Defizitkriteri-ums wird von uns eingehalten. Wir arbeiten hart daran,dass die diesjährige Überschreitung – 3,8 Prozent wur-den nach Brüssel gemeldet – im nächsten Jahr abgebautwird. Wir wollen das nicht noch einmal erleben. Das tutuns selber weh. Dieser Wert muss zurückgeführt werden.Die Maastricht-Kriterien sind sicherlich kein Fetisch.Aber aus Sicht eines Haushälters muss ich sagen, dasssie für uns nicht zur Disposition stehen, und zwar auchdann nicht, wenn wir Hauptzahler in der EU sind und alseinziger Staat in Europa zusätzlich die Lasten der deut-schen Einheit zu finanzieren haben. Diese wollen wir garnicht erst herausrechnen. Wir wollen uns auch in Zu-kunft an die Vereinbarungen halten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Überschreitung der Defizitgrenze im Jahr 2003hat konjunkturelle Effekte, die nicht kompensierbar sind,wollten wir die Konjunktur nicht vollends abwürgen.Aber das wollen Sie offensichtlich tun. Wir können dasDefizit nur durch die von uns geplanten Strukturrefor-men zurückführen. Brüssel hat uns ausdrücklich bestä-tigt, dass wir hier den richtigen Weg beschreiten. Des-halb wird von dort letztlich keine Rechnung kommen,das heißt, es droht kein Ungemach in Form von Straf-zahlungen.

Wir sind beim Bundeshaushalt 2004 von der knappenDefizitgrenze von 3 Prozent ausgegangen. Wir haltendieses Ziel nach wie vor für erreichbar, auch wenn sichin den letzten Tagen – das gilt ebenfalls für die heutigeDebatte – mehr oder weniger ausgewiesene Sachverstän-dige mit höheren Schätzungen geradezu überboten ha-ben. Kollege Austermann spricht inzwischen von über 4Prozent. Das ist zumindest seiner Presseerklärung zuentnehmen. Aber wir wissen ja, was wir von den Prog-nosen des Kollegen Austermann zu halten haben. Siewaren in der Vergangenheit falsch und werden es auch inZukunft sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich meine, dass es durchaus Grund für Optimismusgibt. Die Konjunktursignale stehen zwar noch nicht aufGrün, können aber bald von Gelb auf Grün umspringen.Die binnenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen sindfür den weiteren Konjunkturverlauf günstig. Finanzmi-nister Eichel hat dies eben in seiner Rede noch einmalsehr eingehend nachgewiesen.

Entscheidend wird aber neben der weltwirtschaftli-chen Entwicklung sein, Bürgern und Unternehmern Ver-trauen in die zukünftige Entwicklung zu geben. Das, wasSie heute gesagt haben, bewirkt das genaue Gegenteil.Sie schüren Misstrauen. Wir alle brauchen aber Ver-trauen. Sie sollten nicht so tun, als ob die Oppositionnicht genauso auf das Vertrauen der Bevölkerung indie Parteien angewiesen wäre wie wir in der Regierung.Das ist nun einmal unabdingbar. Wir haben noch einganzes Paket an Lasten zu tragen, bis wir das Vertrauen

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4889

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Walter Schöler

der Bevölkerung wiederhergestellt haben. Wir wollen esdurch unsere Politik und auch mit dem Haushalt 2004fördern. Wir werden das in den Beratungen über die Ein-zelpläne – dafür haben wir bis Mitte November noch ei-nige Wochen Zeit – hinreichend belegen. Das Vertrauender Menschen in die Zukunft – davon bin ich fest über-zeugt – wird sich mit der Realisierung unserer Reform-politik wieder festigen. Wenn Vertrauen vorhanden ist,wird die aufgestaute Nachfrage sehr schnell wirksamwerden. Sie können davon ausgehen, dass die Binnen-konjunktur anspringen wird. Dafür werden unsere Mo-dernisierungspolitik und insbesondere unsere ReformenImpulse geben.

Die Opposition behauptet, der Bundeshaushalt 2004enthalte Risiken. Sie versteigt sich dabei in abenteuerli-che Größenordnungen.

(Dirk Niebel [FDP]: Alles wird gut!)

Herr Austermann konnte noch nie rechnen; er hat mitseiner Schwarzmalerei immer völlig danebengelegen.

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Immer Recht gehabt!)

Kollege Austermann, immer wenn Sie sich korrigierenmussten – das war beim letzten und auch beim vorletztenHaushalt so –, dann war das Ihre Stunde der Wahrheit.

Richtig ist aber natürlich – das wollen wir gar nichtverschweigen; so ist das nun einmal –: Es gibt Risiken.Es gibt in diesem Lande keinen Propheten, der Konjunk-turentwicklungen zuverlässig voraussagen kann. Leiderhaben auch wir noch keine Methode für zuverlässige Vo-raussagen erfunden. Deshalb muss immer wieder nach-gesteuert werden.

Das war auch zu Zeiten Ihrer Regierung nicht anders;auch da ist nachgesteuert worden. Ich erinnere mich andie von Ihnen immer wieder beschriebene goldene Zeitder 80er-Jahre unter Stoltenberg, als Steuern gesenktworden sind. Aber um welchen Preis? Der Preis war eineabsolute Erhöhung der Staatsverschuldung, und zwar zueinem Zeitpunkt, als überhaupt noch niemand von derdeutschen Einheit geredet hat.

(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Nein, nein, nein!)

Sie – kein anderer – haben die Staatsverschuldung indieser Höhe zu verantworten. Davon wollen Sie immerwieder ablenken.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Die Zeit unter Stoltenberg liegt dochschon fast zwanzig Jahre zurück!)

Im Übrigen hat im Frühjahr die Konjunktur- undSteuerschätzung stattgefunden. Im Herbst wird dieseSchätzung wieder durchgeführt. Wenn es notwendig seinwird, dann werden wir wieder nachsteuern. Richtig istauch, dass im Haushalt einige Schätzansätze enthaltensind, für die es keine absolut sichere Berechnungsbasisgibt, zum Beispiel bei der „Brücke zur Steuerehrlich-keit“, für die es acht gute Gründe gibt, wie das „Handels-blatt“ geschrieben hat. Alle Sachverständigen erwarten,

dass unsere Prognose eintreffen wird. Ich bin davonüberzeugt, dass sie sogar überschritten werden kann.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Schöler, ich habe den Eindruck, dass Sie

die vom Kollegen Kalb gewünschte Zwischenfrage zu-lassen wollen.

Walter Schöler (SPD): Das ist so, Herr Präsident.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Bitte schön.

Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Herr Kollege Schöler, können Sie bestätigen, dass es

in den Jahren von 1982/83 bis 1989 gelungen ist, die un-ter einer SPD-geführten Regierung geplante Neuver-schuldung von – ich hoffe es richtig in Erinnerung zuhaben – etwa 54 Milliarden DM auf 19 Milliarden DMzurückzuführen? Können Sie bestätigen, dass Waigel be-reits im Jahre 1990 einen absolut ausgeglichenen Haus-halt hätte vorlegen können, wenn nicht der glücklicheUmstand der Wiedervereinigung eingetreten wäre?

(Lachen bei Abgeordneten der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Das ist aber eine Legende!)

Können Sie außerdem bestätigen, dass in den Jahren von1986 bis 1989 die Zahl der Arbeitsplätze in Deutschlandgleichzeitig um 3,5 Millionen gestiegen ist?

Walter Schöler (SPD): Wir können uns über verschüttete Milch so lange un-

terhalten, wie wir wollen.

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wer hat denn damit angefangen?)

Fakt ist natürlich: Die Regierung Schmidt hat damalsSchulden in Höhe von 300 Milliarden DM hinterlassen.Herr Merz hat heute im Zusammenhang mit der Finan-zierung der deutschen Einheit über Drittelung – Stich-wort Portokasse – gesprochen: ein Drittel über Schulden,ein Drittel über Mittel der Sozialversicherungssysteme,ein Drittel über Steuern usw. Auch wenn man die Kostender deutschen Einheit berücksichtigt: Sie haben zu ver-antworten, dass in den 16 Jahren Ihrer Regierung dieStaatsverschuldung und die Belastung der Bürger eineabsolute Rekordhöhe erreicht haben. Daran gibt es über-haupt nichts zu deuteln. Es nützt nichts, wenn Sie durchdiese Zwischenfrage ablenken und sich rechtfertigenwollen. Wir können das anhand der Jahresdaten in derStatistik überprüfen.

(Beifall bei der SPD – Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Wir gleichen die Daten ab!)

Kollege Kalb, auch nach den Reden Ihres stellvertre-tenden Fraktionsvorsitzenden und Ihres haushaltspoliti-schen Sprechers Dietrich Austermann ist das Problemunverändert; Sie haben keine Vorschläge gemacht. Esbleibt dabei: Das größte Risiko für den Haushalt sind

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4890 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Walter Schöler

Sie, die Neinsager, die Hü-und-hott-Sager von der Op-position.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei Abgeordnetender CDU/CSU)

Die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat – wir ken-nen sie – sind, wie sie sind; wir werden damit leben müs-sen. Aber Sie haben eine Verantwortung, wenn nicht indiesem Parlament, wo Sie in der Minderheit sind, sodoch im Bundesrat, wo Sie die Mehrheit haben. DieserVerantwortung werden Sie gerecht werden müssen. Siemüssen Ihre Vielzüngigkeit und Ihre Konzeptlosigkeitbeenden. Sie veranstalten – leider Gottes, wie ich sagenmuss – ein Machtgerangel um eine chancenlose Kanzler-kandidatur für 2006. Egal wer Ihr Kandidat wird: DiesePerson wird in diesem Machtgerangel untergehen.

Sie können sich nicht erlauben, Ihre bisherige Hal-tung beizubehalten. Ich glaube, auch die Bevölkerungnähme Ihnen das nicht ab. Sie können sich auch nicht er-lauben, wie im Frühjahr noch einmal Nein zu sagen. Siehaben im Frühjahr zum Steuervergünstigungsabbauge-setz Nein gesagt, wodurch den Gemeinden 6 MilliardenEuro – Geld, das sie dringend brauchen – vorenthaltenwurden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich kann Sie von der Opposition nur auffordern: Tra-gen Sie unsere Politik zur Schaffung von Wachstum undBeschäftigung bei Wahrung sozialer Gerechtigkeit mit!

(Lachen bei der CDU/CSU)

Stimmen Sie unseren Gesetzentwürfen und auch demHaushaltsentwurf 2004 zu!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Treten Sie alle in die SPD ein!)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Nun hat der Kollege Dr. Hermann Otto Solms, FDP-

Fraktion, das Wort.

Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-

nen und Kollegen! Ich habe nur wenige Minuten undwill deswegen auch nur ganz wenige Bemerkungen ma-chen.

Das verloren gegangene Vertrauen – Sie erkennenselbst an, dass es verloren gegangen ist – ist nur durcheine Verbesserung der Fakten zurückzugewinnen. DasSchattenboxen hier im Parlament wird Ihnen dabei nichthelfen. Auch die Versuche, die Opposition in die Verant-wortung zu ziehen, werden Ihnen nicht helfen. Das Ver-trauen werden Sie nur zurückgewinnen, wenn Sie alsEndergebnis nachhaltige Verbesserungen auf dem Ar-beitsmarkt erreichen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ihre Aufgabe ist, nun konkret zu überlegen: Wie erreicheich solche Verbesserungen? Die Ansätze, die Sie dazumachen, sind – das ist das Entscheidende – völlig unzu-reichend.

Ich stimme Herrn Eichel zu: Der Dreiklang – Struk-turreformen, Haushaltskonsolidierung, Wachstumsim-pulse – hört sich gut an. Aber man muss das eben auchumsetzen.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Nur, wie?)

Ich bedaure Sie ein wenig, Herr Eichel, weil ich weiß,dass Sie in dem, was Sie erreichen wollen, durch Ihre ei-gene Fraktion gehemmt werden,

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Und durch das fehlende Können!)

die nicht bereit ist, die notwendigen Schritte mitzugehen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich will mich auf die Steuer- und Finanzpolitik kon-zentrieren. Mir liegt hier eine Liste der Steuerbelastun-gen und der Steuerentlastungen von 1999 bis heute vor.Danach kommen wir im Saldo – ich will das nicht imEinzelnen vortragen – zu einer Mehrbelastung von rund15 Milliarden Euro.

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Aber darin sind schon die Entlastungen durch die Steuer-reform insgesamt enthalten, obwohl die zweite und dritteStufe noch gar nicht in Kraft getreten sind. Das heißt: ImMoment haben wir es mit einer Steuermehrbelastung derBürger von 30 bis 40 Milliarden Euro gegenüber damalszu tun. Deswegen ist das verfügbare Einkommen derBürger ganz stark zurückgegangen.

(Joachim Poß [SPD]: Wie rechnen Sie denn?)

Wie kommen Sie eigentlich zu der Überzeugung, dieBürger würden jetzt den zurückgestauten Verbrauchnachholen und einen Boom auslösen? Das können siegar nicht, weil sie das Geld dafür nicht haben. Dazukommen noch die gestiegenen Beiträge zur Kranken-und Rentenversicherung. Das ist dabei noch gar nichtberücksichtigt.

(Jörg-Otto Spiller [SPD]: Was rechnen Sie da eigentlich?)

Sie werden die Bürger nur zum Verbrauch ermutigen,wenn sie bei den Beiträgen zu den gesetzlichen Siche-rungssystemen und bei den Steuern konkret entlastetwerden. Beides erreichen Sie trotz Steuerreform nicht.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Carl-Ludwig Thiele [FDP]:Leider wahr!)

Jetzt komme ich zum Subventionsabbau. HerrEichel, ich stimme Ihnen zu: Man muss natürlich überalle diese Punkte reden. Man kann auch über alle diesePunkte reden. Aber Sie können die steuerlichen Ver-günstigungen nur im Zusammenhang mit einer insge-

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4891

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Dr. Hermann Otto Solms

samt durchgreifenden Steuerreform und Steuerentlas-tung abbauen.

(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Nur so geht es!)

Wenn Sie die Steuerbelastung so hoch lassen undgleichzeitig die Vergünstigungen abbauen, dann werdenSie natürlich ökonomischen Schaden anrichten. WennSie die Eigenheimzulage jetzt unabhängig von einerbreiteren Steuerentlastung abbauen, dann wird sich dasauf dem Wohnungsmarkt niederschlagen,

(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sinken der Immobilien-preise!)

der gegenwärtig ohnehin der schwächste Teil unsererWirtschaft ist.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Bartholomäus Kalb [CDU/CSU])

Das müssen Sie im Auge haben, nicht deshalb, weil ichdas sage, sondern deshalb, weil das faktisch so ist. Des-wegen kann man so, wie Sie es tun, nicht vorgehen. Manmuss die Dinge im Zusammenhang sehen. Die Steuernmüssen gesenkt, die Vorschriften und die Bürokratiemüssen abgebaut und die Systeme der sozialen Siche-rung müssen in sich reformiert werden, sodass sie nach-haltig wieder tragfähig sind.

Bei Ihnen von den Grünen denken viele ähnlich, nurhandeln Sie nicht entsprechend. Deswegen verlierenauch Sie an Glaubwürdigkeit, wenn Sie diese unent-schlossene, mutlose Politik weiter betreiben, obwohl dieökonomisch denkenden Kräfte in Ihren Reihen wissen,was die Stunde geschlagen hat und was Sie tun müssten.

Ich will abschließend nur noch Folgendes anmerken:Herr Eichel, wenn das Ihre erste Haushaltseinbringungs-rede gewesen wäre, hätte ich gesagt: Respekt; Sie habendie Probleme erkannt. Da das aber Ihre fünfte gewesenist, haben Sie Ihre Glaubwürdigkeit verspielt. Die Leutewissen: Er hat das jedes Jahr gesagt, aber es ist nicht sogemacht worden.

Jetzt ist die Zeit zu handeln. Die Regierung muss han-deln oder sie wird abgelöst werden. So ist das Gesetz derDemokratie. Ihre Vorschläge, so wie sie jetzt auf demTisch liegen, sind absolut unzureichend – in allen De-tails.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile das Wort der Kollegin Anja Hajduk,

Bündnis 90/Die Grünen.

Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich

möchte anfänglich kurz etwas zum Haushalt 2004, überden wir hier heute sprechen, skizzieren. Den Entwurf desHaushaltsplans für das Jahr 2004, der insgesamt circa250 Milliarden Euro umfasst, kann man grob in sechsTeile zerlegen: 101 Milliarden für die Alterssicherung,

38 Milliarden für Zinsen – wenn man aus diesen vergan-genheitsbezogenen Kosten, nicht unbedingt Lasten, eineSumme bildet und sie in Bezug zum Gesamtvolumensetzt, macht das schon 55 Prozent aus –, 24,8 Milliarden fürInvestitionen, 24,2 Milliarden für Verteidigung, 30 Milliar-den für sonstige soziale Sicherung – dieser Posten sollaufgrund der geplanten Hartz-Reformen ja geringer wer-den – und 30 Milliarden für den Rest. Wenn man sichdiesen Haushalt insbesondere auch unter Berücksichti-gung der perspektivischen Weiterentwicklung anschaut– so werden aus den 55 Prozent für Alterssicherung undZinsen bis zum Ende der Finanzplanperiode 200760 Prozent –, dann erkennt man deutlich, dass wir in derTat einen großen Strukturreformbedarf haben. Darü-ber werden wir in diesem Herbst zum Beispiel hinsicht-lich der Rente noch diskutieren; dabei sollte man dannauch Versorgungsleistungen mit einbeziehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

An der Stelle gebe ich angesichts der heutigen Dis-kussionen übrigens gerne zu, dass wir mit dem Nachhal-tigkeitsfaktor bei der Rente etwas einführen, was zwarnicht identisch, aber in der Zielrichtung in einer durch-aus ähnlichen Form schon von Ihnen vorgeschlagenworden war. Ich persönlich halte nämlich nichts davon,gegenteilige Entscheidungen, die man vor fünf Jahrengetroffen hat, stur gesundzubeten. Umgekehrt hoffe ichaber, dass wir dann bei der Einführung des Nachhaltig-keitsfaktors auch zusammenarbeiten. Ich denke, dass Siediesen Weg auch mitgehen können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Bevor ich auf den Anspruch dieses Haushaltes zusprechen komme, gestehe ich im Übrigen auch eine ge-wisse Schwäche ein. So wurde vorhin bemängelt, dassnoch nicht erkennbar ist, wodurch die angestrebte Kon-solidierung im Rentenbereich in einer Größenordnungvon 2 Milliarden unter Zugrundelegung eines Beitrags-satzes von 19,5 Prozent erreicht werden soll. Dass wirentsprechende Vorschläge im Herbst vorlegen müssen,ist richtig. Einen Teil der diesbezüglichen Kritik akzep-tiere ich. Ich akzeptiere aber nicht die in meinen Augeninsgesamt überzogene Kritik; darauf gehe ich noch ein.

Wir haben im Haushalt eine Nettokreditlinie von30,8 Milliarden, auch bedingt durch das Vorziehen derSteuerreform. Auch ich halte diese 30,8 Milliarden fürunbefriedigend. Nachdem Sie hier vorhin sehr groß undlaut getönt haben, möchte ich Ihnen aber vor Augen hal-ten, dass Sie von 1996 bis 1998, in den letzten drei Jah-ren, in denen Sie Regierungsverantwortung trugen undwo wir ein durchschnittliches Wachstum von rund1,5 Prozent hatten, neue Schulden von etwas über100 Milliarden Euro gemacht haben. Wir haben in denJahren 2001, 2002 und 2003, also in den vergangenendrei Jahren, wo es ein durchschnittliches Wachstum von0,3 Prozent gab – zwar kennen wir für 2003 noch nichtdie genauen Zahlen, aber sie werden nicht sehr hoch aus-fallen –, 90 Milliarden Euro neue Schulden gemacht.

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Plus 50 Milliarden UMTS!)

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4892 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Anja Hajduk

Das ist keine Leistung, mit der man zufrieden sein kann,aber ich möchte Sie nur darauf hinweisen – –

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Entschei-dend ist der Trend, Frau Kollegin, der bei unsnach oben zeigte und bei Ihnen nach untenzeigt!)

– Lassen Sie einmal die UMTS-Milliarden außen vor. Esgeht um die reine Neuverschuldung. Wir haben dieseMilliarden ja auch zum Abbau der Verschuldung ver-wendet, was in der Sache ganz richtig war.

Ich will nur darauf verweisen, dass Sie zuzeiten einesviel höheren Wachstums viel mehr Schulden aufgehäufthaben; denn zwischen 1,5 Prozent Wachstum und Stag-nation besteht eine erhebliche Differenz.

(Zurufe von der CDU/CSU)

Seien Sie also ein bisschen vorsichtig mit Ihrer Kritikund überziehen Sie sie nicht. Ich lege Ihnen das nur nocheinmal dar, damit Sie zu einer gerechten Beurteilungkommen, wenn wir demnächst weiter darüber beraten.Sie können sich nicht davon freisprechen: Diese Ver-schuldung ist auch Ihre Geschichte.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Man erkennt daran – deswegen habe ich am Anfangvon den Säulen gesprochen –: Wir haben in diesemHaushalt strukturelle Mängel, angesichts derer wir unsauch bei besserer konjunktureller Lage nicht einfachausruhen können. Sie haben, wie gesagt, bei bessererkonjunktureller Lage schlechter gewirtschaftet als wirheute.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU:2 Prozent Wachstum für 2004 sind mehr als1,5 Prozent!)

Sie drohen jetzt mit der Blockade des gesamtenHaushalts. Das halte ich für eine schwerwiegende An-kündigung. Wenn Sie das machen, setzen Sie eine Ver-antwortungslosigkeit fort, die sich vielleicht in den Vor-jahren schon gezeigt hat; ich habe gerade die Zahlengenannt. Sie werden bei den Wählern damit nicht durch-kommen. Auch Sie haben eine Verantwortung für diewirtschaftliche Erholung im Lande, die sich abzeichnet.

Sie haben uns jahrelang gesagt, wir sollten die Steu-ern senken, und sind bei diesem Thema, auch zusammenmit der FDP, immer gerne vorangegangen. Wir habenseit 2001 in mehreren Stufen Steuersenkungen vorge-nommen. Das halte ich für ganz wesentlich und richtig;aber wir sollten ehrlicher in dem Punkt argumentieren,dass die heute vorhandenen Ausnahmetatbestände abge-schafft werden müssen, und zwar auch aus Gründen derGerechtigkeit. Nach der Steuerreform haben wir nichtdas Problem zu hoher Steuertarife; dann haben wir guteTarife. Aber ein Steuersystem ist dann gerecht, wenn dieLeute ihre Steuern wirklich zahlen.

(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Wenn sie esnur verstehen! – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Erst einmal müssen sie Arbeit haben!)

Dafür muss ein System transparent sein und Ausnahme-tatbestände müssen abgeschafft werden. Deswegen müs-sen Sie beim Subventionsabbau mitmachen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Für Sie schlägt nun die Stunde der Wahrheit. Sie ha-ben gesagt, die Steuerreform solle vorgezogen werden,aber nicht durch höhere Schulden. In diesem Punkt kön-nen Sie mitwirken und Alternativen formulieren; aberich halte es für eine unverantwortliche Volksverdum-mung, Herr Austermann, die Sie nicht nötig haben, wennSie den Vorwurf „linke Tasche, rechte Tasche“ erheben.Die Einführung niedriger Tarife für alle und die Ab-schaffung von Ausnahmetatbeständen sind gerecht, weilletztere nur einige betreffen. Wenn Sie sagen, die Sen-kung der Tarife und die Abschaffung der Ausnahmetat-bestände geschehe nach dem Prinzip „linke Tasche,rechte Tasche“, dann plädieren Sie für eine ungerechte,intransparente Steuerpolitik. Das halte ich für einen gro-ßen Fehler. Da gehen wir Ihnen voran.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Von „linke Tasche, rechte Tasche“ zu reden ist einebillige Politikpolemik, die man sich bei diesem Haushaltstrukturell nicht mehr leisten kann. Ich bitte Sie, ernst-haft darüber nachzudenken, ob Sie auf der Höhe der Zeitsind, wenn Sie sich bei der Eigenheimzulage und derEntfernungspauschale prinzipiell sperren.

(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Das sinddoch bei weitem nicht alle Ausnahmetatbe-stände! Das ist doch Willkür! Wir braucheneine grundlegende Steuerreform!)

Sie sind unglaubwürdig in Ihrer finanzpolitischen Kom-petenz.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ich finde es durchaus richtig, dass wir noch begrün-den müssen, was es mit dem Vorziehen der Steuerreformund der Neuverschuldung auf sich hat. Wir sind bereit,kritisch über die Ausgabenstreichungen, die wir vorneh-men, zu reden. Aber Sie wissen, dass das Haushaltsstabi-lisierungskonzept, das wir Ihnen vorlegen, schon eineganze Menge an Ausgabenkürzungen beinhaltet. Wirkürzen stark im öffentlichen Dienst. Wir haben enormeEinsparungen im Arbeitsmarktbereich vorgesehen.Wenn Sie uns da mit guten Vorschlägen toppen können,müssen wir uns im Zweifel damit auseinander setzen.Aber wenn Sie ernsthaft glauben, dass dieser Haushaltmit der Verkleinerung des Etats der Öffentlichkeitsarbeitder Bundesregierung saniert werden kann – das war dereinzige konkrete Vorschlag in der 20-minütigen Rede vonHerrn Austermann; ich habe Ihnen genau zugehört –,

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das war nur ein ganz kleines Beispiel!)

dann ist das in einer so ernsten Situation lächerlich undpeinlich; es tut mir Leid.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD – Weitere Zurufe des Abg.

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4893

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Anja Hajduk

Dietrich Austermann [CDU/CSU] – WilhelmSchmidt [Salzgitter] [SPD]: Da nutzt auch dasHerumschreien nichts, Herr Austermann!)

Ich möchte auch etwas zum Thema Maastricht sagen.Das Maastricht-Kriterium ist im Moment sehr in derDiskussion. Ich vertrete die Auffassung, man soll nichtin dem Moment Kriterien infrage stellen, in dem mangerade Probleme mit ihnen hat. Das sage ich bezüglichder Diskussion, die es auch in unseren Reihen gibt. Ichformuliere es so: Mit Blick auf den Haushalt 2004 mussman ins Auge fassen, dass wir an diesem Maastricht-Kriterium scheitern können, weil noch nicht klar ist, wiedas Vermittlungsverfahren ausgehen wird und wie dasWachstum im November geschätzt wird. Wir haben eineZielrichtung, in der ich dem Finanzminister nicht wider-sprechen will; aber der Finanzminister weiß selber, wel-che Risiken es da gibt. Er hat sie fairerweise vor demParlament und der Öffentlichkeit beschrieben.

Aber bei dem Maastricht-Kriterium wollen wir unsdarum bemühen, es einzuhalten. Wenn wir das nichtschaffen, dann – dafür plädiere ich – sollten wir die Auf-forderungen der EU ernst nehmen und die Auflagen an-nehmen. Das ist wichtig für das Zusammenspiel und Zu-sammenwirken der verschiedenen europäischen Länderim Wachstums- und Stabilitätspakt. Es nützt uns in demBemühen, unseren Haushalt strukturell auf die Beine zustellen; denn die Empfehlungen der EU und die Beob-achtung unserer Haushaltsentwicklung haben uns Haus-hältern in den letzten Jahren immer genützt. Deswegenhat die Diskussion um Maastricht meiner Ansicht nacheine unterstützenswerte Richtung, auch wenn wir im Er-gebnis noch nicht zufrieden sein dürfen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ich möchte zum Schluss betonen: Wenn Sie meinen,Sie könnten mit der Androhung einer Blockade gegen-über der Öffentlichkeit erfolgreiche Oppositionspolitikmachen, dann, glaube ich, haben Sie sich geschnitten.Wir werden Sie an Ihre Verantwortung erinnern. Wirwerden einklagen, dass Sie Alternativen vorlegen. Siekommen nicht so davon, dass Sie sagen können – wieHerr Koch es im Sommer getan hat –: „keine Steuerre-form zu Lasten unserer Kinder“, aber bei den Finanzie-rungsvorschlägen passen.

Insbesondere dürfen Sie nicht – Sie haben ja nochZeit, darüber nachzudenken – die Hoffnung und dieChance, die in der wirtschaftlichen Erholung liegt, diesich jetzt ein bisschen zeigt, gefährden. Aber Sie hättendie Möglichkeit dazu, sie zu gefährden. Deswegen plä-diere ich dafür: Nehmen Sie Ihre Verantwortung anderswahr, nämlich in der Nennung von Alternativen undnicht in der Ankündigung einer Blockade.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun die Kollegin Gerda Hasselfeldt,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der bishe-

rige Verlauf der Debatte hat deutlich gemacht, dass derHaushaltsentwurf auf einer äußerst maroden Grundlageberuht. Er beruht auf Daten, an die selbst diejenigen, dieihn vorgelegt haben, nicht mehr glauben. Er beruht aufGesetzen, die noch nicht einmal eingebracht, ge-schweige denn verabschiedet sind. Vor diesem Hinter-grund macht es auch keinen Sinn, dass wir zu diesemHaushaltsentwurf Änderungsanträge einbringen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)

Nun versprechen die Regierung und die Koalitions-fraktionen den Gemeinden im Land seit Monaten, siebekämen finanzielle Hilfe vonseiten des Bundes. Letzt-endlich ist uns heute ein Gesetzentwurf dazu vorgelegtworden. Aber siehe da: Kein einziger Redner hat imRahmen der Debatte etwas zum Inhalt dieses Gesetzent-wurfs gesagt. Alles hat sich nur in Überschriften vollzo-gen. Sowohl der Finanzminister als auch der stellvertre-tende Fraktionsvorsitzende haben bei diesem Punkt nurin Überschriften geredet. Sie haben von einer Moderni-sierung der Gewerbesteuer und von einer Revitalisie-rung gesprochen. Sie haben von einer Gemeindewirt-schaftssteuer geredet. Sie haben davon gesprochen, dassdie Kommunen finanzielle Hilfen bekommen.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wir ha-ben noch drei Redner, Frau Kollegin!)

Aber wo, bitte sehr, sind diese Hilfen konkret? Sie sinddie Antwort darauf schuldig geblieben. Ich sage Ihnenauch, warum: Sie sind sie schuldig geblieben, weil Sie inden eigenen Reihen keine Einigkeit haben. Wir haben indieser und in der vergangenen Legislaturperiode schonviel erlebt. Aber nun ist ein Gesetzentwurf von den Re-gierungsfraktionen und der Regierung gemeinsam einge-bracht worden, von dessen Inhalt sich nicht erst imLaufe der Debatte, sondern bereits zum Zeitpunkt derEinbringung, ja sogar schon vor der offiziellen Einbrin-gung maßgebliche – nicht nur irgendwelche – Leute ausder Regierungskoalition distanzieren. So wird hier Poli-tik gemacht!

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Kakophonie geht weiter. Vor wenigen Tagen warin der „Süddeutschen Zeitung“ zu lesen, dass ein Kol-lege aus dem Lager von Bündnis 90/Die Grünen Folgen-des gesagt haben soll – ich zitiere aus der „SüddeutschenZeitung“ vom 5. September 2003 –:

Diese Reform sei symptomatisch für den PolitikstilSchröders, moserte ein Grüner: „Erst interessiert ersich nicht dafür. Dann spricht er mit drei Wirt-schaftsbossen, und plötzlich sagt er: Jetzt machenwir da mal eine Reform – und genau so sieht dasErgebnis dann auch aus.“

Genau das ist Ihre Politik: Schnell wird eine Reformangekündigt, eine Überschrift und eine Botschaft

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4894 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Gerda Hasselfeldt

produziert. Wenn es aber ans Eingemachte geht, dannbleibt man die Antwort schuldig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn die Fraktionsvorsitzende der Grünen, FrauSager, sagt, das Zahlenwerk von Hans Eichel sei untaug-lich, dann muss man sich schon fragen: Wer soll demZahlenwerk des Finanzministers glauben, wenn diesschon die eigene Koalition nicht tut? Sollen etwa dieBürger im Land den Finanzminister für glaubwürdigerhalten als die eigene Koalition? Das kann es doch nichtsein!

(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Peinlich! Peinlich!)

Der Fraktionsvorsitzende der SPD hat gestern gesagt:Wenn es den Kommunen finanziell so schlecht geht,dann müssen sie halt mehr Schulden machen. – Wenn esein Problem auf dieser Ebene gibt, dann fällt Ihnen alsEinziges ein, mehr Schulden zu machen. Der Bundes-kanzler hat in seinem Sommerinterview auf die Frage,wie er die Gebührenerhöhungen der Kommunen be-werte, geantwortet, das sei nicht sein Problem, das liegein der Verantwortung der Kommunen. Ich sage ganzdeutlich: Es ist schäbig, sich so aus der Verantwortungzu ziehen, da doch bekannt ist, dass diese Regierung dieschlechte Finanzsituation der Kommunen, die sie zu ei-nem derartigen Handeln zwingt, verursacht hat. Das istder eigentliche Punkt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Kollege Solms hat in seinen Ausführungen deut-lich gemacht, wie sich die wirtschaftlichen Rahmenbe-dingungen und vor allen Dingen die Steuerbelastungenin den Jahren seit Ihrer Regierungsübernahme entwickelthaben. Diese negative Entwicklung ist ein wesentlicher– wenn auch nicht der einzige – Grund dafür, dass diewirtschaftliche Situation nahezu von einem Nullwachs-tum und von einer Zurückhaltung der Investoren ge-kennzeichnet ist. Es ist doch nicht von Gott gegeben,dass es kein Wachstum im Lande mehr gibt.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!)

Sie haben zu Beginn Ihrer Regierungszeit aufgrundder guten Arbeit der Regierung Kohl eine hervorragendewirtschaftliche Situation vorgefunden. Sie haben aberdiese positive Entwicklung durch Ihre Maßnahmen ka-putt gemacht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Damit haben Sie dazu beigetragen, dass die Steuerein-nahmen des Bundes, der Länder und der Gemeinden zu-rückgegangen sind. In den ersten Jahren Ihrer Regierunggab es noch steigende Steuereinnahmen, gerade auch beider Gewerbesteuer. Die Gewerbesteuer ist dann aber inden Jahren 2001 und 2002 eingebrochen. Der Grundliegt zum einen in Ihrer Steuerreform und zum anderenin der permanenten Verschlechterung der wirtschaftli-chen Rahmenbedingungen im gesamten Land, für dieSie verantwortlich sind.

Bei dem, was wir an Reformen für die Gemeindenvorsehen, muss die Maxime sein, alles zu tun, um Wachs-

tum zu stimulieren und um die Wachstumskräfte freizu-setzen. Wir dürfen aber nicht das Gegenteil tun, nämlichdie Steuern erhöhen und damit zusätzliche Steuerbelas-tungen schaffen, wie Sie es mit Ihrem Gesetzentwurf tun.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Man muss deutlich darauf hinweisen, dass die finan-zielle Not der Städte, Gemeinden und Landkreise nichterst seit wenigen Monaten bekannt ist. Diese Entwick-lung war schon im Jahr 2001 deutlich sichtbar. FriedrichMerz hat heute ebenfalls darauf hingewiesen, dass in derKoalitionsvereinbarung aus dem Jahre 1998 eine Kom-mission in Aussicht gestellt wurde, die an einer grundle-genden Reform der Gemeindefinanzen arbeiten sollte.Das war richtig so. Dieser Vorschlag war damals völligunabhängig von der akuten Finanznot der Kommunen,die sich erst später einstellte.

(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Genau!)

Ich möchte in diesem Zusammenhang besonders da-rauf hinweisen, dass in der Diskussion die aktuelleFinanznot der Kommunen mit der Notwendigkeit ei-ner grundlegenden Reform der Gemeindefinanzen ver-mischt wird. Wir haben zwei unterschiedliche Probleme!

Wir haben bei den Gemeindefinanzen zwei Probleme:zum einen die Notwendigkeit einer grundlegenden Re-form der Gemeindefinanzen. Dies ist spätestens seit1998 bekannt, aber eigentlich auch schon zuvor. Auchwir hatten vor, eine ähnliche Arbeit anzugehen. Seit2001 besteht zum anderen eine akute Finanznot der Ge-meinden, die im Wesentlichen durch eine falsche Wirt-schafts-, Finanz- und Steuerpolitik der Regierung verur-sacht wurde. Deshalb muss auch dort der Hebelangesetzt werden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wenn man akzeptiert, dass es diese zwei Problemegibt, dann genügt die Ausrede des Herrn Poß von vorhinnicht, dass die Gemeindefinanzreformkommission nichteingesetzt werden konnte, weil man ein anderes Anlie-gen, die Arbeit am Finanzausgleichsgesetz, zu Endebringen wollte.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Erstens hatten wir dazu einen eigenen Unterausschuss,der sich damit intensiv beschäftigt hat, und zweitenskann man die Probleme, die auf der Hand liegen, nichteinfach beiseite schieben und sagen: Wir haben jetzt an-deres; um dieses Problem kümmern wir uns danach.

Sie haben es durch die verspätete Einsetzung der Kom-mission verzögert, die Lösung dieser beiden Probleme an-zugehen. Sie haben durch eine einseitige Auftragsübertra-gung an diese Kommission nur Teilergebnisse erreicht.Sie versuchen jetzt letztlich, das alles miteinander zu ver-mischen und die grobe Überschrift „Hilfe für die Kommu-nen“ zu erhalten, ohne ins Detail zu gehen.

Unser Ansatz liegt auf dem Tisch. Er stand schon voreinigen Monaten, schon vor der Sommerpause, zur Dis-kussion.

(Jörg-Otto Spiller [SPD]: Ein Strohhalm!)

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4895

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Gerda Hasselfeldt

In ihm wird deutlich gemacht, dass wir die Problematik,die aus zwei Gesichtspunkten besteht, nämlich die akuteFinanznot zu lindern und grundlegende Reformen durch-zuführen, mit unterschiedlichen Maßnahmen zu lösenhaben.

Wir bleiben dabei: Eine Soforthilfe ist notwendig.Denn die Kommunen sind in weiten Bereichen nichtmehr in der Lage, einen rechtmäßigen Haushalt vorzule-gen. Dies hat gravierende negative Auswirkungen aufdie wirtschaftliche Entwicklung und auch auf die Situa-tion der Bürger in vielen Gemeinden. Wir bleiben dabei,dass neben diesem Soforthilfeprogramm – ich sage be-wusst: neben diesem und zusätzlich zu diesem Soforthil-feprogramm – eine grundlegende Reform auf der Basiseiner sauberen und von allen anerkannten Berechnungs-grundlage angepackt werden muss.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Ihr Gesetzentwurf, meine Damen und Herren von derSPD und von den Grünen, wird – mit Verlaub – keinemdieser Anliegen gerecht. Er wird nicht dem Anliegen ge-recht, sofort zu helfen, und nicht dem Anliegen, einegrundlegende Reform durchzuführen.

Ich will das an einigen Beispielen deutlich machen:Sie wollen jetzt – das ist zumindest bei Ihnen Konsens –die freien Berufe in die Gewerbesteuer mit einbeziehen.Ich weise darauf hin, dass der Bundeskanzler noch imvergangenen Jahr aus Anlass des Tages der freien Berufedas Gegenteil verkündet hat.

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das machtihm nichts! Das ist lange her! – Weitere Zurufevon der CDU/CSU)

Mittlerweile sind wir es aber gewohnt, dass man auf dasWort des Bundeskanzlers nicht vertrauen darf.

(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Rechts blin-ken, links abbiegen!)

Unabhängig davon sollte man sich einmal vor Augenhalten, welche Konsequenzen damit verbunden sind:700 000 zusätzliche Steuerpflichtige,

(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Da kommt Freude auf!)

die neben ihrer Einkommensteuererklärung zusätzlicheine Gewerbesteuererklärung abgeben müssen, die ande-ren Regularien unterliegt als die Einkommensteuererklä-rung. Wenn sie die Gewerbesteuererklärung abgegebenhaben, dann können sie einen Teil der von ihnen zu zah-lenden Gewerbesteuer pauschal auf die Einkommen-steuer anrechnen. Unter dem Strich ist dies eine riesigeUmverteilungsaktion von den Haushalten des Bundesund der Länder auf die Kommunen. Das könnten wirviel einfacher haben, nämlich durch eine Änderung derGewerbesteuerumlage und ohne diesen umständlichenund verwaltungsintensiven Weg der Einbeziehung in dieGewerbesteuer.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das, was Sie da vorhaben, ist ein Arbeitsbeschaf-fungsprogramm für Finanzbeamte und Steuerberater. Esist keine Reform, die auch nur ansatzweise die Über-schrift „Vereinfachung“ verdient und die sachgerecht ist.

Im Rahmen der Reform der Gewerbesteuer verkaufenSie noch eine ganze Reihe unterschiedlicher Maßnah-men: beispielsweise die Einführung der Mindestbesteue-rung, die Abschaffung des Betriebsausgabenabzugs oderdie Hinzurechnung von Zinsen im Hinblick auf Gesell-schafter, die einer Gesellschaft Fremdkapital zur Verfü-gung stellen. Es handelt sich dabei um eine Reihe ganzunterschiedlicher Maßnahmen, die jedoch eines gemeinhaben: Sie belasten zusätzlich insbesondere den Mittel-stand aufgrund der Gewerbesteuerpflicht. Dadurch wirdnichts einfacher, stattdessen ist es eine Politik, die ge-rade in einer Zeit, in der wir zusätzliches Wachstumbrauchen, kontraproduktiv wirkt. Das Schlimmste daranaber ist, dass es Flickwerk ist. Es geht um verschiedeneEinzelmaßnahmen, die herausgegriffen werden und ein-mal Bund und Länder zugunsten der Kommunen belas-ten, während andere Maßnahmen umgekehrt wirken. Soist für jeden etwas dabei. Tatsache ist: Unterm Strich istes eine zusätzliche Belastung. Es steckt auch keine strin-gente Idee, kein schlüssiges Konzept dahinter.

(Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Außer Ab-kassieren!)

Es ist reine Flickschusterei.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Ich kann daher nicht oft genug betonen, dass es darumgeht, zweigleisig zu fahren und die zwei unterschiedlichenProbleme, nämlich die Finanznot der Kommunen einer-seits und die grundlegende Reform der Gemeindefinanzenandererseits, getrennt durch unterschiedliche Maßnahmenzu lösen. Unser Programm liegt auf dem Tisch: Senkungder Gewerbesteuerumlage mindestens auf das Niveau,das vor Ihrer Steuerreform bestand, und Erhöhung desAnteils der Gemeinden an der Umsatzsteuer.

Sie haben mittlerweile eingesehen, dass das Letzterenotwendig ist. Noch vor Wochen, als wir darüber vor derSommerpause diskutierten,

(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Sind wir verunglimpft worden!)

haben Sie, als wir diesen Vorschlag auf den Tisch gelegthaben, gesagt: Das können wir nicht machen, es ist nichtfinanzierbar. Die Erhöhung des Anteils an der Umsatz-steuer ist im jetzigen Programm enthalten. Das ist gut.Auf dieser Basis können wir weiterarbeiten.

Uns sind auch Signale einiger Mitglieder der Koali-tionsfraktionen bekannt – zum Teil kommen sie hintervorgehaltener Hand –, dass man auch bei der Gewerbe-steuerumlage unseren Vorschlag als richtungsweisendund zielführend betrachtet.

Auf eines möchte ich noch hinweisen: Nicht nur dieEinnahmenseite ist wichtig, sondern mindestens genausowichtig ist die Ausgabenseite.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

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4896 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Gerda Hasselfeldt

Auch hierzu liegen konkrete Vorschläge in dem Antrag,den wir im Sommer eingebracht haben, für die BereicheJugendhilfe, Sozialhilfe, Arbeitslosenhilfe und Grund-sicherung vor. Sie haben in diesen Bereichen durch IhreGesetzgebung zusätzliche Lasten auf die Gemeindenübertragen.

Lassen Sie uns zunächst einmal an dem Sofortpro-gramm arbeiten, damit wir eine schnelle Entlastung zuJahresbeginn 2004 für die Gemeinden erreichen können.Danach müssen wir an die Arbeit gehen, um eine grund-legende Reform durchzuführen. Dabei ist es notwendig,dass wir ohne ideologische Scheuklappen auf der Basissolider und von allen anerkannter Berechnungen ge-meinsam mit den Kommunen an langfristig tragbarenLösungen zur Verbesserung und Verstetigung der Fi-nanzsituation der Gemeinden arbeiten. An diesen Krite-rien sollten wir uns alle miteinander messen lassen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Horst Schild, SPD-

Fraktion.

Horst Schild (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kol-

lege Merz hat heute Morgen schon mit der Legendenbil-dung angefangen und die Kollegin Hasselfeldt hat dassoeben fortgesetzt. In der Tat – Kollege Merz hat esheute Morgen gesagt – stand in der Koalitionsvereinba-rung von 1994,

(Friedrich Merz [CDU/CSU]: 1998!)

dass wir in der laufenden Wahlperiode

(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Ihr regiert erst seit 1998, nicht seit 1994!)

– stimmt, seit 1998, aber ich glaube, der Kollege Merzsprach heute von 1994 – die Gemeindefinanzreform an-packen wollten.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)

In diesem Zusammenhang muss man aber auch daran er-innern, weshalb eine Reform in dieser Wahlperiode nichtgelingen konnte. In sehr hohem Maße hat dazu beigetra-gen, dass Ihre Parteifreunde in Bayern und Baden-Württemberg in dieser Zeit vor das Bundesverfassungs-gericht gezogen sind und den Länderfinanzausgleich inZweifel gezogen haben.

(Zuruf von der CDU/CSU: War Hessen nicht dabei?)

Erst als wir in der letzten Wahlperiode den Länderfi-nanzausgleich auf neue Füße stellen konnten – das wareine unabdingbare Voraussetzung –, bestand auch dieMöglichkeit, den Bereich der Kommunalfinanzen neu zuregeln.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD –Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Diese Aus-rede fällt Ihnen fünf Jahre zu spät ein!)

– Auch Sie, Herr Kollege Kalb, haben in dieser Zeitdurchaus die Möglichkeit gehabt, sich Gedanken zu ma-chen. Was ist dabei herausgekommen? Ich darf die„Hannoversche Allgemeine Zeitung“ vom 27. Augustzitieren:

Und dann ist da noch die Union, die ein gewichti-ges Wörtchen mitzureden hat. Was sie will, bleibt… ein Rätsel. Den Kommunen wird mehr Geld ausdem Umsatzsteuertopf versprochen, was immer gutankommt. Den Freiberuflern will man die neuenSteuerbescheide der Stadt ersparen, was Anwältefreut. Aber Details? Fehlanzeige. Man wird wohlschlicht Nein sagen.

Ich kann im Interesse der Kommunen nur hoffen, dass esdazu nicht kommt.

Die Bundesregierung hat, nachdem sich die Kommis-sion zur Reform der Gemeindefinanzen auf kein einheit-liches Modell hatte einigen können, ihr Konzept für einenachhaltige Stärkung der Gemeindefinanzen vorgelegt.Wie die beiden in der Kommission intensiv behandeltenModelle sieht auch der Regierungsentwurf in der perso-nellen Verbreiterung der Bemessungsgrundlage durchdie Einbeziehung der Freiberufler einen wesentlichenSchlüssel zur Stabilisierung der kommunalen Steuerba-sis.

Das Ganze machen wir doch nicht aus Jux und Tolle-rei. Sie wissen genauso gut wie wir, wie viele TausendeProzesse hinsichtlich der Abgrenzung geführt werden,was freiberufliche und was gewerbliche Tätigkeit ist.Man muss doch die Augen verschließen, um nicht wahr-zunehmen, dass die derzeitige Regelung zu Wettbe-werbsverzerrungen führt. Warum soll der eine Zahn-technikermeister gewerbesteuerpflichtig sein und derZahntechniker in der Praxis eines Zahnarztes oder einerZahnärztin nicht? Niemand, der ein wirklich langfristigtragfähiges Konzept umsetzen will, wird an diesem Ele-ment vorbeikommen. Gefälligkeiten allein gegenüber ei-ner Gruppe in diesem Staat helfen den Gemeinden nichtweiter und tragen nicht zu einer Stabilisierung der Ge-werbesteuer oder der Gemeindewirtschaftsteuer bei.

Ich will nicht verheimlichen: Das, was die Bundesre-gierung vorgelegt hat, ist auf Kritik gestoßen, bei denkommunalen Spitzenverbänden wie auch – das sage ichganz freimütig – in meiner Fraktion. Wir alle, die wirwissen, wie angespannt die Finanzsituation der Kommu-nen ist, verstehen die Erwartung der Städte und Gemein-den an eine solche Reform. Wir alle wissen auch um dieSchwächen und Probleme der Gewerbesteuer. Es gibtunterschiedliche Auffassungen, in meiner Fraktion wiebei den kommunalen Spitzenverbänden. Aber geradedeswegen, meine ich, müssten wir zum Wohle der Ge-meinden und Städte jenseits von parteitaktischen Überle-gungen zu einer konstruktiven gesetzgeberischen Arbeitkommen.

Das Ziel der Bundesregierung wie auch der Koaliti-onsfraktionen ist und bleibt: Zum 1. Januar 2004 wollenwir die kommunale Finanzsituation verbessern. Wirbrauchen eine dauerhaft und umfassend verstetigteGrundlage der kommunalen Finanzen. Die wesentlichen

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4897

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Horst Schild

Zielsetzungen haben wir mit der Annahme des Antragsder Koalitionsfraktionen am 4. Juli im Deutschen Bun-destag beschlossen. Die Ausräumung der bestehendenZweifel, ob der Gesetzentwurf, den die Bundesregierungjetzt vorgelegt hat, diesen Zielen, die der Deutsche Bun-destag mit Mehrheit beschlossen hat, gerecht wird, wirdAufgabe der zukünftigen parlamentarischen Beratungenim Gesetzgebungsverfahren sein. Wo es notwendig ist,werden wir Änderungen vornehmen. Maßstab dafür sinddie vom Bundestag im Juli beschlossenen Eckpunkte.

Vorhin hat der Kollege Rexrodt auf den Vorschlag derFDP-Fraktion verwiesen. Dieser Vorschlag ist in der Öf-fentlichkeit offensichtlich nicht wahrgenommen worden;selbst der Innenminister fragte, wo denn dieser Vor-schlag sei. Es ist sicherlich gerechtfertigt, dass man die-sem Vorschlag nicht über Gebühr Aufmerksamkeitschenkt; denn er geht letztlich davon aus, dass bei derUmsatzsteuerverteilung zehn Punkte zusätzlich ver-schoben werden. Ich habe von der FDP noch keine Aus-sage darüber gehört, woher diese zehn zusätzlichenPunkte für eine Umsatzsteuerverteilung kommen sollen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wer soll das bezahlen? Der Bund oder die Länder oderBund und Länder zusammen? Dann hätten wir, im Ge-gensatz zu dem, was die Opposition zum Haushalt ge-sagt hat, wirklich ein Problem mit diesem Haushalt.

Frau Kollegin Hasselfeldt, die Union preist natürlichwieder ihr Sofortprogramm: mehr Umsatzsteuer für dieGemeinden und weniger Gewerbesteuerumlage – aller-dings erst einmal nur für ein Jahr, zumindest was dieUmsatzsteuerbeteiligung anbelangt. Dieses Sofortpro-gramm ist doch letztlich nur ein Alibi. Es verschleiert,dass die Union kein Konzept für die Zukunft hat.

Auch Sie hätten doch in all den Jahren ein Konzeptentwickeln können. Sie haben nach fünf Jahren nichteinmal einen Gesetzentwurf, sondern nur ein kurzatmi-ges Sofortprogramm. Dieses Sofortprogramm ist derkleinste gemeinsame Nenner, allerdings auf Kosten derHaushalte von Bund und Ländern, die ebenfalls nichtsmehr verkraften können.

Wir haben in den Eckpunkten, die wir hier im Deut-schen Bundestag im Juli beschlossen haben, ausgeführt,wie wir dieses Sofortprogramm beurteilen. Man kann si-cherlich über eine Senkung der Gewerbesteuerumlageim Rahmen des Gesamtpaketes zur Zukunft der Gewer-besteuer diskutieren. Eine Senkung der Gewerbesteuer-umlage macht aber nur dann Sinn, wenn man die Steuerselbst wieder zu einer für die Kommunen akzeptablenEinnahmequelle macht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dann kann man darüber reden. Dann können wir aucheinschätzen, was das bringt.

Das Gleiche gilt für einen höheren Umsatzsteueran-teil zugunsten der Kommunen. Die Bundesregierung hatdas vorgeschlagen. Aber wir müssen zur Kenntnis neh-men, dass seit 1997, als wir die Umsatzsteuerbeteiligungder Kommunen als Äquivalent für die abgeschaffte Ge-

werbekapitalsteuer geschaffen haben, kein vernünftigerKommunalsteuerschlüssel zur Verteilung dieser Mitteleingeführt wurde.

Meine Damen und Herren, wir stehen alle gemeinsamin der Verantwortung, in den kommenden Wochen dasNötige zu beraten, zu verabschieden und dann auchschnell umzusetzen.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Ihr habt ja nicht einmal eine Mehrheit!)

Bei allem Für und Wider und allen Nuancierungen hoffeich, dass wir am Ende zu einem Ergebnis kommen. Da-für möchte ich hier noch einmal werben.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Michael Meister,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Michael Meister (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wir stehen am Beginn einer Haushaltswoche.Ich hätte mir zunächst einmal gewünscht, dass die Bun-desregierung einen Bundeshaushalt für das Jahr 2004vorlegt, der auf der Basis unseres Grundgesetzes steht.Wir haben im Jahr 2002 erlebt, dass die Neuverschul-dung höher als die Investionen war. Sie werden in die-sem Jahr mit einer Neuverschuldung abschließen, diehöher als die Investitionssumme ist. Sie legen uns jetzteinen Haushaltsentwurf für 2004 vor, der wieder mehrneue Schulden als Investitionen vorsieht.

(Walter Schöler [SPD]: Dann gehen Sie doch vor das Bundesverfassungsgericht!)

Dem Selbstverständnis des Deutschen Bundestageswürde es entsprechen, wenn der Bundesfinanzministerauf den Boden unseres Grundgesetzes zurückkehren unduns einen verfassungsgemäßen Haushalt zur Beratungvorlegen würde.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das, was er hier vorlegt, entspricht nicht dem Grundge-setz. Das müssen Sie sich anheften lassen. Ich will jetztnicht auf die Gerichtsurteile in Nordrhein-Westfalen ein-gehen. Aber wenn man das in drei Jahren auf Bundes-ebene tut, ist man von der Verfassungswidrigkeit nichtmehr weit entfernt.

(Zuruf von der SPD: Wenn das so ist, dann müssen Sie aber klagen!)

Der Bundesfinanzminister ist 1999 mit einer Visionangetreten: ausgeglichener Bundeshaushalt 2004. Dannwurde gesagt: 2006. Ich frage mich heute: Was ist vondieser Perspektive übrig geblieben?

(Zurufe von der CDU/CSU: Nichts!)

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4898 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Dr. Michael Meister

Seit 2001 steigt in jedem Jahr die Neuverschuldung. Dasheißt, wir bewegen uns nicht auf den ausgeglichenenHaushalt zu, sondern von ihm weg.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Leider wahr!)

Ich verlange, dass die Bundesregierung entweder ihrePerspektive einhält und darlegt, wie wir die Neuver-schuldung auf null senken, oder offen sagt, was ihrekünftige finanzpolitische Perspektive ist. Wir könnendoch hier keine Haushaltsberatungen führen, in denendiese Fragen offen bleiben.

Der Bundesfinanzminister hat uns vor zwei Jahrenhier gesagt: Die Schulden von heute sind die Steuern vonmorgen. Jetzt steigert er seit drei Jahren die Schulden.Das hat doch mit nachhaltiger Finanzpolitik nichts mehrzu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, Sie wissen alle, dass ichaus Hessen komme. Heute ist im Laufe der Debatte Hes-sen mehrfach angesprochen worden. Der Herr Bundesfi-nanzminister hatte ja, als er sein Amt antrat, seine Refe-renzen aus Hessen. Er war dort acht Jahre langverantwortlicher Ministerpräsident. In diesen acht Jah-ren hat er es geschafft, die Gesamtverschuldung desLandes Hessen um rund 40 Prozent zu erhöhen.

(Nina Hauer [SPD]: Sie haben es nötig!)

Ich weiß nicht, ob ihn das qualifiziert, hier jetzt aufzutre-ten und zu sagen, er sei der Sparkommissar. Entspre-chende Referenzen aus Hessen kann er nicht vorweisen.Mit dieser Altlast haben wir heute zu kämpfen.

Ich würde mir wünschen, dass wir einen Bundeskanz-ler hätten, der eine Operation Zukunftssicherung betrei-ben und ein ähnlich entschlossenes Programm wie diehessische Landesregierung vorlegen würde, um endlichden Schuldenabbau und eine seriöse Haushaltsplanungvoranzutreiben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Bundesregierung finanziert momentan die Wer-bekampagne „Deutschland ist in Bewegung“.

(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Im freien Fall!)

Wenn ich mir anschaue, was am Arbeitsmarkt, im Be-reich der Neuverschuldung und im Bereich der Insolven-zen geschieht, dann muss ich sagen: Ja, Deutschland istin Bewegung, nämlich in einer massiven Abwärtsbewe-gung. Dafür braucht man nicht zu werben; das muss manbeenden und umkehren. Das müsste das Ziel sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Als der Bundeskanzler – er ist jetzt leider nicht anwe-send – 1998 angetreten ist, hat er gesagt, dass der Arbeits-markt, der ja einer der größeren Haushaltsrisiken ist – wirreden an dieser Stelle über ein Haushaltsrisiko in Höhevon mehr als 5 Milliarden Euro, das im Haushalt nichtgebucht ist –, Chefsache ist. Ich nehme an, er kümmertsich gerade darum, dass die Arbeitslosigkeit in Deutsch-land zurückgeht. Deshalb ist er wohl auch nicht hier.

Das Ziel, das er persönlich zu seiner Chefsache er-klärt hat, nämlich das Sinken auf 3,5 Millionen, wirdnicht erreicht. Die zuständige Bundesanstalt für Arbeitund alle Institute sagen, dass wir im nächsten Jahr aufüber 5 Millionen zumarschieren. Was ist mit der Chefsa-che, wo sind die Lösungen und wo sind – damit verbun-den – die Antworten im Bundeshaushalt darauf? Ichkann hier nichts erkennen. Der Chef ist an dieser Auf-gabe offensichtlich gescheitert.

Weiterhin will ich sagen: Diese Bundesregierungnimmt die Realitäten nicht mehr wahr. Heute Morgensind die Risiken des Haushaltes dargelegt worden. Wirhaben einen Bundesfinanzminister, der sich im Bereichdes Arbeitsmarktes und im Bereich des Wachstums weitvon jeglicher Realität entfernt hat. Wenn wir aber hierseriös miteinander diskutieren wollen, brauchen wir end-lich wieder seriöse Grundannahmen, die sich an den Re-alitäten und nicht an den Wunschträumen orientieren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Drei Jahre lang haben Sie bei den Arbeitsmarktzahlenund den Wachstumserwartungen vollkommen falscheDaten zugrunde gelegt, weswegen Sie sich nicht wun-dern dürfen, dass die ganzen Debatten, die wir hier überHaushaltspläne führen, nicht zielführend sein können.Deshalb fordere ich Sie auf: Haben Sie endlich Einsichtin die Realitäten und kommen Sie von Ihren Luftschlös-sern wieder ein Stück weit auf den Boden zurück!

(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Poß, Sie haben von der Opposition Konzepte ge-fordert und gesagt, dass wir eine Mitverantwortung ha-ben. Ich sage Ihnen hier deutlich: Ich bin gerne dafürverantwortlich, dass wir zu Jahresbeginn über40 Steuererhöhungen in Deutschland verhindert haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich bin der Meinung, dass das für das Wachstum und dieBeschäftigung in Deutschland eine gute Entscheidungwar. Wir wären heute in einer noch viel schlimmeren Si-tuation, wenn Sie diese über 40 Steuererhöhungen inDeutschland durchgesetzt hätten, weil dann das Wachs-tum noch bescheidener gewesen wäre. Dann könnten Sieheute nicht mehr von Stagnation, sondern müssten voneiner Rezession reden.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!)

Das wäre das Ergebnis gewesen, wenn Sie ihre Plänedamals durchgesetzt hätten.

(Walter Schöler [SPD]: 6 Milliarden Euro zu-sätzlich für die Gemeinden!)

Sie haben nach den Konzepten der Opposition ge-fragt. Ich nenne Ihnen die 400-Euro-Jobs. Wer hat dennnach 1998 diesen Mist bei den 630-Mark-Jobs gemacht,

(Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!)

der dann korrigiert werden musste? Es gibt jetzt ja eineFrau Ministerin Schmidt, die lobend erwähnt, dass esfast 1 Million neue Beschäftigte in diesem Bereich gibt.Das ist kein Wunder. Hätten Sie diesen Mist nach 1998nicht gemacht, dann hätten wir diese Beschäftigten

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4899

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Dr. Michael Meister

schon lange. Es waren Ihre Fehler, die wir jetzt mit ei-nem hohem Aufwand korrigieren müssen.

Im Deutschen Bundestag liegt ein Gesetzentwurf derCDU/CSU-Fraktion zum Bereich des Arbeitsrechts vor;wir haben einen konkreten Gesetzentwurf vorgelegt.Herr Poß, wo ist Ihre Mitwirkung und wo ist die Zustim-mung Ihrer Fraktion, sodass wir Deutschland im Bereichdes Arbeitsrechts voranbringen können?

Bezüglich der Zusammenführung von Arbeits-losen- und Sozialhilfe haben wir einen Gesetzentwurfder hessischen Landesregierung über den Bundesrat ein-gebracht. Wir werden ihn auch hier im Deutschen Bun-destag in Form eines konkreten Gesetzentwurfs zur De-batte stellen. Frau Kollegin Hasselfeldt hat eben unsereVorschläge vorgetragen, die wir selbstverständlich in dieBeratungen einbringen.

Auch bezogen auf die Zukunft der Gewerbesteuer lie-gen konkrete Gesetzestexte und ein Sofortprogramm derOpposition vor. Herr Poß, es ist eine Schimäre, wenn Sieeinfach behaupten, wir hätten keine Konzepte. Wir tunmehr, als es eigentlich Aufgabe der Opposition ist. Wirlegen konkrete Anträge und Gesetzentwürfe vor. Eswäre an Ihnen, sie nicht einfach wegzuwischen, sondernsich mit diesen Vorschlägen ernsthaft auseinander zu set-zen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Joachim Poß [SPD]: Zu Haushalt und Finan-zen nichts Konkretes!)

– Herr Poß, zum Haushalt und zu den Finanzen: Wir ha-ben auch zur Steuerreform und zum Vorziehen der drit-ten Stufe klare und deutliche Ansagen gemacht. Wir ha-ben gesagt, dass wir der Meinung sind, dass einVorziehen der dritten Stufe unter vier Bedingungen mög-lich ist.

(Nina Hauser [SPD]: Koch sagt Nein!)

Die vier Bedingungen sind:

Erstens. Keine Neuverschuldung. Wir wollen keineSteuerreform auf Kosten der Zukunft finanzieren. Mitdem Haushalt, den Sie uns heute vorlegen, sind Sie andiesem Kriterium gescheitert. Sie treiben die Neuver-schuldung über die Verfassungsgrenze und auch über dieVerschuldungsgrenze des Maastricht-Vertrages.

(Walter Schöler [SPD]: Was denken Sie, wasSie sagen würden, wenn wir das machen wür-den, was Sie vorschlagen!)

Zweitens. Wir wollen keine Steuererhöhungen, die ei-ner Entlastung dauerhaft entgegenstehen. Was Sie zumBeispiel bei der Pendlerpauschale machen, ist nichtsanderes, als über mehrere Jahre die Steuern zu erhöhen,um das Vorziehen der Steuerreform für ein Jahr zu finan-zieren.

Die Menschen in Deutschland werden von Ihrer Poli-tik hinters Licht geführt, indem sie dauerhaft stärker be-lastet werden. Dies wird zwar als Entlastung verkauft, istaber auf längere Sicht gesehen eine Mehrbelastung. Dashaben die Menschen in Deutschland auch gespürt: beider Ökosteuer, der Erhöhung der Tabaksteuer, der Versi-

cherungsteuer. All diese Steuern haben Sie erhöht unddamit die Entlastungen mehr als kompensiert.

(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das ist falsch!)

Die Menschen in Deutschland merken, dass Ihre Politiknicht zu Entlastungen führt, sondern dass Ihre Politik dieUnternehmen, die Menschen heute und in der Zukunftbelastet. Deswegen ist sie falsch und muss verändertwerden.

(Beifall bei der CDU/CSU)Drittens. Sie haben weiterhin deutlich gemacht: Wir

brauchen Strukturreformen in Deutschland. Ich habeeben einige Gesetzentwürfe angesprochen, die wir ein-gebracht haben. Im Bereich Arbeitsmarkt, Wirtschafts-politik und Sozialsysteme müssen wir vorankommen.Dazu gibt es konkrete Vorlagen; aber sie müssen umge-setzt werden.

An dieser Stelle unterliegen Sie, Herr Poß und Frak-tion, einem gewaltigen Irrtum. Sie sind der Ansicht:Wenn diese dritte Stufe der Steuerreform vorgezogenwird, dann wird damit die Konjunktur angeschoben. Wirhaben aber in Deutschland im Wesentlichen kein Kon-junkturproblem, sondern ein Strukturproblem. Wir müs-sen die Strukturprobleme lösen, wenn wir dauerhaftesWachstum und eine dauerhafte wirtschaftliche Erholungerreichen wollen.

(Joachim Poß [SPD]: Beides!)Sie versuchen, sich der Lösung der Strukturprobleme zuverweigern, und setzen an dieser Stelle auf kurzfristigeStrohfeuerprogramme. Diese werden aber die Problemenicht lösen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Lothar Binding[Heidelberg] [SPD]: Das hängt doch aufsEngste zusammen!)

Sie fordern, dass wir uns zu den steuerpolitischenMaßnahmen äußern. Ich nehme einmal das Gesetz zurFörderung der Steuerehrlichkeit heraus, die so ge-nannte Brücke in die Steuerehrlichkeit. Das Gesetzwurde ebenso wie die Kapitalertragsbesteuerung langeangekündigt und dann verschoben. Sie glauben, dass dieMehreinnahmen – diese Summe ist im Haushalt fest ge-bucht –, die Sie an dieser Stelle für den Bundeshaushaltsowie für die Haushalte der Länder und Kommunen er-warten, ein wesentlicher Teil der Entlastung für Kom-munen und Länder werden, die Sie propagieren.

Ich sage Ihnen: Solange bei Ihnen die Frage der Erb-schaftsteuer virulent ist und ständig jemand eine Erhö-hung dieser Steuer vorschlägt und solange Ihre Positio-nen zur Vermögensteuer nicht geklärt ist – Ihre Positionzur Vermögenssteuer wollen Sie irgendwann auf einemBundesparteitag klären –, werden Sie zu keinem Ergeb-nis kommen. Unsere Position ist, diese Steuer abzu-schaffen und sie aus dem Grundgesetz zu streichen.Wenn Sie nicht klären, wie die Frage der Kapitalertrags-besteuerung beantwortet wird, werden Sie niemandenüber diese Brücke der Steuerehrlichkeit nach Deutsch-land zurücklocken. Das, was Sie als Gesetz beschließenund im Haushalt gebucht haben, hat keine seriöseGrundlage. Deshalb werden Sie am Ende wieder Löcher

Page 58: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

4900 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Dr. Michael Meister

im Bundeshaushalt haben und zu keinem positiven Er-gebnis kommen.

Abschließend lassen Sie mich etwas zum Korb II sa-gen. Auch mit ihm werden viele finanzpolitischen Fra-gen aufgeworfen. Wir wollen in Deutschland keine Min-destbesteuerung. Deshalb werden wir als UnionVorschlägen, die eine Mindestbesteuerung vorsehen,nicht zustimmen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir sind bereit, mit Ihnen konstruktiv zu diskutieren.Dies darf aber nicht zu Beschlüssen führen, mit denendie Zahl der Insolvenzen in Deutschland nach oben ge-trieben wird.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Bei der Frage der Fremdfinanzierung bin ich der Auf-fassung, dass wir nicht nur einfach den EuGH-Beschlussumsetzen müssen, sondern dass wir auch dafür sorgenmüssen, dass Unternehmen in Deutschland investierenkönnen. Deshalb muss Ihr Gesetzentwurf in diesemPunkt geändert werden.

Wir müssen uns auch um das Thema Lebens- undKrankenversicherungen kümmern. Dafür muss eineLösung gefunden werden. Ansonsten werden wir in einesehr heikle Lage kommen. Wir alle müssen uns Gedan-ken darüber machen, wie wir das Problem der Alters-sicherung und der Demographie lösen. Wenn wir die Un-ternehmen, die dazu Angebote machen, behindern,werden wir es nicht lösen.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Dr. Michael Meister (CDU/CSU): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich hoffe, dass ich

auch Herrn Poß und seiner Truppe einige Gedanken nä-her gebracht habe

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das ist aussichtslos!)

und dass sie in Zukunft den Herrn Bundesfinanzministerstärken und ihm bei den weiteren Debatten nicht in denRücken fallen werden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Jörg-Otto Spiller,

SPD-Fraktion.

Jörg-Otto Spiller (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Herr Kollege Dr. Meister, ich bescheinige Ihnenneidlos: Sie können schnell sprechen.

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Und intelligent!)

Es wäre aber besser gewesen, Sie hätten etwas langsa-mer gesprochen und dafür deutlicher gemacht, was Sieeigentlich wollen.

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Einge-schlafen, oder was?)

Mir ist das nicht klar geworden. Ich glaube auch nicht,dass den Besuchern auf den Tribünen klar geworden ist,was Ihr Konzept ist. Ich habe nicht erkannt, was Sie wol-len.

Wir haben im ersten Teil – das hat mit dem KollegenMerz angefangen – überwiegend Polemik gehört. Vonder Opposition kam nur Polemik.

(Gerda Hasselfeldt [CDU/CSU]: So ein Quatsch!)

Ich glaube allerdings nicht, dass die Bürgerinnen undBürger in Deutschland Polemik hören wollen, sondernich glaube, dass sie wissen wollen, was die unterschied-lichen Konzeptionen sind, um unser Land voranzubrin-gen.

Wir haben dafür eine klare Konzeption vorgelegt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Da muss er selber lachen!)

Diese stützt sich auf drei Säulen: Wir müssen die finan-ziellen Handlungsspielräume zurückgewinnen,

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: MehrSchulden, mehr Pleiten, mehr Arbeitslosigkeitsind die drei Säulen!)

indem wir eine mittelfristige Konsolidierung der öf-fentlichen Haushalte betreiben, wir müssen Beschäfti-gung fördern und wir müssen die Wachstumsschwächeüberwinden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Seit fünf Jahren wissen wir das!)

Eine Wachstumsschwäche – jetzt ist der KollegeRexrodt leider nicht mehr da –

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Der isteingeschlafen! Der musste rausgetragen wer-den!)

haben wir in Deutschland seit zehn Jahren. Seit 1993war das gesamtwirtschaftliche Wachstum in Deutsch-land jedes Jahr niedriger als im Durchschnitt der Euro-päischen Union. Es macht überhaupt keinen Sinn, überdie letzten drei, die letzten fünf oder die letzten siebenJahre zu reden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Die kann man ver-gessen! Da haben Sie vollkommen Recht!)

Wir müssen uns vielmehr mit der Frage beschäftigen, wodie strukturellen Belastungen liegen, die dazu geführthaben, dass wir anders als in früheren Zeiten schwächerwachsen als der Durchschnitt der Europäischen Union.

(Zuruf von der CDU/CSU: 2 Prozent sind doch gut!)

Page 59: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4901

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Jörg-Otto Spiller

Es ist ganz offenkundig, dass ein Teil der Ursachen mitden Lohnnebenkosten zusammenhängt und dass es da-rauf ankommt, dass wir unsere sozialen Sicherungssys-teme auch unter schwierigen demographischen Bedin-gungen zukunftssicher machen und Arbeit nicht nochmehr verteuern, als das ohnehin der Fall ist.

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Macht das doch!)

Deswegen ist die erste Aufgabe unserer Politik, die fürdie strukturelle Schwäche verantwortlichen Faktoren zubeseitigen. Das haben wir mit der Agenda 2010 konkretauf den Weg gebracht.

(Zuruf von der CDU/CSU: Welche Erkennt-nis! Das habe ich schon vor zehn Jahren ge-sagt!)

Der zweite Bereich ist die Konsolidierung der öffent-lichen Finanzen. Dazu zählen nicht nur die Einnahmen,sondern natürlich auch die Ausgaben. In Bezug auf dieEinnahmen habe ich beim Kollegen Merz wie beim Kol-legen Austermann – auch beim Kollegen Dr. Meister –konkrete Vorschläge vermisst. Wir haben oft genug beivielen Debatten von Ihrer Seite gehört, das Prinzipmüsse sein, Sonderregelungen und Subventionen, insbe-sondere Steuersubventionen, abzubauen und dafür dieTarife zu senken.

Wir senken die Tarife. Wir haben die Tarife auchschon gesenkt.

Wir haben erlebt: Jedes Mal, wenn es beim Abbauvon Steuersubventionen konkret wurde,

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ging es in die Hose!)

haben Sie, auch Sie, Herr Thiele, gesagt: Aber meineKlientel darf nicht geschädigt werden.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Meinen Sie Nachtarbeit?)

Gestern haben wir wieder eine Erklärung von FrauMerkel zum Bundeshaushalt und zur Einhaltung derKriterien des Stabilitäts- und Wachstumspaktes lesenkönnen. Sie sagt, für die vorgezogene Tarifsenkungmüsse eine seriöse Finanzierung verlangt werden. Manfragt sich, was die seriöse Finanzierung ist. Sie sagt, esdürfe aber in keinem Punkt irgendwo einen Abbau vonSubventionen geben. Das passt überhaupt nicht zusam-men.

Die CDU/CSU ist eine zu bedeutende Partei, als dasssie solche Sprüche machen und ihrer Verantwortung aus-weichen könnte.

(Joachim Poß [SPD]: Macht sie aber!)

Man kann vielleicht sagen: Es ist nicht schlimm, wennHerr Merz reine Polemik macht; auf Herrn Merz kommtes letzten Endes nicht an. Das trifft auch für HerrnAustermann zu. Wir brauchen im Deutschen Bundestagnicht unbedingt Ihre Zustimmung. Das ist wahr.

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wir brau-chen mehr Spiller!)

Aber bei Frau Merkel verhält sich das schon anders.Frau Merkel ist die Vorsitzende der CDU.

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ach was!)

Die Entscheidungen im Bundesrat müssen, meine ich,verantwortungsbewusst erfolgen. Es trifft nicht zu, dassdie Union im Bundesrat die Opposition darstellt. ImBundesrat gibt es nämlich keine Opposition; vielmehrsind im Bundesrat nur Landesregierungen vertreten. DerBundesrat ist ein Organ des Bundes. Die Verantwortungfür den Gesamtstaat muss auch dort wahrgenommenwerden. Täuschen Sie sich nicht: Die Bürgerinnen undBürger unseres Landes erwarten, dass Sie nicht nur inPolemik ausweichen.

Im Zusammenhang mit dem Stichwort Polemik– auch Herr Dr. Meister hielt sie für notwendig – willich etwas zu den Defizitkriterien ausführen, und zwarzum einen zu dem innerstaatlichen Kriterium nachArt. 115 Grundgesetz und zum anderen zu dem im Sta-bilitäts- und Wachstumspakt innerhalb der Europäi-schen Union aufgeführten Kriterium der 3 Prozent desBruttoinlandsprodukts. Herr Dr. Meister, Sie wissen ge-nau, dass Art. 115 Grundgesetz geradezu verlangt,

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Dass man ihn beachtet!)

dass im Haushalt – und zwar von Bund und Ländern –auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung Rücksichtgenommen wird und dass Bund und Länder ihre Finanz-politik im Sinne einer gesamtwirtschaftlich vernünftigenEntwicklung ausrichten.

Wir können uns nicht der Verantwortung entziehen,dass bei einer Störung des gesamtwirtschaftlichenGleichgewichts eine Steuerung durch die Finanzpolitiknotwendig ist. Wer will denn bei mehr als 4 MillionenArbeitslosen und einem derzeit äußerst schwachenWachstum leugnen, dass das gesamtwirtschaftlicheGleichgewicht gestört ist? Dafür gibt es – Sie habenRecht – vier Kriterien: die Stabilität des Preisniveaus, dasWachstum, den Beschäftigungsgrad und das außenwirt-schaftliche Gleichgewicht. Derzeit sind zwei Kriterienwirklich beeinträchtigt, nämlich das Wachstum und dieBeschäftigung. Es ist durchaus verantwortungsbewusst,die Haushaltspolitik danach auszurichten. Wir wissen al-lerdings, dass es sich nicht ausschließlich um konjunktu-relle Nachfrageschwankungen handelt. Ich habe bereitsausgeführt, dass es auch strukturelle Ursachen gibt.

Es wäre verkehrt, sich nur auf Defizitsteuerung zu be-schränken. Aber das machen wir nicht. Wir betreibeneine auf die Verbesserung der Strukturen ausgerichtetePolitik, die von einer auch auf Wachstumsimpulse set-zenden Haushalts- und Finanzpolitik begleitet wird. Daserfolgt in Übereinstimmung mit dem Stabilitäts- undWachstumspakt der Europäischen Union.

Ich halte es für völlig unangemessen, dass heute vonHerrn Merz und gestern von Frau Merkel mit einer Pole-mik begonnen worden ist, derzufolge die Stabilität desEuro gefährdet erscheint. Wir haben eine im EU-Durch-schnitt harmonisierte Steigerungsrate der Verbraucher-preise von 2 Prozent. Wir haben in Deutschland eine

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4902 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Jörg-Otto Spiller

Inflationsrate von knapp 1 Prozent; das ist die niedrigsteInflationsrate in Europa. Wir haben einen stabilen undstarken Euro im Außenwert.

Angesichts dessen ist es völlig deplatziert, von einerDestabilisierung der Währung zu reden. Machen Sie denLeuten keine Angst! Tragen Sie vielmehr dazu bei, dassdas Vertrauen wieder wächst! Auch die Union hat eineMitverantwortung für die Entwicklung in unserem Landinsgesamt. Wenn Sie diese Mitverantwortung im Bun-destag nicht wahrnehmen wollen, kann ich das nur be-dauern. Aber ich baue darauf, dass auch im Bundesrateine verantwortungsbewusste Mehrheit zustande kommt.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Gerhard Rübenkönig, SPD-Fraktion.

Gerhard Rübenkönig (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Als Vorsitzender des Rechnungsprüfungsausschusseshabe ich jetzt die Aufgabe, losgelöst von der aktuellenDebatte die Entlastung der Bundesregierung für dasHaushaltsjahr 2001 zu beantragen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

In diesem Zusammenhang begrüße ich ganz herzlichden Präsidenten des Bundesrechnungshofes, Herrn Pro-fessor Dr. Dieter Engels, bei dem ich mich gleichzeitigganz herzlich für die gute Zusammenarbeit bedankenmöchte.

(Beifall bei der SPD)

Dank sagen möchte ich auch den Kolleginnen undKollegen im Ausschuss für die sachbezogenen und fai-ren Debatten und auch den Mitarbeiterinnen und Mitar-beitern des Sekretariats.

Die Entlastung der Bundesregierung ist auf den erstenBlick ein Routinevorgang, der in der Öffentlichkeitkaum zur Kenntnis genommen wird. Dies ist eigentlichschade; denn das Thema Haushalts- und Wirtschaftsfüh-rung des Bundes verdient durchaus mehr Aufmerksam-keit. Es geht um die wirtschaftliche und ordnungsge-mäße Verwendung aller Einnahmen und Ausgaben desBundes, also um die korrekte Verwendung von Steuer-mitteln. Wir reden hier immerhin über 243,1 MilliardenEuro, die der Bund im Jahre 2001 eingenommen undverausgabt hat.

Der Bundesrat hat bereits im Februar grünes Licht fürdie Entlastung der Bundesregierung gegeben. Der Rech-nungsprüfungsausschuss hat die Anträge des Finanzmi-nisteriums sowie die Bemerkungen des Bundesrech-nungshofes in sieben Sitzungen ausführlich beraten unddem Haushaltsausschuss einvernehmlich die Entlastungempfohlen. Der Haushaltsausschuss hat ebenso einver-nehmlich dem Bundestagsplenum, also Ihnen, empfoh-len, die Entlastung zu erteilen.

Lassen Sie mich nun einige kurze Ausführungen zurJahresrechnung 2001 machen:

Die Ausgaben lagen nach dem Jahresabschluss für2001 mit umgerechnet 243,1 Milliarden Euro um 0,7 Mil-liarden Euro unter dem veranschlagten Soll. Die Einnah-men unterschritten mit 220,2 Milliarden Euro ebenfallsdas veranschlagte Soll, und zwar um 1,2 Milliarden Euro.Die in Anspruch genommene Nettokreditaufnahme lagmit 22,8 Milliarden Euro um 0,5 Milliarden Euro über derKreditermächtigung im Haushaltsgesetz. Die Nettoneu-verschuldung war um 4,5 Milliarden Euro niedriger alsdie Summe der Investitionsausgaben von rund 27,3 Mil-liarden Euro. Die verfassungsrechtliche Kreditober-grenze wurde damit auch im Haushaltsvollzug des Jahres2001 eingehalten.

Die über- und außerplanmäßigen Ausgaben erreichtenmit 4,9 Milliarden Euro wieder ein erhebliches Volumen.Mehrausgaben gab es vor allem bei der Arbeitslosen-hilfe, beim Zuschuss für die Bundesanstalt für Arbeitund bei den Münzausgaben.

Die seit 1998 bestehende Haushaltsflexibilisierung inden Verwaltungskapiteln hat nach Einschätzung desBundesrechnungshofes positive Auswirkungen auf denHaushaltsvollzug. Das Bundesministerium der Finanzensollte hier aber am Ball bleiben und die haushaltswirt-schaftlichen Instrumente zugunsten einer zukunftsge-richteten Haushaltspraxis weiterentwickeln.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bundesrech-nungshof hat bereits in seiner letztjährigen Bemerkungeinige Probleme aufgegriffen, die uns auch in der aktuel-len finanzwirtschaftlichen Diskussion beschäftigen. Sohat er darauf hingewiesen, dass die Haushaltsproblemenicht nur auf die enttäuschende wirtschaftliche Entwick-lung zurückzuführen sind, sondern dass sie – wir habenes eben in der aktuellen Diskussion gehört – auch struk-turelle Ursachen haben. Da ist zum einen der hoheAnteil der Sozialausgaben und der Zinsausgaben. DieZinslast ist dabei das Ergebnis einer jahrzehntelangenAufnahme immer neuer Schulden. Zum Ende des Jahres2002 betrugen die Schulden des Bundes und seiner Son-dervermögen rund 779 Milliarden Euro. Die Bundesleis-tungen an die gesetzliche Rentenversicherung übertref-fen in ihrer Dynamik alle anderen Ausgabenbereiche.Der Bundeshaushalt trägt bereits jetzt einen Anteil vonrund einem Drittel der Rentenversicherungsausgaben.Nach der Finanzplanung werden die Rentenleistungenim Bundeshaushalt weiter überproportional steigen. Da-neben fließen zusätzliche Haushaltsmittel des Bundes inandere Alterssicherungssysteme wie die Versorgungs-ausgaben für Beamte und Soldaten, die Leistungen fürdie Versorgungsempfänger aus dem Bereich der ehema-ligen Bahn und Post sowie die Ausgaben für die Alters-sicherung der Landwirte.

Der Bundesrechnungshof weist zu Recht darauf hin,dass sich der Bund im Vergleich zum Durchschnitt derBundesländer keinesfalls in einer besseren finanzwirt-schaftlichen Lage befindet. Eher das Gegenteil dürftezutreffen. So ist der Bundesanteil am Steueraufkommenin den letzten zehn Jahren vor allem zugunsten der Län-der deutlich zurückgegangen, und zwar von 48,5 Prozent

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4903

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Gerhard Rübenkönig

im Jahr 1994 auf 43,5 Prozent im Jahr 2003. Die Ländersind daher auch in einer besonderen Pflicht bei der Um-setzung der finanzpolitischen Ziele des europäischenStabilitäts- und Wachstumspaktes.

Wir stehen in der laufenden Wahlperiode vor gewalti-gen Reformaufgaben. Für den Rechnungsprüfungsaus-schuss sehe ich einige interessante Themenkreise, mitdenen wir uns in nächster Zeit intensiv befassen sollten.Das betrifft zum Beispiel die Fortsetzung der eingelei-teten Verwaltungsreform. Zu dieser Thematik gehörtdie weitere Modernisierung des Haushaltsrechts. Hiersind wir mit der Haushaltsflexibilisierung, mit der Ein-führung einer Kosten-Leistungs-Rechnung in weiten Be-reichen der Bundesverwaltung sowie mit den Pilotpro-jekten betreffend den Einsatz von Produkthaushalten aufeinem guten Weg.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir sollten aber mögliche Probleme, die mit einer ver-stärkten Privatisierung öffentlicher Aufgaben verbun-den sind, nicht aus den Augen verlieren. Ich denke hier-bei insbesondere an den Verlust oder zumindest dieEinschränkung parlamentarischer Kontrollrechte. Ich binsicher, dass der Bundesrechnungshof uns dabei wie bis-her fachkundig beraten wird.

Wir werden noch genügend Gelegenheit haben, dieseThemen im Rechnungsprüfungsausschuss eingehend zuerörtern. Für heute möchte ich aufgrund meiner kurzenRedezeit hiermit schließen und mich für Ihre Aufmerk-samkeit bedanken. Ich bitte Sie um Entlastung der Bun-desregierung für das Haushaltsjahr 2001.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Weitere Wortmeldungen zur allgemeinen Finanzde-

batte liegen nicht vor.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 15/1502 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung istjedoch strittig. Die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen wünschen Federführung beim Haushaltsaus-schuss. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP wün-schen Federführung beim Finanzausschuss. Ich lasse zu-erst über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen derCDU/CSU und FDP abstimmen, also die Federführungbeim Finanzausschuss. Wer stimmt für diesen Überwei-sungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmender Koalition und der beiden fraktionslosen Abgeordne-ten gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP abge-lehnt.

Wer stimmt für den Überweisungsvorschlag der Frak-tionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, also dieFederführung beim Haushaltsausschuss? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Dieser Überweisungsvor-schlag ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zu-

vor angenommen. Damit liegt die Federführung beimHaushaltsausschuss.

Tagesordnungspunkte 1 d bis 1 g: Interfraktionellwird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksa-chen 15/1517, 15/1518, 15/997 und 15/1218 an die inder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-gen. Die Vorlagen auf den Drucksachen 15/1517 und15/1518 sollen abweichend von der Tagesordnung anden Haushaltsausschuss ausschließlich gemäß § 96 derGeschäftsordnung überwiesen werden. Sind Sie damiteinverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Über-weisungen so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 1 h: Beschlussempfehlung desHaushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesminis-teriums der Finanzen zur Entlastung der Bundesregie-rung für das Haushaltsjahr 2001 sowie zu den Bemer-kungen des Bundesrechnungshofes 2002 zur Haushalts-und Wirtschaftsführung, Drucksachen 14/8729, 15/60und 15/1262. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Ent-haltung der CDU/CSU und der FDP angenommen.

Tagesordnungspunkt 1 i: Beschlussempfehlung desHaushaltsausschusses zu dem Antrag des Präsidentendes Bundesrechnungshofes zur Rechnung für das Haus-haltsjahr 2001, Drucksachen 15/1047 und 15/1258. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen des ganzen Hauses angenommen.

Tagesordnungspunkt 1 j: Beschlussempfehlung desHaushaltsausschusses zu dem Antrag des Präsidentendes Bundesrechnungshofes zur Rechnung für das Haus-haltsjahr 2002, Drucksachen 15/1048 und 15/1259. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobeund Enthaltungen entfallen, weil die Beschlussempfeh-lung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommenworden ist.

Zusatzpunkt 1: Interfraktionell wird die Überweisungdes Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/1470 an die inder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-gen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das istnicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-schlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d sowieZusatzpunkt 2 auf:

3 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zurÄnderung der Handwerksordnung und ande-rer handwerksrechtlicher Vorschriften

– Drucksache 15/1481 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)InnenausschussRechtsausschuss FinanzausschussAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft VerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

Page 62: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu Refor-men am Arbeitsmarkt

– Drucksache 15/1509 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro-tokoll von Cartagena vom 29. Januar 2000über die biologische Sicherheit zum Überein-kommen über die biologische Vielfalt

– Drucksache 15/1519 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f)Ausschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten CorneliaPieper, Ulrike Flach, Christoph Hartmann (Hom-burg), weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDP

Stärkung der europäischen Raumfahrtpoli-tik – Gewinn für den Wirtschafts- und For-schungsstandort Deutschland

– Drucksache 15/1230 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)Ausschuss für Wirtschaft und ArbeitVerteidigungsausschussAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten GünterBaumann, Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU

Unterstützung für ehemalige politische Häft-linge umgehend sicherstellen

– Drucksache 15/1524 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)RechtsausschussAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeHaushaltsausschuss

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Die Vorlage auf Drucksache 15/1509 – Ta-gesordnungpunkt 3 b – soll zusätzlich gemäß § 96 derGeschäftsordnung an den Haushaltsausschuss überwie-

sen werden. Die Vorlage auf Drucksache 15/1230 – Ta-gesordnungspunkt 3 d – soll zusätzlich an den Aus-schuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesenüberwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? –Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-schlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 sowie Zusatz-punkt 3 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassungzu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehenist.

Tagesordnungspunkt 4:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszu dem Abkommen vom 30. Juli 2002 zwi-schen der Regierung der BundesrepublikDeutschland und der Regierung der Französi-schen Republik über die deutsch-französi-schen Gymnasien und das deutsch-französi-sche Abitur

– Drucksache 15/717 –

(Erste Beratung 40. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti-gen Ausschusses (3. Ausschuss)

– Drucksache 15/1364 –

Berichterstattung:Abgeordnete Monika GriefahnDr. Andreas Schockenhoff Claudia Roth (Augsburg)Harald Leibrecht

Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Druck-sache 15/1364, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ichbitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-len, um das Handzeichen. – Der Gesetzentwurf ist damitin zweiter Beratung mit den Stimmen des gesamten Hau-ses angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hau-ses angenommen.

Zusatzpunkt 3:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Zusatzabkommen vom5. November 2002 zum Abkommen vom11. April 1967 zwischen der BundesrepublikDeutschland und dem Königreich Belgien zurVermeidung der Doppelbesteuerungen undzur Regelung verschiedener anderer Fragenauf dem Gebiete der Steuern vom Einkommenund vom Vermögen einschließlich der Gewer-besteuer und der Grundsteuern

– Drucksache 15/1188 –

(Erste Beratung 53. Sitzung)

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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses (7. Ausschuss)

– Drucksache 15/1401 –

Berichterstattung:Abgeordnete Lydia WestrichLeo Dautzenberg

Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache15/1401, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte die-jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, umdas Handzeichen. – Gegenstimmen und Enthaltungenentfallen, da der Gesetzentwurf in der zweiten Beratungmit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen wor-den ist.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen des gan-zen Hauses angenommen.

Wir setzen die Haushaltsberatungen fort und kommenzum Geschäftsbereich des Bundesministeriums fürGesundheit und Soziale Sicherung.

Außerdem rufe ich die Zusatzpunkte 4 bis 6 auf:

ZP 4 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD,der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Modernisierung der gesetzlichen Kranken-versicherung (GKV-Modernisierungsgesetz –GMG)

– Drucksache 15/1525 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f)InnenausschussSportausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und LandwirtschaftAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

ZP 5 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPDund des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einord-nung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetz-buch

– Drucksache 15/1514 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f)Auswärtiger AusschussInnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und LandwirtschaftVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

ZP 6 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Dieter Thomae, Detlef Parr, Dr. Heinrich L.Kolb, weiterer Abgeordneter und der Fraktion derFDP

Zukunft gestalten statt Krankheit verwalten

– Drucksache 15/1526 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f)InnenausschussSportausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und LandwirtschaftAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss

Das Wort hat die Bundesministerin Ulla Schmidt.

Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit undSoziale Sicherung:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Präsident hat die Sitzung heute Morgen mit denWorten eröffnet:

Auf uns warten intensive Arbeit und sicherlich hef-tige Diskussionen. Ich wünsche mir für uns alle,dass trotz aller Kontroversen Ergebnisse erzieltwerden, die die gesellschaftliche Situation inDeutschland verbessern.

(Beifall bei der SPD)

Der vorliegende Gesetzentwurf zur Modernisierungder gesetzlichen Krankenversicherung dokumentiert einsolches Vorgehen; denn mit ihm nehmen die Fraktionenim Deutschen Bundestag, die Regierungsfraktionen unddie Opposition, gemeinsame Verantwortung wahr, umdie drängendsten Probleme des Gesundheitswesens zulösen: die Beiträge zu senken, die Ausgaben zu bremsenund die Qualität und Effizienz im Gesundheitswesen zusteigern. Koalition, CDU/CSU-Fraktion, Länderregie-rungen und Bundesregierung haben sich der Verantwor-tung für eine Erneuerung des Gesundheitswesens ge-stellt. Das Ergebnis wochenlanger Verhandlungen, die inaußergewöhnlich kollegialer und konstruktiver Atmo-sphäre stattgefunden haben, ist ein für alle annehmbarerKompromiss. Ich stelle das hier ganz nüchtern fest. Esgibt keinen Grund für Euphorie, aber es gibt auch keinenGrund, diesen Kompromiss kleinzureden; denn er dientden Gesunden und den Kranken, er hilft den Kranken-kassen und er verbessert die Situation der Leistungs-erbringer in diesem Bereich. Diese Reform ist notwen-dig, damit Gesundheit auch morgen noch bezahlbar ist.

Ohne Kompromiss geht es in der Gesundheitspolitiknicht; denn alle wichtigen Entscheidungen bedürfen derZustimmung des Bundestages und des Bundesrates.Hätte eine Seite allein die Mehrheit gehabt, dann sähedas Konzept wahrscheinlich anders aus. Was jetzt durchKompromissbereitschaft erreicht wurde, ist mehr, als

Page 64: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

4906 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Bundesministerin Ulla Schmidt

jede Seite allein gegen die andere hätte durchsetzen kön-nen. Das ist das Entscheidende. Wer das leugnet, der ver-schließt die Augen vor politischen Realitäten.

(Beifall bei der SPD)

Es war bedauerlich, dass die FDP kurzfristig nicht derVersuchung widerstehen konnte, Klientelpolitik vor dasGemeinwohl zu setzen.

(Widerspruch bei der FDP)

Otto Graf Lambsdorff hat hierzu alles gesagt – ich zitieredas „Handelsblatt“ vom 8. Juli 2003 –:

Dass die FDP-Führung Internetapotheken, die Auf-hebung des Mehrbesitzverbots für Apotheken unddie Lockerung des Vertragsmonopols der Kassen-ärztlichen Vereinigungen bei der ambulanten ärztli-chen Versorgung ablehnt, ist mir unverständlich.

Recht hat er.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich danke all denjenigen, die zum Kompromiss ge-standen haben und stehen – trotz unterschiedlicher poli-tischer Auffassungen. Ich danke an dieser Stelle auch alldenjenigen, die in unermüdlicher Arbeit hinter den Ku-lissen immer dafür gesorgt haben, dass das, was auf derpolitischen Ebene entschieden wurde, auch tatsächlich inGesetzesform gegossen wurde. Das waren nicht nur dieMitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Gesundheitsminis-teriums, sondern auch die der Fraktionen und der Län-derministerien. Wir haben allen Grund, ihnen zu danken.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und derCDU/CSU)

Mit dem Kompromiss bei der Gesundheitsreformsetzt das Parlament eine gute Tradition in unserem Landfort, die Tradition, für das Wohlergehen der Menschengrundlegende sozialpolitische Fragen möglichst im Kon-sens zu beantworten. Die Bürgerinnen und Bürger kön-nen schwierige Entscheidungen akzeptieren, aber siewollen in den sozialen Sicherungssystemen in der RegelSicherheit und Planbarkeit über den Wahltermin hinaus,also jenseits der jeweiligen politischen Mehrheiten. Inder Regel ist das bei Dingen, die im Kompromisswegeentschieden wurden, in den vergangenen Jahren auch sogehandhabt worden. Niemand hat das mehr grundsätz-lich infrage gestellt. Unabhängig davon muss natürlichjedes Gesetz entsprechend der Entwicklung angepasstwerden.

Der Kompromiss mit der Union zur umfassenden Re-form des Gesundheitswesens ist ein Baustein zur Umset-zung der Agenda 2010. Er ist ein wichtiger Eckpfeilerzur Verbesserung der Rahmenbedingungen für eine wirt-schaftliche Belebung und zur Schaffung von Arbeitsplät-zen in Deutschland. Alle am Kompromiss beteiligtenFraktionen und Parteien bekennen sich zu dem Ziel, Ar-beitskosten und Lohnnebenkosten zu verringern, damites gelingt, in Deutschland Beschäftigung zu schaffen.Denn eines ist klar: Alles, was im Gesundheitswesen

verteilt wird, muss erst erwirtschaftet werden. Nur waserwirtschaftet wird, kann zur Finanzierung dienen.

Mit dieser Reform werden wir die Beitragssätze zurgesetzlichen Krankenversicherung schon im Jahre 2004spürbar senken und in den Folgejahren den durchschnitt-lichen Beitragssatz unter die 13-Prozent-Grenze drü-cken. Dabei handelt es sich um eine riesengroße Kraft-anstrengung, die nicht kleingeredet werden sollte. Sie istnotwendig, um die Arbeitskosten zu senken, aber auch,um die Akzeptanz der solidarischen Versicherung zustärken. Es sollte nämlich nie vergessen werden: Solida-rität hat auf Dauer nur Bestand, wenn sie den Einzelnennicht überfordert.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer den Gesetzent-wurf genau studiert, wird feststellen: Es ist kein Entwurf,der die Versicherten und Patienten einseitig belastet, wievielfach geschrieben wird. Pharmazeutische Industrie,Großhandel und Apotheker haben schon im Zusammen-hang mit dem Beitragssatzsicherungsgesetz einen erheb-lichen Beitrag geleistet und werden ihn auch zu dieserReform leisten. Bei aller Diskussion um die Einbezie-hung der Leistungserbringer sollten wir aber niemalsvergessen, dass das Gesundheitswesen ein entscheiden-der Wirtschaftsfaktor ist und dass die 4,2 Millionen Be-schäftigten in diesem System auch einen Anspruch aufangemessene Bezahlung und humane und sichere Ar-beitsplätze haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Mit den vorliegenden Maßnahmen wird niemandüberfordert. Es ist richtig, dass die Patienten und Patien-tinnen mehr Zuzahlungen als heute werden leisten müs-sen, aber für die Versicherten sinken die Beiträge. Es giltfür alle eine einkommensabhängige Überforderungs-klausel. Es gibt besondere Erleichterungen für Familienund chronisch Kranke und – das kommt als neues Instru-ment hinzu – die Krankenkassen erhalten das Recht, An-reize für kosten- und gesundheitsbewusstes Verhaltender einzelnen Versicherten zu setzen. Damit hat es jederEinzelne in der Hand, die jetzt vorgesehenen Zuzahlun-gen zu reduzieren. Ich bin überzeugt, dass dieser Wegrichtig ist.

Mit der Gesundheitsreform werden entscheidendeWeichen für umfassende strukturelle Erneuerungenim Gesundheitswesen gestellt. Ich gebe zu: Die Koaliti-onsfraktionen hätten sich mehr Wettbewerb gewünscht.Wenn auch beispielsweise die Details zur Neuregelungder ärztlichen Vergütung komplex und schwierig zu ver-stehen sind, so kann niemand mit Sachverstand davonsprechen, dass sich mit dieser Reform nichts positiv ver-ändern würde. Im Gegenteil: Wir öffnen in allen Versor-gungsbereichen kollektivvertragliche Strukturen zuguns-ten wettbewerblicher Lösungen. Wir fördern dieintegrierte Versorgung bis an die Grenze des Möglichen.Wir geben vielfache Anreize zur Förderung von Wirt-schaftlichkeit und Qualität in besonderen Versorgungs-formen wie zum Beispiel den Chronikerprogrammen.Wir schaffen Anreize für die Teilnahme an diesen Pro-grammen, die ja ein Quantensprung bei der Verbesse-rung der medizinischen Versorgung chronisch kranker

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4907

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Bundesministerin Ulla Schmidt

Menschen sind, indem Krankenkassen mit Bonuspro-grammen oder auch mit besonderen Tarifen werben kön-nen.

Wir geben den Krankenkassen mehr Möglichkeitenzur Steuerung. Wir verlangen aber auch etwas: So müs-sen die Krankenkassen in Zukunft stärker als bisher Re-chenschaft über die Verwendung der Beiträge zum ei-nen bei den Leistungs-, zum anderen bei denVerwaltungs- und Personalausgaben ablegen. Damit er-höhen wir auch die Transparenz für die Versicherten. Siekönnen selbst darauf achten, ob ihre Kasse effizient ar-beitet. Angesichts der Steigerung der Verwaltungskostenin den letzten Jahren ist eine solche Maßnahme mehr alsüberfällig.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, wir können als Gesetzge-ber nur die Rahmenbedingungen setzen; handeln müssendie Akteure selbst.

Es ist mir in der Diskussion sehr wichtig: Diese Ge-sundheitsreform ist, anders als es oft behauptet wird,kein Einstieg in den Ausstieg aus der Solidarität. Auchwenn gerade für unsere Seite die Neuregelung desZahnersatzes eine der bittersten Pillen unseres Kompro-misses ist, lassen wir die Menschen mit der jetzt gefun-denen Lösung nicht allein. Eine Privatisierung von Leis-tungen und Risiken findet mit dem Kompromiss nichtstatt. Die Menschen erhalten Wahlmöglichkeiten. Siekönnen selbst entscheiden, ob sie den Zahnersatz in dergesetzlichen oder in der privaten Krankenversicherungabsichern wollen. Für diejenigen, die sich für die GKVentscheiden, bleiben der gesetzliche Leistungsumfangmit der medizinisch notwendigen Regelversorgung unddie beitragsfreie Familienmitversicherung erhalten. Wirsind uns alle darin einig, dass wir als Gesetzgeber sehrgenau darauf achten werden, dass die Ansprüche derVersicherten durchgesetzt werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele wollen esnicht glauben, aber die Gewinner und Gewinnerinnenwerden die Patienten und Patientinnen sein. Sie erhaltenmehr Wahl- und Mitsprachemöglichkeiten. Sie könnensich endlich erkundigen, wo sie die beste Behandlung ih-rer Erkrankungen bekommen. Wir überwinden die stren-gen Strukturen und starren Grenzen zwischen ambu-lanter und stationärer Versorgung. Wir öffnen überalldort, wo es notwendig ist und gewünscht wird, die Kran-kenhäuser für die ambulante Versorgung, zum Beispielzur Behandlung schwer kranker Menschen, die heutezwischen Krankenhaus und ambulanter Versorgung pen-deln müssen. Wir schaffen für diese Menschen auch inder integrierten Versorgung mehr Möglichkeiten. Wirführen Hausarztmodelle ein.

Außerdem entsprechen wir einem alten Anliegen ge-rade der Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundeslän-der: Wir werden in Deutschland künftig medizinischeVersorgungszentren, die insbesondere in Brandenburgals Gesundheitszentren bekannt sind, zulassen. Sie sindklassische Zentren der integrierten Versorgung. Damitwerden erstmals auch angestellte Ärzte und Ärztinnen in

ganz Deutschland in der ambulanten Versorgung zuge-lassen. Dabei freut mich besonders – diese Freude spüreich auch bei den Menschen, mit denen ich auf verschie-denen Veranstaltungen diskutiere –, dass endlich einStück Erfahrung aus Ostdeutschland in den Westen ex-portiert wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Gesetzentwurf enthält viele Regelungen, mit de-nen wir die besondere Situation in den neuen Bundeslän-dern berücksichtigen und die medizinische Versorgungdort stärken wollen. Unser Ziel ist, auch im medizini-schen Bereich die Angleichung der Lebensverhältnissevon Ost und West voranzubringen.

Lassen Sie mich einen Punkt ansprechen, bei dem oftso getan wird, als hätten wir ihn vergessen. Inzwischengibt es ein Urteil zur Arbeitszeit der Ärzte und Ärztin-nen. Auch darüber haben wir ausführlich gesprochen.Bereits vor dem Urteil waren wir uns einig, dass wir er-warten, dass die Hierarchie in den Krankenhäusern ab-gebaut werden muss und dass die Krankenhäuser Ar-beitszeitmodelle schaffen, durch die den Ärzten undÄrztinnen Schichtarbeit ermöglicht wird. Wir wollen fürdie Beschäftigen keine Arbeitszeiten von 30 Stunden.Daher gibt es in diesem und im kommenden Jahr Geldzur Unterstützung der Krankenhäuser, die hier einen an-deren Weg beschreiten wollen. Die Einführung der Fall-pauschalen und der neuen Finanzierung in den Kranken-häusern ist ein integraler Bestandteil der Reform. Ichsage ganz klar und spreche für alle Teilnehmerinnen undTeilnehmer der Konsensrunde: Wir wollen, dass Ärzteund Ärztinnen nicht mehr 30 Stunden am Stück arbeitenmüssen. Wir setzen darauf, dass das, was schon heute infast 40 Prozent aller Krankenhäuser möglich ist, auch inden übrigen 60 Prozent endlich entsprechend gehand-habt wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nicht nur in der Gesundheitspolitik, sondern in dergesamten Sozialpolitik sind Sicherheit und Bezahlbar-keit für uns die entscheidenden Leitplanken. Im Alter,bei Krankheit oder in anderen schwierigen Lebenssitua-tionen kann es für jeden von uns Momente geben, in de-nen wir auf die Solidarität der anderen angewiesen sind.Diese Solidarität unter veränderten ökonomischen Be-dingungen in einer globalisierten Welt, aber auch ange-sichts der veränderten demographischen Entwicklung zugewährleisten ist unsere Aufgabe. Dass wir alle glückli-cherweise immer älter werden und die Lebenserwartungsteigt, auf der anderen Seite aber zu wenig Kinder gebo-ren werden, ist die größte Herausforderung des 21. Jahr-hunderts.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aus diesem Grund sind die anstehenden Sozialrefor-men notwendig. Sie sind notwendig, damit die Solidaritätgewahrt bleibt und damit – das sollte nicht unterschätztwerden – Gemeinsinn und Zusammengehörigkeitsgefühlder Menschen gestärkt werden; denn ohne Solidarität

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4908 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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bricht eine Gesellschaft auseinander. Dass wollen wirnicht.

Deshalb werden wir auf dieser Grundlage eine breitegesellschaftliche Diskussion nicht nur um die langfris-tige Finanzierung unseres Gesundheitswesens führenmüssen. Es wird viel über die Bürgerversicherung disku-tiert. Ich habe den Eindruck, dass die Modelle noch nichtentscheidungsreif sind und dass wir noch sorgfältig prü-fen und abwägen müssen, um eine klare Perspektive auf-zuzeigen. Aber wir werden die Diskussion über dienachhaltige Finanzierung der Pflegeversicherung führenmüssen und auch Beschlüsse zur nachhaltigen Finanzie-rung der Alterssicherung in Deutschland fassen müssen.Auch dabei gelten für uns die beiden Gesichtspunkte Si-cherheit und Bezahlbarkeit.

Wir haben in der letzten Legislaturperiode bereitsStrukturreformen in der Rentenversicherung umge-setzt. Wir haben den Einstieg in die kapitalgedeckte Zu-satzversorgung geschaffen, der damals vom KollegenSeehofer als Quantensprung in der Rentenpolitik be-zeichnet worden ist. Gleichwohl müssen wir weiterge-hen und weitere Maßnahmen auf den Weg bringen. Da-her werden wir im Herbst Maßnahmen vorstellen, diesowohl die kurz- als auch die mittelfristige Stabilisie-rung der Beitragssätze zur gesetzlichen Rentenversiche-rung zur Folge haben und die zugleich eine langfristigeKonsolidierung der gesetzlichen Rentenversicherung si-chern. Auch das wird nicht einfach. Es wird unbequem.Aber es ist der einzige Weg, der dazu führt, dass die Alters-sicherung für die Jungen bezahlbar und für die Älterenverlässlich bleibt; denn eines sollten wir nie vergessen:Nur bezahlbare Renten sind sichere Renten.

Mit der anstehenden Reform der Sozialhilfe stellenwir einfache und transparente Hilfeleistungen zur Verfü-gung. Einmalige Leistungen der Hilfe zum Lebensunter-halt werden in den Regelsatz mit einbezogen. Diesbringt neben der Stärkung der Eigenverantwortlichkeitder Leistungsberechtigten für die Verwaltung erheblicheVereinfachungen. Leistungen müssen künftig nicht mehreinzeln bewilligt werden und der Einzelne kann bessermit einem eigenen Budget haushalten und eigene Priori-täten setzen.

Sicherheit und Bezahlbarkeit als Leitplanken unsererSozialpolitik sind auch Kennzeichen des vorliegendenHaushalts. Wir garantieren auf der einen Seite die Be-reitstellung der notwendigen Mittel für die Sicherungund Fortentwicklung der Systeme der sozialen Siche-rung. Auf der anderen Seite trägt dieser Haushalt zu-gleich dem Kurs der strikten HaushaltskonsolidierungRechnung.

In der Zukunft wird es keine Sozialpolitik mehr nachdem Motto geben: Wasch mir den Pelz, aber mach michnicht nass. Dieses Motto macht unsere sozialen Siche-rungssysteme nicht zukunftsfähig. Es verschiebt Pro-bleme, löst sie aber nicht. Wir haben keine Wahl. Wirmüssen uns den notwendigen Reformen stellen, undzwar heute. Dies sage ich auch als Mutter und Großmut-ter; denn ich möchte, dass auch unsere Kinder und En-kelkinder im Alter noch ein vergleichbares Stück Sicher-

heit haben, das für uns alle so selbstverständlichgeworden ist. Auch sie haben ein Recht darauf.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Horst Seehofer,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Horst Seehofer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Das deutsche Gesundheitswesen ist in den letz-ten Monaten – wie selten zuvor – in den Mittelpunkt dersozialpolitischen Diskussion gerückt. Ich glaube, es istzu Beginn dieser Beratungen über den Gesundheitskon-sens ganz wichtig, dass wir uns einmal Klarheit darüberverschaffen, wo wir mit unserem Gesundheitswesen ste-hen und wo die eigentlichen Probleme liegen. In denletzten Wochen und Monaten ist nämliches vieles ver-mischt worden.

Wir haben es in Deutschland nicht mit einer Krisebei der Versorgung kranker Menschen zu tun. Uns be-wegt – nicht zum ersten Mal, aber immer drängender –die Finanzierungskrise in der gesetzlichen Kranken-versicherung. Wir können auch im internationalen Ver-gleich feststellen, dass unser Gesundheitswesen in allenTeilen Deutschlands einen sehr hohen Versicherungs-schutz bietet, ein beinahe flächendeckendes Angebot anGesundheitsleistungen bereitstellt und einen vergleichs-weise hohen Versorgungsgrad aufweist.

Wenn wir also im Zusammenhang mit der Gesund-heitsreform über die Versorgungsqualität diskutieren,dann diskutieren wir nicht darüber, wie wir sozusagenaus dem Keller in eine obere Etage gelangen können,sondern darüber, wie wir es schaffen können, dass wirtrotz der vielen Veränderungen in der Arbeitswelt, derwirtschaftlichen Schwäche, der steigenden Lebenser-wartung und trotz des medizinischen Fortschritts in eineroberen Etage bleiben, vielleicht sogar noch eine Etagehöher kommen können.

Diejenigen, die im Gesundheitsbereich in verschiede-nen Berufen insbesondere als Mediziner oder als Pflege-kräfte tagtäglich einen sehr kompetenten und auch hu-manen Dienst für kranke Menschen leisten, sind nichtdie Verursacher der Probleme im deutschen Gesund-heitswesen. Deshalb möchte ich die Gelegenheit wahr-nehmen, den Frauen und Männern zu danken, die rundum die Uhr, ständig konfrontiert mit dem Leid, mit demSchicksal von kranken Menschen und nicht selten mitdem Tod, ihren Dienst für kranke Menschen mit hoherKompetenz und mit sehr viel Humanität leisten. Sie ha-ben unseren Dank verdient.

(Beifall im ganzen Hause)

Wenn ich sage, dass wir weniger Probleme in der Ver-sorgungsqualität haben, dann heißt das nicht, dass dortalles perfekt ist. In Menschenhand ist nichts perfekt; al-les kann noch verbessert werden. Aber in der Versor-

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gungsqualität liegt nicht der Ansatzpunkt für eine Ge-sundheitsreform. Unser primäres Problem ist dieFinanzierungskrise. Bei allem Konsens und bei allerKonsensbereitschaft kann ich Rot-Grün die Feststellungnicht ersparen, dass die Finanzierungskrise in der gesetz-lichen Krankenversicherung Deutschlands in den letztenJahren politisch verschuldet worden ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das hätte jetzt nicht sein müssen!)

– Frau Bender, wenn Sie sagen, das hätte jetzt nicht seinmüssen, dann muss ich erwidern: Bei allem Konsens undbei allen gegenwärtigen Konsensbemühungen muss manschon deutlich machen, wo die Ursache für die Kriseliegt, damit man in der Zukunft die Fehler aus der Ver-gangenheit nicht wiederholt. Einer Ihrer größten Fehlerist, 1997 und 1998 gegen mehr Eigenverantwortung imdeutschen Gesundheitswesen politisch zu Felde gezogenzu sein und 1999 die Gesundheitsreform zurückgenom-men zu haben. Wir hätten einen ganzen Rucksack weni-ger Probleme in Deutschland, wenn Sie 1999 unsere So-zialreformen nicht zurückgenommen hätten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi-derspruch des Abg. Wilhelm Schmidt [Salz-gitter] [SPD])

– Wir haben 1998 Überschüsse übergeben und die Bei-träge waren deutlich niedriger. Jetzt haben wir diehöchsten Beitragssätze in der Geschichte der gesetzli-chen Krankenversicherung. Die gesetzlichen Kranken-kassen sind enorm verschuldet, nämlich mit zwischen7 und 8 Milliarden Euro. Viele Krankenkassen könnendie Leistungen nur noch finanzieren, weil sie Schuldenaufnehmen.

(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Oder sie zahlen nicht!)

Es gibt überhaupt keine Krankenkasse mehr, die die ge-setzlich vorgeschriebenen Rücklagen vorweisen kann.

Ich neige bei Bewertungen nicht zum Superlativ; aberhier muss man von einer Finanzierungskrise sprechen.Es gibt sicher externe Faktoren. Aber ein Hauptgrundsind die fehlerhaften politischen Entscheidungen. Des-halb bin ich froh, dass sich Rot-Grün bei diesem Kon-sens in vielen Bereichen, was Eigenverantwortung, Frei-heit sowie Rücknahme des Staates und Rücknahme vonParagraphen betrifft, im Grundsatz in die richtige Rich-tung bewegt hat.

Ich halte es für einen ganz großen Ertrag der Konsens-verhandlungen, dass es uns geglückt ist, die freie Arzt-wahl, die freie Krankenhauswahl und die freie Kranken-kassenwahl der Bürger in Deutschland zu erhalten.

(Peter Dreßen [SPD]: Das stand doch nicht zur Diskussion!)

Dies ist ein großes Bürgerrecht. Qualität und Effizienzkönnen Sie im Gesundheitswesen nicht mit Planwirt-schaft, sondern nur mit Wettbewerb und freier Arztwahlerhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Der Europäische Gerichtshof hat heute ein Urteil mitdem Inhalt gefällt, dass Bereitschaftsdienstzeiten künf-tig bezahlte Arbeitszeiten sein müssen. Wir haben uns inder Konsensrunde darauf verständigt, ein solches Urteil– dessen Inhalt wir nicht kannten – nicht abzuwarten.Wir haben vielmehr gesagt: Unabhängig von der Recht-sprechung wollen wir dieses brennende Problem lösen– Frau Schmidt hat schon darauf hingewiesen –, undzwar indem wir die Bereitschaftsdienstzeiten als be-zahlte Arbeitszeiten anerkennen.

Deshalb ist im vorliegenden Gesetzentwurf vorgese-hen, dass wir bis zum Jahre 2009 jährlich 100 MillionenEuro, also insgesamt 700 Millionen Euro, zur Verfügungstellen, damit dieses Problem finanziell bewältigt wer-den kann. Die andere Hälfte – auch das sagen wir offen –muss durch eine Eigenleistung der Krankenhäuser er-bracht werden. Es gibt in Deutschland viele Kranken-häuser, die bereits eine Optimierung des Arbeitszeitma-nagements durchgeführt haben. Es sind sogarKrankenhäuser dafür prämiiert worden. DiejenigenKrankenhäuser, die jetzt glauben, sie stünden vor einemunlösbaren Problem, sollten sich bei diesen vorbildli-chen Krankenhäusern umsehen.

So kann man auch in Zukunft die Probleme richtig lö-sen: auf der einen Seite ermöglichen, dass Dinge, dienoch nicht effizient genug sind, in der Eigenverantwor-tung der Krankenhäuser gelöst werden, und auf der an-deren Seite Unterstützung durch den Gesetzgeber bzw.durch die Krankenkassen gewähren, damit zusätzlicheMittel zur Verfügung gestellt werden, sodass künftigkeine überlasteten Ärzte für kranke Menschen eingesetztwerden müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU)Überhaupt möchte ich feststellen: Bei der Lösung die-

ses Problems haben wir nicht das Urteil abgewartet.Diese Vorgehensweise steht schon im Gesetzentwurf.Der Gesetzentwurf ist bekanntlich vor diesem Urteil for-muliert worden.

(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Vorausschau-end!)

Auch ich teile das Urteil, dass in diesem Gesetzent-wurf viel mehr Strukturelemente enthalten sind, als es inder öffentlichen Diskussion gelegentlich zum Ausdruckkommt. Ich sage manchmal scherzhaft zu Journalisten:Ich habe Verständnis dafür, dass sie einfach nicht denPlatz haben, auch über die Strukturelemente der Gesund-heitsreform zu schreiben.

Meine Damen und Herren, wir haben jahrzehntelangüber die Finanzierung der versicherungsfremden Leis-tungen diskutiert. Ich finde, es ist ein großer Fortschritt,dass versicherungsfremde Leistungen künftig nicht mehraus Beitragsmitteln, aus Sozialversicherungsbeiträgen,sondern aus Steuermitteln finanziert werden. Das wirdjetzt Wirklichkeit. Dies wird die Krankenversicherungenum fast einen halben Prozentpunkt entlasten.

Ich finde es gut, dass wir bei der Reform der ärztli-chen Vergütung Einigkeit erzielt haben. Ärzte werdenkünftig für gute Qualität und nicht mehr für die Auswei-tung der Leistung bezahlt. Das wird übrigens zu qualita-tiv wesentlich verbesserter medizinischer Versorgung

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4910 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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führen. Es wird also die Qualität finanziert und nicht dieMenge, die Ausweitung der Leistung.

Die Budgetierung wird auch im ambulanten Bereich– im Krankenhaus ohnehin – abgeschafft. Denn sosehrman die Budgetierung zeitlich befristet als Steuerungsin-strument wählen kann, sie führt, wenn sie auf Dauer ein-geführt wird, bei den kranken Menschen zur Rationie-rung, zur Einschränkung von Leistungen. Dies hat inDeutschland in der Praxis zu der absurden Situation ge-führt – die Dauerbudgetierung war in diesem Zusam-menhang das Hauptproblem –, dass Sozialhilfeempfän-ger medizinisch umfassender versorgt wurden als diebeitragszahlenden Krankenversicherten. Denn für die ei-nen gab es ein Budget und für die anderen nicht. Deshalbist es eine zweite wichtige strukturelle Maßnahme, dassSozialhilfeempfänger künftig medizinisch wieder ge-nauso behandelt werden und die gleichen Zuzahlungenzu leisten haben wie beitragszahlende Krankenversi-cherte. Das ist ein Stück mehr Gerechtigkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Nach jahrelanger Diskussion wird jetzt das Wahl-recht der Versicherten im Hinblick auf die Kostener-stattung eingeführt. Nicht Funktionäre und Institutionen,sondern niemand anders als der Versicherte, der Beiträgezahlt, hat zu entscheiden, ob er eine Kostenerstattungoder eine Sachleistung will. Es kommt zu einer Stärkungder Patientenrechte mit dem Recht auf Ausstellung einerRechnung und mit einer Beteiligung der Selbsthilfegrup-pen und Patientenverbände in Gesundheitsinstitutionen,Krankenkassen und Bundesausschüssen, wo sie mitre-den können. Denn es wird zwar oft über den Patientengesprochen; aber die Patienten sind viel zu wenig in dieEntscheidungsprozesse der deutschen Gesundheitspoli-tik eingebunden. Das ändert sich jetzt. Wir stärken diePatientenrechte massiv, ohne dass damit Bürokratie ver-bunden ist. Wir öffnen die Krankenhäuser teilweise wie-der bei schwierigen medizinischen Indikationen und beihoch spezialisierter Versorgung für die ambulante Be-handlung. Wir konnten den Menschen nicht mehr längererklären, warum eine Frau nach einer Brustamputationmit wochenlangem stationären Aufenthalt nicht zur am-bulanten Behandlung in das Krankenhaus zurückkann,in dem sie Vertrauen zum Pflegepersonal und zu denÄrzten hat. Dass sich dies jetzt ändert, ist ein großerWunsch der Bevölkerung.

Wir öffnen die integrierte Versorgung mit wenigergesetzlichen Vorgaben. Ein großes Problem des deut-schen Gesundheitswesens besteht in der starren Tren-nung von stationärer und ambulanter Behandlung. Diesewird jetzt gesetzgeberisch deutlich erleichtert. Wirschreiben nicht für ganz Deutschland vor, wie das zu ge-schehen hat, sondern die Ärzte, Krankenkassen und an-dere vor Ort sollen darüber im Sinne eines freiheitlichenselbstverwalteten Gesundheitswesens entscheiden, wiesie es für richtig halten.

Wir lassen medizinische Versorgungszentren zu, undzwar nicht als Spielwiese für gescheiterte Sozialingeni-eure, nicht für die Sozialversicherungen und nicht für dieöffentliche Hand. Sie kommen in unternehmerische Ver-antwortung und junge Ärzte erhalten somit die große

Chance, vor der Niederlassung in einem medizinischenVersorgungszentrum tätig zu sein.

Wir stärken die Prävention. Wer an seriösen Präven-tionsmaßnahmen teilnimmt, der kann von seiner Kran-kenkasse einen Bonus bekommen. Wir haben verabre-det, dem Deutschen Bundestag noch in diesem Jahr einPräventionsgesetz vorzulegen; denn bei allem Lob, dasman dem deutschen Gesundheitswesen aussprechenkann und muss, muss man sagen: Wir sind bei der Prä-vention immer noch zurückhaltend. Die Präventionenmüssen wir verstärken.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Einige strukturelle Maßnahmen, die in der gesund-heitspolitischen Diskussion lange umstritten waren undjetzt im Konsens auf den Weg gebracht werden, ermögli-chen eine grundlegende strukturelle Umorientierungweg von immer weiter wachsender Bürokratie hin zumehr Freiheit und eigenverantwortlichen Entscheidun-gen der Betroffenen im Gesundheitswesen.

Ich bin bei diesem Konsens am glücklichsten darüber,dass wir den Trend gerade der letzten vier, fünf Jahredurchbrechen, bei dem mehr für die Bürokratie im Ge-sundheitswesen und immer weniger für die Medizin aus-gegeben wurde. Die Beitragsmittel sind dafür da, damitmit ihnen kranke Menschen versorgt werden. Sie sindnicht dafür da, damit mit ihnen Bürokratie finanziertwird. Deshalb ist es richtig, die Verwaltungskosten derKrankenkassen bis zum Jahre 2007 einzufrieren und dieKrankenkassen zu verpflichten, die Vorstandsgehälter zuveröffentlichen. Das hat präventiveren Charakter als al-les andere.

Es war richtig, eine Bundesbehörde für Qualität in derMedizin zu verhindern. In diesem Institut wären ohnehinnur die gescheiterten Ärzte, die darüber frustriert sind,dass sie nicht Chefarzt geworden sind, tätig gewesen. Siehätten sich als Oberlehrer für diejenigen aufgespielt, diefür die kranken Menschen ihren Dienst tun.

(Widerspruch bei der SPD)

Das haben wir vermieden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich weiche auch der Frage der Selbstbeteiligungennicht aus. Ich bleibe dabei: Wenn Sie Rationierung vonGesundheitsleistungen vermeiden wollen, wenn Sie ver-meiden wollen, dass kranken Menschen das Notwendigenicht mehr zuteil wird, dann kommen Sie an einer sozialverträglichen Zuzahlung nicht mehr vorbei. Es ist sozialweitaus gerechter, die Menschen in verträglicher Weisean den Gesundheitskosten zu beteiligen, als chronischkranke Menschen durch Leistungsausschlüsse von derVersorgung auszugrenzen. Das ist weitaus verträglicher.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Wir haben auf die soziale Situation der kleinen LeuteRücksicht genommen. Kein chronisch kranker Menschmuss mehr als 1 Prozent seines Einkommens zuzahlen.Das ist Eigenverantwortung, die zumutbar ist. Alle ande-ren Menschen müssen nicht mehr als 2 Prozent aufbrin-

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4911

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gen. Wir haben Freibeträge für die Kinder eingeführt.Für die Kinder und Jugendlichen gibt es keine Zuzah-lungspflicht und auch ein nicht berufstätiger Ehegattebekommt Freibeträge. Es gibt die klare Definition, dassdie 1 bis 2 Prozent des Einkommens Eigenverantwor-tung darstellen und der Rest in solidarischer Absiche-rung erfolgt. Es ist gewissermaßen gesetzlich definiert,was Eigenverantwortung und was Solidarität ist.

Weil wir die Kraft dazu haben, werden wir auch dasoberste gesundheitspolitische Ziel in den nächsten Jah-ren finanzieren können – und zwar bei sinkenden Beiträ-gen –: Das Allerwichtigste ist – das ist noch wichtigerals die Lohnnebenkostenfrage –, dass kranke Menschendarauf vertrauen können, auch in Zukunft medizinischund pflegerisch erstklassig versorgt zu werden.

Wir werden keine Unterschiede hinsichtlich desFinanzstatus, des Einkommens oder des Alters machen.Es muss beim Prinzip der Solidarität bleiben, das inder Bevölkerung hohen Respekt und hohe Wertschät-zung genießt, nämlich Jung für Alt, Stark für Schwachund Gesund für Krank. Das ist mit dieser Gesundheits-reform realisiert.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Meine Damen und Herren, Beteiligte an einem Kon-sens neigen immer dazu, den Konsens höher zu bewer-ten, als er tatsächlich ist. Trotzdem kann ich als Beteilig-ter an vielen Reformen sagen, dass es zumindest vomFinanzvolumen her – die Kostenersparnis wird in dennächsten vier Jahren über 20 Milliarden Euro betragen –ein sehr großes Werk ist. Ich darf an den Kompromissvon Lahnstein aus dem Jahr 1992 erinnern, bei dem esum ein Volumen von 5 Milliarden ging.

Zum Schluss möchte ich noch auf einen Punkt hin-weisen. Eine Beitragssatzsenkung, die zu Ersparnissenund zu einer Erleichterung bei den Lohnnebenkostenführt, sowie die Einlösung unseres politischen Verspre-chens, eine erstklassige Medizin für alle sicherzustellen– das ist unsere Absicht –, werden auf Dauer nur gelin-gen, wenn die Quelle, aus der die Sozialsysteme finan-ziert werden, in der Zukunft wieder zum Sprudeln ge-bracht wird. Erstklassige Wirtschaft ist Voraussetzungfür erstklassige Gesundheitsleistungen. Deshalb sage ichan die Adresse von Rot-Grün: Sie müssen Ihre Wirt-schafts-, Finanz-, Haushalts- und Steuerpolitik funda-mental ändern;

(Beifall bei der CDU/CSU)

denn wir können im Gesundheitswesen nicht so viel re-formieren, wie uns durch eine verfehlte Wirtschaftspo-litik auf der Einnahmeseite wegbricht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich bleibe dabei: Das Werk, das durch unsere gemein-samen Reformen entsteht, ist ein großes Werk. Es warim Augenblick, in der Notsituation der gesetzlichenKrankenversicherung, parteiübergreifend zu leisten.Aber dieses Werk wird am Ende nicht gelingen, wenn esnicht zu positiven Impulsen für Wachstum und Beschäf-

tigung und durch einen Abbau der Arbeitslosigkeit wie-der zu mehr Beitragszahlern und somit zu mehr Einnah-men für die Krankenversicherung kommt. Noch nie warder Satz „Sozial ist, was Arbeit schafft“ so richtig. Einerstklassiges Medizinwesen ohne eine erstklassige Wirt-schaft ist nicht vorstellbar. Darauf wollte ich am Schlussnoch hinweisen.

Abschließend richte ich einen herzlichen Dank analle, die mitgewirkt haben. Es war ein einmaliges Vorge-hen. Frau Schmidt, es waren ja einige schöne Nächte, dieich erlebt habe. Trotzdem meine ich: Es sollte im Rah-men eines Gesetzgebungsverfahrens der Regelfall sein– das kann ich aus der Erfahrung der letzten Tagesagen –, dass man sich in der Zukunft wieder auf dieTransparenz eines parlamentarischen Beratungsverfah-rens besinnt. In diesem Fall war es eine Ausnahme we-gen der Notsituation. Aber aus der eigenen Erfahrungheraus plädiere ich, der ich voll zu diesem Konsensstehe, dafür, dass wir künftig wieder Bundestag undBundesrat als Plattform für parlamentarische Beratungenund die Ausarbeitung von Gesetzentwürfen wählen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abgeord-neten der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat die Kollegin Birgitt Bender,

Bündnis 90/Die Grünen.

Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Kollege Seehofer, ich hätte erwartet, dass Sie beimThema erstklassige Finanzierung das Stichwort Bürger-versicherung nennen. Ich denke, darüber werden wirdemnächst noch reden.

Vor wenigen Tagen meldete sich von unerwarteterSeite ein Kronzeuge dafür, dass der vorliegende Gesetz-entwurf so schlecht nicht ist, wie gelegentlich behauptetwird. Herr Hoppe, der Präsident der Bundesärztekam-mer, prognostizierte, dass diese Reform in kurzer Zeitfür sehr viel mehr Wettbewerb als bisher sorgen werde.Das liege, so Herr Hoppe weiter, insbesondere an derZulassung von Gesundheitszentren und den erweitertenKooperationsmöglichkeiten zwischen Krankenhäusernund dem ambulanten fachärztlichen Bereich.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zugegeben, Herr Hoppe hat diese Äußerungen kri-tisch gemeint. Er beschwor die aus unserer Sicht völligunrealistische Gefahr herauf, dass die niedergelassenenFachärzte durch die neue Konkurrenz verdrängt würden.Doch ich sage Ihnen: Diejenigen, die für mehr Wettbe-werb und mehr Kooperation im Gesundheitswegen plä-dieren, hat er mit seiner Äußerung nicht schrecken, son-dern nur ermutigen können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, im Kern hat der Präsidentder Bundesärztekammer Recht: Diese Reform wird allenAkteuren größere Chancen für Strukturveränderungen

Page 70: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

4912 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Birgitt Bender

bieten als jede Gesundheitsreform vor ihr. Die Diagnose,dass das Gesundheitswesen in Deutschland vor allen ander starren Abschottung der Leistungsbereiche lei-det – und daran die Patientinnen und Patienten leiden –,wird allgemein geteilt. Die Behebung dieses Leidenswird umso drängender, als wir alle wissen, dass die Zahlder chronisch Kranken zunimmt und dass gerade sie essind, die aufeinander abgestimmte Versorgungsketten füreine gute Behandlung brauchen.

Wir haben deswegen bereits im Rahmen der Gesund-heitsreform 2000 versucht, mit der Einführung der inte-grierten Versorgung einen Bereich zu schaffen, ausdem heraus allmählich mehr Kooperation zwischen Ärz-ten, anderen Gesundheitsberufen und Krankenhäusernentsteht. Aber es hat sich in den letzten Jahren gezeigt,dass die rechtlichen und wirtschaftlichen Barrieren fürdiese Zusammenarbeit so hoch sind, dass keine großeZahl neuer Versorgungsnetze entstanden ist.

Genau hier liegt die wichtigste Strukturveränderungin diesem Gesetzentwurf: Zusammenarbeit wird mög-lich, sie wird sogar gefördert. Wir haben die rechtlichenSchranken abgebaut. Darüber hinaus werden bis zumJahr 2006 bis zu 600 Millionen Euro bereitgestellt, umden schlafenden Riesen Integrationsversorgung zu we-cken. Das ist auch ein Weg zu mehr Qualität.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Botschaft, dass mehr Zusammenarbeit möglichwird, senden auch andere Reformmaßnahmen. Die inden neuen Bundesländern erfolgreich erprobten Ge-sundheitszentren werden zur Regelversorgung zugelas-sen und endlich überall möglich. Das kommt dem Be-dürfnis der Patientinnen und Patienten nach kurzenWegen und Versorgung aus einer Hand entgegen. Durchdie Ausweitung der Hausarztmodelle erhalten die Pa-tientinnen und Patienten die Gelegenheit, selbst etwaszum Zusammenwachsen des Versorgungssystems beizu-tragen. Durch die Teilöffnung der Krankenhäuser für diefachärztliche ambulante Versorgung wird gerade fürschwer erkrankte Patientinnen und Patienten die Konti-nuität der Behandlung sichergestellt.

Dieses Gesetz macht vieles möglich. Es verordnetnicht von oben herab mehr Zusammenarbeit. Aber esbietet allen Akteuren im Gesundheitswesen, den Leis-tungserbringern, den Kassen und den Patienten, dieMöglichkeit, sich für mehr Zusammenarbeit zu entschei-den. Ob diese Chance genutzt wird, wird von den Akteu-ren im Gesundheitswesen abhängen.

Meine Damen und Herren, einen großen Schritt nachvorn bedeutet das Gesetz auch für die Weiterentwick-lung der Beteiligungsrechte von Patientenverbänden,Selbsthilfezusammenschlüssen und Behindertenorgani-sationen. Seit den 80er-Jahren haben wir aus der Ge-sundheitsbewegung heraus immer wieder die Kritik ge-hört, dass das Gesundheitswesen eine der letztendemokratiefreien Zonen dieser Gesellschaft sei, dass Pa-tienten nicht als Beteiligte, sondern als Objekte von Be-handlungsprozessen behandelt würden, dass das Systemeinseitig auf Kostenträger und Leistungserbringer ausge-

richtet sei, dass die Beteiligungsrechte von Patienten undVersicherten gegen null gingen.

Nun können wir als Gesetzgeber den alltäglichenUmgang mit Patientinnen und Patienten in den Praxenund Krankenhäusern nur bedingt beeinflussen. Wir ha-ben auch gar nicht vor, hier durch eine staatliche Steue-rung einzugreifen. Aber ob Patienten als Partner oder alsAbhängige behandelt werden, hängt neben der Ausbil-dung auch von Lernprozessen in der Ärzteschaft ab. Dahat sich in den letzten Jahren etwas getan. Aber es ist un-sere Aufgabe, die institutionellen Rahmenbedingungenfür die Beteiligung der Betroffenen zu schaffen. DiesesGesetz trägt dazu bei. Endlich werden in allen Gremiendes Gesundheitswesens die Betroffenen-, die Patienten-verbände beteiligt. Auf diese Weise werden aus Betrof-fenen Beteiligte.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Damit tun wir auch etwas für die Qualität im Gesund-heitswesen. Denn wer wüsste besser etwas über die Qua-lität von Behandlungen zu sagen als diejenigen, die sieim wahrsten Sinne des Wortes hautnah erleben?

(Beifall des Abg. Markus Kurth [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN])

Meine Damen und Herren, dieses Gesetz ist – dassage ich für die Grünen – einerseits gut, da es den Akteu-ren den notwendigen Bewegungsspielraum gibt, um un-ser Gesundheitswesen gemeinsam und auf Augenhöhebesser zu machen. Andererseits – auch dies sage ichdeutlich – weist das vorliegende Gesetz ein Defizit auf.Dieses Defizit wird offensichtlich, wenn man den Ge-setzentwurf, den die Koalitionsfraktionen hier ins Parla-ment eingebracht haben, und den jetzigen Konsensent-wurf einmal nebeneinander legt; denn wir sind mitunserem Gesundheitssystem-Modernisierungsgesetz derGrundidee gefolgt, dass mehr Wettbewerb erforderlichist, um im Gesundheitswesen mehr Qualität und Wirt-schaftlichkeit hervorzubringen.

Dazu sollten in allen Leistungsbereichen die Rahmen-bedingungen geschaffen werden, um neben den Kassen,die ja bereits im Wettbewerb stehen, auch die Leistungs-erbringer in den Wettbewerb zu bringen, sodass sie umQualität und Wirtschaftlichkeit wetteifern. Leider ist die-ser Wettbewerbsgedanke im vorliegenden Gesetzent-wurf stark reduziert worden. Ich sage aber auch deutlich:Er wurde zwar reduziert, aber nicht eliminiert. Es ist mirwichtig, das an dieser Stelle festzuhalten.

Auch die nun vorgesehenen Reformmaßnahmen – hierverweise ich wieder auf den eingangs zitierten ProfessorHoppe – werden zu weitaus mehr Wettbewerb führen,als das Gesundheitswesen bisher kennt. Das liegt an demAusbau der Integrationsversorgung – das sind letztlichDirektverträge –, an weiteren Flexibilisierungen im Ver-tragsrecht und an der Zunahme der Wahlmöglichkeitenfür die Versicherten zwischen verschiedenen Versor-gungsformen. Zudem ist es in der Arzneimitteldistribu-tion gelungen, mit der wenngleich begrenzten Aufhe-bung des Mehrbesitzverbotes bei den Apotheken, derZulassung des Arzneimittelversandhandels und der

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4913

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Birgitt Bender

Preisfreigabe für verschreibungsfreie Arzneimittel wich-tige Wettbewerbselemente einzuführen. Hier wurde eineTür aufgestoßen, damit die Schutzzäune, die den Wett-bewerb bisher verhindert haben, fallen.

Trotzdem sind auf dem Weg vom ursprünglichen Ge-setzentwurf zum Konsens einige Reformmaßnahmen fürmehr Wettbewerb über Bord gegangen. Ich sage hier fürdie Grünen: Wir wollen dafür sorgen, dass diese Maß-nahmen wieder ins Boot kommen; denn wir brauchendiese Wettbewerbselemente, um Wirtschaftlichkeitsre-serven zu erschließen und die unvermeidbaren zusätzli-chen Belastungen für die Versicherten in einem sozial-staatlich akzeptablen Rahmen zu halten. Danebenbrauchen wir sie als Suchverfahren, um zu Innovationenzu kommen, die unser Gesundheitswesen dringend be-nötigt, um zukunftsfähig zu sein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Kurzum: Dieses Gesetz ist nicht das Nonplusultra.Man merkt ihm an, dass zu seiner Durchsetzung ein Par-teienkonsens über die Koalitionsgrenzen hinaus erfor-derlich war. Große Koalitionen sind in ihrer Reformfä-higkeit nun einmal begrenzt.

(Horst Seehofer [CDU/CSU]: Oh! Oh!)

– Herr Seehofer, auch Sie werden es hinter den Kulissenzugeben. – Dieses Gesetz stößt aber Türen auf, die bis-her verschlossen waren. Deswegen sagen wir: Es ist einKompromiss mit Perspektiven.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Dieter Thomae,

FDP-Fraktion.

Dr. Dieter Thomae (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Seit 1998 erleben wir, dass die Gesetzgebungvon Rot-Grün permanent in das System eingreift. Wirstellen fest: Die Intervention funktioniert nicht.

Wenn man diesen Gesetzentwurf sehr sorgfältig liest,muss man eindeutig feststellen, dass es auch hier ent-scheidende Punkte gibt, deren Umsetzung weiter in diePlanwirtschaft führen würde. Herr Seehofer, ich binnicht so euphorisch wie Sie und viele andere; denn wennSie zum Beispiel die Befugnisse des Bundesausschussesanalysieren, stellen Sie fest, welchen Einfluss letztlichdie Bundesregierung auf die Genehmigungsbehörde hat.Der Bundesausschuss wird eine staatliche Genehmi-gungsbehörde mit massivem Einfluss darauf, ob neue In-vestitionen getätigt und Innovationen erreicht werdenkönnen oder nicht – ein bürokratisches Monster!

(Beifall bei der FDP)

Zudem zeigt der Gesetzentwurf eine Diskriminie-rung der Leistungserbringer in allen Bereichen auf.

(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Oje! Mir kommen die Tränen!)

– Ich habe diesen Gesetzentwurf mit Experten genauanalysiert. Sie sprechen davon, die Budgetierung bis2007 abzuschaffen. Aber die Budgetierung wird nichttatsächlich abgeschafft. Wenn sie abgeschafft werdensoll, dann ist es für mich unverständlich, dass laut Ge-setzentwurf nicht nur die bestehende Budgetierung derGesamtvergütung auf Landesebene beibehalten wird,sondern diese Budgetierung auf landesweite Facharzt-gruppen ausgeweitet wird und schließlich bis hin zu ei-nem Praxisbudget reicht. Wenn das keine Budgetierungin vollendeter Form ist, dann begreife ich nicht, was manunter Regelleistungsvolumina versteht.

(Beifall bei der FDP)

So einfach, wie Sie sich das machen, werden sich dieMaßnahmen im Gesetz nicht umsetzen lassen. Die west-deutschen Ärzte sollen nach diesem Gesetzentwurf kol-lektiv für die Ostärzte haften – Ende, fertig, aus! Manmuss sich fragen: Was haben Sie in der Vergangenheitauf den Weg gebracht? Hinzu kommt noch eine Thema-tik, von der ich glaube, dass sie in der Öffentlichkeitüberhaupt noch nicht bekannt ist: In Zukunft wird dasArzneimittelbudget noch strenger gehandhabt. Wennnämlich irgendwo eingespart wird, dann wird die einge-sparte Summe teilweise auf die Honorare der Ärzte ver-lagert.

(Peter Dreßen [SPD]: Ach Gott!)

Wenn Sie dieses Wechselspiel tatsächlich betreiben,werden Sie feststellen, welche Probleme bei der Arznei-mittelversorgung demnächst auftreten werden. Leidenwerden die Patienten.

(Beifall bei der FDP – Peter Dreßen [SPD]: Die FDP ist ein Bedenkenträger!)

Sie wollen – darüber kann man mit Recht diskutieren;auch ich bin dafür – die integrierte Versorgung einfüh-ren. Aber wie Sie das finanziell organisiert haben, findeich unverantwortlich. Jedes Krankenhaus, ob Transplan-tationszentrum, Kreiskrankenhaus oder Kinderonkolo-gie, muss die nächsten drei Jahre 1 Prozent seines Volu-mens für die integrierte Versorgung zur Verfügungstellen. Ähnliche Regelungen sind für die Ärzteschaftvorgesehen. Diejenigen, die aus den unterschiedlichstenGründen an der integrierten Versorgung nicht teilneh-men können, werden zu Zahlungen verpflichtet. WennSie wissen, was es bei der finanziellen Situation derKrankenhäuser heute für ein Kreiskrankenhaus bedeutet,auf 1 Prozent seines Volumens zu verzichten, können Siesich die Folgen ausrechnen.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Kirschner?

Dr. Dieter Thomae (FDP): Nein, ich möchte meine Rede im Zusammenhang hal-

ten.

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4914 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Dr. Dieter Thomae

Finstere Kostendämpfung führt zur Missachtungmarktwirtschaftlicher Prinzipien. Ich kann mich gut anGesetzentwürfe in diesem Haus erinnern, die ähnlicheZiele hatten und mit denen man es vermieden hätte, in-novative Pharmaunternehmen mit Abschlägen zu bestra-fen. Wir haben 1997/98 solche Gesetzentwürfe einge-bracht. Wenn Sie glauben, die finanziellen Engpässe desgesetzlichen Systems damit zu beseitigen, dann irren Siesich. Sie können zwar ein bestimmtes Einsparvolumenfordern, aber damit können Sie keine vernünftige For-schungs- und Arbeitsmarktpolitik in Deutschland betrei-ben.

(Beifall bei der FDP)

Die Unternehmen werden in Deutschland nicht mehrforschen und das Land verlassen. Die ersten Signale da-für haben Sie schon bekommen. Das liegt an Ihrer ver-fehlten Politik. Hätten Sie 1998 – Herr Seehofer hat esIhnen schon deutlich gesagt – nicht die Zuzahlung zu-rückgenommen und Leistungen verlagert, dann wärendiese Maßnahmen nicht notwendig gewesen.

(Beifall bei der FDP)

Sie reden immer von der Förderung des Wettbewerbsin diesem System. Sie verstehen unter dem Begriff Wett-bewerb doch nur eines, nämlich die Macht der Kranken-kassen zu stärken, das heißt, den Krankenkassen einemonopolartige Stellung zu übertragen. Das kann nichtdie Zielsetzung sein.

(Peter Dreßen [SPD]: Wo denn?)

– Beispielsweise bei Einzelverträgen.

(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Sie verteidigen die Kartelle!)

Wenn einer Ihrer Eckpunkte schon „fairer Wettbe-werb“ lautet, dann hätten Sie auch für den Versandhan-del fairen Wettbewerb organisieren müssen. Das tun Sienicht. Fairer Wettbewerb mit dem Versandhandel istnicht gegeben: unterschiedliche Mehrwertsteuersätze,unterschiedliche Zuzahlungen, gar nicht zu reden davon,dass sich die traditionelle Apotheke an Öffnungszeitenhalten muss.

Wenn Sie schon von Fairness reden, dann sollten Sieentsprechende Gesetze machen. Es gibt kein Land indieser Welt, das bei Arzneimitteln den Versandhandelüber die Landesgrenzen hinweg zulässt, auch nicht dieSchweiz oder Amerika. Sie aber wollen jetzt mit diesemGesetz den Versandhandel von anderen europäischenStaaten nach Deutschland organisieren. Warten Sie ab,bis demnächst die Arzneimittel aus Polen und Tsche-chien kommen! Dann möchte ich sehen, wie Sie dieLeistungen sicherstellen wollen.

(Horst Seehofer [CDU/CSU]: Das geht gar nicht!)

– Doch, wenn sie in der Europäischen Union sind, gehtdas.

(Horst Seehofer [CDU/CSU]: In zehn Jahren! –Zuruf von der SPD: Ein fundamentaler Bei-trag!)

Nun zur schönsten Thematik, Ihrem Finanztableau.(Horst Seehofer [CDU/CSU]: Du kannst das

normalerweise besser!)

Versicherungsfremde Leistungen sollen über die Tabak-steuer finanziert werden. Bisher haben wir kein Signalvon Herrn Eichel, dass er diese Differenz übernimmt,um die versicherungsfremden Leistungen gegenzufinan-zieren.

(Marion Caspers-Merk [SPD]: Ein Blick in das Gesetzbuch erleichtert die Rechtsfindung!)

– Wir werden es sehen, wenn das Gesetz verabschiedetist.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist die Rede von Juni!)

Die Finanztableaus von Rot-Grün haben noch nie ge-stimmt und so wird es auch in diesem Fall sein. Sie wer-den sich noch wundern!

Die Krankenkassen sind nicht mit 7 Milliarden Euroverschuldet, sondern die Krankenkassen sind erheblichhöher verschuldet. Denn hinzugerechnet werden müssendie Verbindlichkeiten gegenüber Leistungserbringern,vor allen Dingen gegenüber Krankenhäusern, die mehrals 2 Milliarden Euro ausmachen. Wie wollen Sie ange-sichts dessen Ihr Finanztableau halten?

(Beifall bei der FDP)

Schon heute können die Krankenkassen die Kranken-häuser nicht bezahlen, mancherorts sind die ausstehen-den Zahlungen seit mehr als drei oder vier Monaten fäl-lig. Wie wollen Sie dieses Problem lösen?

Ich bin nicht so optimistisch wie viele meiner Vor-redner; ich bin pessimistisch. Wenn Sie dieses Tableauseriös analysieren, dann stellen Sie fest, dass es in dennächsten Jahren keine Beitragssatzsenkungen gebenwird.

(Horst Seehofer [CDU/CSU]: Worum wetten wir?)

Dass ich nicht so falsch liege, sehen Sie daran, dass dieVorstände der Krankenkassen nicht bereit sind, die Aus-sage zu treffen, dass in der nächsten Zeit eine Beitrags-satzsenkung erfolgt.

Mit diesen Maßnahmen werden Sie das Ziel verfeh-len. Schauen Sie unseren Leitantrag an. Wir sind derÜberzeugung, dass unser Weg der richtige ist.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Helga Kühn-

Mengel, SPD-Fraktion.

Helga Kühn-Mengel (SPD): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Herr Thomae, ich war doch etwas überrascht. Ei-gentlich wollte ich meine Rede mit einem Dank an die

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Helga Kühn-Mengel

Mitglieder der Konsensrunde beginnen und mich aus-drücklich für die gute, wenn auch anstrengende Arbeitbedanken. Ich wollte auch Ihnen danken, Herr Thomae,weil Ihre Beiträge immer sehr deutlich machen, wohindie Reise gehen würde, wenn Sie nur könnten.

(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Das ist auch gut so!)

Ich muss gleichzeitig Ihre Begrifflichkeiten weit zurück-weisen. Von planwirtschaftlichem Denken kann in die-sem Gesetz weiß Gott keine Rede sein.

(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Warten wir es ab!)

Wir wollten mehr Wettbewerb, den Sie, solange Sie amTisch saßen, vehement bekämpft haben.

(Zurufe von der SPD: Hört! Hört!)

Wir haben natürlich den Ausgleich zwischen den Ärztenin Ost und West mit diesem Gesetz befördert. Das istaber ein Ausgleich, keine Haftung. Wenn wir das Arz-neimittelbudget strenger fassen, dann ist das ein wichti-ger Schritt zur Konsolidierung desjenigen Bereiches, dererheblich zu den Ausgabensteigerungen der gesetzlichenKrankenkassen beigetragen hat. Wir befördern die inte-grierte Versorgung durch eine Anschubfinanzierung undbauen bürokratische Hemmnisse ab. Das ist ein deutli-cher und wichtiger Fortschritt.

Der Kompromiss ist vor dem Hintergrund einerSchritt für Schritt gewachsenen Einsicht zustande ge-kommen, dass wir den Sozialstaat umbauen müssen,wenn wir ihn erhalten wollen. Wir alle nehmen diesenSozialstaat als etwas Selbstverständliches hin. Wir ver-lassen uns darauf, dass unser Lebensstandard im Fallevon Arbeitslosigkeit nicht abrupt abnimmt und dass wirärztlich versorgt werden, wenn wir krank sind.

Es ist richtig, Herr Kollege Seehofer, dass wir – auchim weltweiten Vergleich – ein sehr gutes System haben.Aber es ist auch ein teueres System, das nicht in allenFacetten wirksam und effektiv ist. Deswegen ist festzu-stellen, Herr Kollege Seehofer – diesen Ball spiele ichzurück –: Sie hätten diese Strukturreformen auch in IhrerAmtszeit längst durchführen können. Denn in den Gut-achten der Sachverständigen haben sich auch schon da-mals Hinweise auf Ineffizienzen aufgetan. Sie hättenechte Reformen durchführen können, statt sich auf Kos-tendämpfungsgesetze zu beschränken.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Im Übrigen – auch das muss ich noch kurz anmerken –hat das Bundesministerium für Gesundheit und SozialeSicherung bereits im vergangenen Jahr, also noch vordem erzielten Konsens, Zuschüsse für flexible Arbeits-zeitmodelle zur Verfügung gestellt, und zwar im Vorgriffauf das Urteil des Europäischen Gerichtshofes.

In Deutschland vertrauen mehr als 70 Millionen Men-schen auf das System der solidarischen Krankenversi-cherung, in dem Jüngere für Ältere, Alleinstehende fürFamilien, Gesunde für Kranke und Einkommenstärkerefür Einkommenschwächere einstehen. Dieses solidari-

sche Grundprinzip ist und bleibt richtig. Alle Reformenmüssen an dieser Stelle ansetzen.

Gleichzeitig müssen wir uns aber auf zukünftigeEntwicklungen vorbereiten. Wir müssen den medizini-schen Fortschritt, die demographische Entwicklung undden damit verbundenen Ausgabenanstieg bewältigen.Wir müssen uns den veränderten wirtschaftlichen Rah-menbedingungen mit den entsprechenden Auswirkungenauf den Arbeitsmarkt anpassen, unser stark lohnbezoge-nes System abfedern und nicht zuletzt auch die Lohnne-benkosten senken. Um all das gewährleisten zu können,müssen die vorhandenen Mittel effizient und wirtschaft-lich eingesetzt werden. Die Finanzierungslücke wollenwir nicht durch höhere Beiträge decken; denn steigendeSozialbeiträge schwächen die Arbeitsmarktpolitik.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Rationierung der Leistungen zulasten von Patien-tinnen und Patienten gehörte nicht zu unserer Verhand-lungsmasse. Auch die freie Arzt- und Krankenhauswahlstand nicht zur Disposition. Für uns stand und steht fest:Sozial gerechter ist eine – für die Schwächeren maßvollabgefederte – Beteiligung der Versicherten an denKrankheitskosten, durch die auch weiterhin ein hohesVersorgungsniveau bei gleichzeitig angemessenen Bei-tragssätzen gesichert wird.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Reformieren wir dieses System nicht oder nur halb-herzig, geraten wir über kurz oder lang unter die Räder.Deswegen haben wir uns gemeinsam mit der CDU/CSUund den Vertretern und Vertreterinnen der Länder aufeine umfassende und nachhaltig wirksame Reform zurFörderung von Qualität und Wirtschaftlichkeit im deut-schen Gesundheitswesen verständigt.

Das GMG sendet das Signal aus, dass die Deutsch-land AG nicht erstarrt und verkrustet, sondern reformbe-reit, reformwillig und reformfähig ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dieses Gesetz bietet den Auftakt für weitere Reformenin den Sozialsystemen, die den Standort Deutschlandstärken werden.

Gleich im Anschluss an diese Beratung bringen SPDund Bündnis 90/Die Grünen den Gesetzentwurf zur Ein-ordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuchein, um auch dieses Recht weiterzuentwickeln. Die wei-teren Sozialsysteme Rente und Pflegeversicherung ste-hen zur Beratung für diesen Herbst an, zudem ist einPräventionsgesetz geplant. Hierdurch befördern wir tat-sächlich Veränderungen und die Zukunftsfähigkeit unse-rer Systeme.

Wir wissen, dass wir uns den Herausforderungen stel-len müssen, und wir packen sie an. Wir werden mit Ar-gusaugen darüber wachen, dass die Gerechtigkeit beimUmbau des Sozialstaates nicht auf der Strecke bleibt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

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Helga Kühn-Mengel

Die breiteren Schultern müssen auch in Zukunft mehrtragen als die schwachen.

Das darf nicht mit Besitzstandswahrung verwechseltwerden. Wir wollen aber eine solidarische Gesellschafterhalten, in der soziale Gerechtigkeit als essenziellesZiel anerkannt ist. Wir werden auch dafür sorgen, dassdie Gesundheits- und Sozialpolitik wegen des Anpas-sungsdruckes nicht zum bloßen Anhängsel der Wirt-schaftspolitik verkommt. Gesundheits- und Sozialpolitikmuss auf den ökonomischen Gegebenheiten basieren,das ist richtig, sie darf aber nicht zur Variablen der Wirt-schaftspolitik herabgestuft werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Jetzt noch etwas zum Kompromiss. Dieser Begriffhat hier oftmals einen negativen Beigeschmack; „faulerKompromiss“ und „kleinster gemeinsamer Nenner“ sindhäufig gebrauchte Redewendungen. Das war aber nichtunser Ansatz. Wer das Wünschbare verabsolutiert unddas Machbare gering schätzt, ist in der Politik fehl amPlatz. Wir sagen: do ut des – ich gebe, damit du gibst.Kompromisse sind gelebter Pragmatismus. Sie sind derKitt, der die Gemeinschaft zusammenhält. Das gilt fürStaat und Gesellschaft.

Es ist richtig: Die Bürger werden stärker an denKrankheitskosten beteiligt – an vielen Stellen neu undauch schmerzhaft. Wir haben aber dafür gesorgt, dass dieKosten verträglich sind und dass Bürgerinnen und Bür-ger in vielen Feldern auch auf der Habenseite ein Plusverzeichnen.

Die gesetzliche Krankenversicherung – das ist unserAnsatzpunkt – dient den Versicherten und den Patientin-nen und Patienten. Ihre Belange standen deshalb für unsim Mittelpunkt der Reform. In diesem Gesetz werdenPatienten stärker in die Entscheidungsprozesse der ge-setzlichen Krankenversicherung eingebunden. Die ent-scheidende Voraussetzung ist die Herstellung vonTransparenz über Angebote, Leistungen, Kosten undQualität. Wenn das gewährleistet ist, erhöhen sich auchWirtschaftlichkeit und Qualität im Gesundheitswesen.Dabei – ich sage es noch einmal – bleibt die freie Arzt-wahl erhalten. Um dieses Ziel zu erreichen, haben wir indiesem Gesetz die Patientensouveränität durch mehrTransparenz, Wahlmöglichkeiten und Beteiligungsrechtegestärkt.

Folgende Instrumente stehen den Versicherten ab2004 zur Verfügung: die Einführung einer Patientenquit-tung, die Einführung der intelligenten Gesundheitskarte,ein Versichertenbonus für viele Bereiche – auch für prä-ventives Verhalten; Anreize, die die Krankenkassen ih-ren Versicherten geben können –, ein Patientenbeauf-tragter als Sprachrohr für Patienteninteressen, dieInanspruchnahme von Leistungserbringern auch im EU-Ausland, Wahlmöglichkeiten bei Versicherungskonditio-nen und qualifizierte Anhörungsrechte für Patientenver-bände. Zusammen ergibt sich ein breites Spektrum vonVerbesserungen und Beteiligungen für Patienten und Pa-tientinnen.

In vielen Diskussionen wird dieses Gesetz als Kosten-dämpfungsgesetz abqualifiziert. Wer das tut, hat den

Entwurf nicht gelesen. Ihm ist entgangen, dass es dieQualitäts- und die Wirtschaftlichkeitsoffensive fortsetzt,die Rot-Grün schon mit einem entsprechenden Gesetzim Jahre 2000 eingeleitet hat; denn wir müssen nach wievor sagen: Unser Gesundheitswesen leidet an struktu-rellen Überkapazitäten. Auch hier setzt das Gesetz an.Bettenüberhänge und überlange Verweildauern der Pa-tienten in Krankenhäusern, eine vielfach zu hohe Arzt-dichte, die daraus resultierende medizinisch nicht be-gründete Mengenausweitung der Versorgungsleistungenund knallharte innerärztliche Verteilungskämpfe, die da-mit zu tun haben, belegen Ineffizienzen in unserem Ge-sundheitswesen. Hinzu kommen die bekannten Über-,Unter- und Fehlversorgungen, die gerade bei den beson-ders behandlungs- und kostenintensiven chronischenVolkskrankheiten gehäuft auftreten.

An dieser Stelle kann ich lediglich auf einige struktu-relle Weichenstellungen des GMG näher eingehen, diedas Preis-Leistungs-Verhältnis unseres Gesundheitssys-tems verbessern. Eine Schlüsselrolle nimmt hier dasInstitut für Qualität und Wirtschaftlichkeit ein. Essoll unter anderem den Nutzen von Therapien, zu denenauch Arzneimittel gehören, bewerten. Es soll die Spreuvom Weizen trennen, indem es Scheininnovationen end-lich entlarvt. Außerdem soll es Patienten und Patientin-nen in einer verständlichen Sprache über aktuelles Wis-sen zu bestimmten Krankheiten informieren.

Ursprünglich hatten wir uns ein noch schlagkräftigeresInstitut gewünscht. Aber auch die abgespeckte Versionwird zu einer Einbeziehung neuer wissenschaftlicherund praktischer Erkenntnisse in die medizinische Versor-gung führen.

Wir sind des Weiteren der Meinung, dass die Qualitätder medizinischen Versorgung ganz entscheidend vonder beruflichen Qualifikation der im Gesundheitswesentätigen Menschen abhängt. Deswegen stärken wir dieProfessionalität und fordern, dass die Ärzte Patientennach dem jeweils aktuellen Stand der Medizin behan-deln.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Da wir wissen, dass sich das medizinische Wissen unge-fähr im Fünfjahresrhythmus verdoppelt, fordern wir eineFortbildungspflicht für Ärzte und Ärztinnen; denn davonprofitieren die Patienten und Patientinnen. DenjenigenÄrzten, die sich dieser Forderung nicht stellen und sichverweigern, kann sogar die Zulassung entzogen werden.Fortbildung muss außerdem industrieunabhängig sein.Es gilt neutrales und objektives Wissen zu vermitteln.Die Fortbildung der Ärzte darf nicht im Rahmen vonWerbeveranstaltungen für Geräte oder Präparate stattfin-den.

Durch weitere Strukturveränderungen im GMG wer-den, wie schon geschildert, Hindernisse im Bereich derintegrativen Versorgung beseitigt. Wir werden in demGesetz eine Anschubfinanzierung für integrative Versor-gungsformen verorten; das ist wichtig. In den Jahren2004 bis 2006 hat jede Krankenkasse bis zu 1 Prozentder von ihr zu entrichtenden Gesamtvergütung für dieambulante ärztliche Vergütung sowie bis zu 1 Prozent

Page 75: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4917

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Helga Kühn-Mengel

der Vergütung für stationäre Versorgung einzubehalten,sodass diese Bereiche gestärkt werden können. In denmedizinischen Versorgungszentren werden Ärzte end-lich zugunsten der Patienten und Patientinnen kooperie-ren und Medizin aus einer Hand anbieten können. Hierwerden Synergieeffekte genutzt, was Qualitäts- und Effi-zienzsteigerungen befördern wird.

Darüber hinaus gibt es, wie bereits erwähnt, die Teil-öffnung der Krankenhäuser für hoch spezialisierte Leis-tungen. Wir erhöhen damit die Wahlfreiheit der Patien-ten und Patientinnen; denn sie können zukünftig wählen,in welchen konkurrierenden Versorgungsformen sie sichbehandeln lassen wollen. Sie können mit den Füßen da-rüber abstimmen.

Des Weiteren wird der Arzneimittelvertrieb liberali-siert. Versandapotheken können den lokalen, den regio-nalen oder den überregionalen Versand organisieren.Auch damit sorgen wir für Bewegung auf dem Arznei-mittelmarkt. Allen, die hier schwarz malen, sage ich: Ih-nen geht es nicht um die Arzneimittelsicherheit – dieseist gewährleistet –, sondern nur ums Geschäft.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Neue Wege gehen wir auch beim Zahnersatz. SeineAusgliederung aus dem Leistungskatalog der GKV warfür uns sehr problematisch; das muss hier deutlich gesagtwerden. Die befundorientierten Festzuschüsse werdenden Patienten und Patientinnen in Zukunft auch dann ge-zahlt, wenn sie eine prothetische Versorgung wählen, dieüber die Regelversorgung hinausgeht, die der Bundes-ausschuss für die jeweilige Zahnlücke festgelegt hat. Wirwerden darauf achten, dass die entstandenen Freiräumenicht missbraucht werden. Wir werden ein Abzocken derPatienten und Patientinnen durch Zahnärzte nicht dul-den.

Last, but not least öffnet das GMG die Tore für mehrTransparenz im Gesundheitswesen und für eine bessereMitbestimmung der Patienten.

Mein Fazit lautet: Es gibt Licht und Schatten in demvorliegenden Gesetzentwurf.

(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Mehr Schatten!)

Aber insgesamt bringen wir etwas voran. Beide Seitenhaben Federn gelassen und Kröten geschluckt. Natürlichhätten wir lieber unseren ursprünglichen Gesetzentwurfumgesetzt, lieber das Zuzahlungsmodell der Ministerinin der ersten Fassung gehabt und lieber die Möglichkeitgestärkt, Einzelverträge abzuschließen. Auch die Posi-tivliste halten wir nach wie vor für ein wirksames Instru-ment. Natürlich ist es uns nicht leicht gefallen, demVerhandlungseckpfeiler der CDU/CSU nachzugeben,wonach der Zahnersatz aus dem Leistungskatalog dergesetzlichen Krankenversicherung ausgegliedert wer-den soll. Insgesamt spiegelt der vorliegende Gesetzent-wurf aber die Schnittmenge an Gemeinsamkeiten wider,die in der Gesundheitspolitik zwischen Koalition undUnion bestehen. Hier wird das geregelt, was zurzeit ge-regelt werden kann.

Es stehen aber weitere Reformen an. Ich bin der fes-ten Überzeugung, dass in nächster Zeit auch über dieBürgerversicherung als solidarischer Beitrag aller in die-ser Gesellschaft geredet werden kann. Dann geht es nocheinmal um die zukünftige Finanzierbarkeit. Wir sind je-denfalls diejenigen, die Gesetze voranbringen, die diesozialen Systeme stärken und zukunftsfest machen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Andreas Storm,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Andreas Storm (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit der

Einbringung dieses gemeinsamen Gesetzentwurfes zurGesundheitsreform beraten wir heute auch über denSozialetat. Dabei muss man feststellen: Die Lage derSozialversicherungen ist so dramatisch wie noch niezuvor in der Geschichte dieses Landes.

(Horst Seehofer [CDU/CSU]: Leider!)

In allen drei großen Systemen – bei der Rente, im Ge-sundheitswesen und bei der Pflege – stehen wir nachfünf Jahren Rot-Grün vor den gleichen Problemen: DieBeitragssätze steigen, die Rücklagen schmelzen dahin.

Die Bundesregierung hat in den letzten beiden Jahrenmassiv in die Rücklagen der gesetzlichen Rentenversi-cherung gegriffen. Das Ergebnis ist, dass die Beitrags-sätze trotzdem völlig aus dem Ruder laufen. Ohne er-neute Notoperationen wird der Rentenbeitrag imnächsten Jahr auf 20,3 Prozent steigen. Das wäre ein his-torischer Rekordwert. Wir hatten diesen Wert schon ein-mal 1998; aber damals sind noch nicht 16 MilliardenEuro aus dem zweiten Rentenbeitrag an der Tankstelle,also den Einnahmen aus der Ökosteuer, in die Renten-kasse geflossen.

Wenn der Finanzminister, nachdem er fünf Jahre langimmer mehr Steuergelder in die Rentenkasse gegebenhat, nun – in einer Lage, in der die Beiträge aus dem Ru-der laufen – ankündigt, dass die Bundesmittel für dieRente gekürzt werden sollen, dann ist dies töricht. Dasist das Gegenteil einer nachhaltigen Rentenpolitik.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Auch die Pflegeversicherung kommt aus den rotenZahlen nicht mehr heraus. Es gibt noch keine endgültigeEinschätzung – wir sind erst in der zweiten Jahreshälf-te –, aber es zeichnet sich ab, dass wir in diesem Jahr einRekorddefizit von mindestens 700 Millionen Euro errei-chen werden. Das bedeutet: Die Rücklage in der Pflege-versicherung, die Norbert Blüm hinterlassen hat,schmilzt dahin wie Eis in der Sonne. Die Rürup-Kom-mission, die der Bundeskanzler eingesetzt hat, sagt: Spä-testens im Jahre 2007 ist der freie Teil dieser Rücklageaufgebraucht; dann müssen die Beitragssätze steigen.

Page 76: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

4918 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Andreas Storm

Das bedeutet: Im nächsten Jahr brauchen wir eine grund-legende Strukturreform der Pflegeversicherung, damitsie nicht gegen die Wand fährt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Der Beitragssatz zur gesetzlichen Krankenversiche-rung lag beim Regierungswechsel im Jahre 1998 nochbei 13,6 Prozent.

(Horst Seehofer [CDU/CSU]: 13,5 Prozent!)

Heute liegt er bei 14,3 Prozent. Ohne diese Notoperationwürde er im kommenden Jahr mindestens die 15-Pro-zent-Marke erreichen, wenn nicht gar übersteigen.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

Die Ursache für die katastrophale Finanzlage des ge-samten Sozialversicherungssystems liegt aktuell wenigerauf der Ausgabenseite denn auf der Einnahmeseite. Dassdies so ist, zeigt gerade die Notoperation von Rot-Grünaus dem vergangenen Spätherbst. Das Beitragssatzsi-cherungsgesetz sollte dazu beitragen, dass die gesetzli-che Krankenversicherung in diesem Jahr konsolidiertwird. In der Tat sind die Ausgaben im ersten Halbjahr2003 nur um 1 Prozent gestiegen. Das Problem liegt da-rin, dass die Einnahmen wegen der dramatisch schlech-ten Arbeitsmarktentwicklung aufgrund einer verfehltenrot-grünen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik mitt-lerweile rückläufig sind.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ein Gesundheitssystem kann noch so leistungsfähigsein: Bei einer so dramatischen Einnahmeentwicklungkann es ohne Reformen nicht aufrechterhalten werden.Dies ist der Grund, weswegen die Union bereit ist, in ei-ner derart dramatischen Situation die Hand zu einer Re-form zu reichen. Es muss zumindest darum gehen, imGesundheitswesen einen Beitrag dazu zu leisten, dassdie verhängnisvolle Spirale aus steigenden Sozialabga-ben, wegbrechenden Arbeitsplätzen und erneut steigen-den Lohnnebenkosten gestoppt wird.

Diesen Beitrag können wir mit diesem Gesetz leisten.Es wird bereits im nächsten Jahr in der gesetzlichenKrankenversicherung eine Konsolidierung in der Grö-ßenordnung von fast 10 Milliarden Euro ermöglichen.Der Konsolidierungsbeitrag steigt bis zum Ende dieserWahlperiode auf etwa 20 Milliarden Euro. Das bedeutet:Die Perspektive ist, dass der Beitragssatz im nächstenJahr unter die 14-Prozent-Marke und bis zum Ende die-ser Wahlperiode auf 13 Prozent oder weniger sinkenkann.

(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Optimist!)

Natürlich kann kein Mensch eine Garantie dafür über-nehmen.

(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Aha!)

Aufgrund wirtschaftspolitischer Fehler kann die Arbeits-losigkeit im nächsten Jahr weiter dramatisch ansteigen.Aber wenn die Annahmen zutreffen, die zugrunde gelegtworden sind, dann werden die Beiträge in den nächstenJahren spürbar gemindert werden können. Das ist einentscheidender Fortschritt.

Dies bedeutet auch, dass wir einen zeitlichen Spiel-raum gewinnen, nämlich bis zum Beginn der nächstenWahlperiode, um dann die entscheidenden Fragen derlangfristigen Entwicklung des Gesundheitswesens klä-ren zu können, so etwa die Frage, wie unser Gesund-heitswesen die Herausforderungen der Verschiebung derAlterspyramide und des demographischen Wandels be-wältigen kann. Ohne weitere Reformen droht langfristigein Beitragssatzanstieg auf 20 Prozent oder mehr. Hie-rauf kann die jetzige Reform noch keine Antwort geben.Bei ihr geht es darum, die aktuelle Finanzkrise zu bewäl-tigen.

Es gibt aber eine Reihe von wichtigen Maßnahmen,die jene weitere Reform überdauern werden. Ich will nurzwei nennen. Eine wirkliche Innovation ist, dass zumersten Mal in der 120-jährigen Geschichte der gesetzli-chen Krankenversicherung Steuermittel für die Finanzie-rung versicherungsfremder Leistungen bereitgestelltwerden.

(Zuruf des Abg. Dr. Dieter Thomae [FDP])

– Das wird im Gesetz nun wirklich klar geregelt, Kol-lege Thomae.

(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Warten wir es ab!)

Der Finanzminister mag ein Problem haben, aber es wirdin der Endstufe eine Beitragsentlastung von mehr als4 Milliarden Euro geben. Das entspricht einem halbenBeitragssatzpunkt.

Ein weiterer Punkt ist entscheidend. Es ist gelungen,einen ganzen Leistungsbereich von den Arbeitskostenabzukoppeln. Das ist der Bereich des Zahnersatzes. Esgeht darum, dass diejenigen, die die Leistung in der ge-setzlichen Krankenversicherung wählen, einen einheitli-chen Beitrag zahlen müssen, der vom Einkommen unab-hängig ist und bei dem die Familienangehörigenmitversichert bleiben. Der Beitrag wird etwa 6 Euro be-tragen. Die Versicherten bekommen beim Zahnersatzweiterhin das bisherige Leistungsniveau. Sie könnensich aber auch privat absichern, wenn die versicherteLeistung mindestens so hoch ist wie die in der gesetzli-chen Krankenversicherung.

Entscheidend ist, dass mit diesem Ansatz die Lohnne-benkosten gesenkt werden, ohne dass die VersichertenAbstriche beim Leistungsniveau hinnehmen müssen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie erhalten in Zukunft mehr Wahlmöglichkeiten, als dasbisher der Fall war, und sie erhalten vor allem Zugang zuden modernsten Therapieformen, die es in diesem Be-reich gibt.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.

Andreas Storm (CDU/CSU): Ich komme sofort zum Schluss. – Derjenige, der sich

gesundheitsbewusst verhält, wird auch in Zukunft be-lohnt. Prävention wird beim Zahnersatz auch in Zukunftgroß geschrieben.

Page 77: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4919

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Andreas Storm

Diese Reform ist zwar keine Jahrhundertreform, abersie ist deutlich besser als alles, was Rot-Grün in den ver-gangenen fünf Jahren zustande gebracht hat.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Markus Kurth.

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Auch beim Umbau des Sozialstaates wollen wir Verläss-lichkeit und Stabilität der sozialen Sicherungssys-teme gewährleisten und verhindern, dass diese, wie FrauKühn-Mengel ganz richtig sagte, zu bloßen Variablendes wirtschaftlichen Handelns werden. Aber wir habenauch im Blick, dass solide finanzierte soziale Siche-rungssysteme Voraussetzung für ein erfolgreiches wirt-schaftliches Handeln in einer Volkswirtschaft sind.

Zu Verlässlichkeit und Stabilität trägt auch der heutevorliegende und hier zu behandelnde Entwurf zur Re-form des Sozialhilferechts und seine Einordnung alsZwölftes Buch in das Sozialgesetzbuch bei. Es stärktund unterstreicht die Bedeutung der Sozialhilfe als letz-tes Auffangnetz in wirtschaftlichen Notlagen und hebtsich mit seinen Inhalten positiv von den unqualifiziertenEinlassungen zur Sozialhilfe, die uns in den letzten Ta-gen leider begegnet sind, ab.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Was legen wir vor? Im Zusammenhang mit der an-stehenden Zusammenlegung von Arbeitslosen- undSozialhilfe erhält die Sozialhilfe nun wieder die Auf-gabe, die ihr auch ursprünglich zugedacht war: Sie stelltdas letzte Auffangnetz in individuellen Notlagen dar undwird von der Bewältigung der Folgen der Massenarbeits-losigkeit – wofür sie nie konzipiert worden war – entlas-tet. Wer nur wegen Arbeitslosigkeit Sozialhilfe bezieht,also erwerbsfähig ist, wird in Zukunft in Form desArbeitslosengeldes II Hilfe und Unterstützung erhalten.Damit schaffen wir systematische Klarheit und entlastendie Kommunen von ihren Ausgaben für die Hilfe zumLebensunterhalt. Sozialhilfe bekommen in Zukunft nurnoch diejenigen Menschen, die etwa aufgrund einer Be-hinderung ergänzende staatliche Hilfe benötigen oderdie vorübergehend voll erwerbsgemindert sind.

Auch wenn in Zukunft wesentlich weniger Menschendirekt Sozialhilfe beziehen werden, gewinnt sie als Refe-renzsystem für rund 4 Millionen Empfänger des neuenArbeitslosengeldes II erheblich an Bedeutung. Mit derKombination von Grundsicherung, Arbeitslosengeld IIund der neu geordneten Sozialhilfe unterstreichen wirdie Bedeutung einer steuerfinanzierten und damit ge-meinschaftlichen Absicherung von Lebensrisiken undvon bedürftigen Menschen. Die rot-grüne Mehrheit indiesem Hause unterstreicht damit ihre tiefe Überzeu-gung, dass das Gebot der Sozialstaatlichkeit keine Kann-leistung, die je nach Kassenlage variiert, ist, sonderneine Verfassungsaufgabe ersten Ranges.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Wir erreichen mit der neuen Systematik Verlässlich-keit, Klarheit und auch Stabilität der sozialen Sicherungs-systeme. Diese Klarheit lassen Sie, meine Damen undHerren von der Opposition, leider vermissen. HerrStoiber etwa wärmt uralte Vorschläge auf und möchte denDatenschutz für Sozialhilfebezieher beseitigen. Einmalabgesehen von der inhaltlichen Unterstellung, die hierzum wiederholten Male zum Vorschein kommt, indemdie alte Platte von der Hängematte abgespielt wird, frageich mich, was denn da überhaupt noch aufgehoben wer-den soll. Mittlerweile haben doch die SozialhilfeträgerDurchgriff bis zu den Daten der Kfz-Zulassungsstellen.Ich frage mich wirklich, welche zusätzlichen ReservenSie da noch sehen. Besonders interessant finde ich natür-lich, dass der Vorschlag von einer Seite kommt, die etwadie Einführung von Kontrollmitteilungen an die Finanz-ämter, um Steuerhinterziehungen zu vermeiden, immerauf das Heftigste bekämpft hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD – Volker Beck [Köln][BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doppel-moral!)

Herr Koch möchte ja am liebsten alle Sozialhilfe-bezieher mit gemeinnützigen Aufgaben befasst sehen.Nun halte ich ja den Aufbau eines öffentlich gefördertenBeschäftigungssektors – mit angemessener Entlohnung,wie sich von selbst versteht – durchaus für ein ehrenwer-tes Ziel. Zu dem Verhältnis von Vollzeitarbeitsentgeltenund Sozialhilfesätzen will ich mich gar nicht äußern,aber dann stünden doch die Länder wenigstens in derVerantwortung, auch entsprechende Arbeitsangebote ge-meinnütziger und anderer Art vorzuhalten bzw. zur Ver-fügung zu stellen. Im Moment kämpfen wir doch haupt-sächlich mit dem Problem, dass Kommunen, aber auchLänder ihre Programme der aktiven Arbeitsmarktpolitikund damit die Hilfestellungen für diejenigen, die jetztSozialhilfe beziehen, herunterfahren und kürzen. Daspasst nicht zusammen.

Meine Damen und Herren, mit dem vorliegenden Ge-setzentwurf stärken wir die Verlässlichkeit, wir fördernaber auch die Selbstbestimmung

(Widerspruch des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])

– doch, Herr Kolb –, denn der Regelsatz beinhaltet nachdem neuen System auch die einmaligen Leistungen, diein Form einer Pauschale zusammengefasst werden

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

und vorher häufig nur unter erheblichem bürokratischenAufwand gewährt wurden. Wir wissen, dass es absurdeProzesse darüber gab, ob diese oder jene Einzelleistungangemessen ist oder nicht. Das ist jetzt automatisch in denRegelsatz mit einbezogen und aus unserer Sicht ein wir-kungsvolles Instrument zur Stärkung der Eigenverant-wortung. Auch die Möglichkeit, einen höheren eigenenFrei- und Sparbetrag zu erhalten, sollte für Sozialhilfebe-zieher und Arbeitslosengeld-II-Bezieher geschaffen wer-den.

Page 78: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

4920 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Markus Kurth

Man muss auch nach Möglichkeiten suchen, um zuvermeiden, dass Leute aus Scham, Unwissenheit oderschlichtweg aus Überforderung nicht die Ansprüche gel-tend machen, die ihnen zustehen. Nicht mehr und nichtweniger wollen wir.

Auch Herr Stoiber sollte endlich einsehen, dass unserSozialgesetzbuch kein Leistungskatalog ist, aus demsich der Hilfeempfänger frei seine optimale Versorgungzusammenstellen kann; so ist es mitnichten. Es ist leidernoch immer ein bürokratisierter Paragraphendschungel,der bislang eher Sachbearbeiter und Verwaltungsjuristenbeschäftigt hat. Hier wollen wir Kapazitäten freimachen,um auch für diejenigen, die in der Sozialhilfe verbleiben,Unterstützung und Hilfe gewährleisten zu können.

(Horst Seehofer [CDU/CSU]: Das sieht Herr Stoiber genauso wie Sie!)

Für sie stellen wir in diesem Haushalt 150 MillionenEuro bereit, um ihnen die Möglichkeit zu geben, dieneue Leistung des Arbeitslosengeldes II in Anspruch zunehmen.

Lassen Sie mich noch einige Sätze zu einem neuenElement sagen, das wir in das Sozialhilferecht einführenwollen und das ebenfalls Selbstbestimmung und Eigen-verantwortung stärken soll, und zwar dem persönlichenBudget. Mit dem neuen Instrument des persönlichenBudgets, das in Rheinland-Pfalz bereits in Modellversu-chen erprobt worden ist, wollen wir Pflegebedürftigenund Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit er-öffnen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Damitsetzen wir einen wesentlichen Paradigmenwechsel in derSozialpolitik fort, denn wir machen Hilfeempfänger un-abhängig und lassen sie ihren individuellen Bedarf, so-weit es möglich ist, selbst gestalten. Sie können etwaselbstbestimmt Assistenzleistungen auf dem freienMarkt einkaufen und damit die alltäglichen Einschrän-kungen überwinden.

Mit dieser Neuerung verbessern wir nicht nur die Le-bensbedingungen dieser Menschen, sondern schaffenauch die Grundlagen dafür, den Kostenanstieg in diesemBereich zu begrenzen. Denn in der Tat sind die Kostender Eingliederungshilfe mittlerweile höher als die Kos-ten der Hilfe zum Lebensunterhalt. Wir verbinden Ver-lässlichkeit und Selbstbestimmung, Effizienz und Ziel-genauigkeit der Hilfe. Das sind die Leitlinien, nachdenen wir unsere Sozialpolitik vorantreiben.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Detlef Parr.

(Horst Seehofer [CDU/CSU]: Bleiben Sie bloß ehrlich, Herr Parr!)

Detlef Parr (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen

Sie mich mit einem Dank beginnen.

(Horst Seehofer [CDU/CSU]: An uns?)

Wir haben befürchtet, dass das Verfahren im Eiltempodurchgezogen wird. Die beiden großen Fraktionen habenjetzt aber doch unserem Petitum zugestimmt, eine An-hörung durchzuführen. Dafür herzlichen Dank! Ichdenke, es ist wichtig, dass das Parlament mehr einbezo-gen wird, als es ursprünglich vorgesehen war.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Horst Seehofer [CDU/CSU]:Wir haben ein gutes Gewissen!)

Ich will mich zunächst mit dem Vorwurf beschäfti-gen, dem wir uns unmittelbar nach Beendigung der Kon-sensgespräche ausgesetzt gesehen haben, nämlich dasswir mehr Wettbewerb verhindert hätten. Für die FDP istdie Förderung des Wettbewerbs nicht gleichbedeutendmit einem einseitigen Machtzuwachs der Krankenkas-sen. Wir wollen die Entscheidungs- und Nachfragemachtder Versicherten und Patienten stärken.

(Beifall bei der FDP)Wenn man sich die ursprüngliche Absicht ansieht,

Einzelverträge zwischen Kassen und Ärzten zuzulassen,dann muss man sich fragen: Wie wollen Sie eigentlichden Versicherten erklären, dass sie zwar an hausarztzen-trierter Versorgung teilnehmen können, aber nur, wennder Hausarzt ihrer Wahl mit der Kasse auch einen Ver-trag hat? Herr Seehofer, da ist die freie Arztwahl nichtabsolut und uneingeschränkt gewährleistet, wie Sie esbeschrieben haben, sondern doch eingeschränkt.

(Beifall bei der FDP)Für uns bedeutet Wettbewerb Angebotsvielfalt und

Wahlfreiheit für den Einzelnen auf der Grundlage fairerWettbewerbsbedingungen. Wenn Sie sich den Gesetz-entwurf ansehen, dann stellen Sie aber fest, dass faireWettbewerbsbedingungen nicht an allen Stellen gewähr-leistet sind. Dieter Thomae hat die Versandhandelspro-blematik angesprochen.

Wahlfreiheiten, die geschaffen worden sind, Kosten-erstattung oder Selbstbehalts- oder Beitragsrückge-währangebote finden in dem Gesetzestext leider nur zö-gerlich und mit Einschränkungen Ausdruck.

Wettbewerb hat für uns auch etwas mit Leistungs-gerechtigkeit zu tun. Wir halten es für falsch, dass derGesetzentwurf arztbezogene Regelleistungsvoluminafestlegt. Damit wird stark beschnitten, was in einemWettbewerb zwingend notwendig ist, nämlich Leistungs-bereitschaft und Leistungsmöglichkeiten. Ärzte, die vonmehr Patienten aufgesucht werden, die mehr leisten wol-len, sind in diesem System offenbar nicht mehr vorgese-hen. Dann darf man sich nicht wundern, dass bereits40 Prozent unserer Absolventen des Medizinstudiumsnicht mehr den Arztberuf ergreifen. Wie wir vor diesemHintergrund das Urteil des EuGH umsetzen wollen, istmir schleierhaft.

(Horst Seehofer [CDU/CSU]: Das steht in dem Gesetz!)

Mit fairem Wettbewerb hat auch die dreijährige pau-schale Budgetkürzung um 1 Prozent, damit die Kran-kenkassen in die integrierte Versorgung investieren kön-nen, nichts zu tun. Dieter Thomae hat bereits auf dieFolgen dieser Zwangsfinanzierung hingewiesen.

Page 79: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4921

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Detlef Parr

Jetzt kommen wir zu dem wichtigsten Teil, der unsam meisten Probleme bereitet hat, weshalb wir den Weg,den Sie gemeinsam gegangen sind, nicht weiter mitge-hen können: Bei der halbherzigen, ja fast widerwilligenAusgliederung des Zahnersatzes werden die Grund-sätze des Wettbewerbs besonders mit Füßen getreten.Statt konsequent als ersten Schritt dort auf Wettbewerbund Privatisierung zu setzen, wo es einfach und über-schaubar gewesen wäre, bleiben die gesetzlichen Kran-kenversicherungen bei dem Spiel mit der wettbewerbs-und gesetzeswidrigen Möglichkeit der Quersubventio-nierung. Man kann eben zwischen zwei Systemen mitvöllig unterschiedlichen Preisbildungsmechanismennicht zu einem fairen Wettbewerb kommen.

(Beifall bei der FDP – Horst Seehofer [CDU/CSU]: Das ist wahr!)

Für uns stellt sich die Frage, ob der Zahnersatzkarrenwohl so in den Dreck gefahren werden soll, dass selbstdas zarte Pflänzchen der Ausgliederung nicht wachsenkann, und der Weg hin zur Bürgerversicherung freige-macht werden soll. Wenn wir heute in die Presseschauen und die Äußerung von Generalsekretär Scholz,der die Bürgerversicherung als Zukunftsprojekt bezeich-net, bewerten, dann müssen wir schon sehr kritisch hin-terfragen, ob das ein wettbewerblich orientiertes Zu-kunftsobjekt sein kann.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich möchte für die FDP nur noch erklären, dass wirzutiefst davon überzeugt sind, dass kein Weg an einersofortigen Stärkung kapitalgedeckter Versicherungs-formen vorbeiführt, wenn wir die Chance bewahrenwollen, die demographische Entwicklung erträglich ab-zufedern. Unserer Ansicht nach gewährleistet der Geset-zesvorschlag die Nachhaltigkeit nicht. Zur Generatio-nengerechtigkeit haben wir überhaupt nichts findenkönnen.

Wir sind auch zutiefst davon überzeugt, dass keinWeg an weiteren Ausgliederungen von Leistungen ausder GKV vorbeiführt. Über das Krankengeld, wie vomKanzler noch am 14. März dieses Jahres selbst gefordert,private Unfälle und die gesamte Zahnheilkunde werdenwir zu diskutieren haben, wenn wir eine wirklich nach-haltige Gesundheitsreform durchsetzen wollen. Wir wol-len den Schmusekurs, die Schmusepolitik, die hier mitviel Lächeln betrieben worden ist,

(Horst Seehofer [CDU/CSU]: Was?)

nicht fortsetzen. Wir können diesen Weg nicht weiterge-hen. Wir hoffen, dass Ihr Optimismus greift. Aber ichfürchte, der Pessimismus und die Skepsis von DieterThomae werden der Realität eher gerecht werden.

(Horst Seehofer [CDU/CSU]: Was haben Sie gegen Freundlichkeit in der Politik?)

Ich danke auch für die gemeinsamen Gespräche. Eswar ein angenehmes Miteinander mit falschem Ergebnis.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rolf Stöckel.

Rolf Stöckel (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Parr, ich bin mir sicher: Mit dem jetzt vorliegendenKompromiss zur Gesundheitsreform schaffen wir denEinstieg in eine nachhaltige Strukturreform im Gesund-heitswesen.

(Horst Seehofer [CDU/CSU]: Jawohl!)

So sehe ich das auch in Bezug auf den vorliegendenEntwurf zur Einordnung des Sozialhilferechts in das So-zialgesetzbuch. Er erfüllt die Kriterien, die wir an unsereStrukturreform stellen, nämlich Nachhaltigkeit, Wirt-schaftlichkeit und vor allem auch soziale Gerechtigkeitund Generationengerechtigkeit.

Wir reden hier über den Kern des sozialstaatlichenAuftrags gemäß Art. 20 unseres Grundgesetzes, über dienachrangige, unterste Sicherung des Existenzminimums,die nach Art. 1 unserer Verfassung auch denjenigen einmenschenwürdiges Leben in der Mitte unserer Gesell-schaft ermöglichen soll, die das aus eigener Kraft odermit den ihnen gebotenen Möglichkeiten nicht schaffenkönnen.

Die Modernisierung des Sozialhilferechts steht natür-lich in einem engen Zusammenhang mit dem heuteebenfalls einzubringenden Gesetzentwurf zur Zusam-menlegung der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfefür erwerbsfähige hilfebedürftige Personen. Beide Ge-setzentwürfe, der zu SGB II und der zu SGB XII, sindinhaltlich-systematisch aufeinander abgestimmt und sol-len zum 1. Juli 2004 in Kraft treten.

Das jahrzehntelange Abschieben von immer mehr ar-beitslosen Menschen, von allein erziehenden oder über-schuldeten Personen in die Sozialhilfe der Kommunen,aber auch die grassierende Mentalität der Armutsverwal-tung, die Transferzahlungen, die Doppelzuständigkeitender Kommunen und der Bundesanstalt für Arbeit fürdenselben Personenkreis – das alles hat eine krasse Fehl-entwicklung und eine Abkehr vom wichtigsten Ziel derSozialhilfe, nämlich der Hilfe zur Selbsthilfe, ver-ursacht. Das hat nicht nur die Kommunen finanziellüberlastet. Das hat auch für die Betroffenen und das So-zialamtspersonal zu einem unwürdigen Klima des Miss-trauens und zu einem bürokratischen Kleinkrieg geführt.Das hat aber vor allem den Konsens der Gesellschaftüber die Solidarität mit den wirklich Bedürftigen nach-haltig gestört. Es hat bis zum heutigen Tag unsäglicheMissbrauchsdebatten verursacht, die in immer populisti-scherer und meist in schamloser Weise von den Medienfür machtpolitische Kampagnen nach dem Motto: „Teileund herrsche“ genutzt werden.

Die Eigenverantwortung der Hilfesuchenden wird inunserem Gesetzentwurf nach dem Grundsatz „Fördern undfordern“ gestärkt. Die finanziellen Leistungen werden be-darfsgerechter und nachvollziehbarer bemessen. Die Ver-waltungsvereinfachung wird konsequent fortgesetzt undder Grundsatz „Ambulant vor stationär“ gestärkt.

Page 80: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

4922 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Rolf Stöckel

Kollege Kurth hat schon etwas zur praktikablen Ab-grenzung der Leistungsberechtigten in der Sozialhilfevon den erwerbsfähigen Sozialhilfeempfängern gesagt,für die die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe zusam-mengelegt werden. Wir gehen davon aus, dass nach demheutigen Stand in Zukunft nicht mehr 2,7 Millionen,sondern nur noch 1,2 Millionen Personen und ihre be-dürftigen Angehörigen in Bedarfsgemeinschaften vonden Kommunen über die Sozialhilfe versorgt werdenmüssen.

Die Sozialhilfe bleibt Referenzsystem für alle steuer-finanzierten und bedürftigkeitsabhängigen Sozialleistun-gen, also auch für das Arbeitslosengeld II. Diese werdenauf der Basis der alle fünf Jahre erhobenen Verbrauchs-statistik des unteren Viertels der Einkommensgruppenangepasst.

Wir werden auch für die Familien eine Vereinfa-chung einführen. Die vier Altersstufen bei minderjähri-gen Kindern werden auf zwei Regelsatzstufen reduziert.Wir glauben, dass das gerechter und praktikabler ist.Auch die Einspareffekte bei größeren Haushalten sollenzukünftig berücksichtigt werden.

Die von den Trägern der Sozialhilfe seit Jahren gefor-derte, aber auch selbst eingeleitete Verwaltungsmoder-nisierung und -vereinfachung wird durch unsere Re-form unterstützt. Zahlreiche Forderungen werden in diePraxis umgesetzt. Die wesentlichen Stichworte hierzusind: Die Einbeziehung der weitgehend pauschalisierteneinmaligen Leistungen in den Regelsatz. Dadurch entfal-len detaillierte Bedarfsprüfungen, Kontrollen, Wider-spruchs- und Gerichtsverfahren. Die Fälle der Kostener-stattung zwischen Trägern der Sozialhilfe werdendeutlich reduziert. Die Pauschalisierung der Wohn- undHeizungskosten durch die örtlichen Träger – nicht durchden Bundesgesetzgeber – wird ermöglicht. Im Übrigenwerden bisher fehlende Regelungen zu den Lebenspart-nerschaften ergänzt.

Diese Strukturreform schafft eine neue Sozialhilfe,die nicht nur den Bedürftigen mehr Würde und einenverlässlichen sozialen Schutz für die Zukunft gibt. Kurz-fristig führen diese Verwaltungsvereinfachungen zu Ein-sparungen in Höhe von circa 60 bis 70 Millionen Euro.Die Kommunen werden vom Bund durch die Reform derArbeitsförderung im SGB II von den Zahlungen fürcirca 1 Million bisher sozialhilfeberechtigte Erwerbsfä-hige und ihre Angehörigen entlastet.

Uns ist bekannt – auch mir ist das bewusst –, dassviele aus der Praxis, aus den Verbänden und vor allenDingen aus den Ländern die sofortige Zusammenfassungder Grundsicherung, der Sozialhilfe und des Arbeits-losengeldes II wünschen. Ich sage Ihnen: Es sprechenviele Gründe für die Leistung aus einer Hand. Ich sageIhnen aber auch: Voraussetzung dafür ist, dass wir uns indiesem Hause, aber auch mit den staatlichen Ebenen undmit den Verbänden zunächst über die Grundregeln undWerte des aktivierenden Sozialstaates verständigen, indem Solidarität selbstverständlich keine Einbahnstraßeist. Wir müssen aber auch einen Konsens darüber herstel-len, dass die Würde des Menschen nicht von der Kon-junktur und der öffentlichen Kassenlage abhängen darf.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Mit dieser weit gehenden Reform der Sozialhilfe, diediesen Namen wirklich verdient, wird der Weg zu einerLeistung aus einer Hand nicht versperrt. Im Gegenteil:Die ersten wichtigen Schritte sind gegangen. Das wirdnicht nur die Lebens- und Teilhabechancen derjenigenverbessern, die die öffentliche Hilfe zur Selbsthilfe be-nötigen. Das wird auch die Solidarität derjenigen stär-ken, die ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft bestrei-ten können und die diese notwendigen Hilfen über ihreSteuern finanzieren müssen.

Deshalb fordere ich Sie auf: Unterstützen Sie unsereSozialreform in diesem Hause, aber auch im Bundesrat!

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Sehr geehrte Gäste! Eine ganz große Koalitionvon SPD, CDU/CSU und Bündnis 90 hat sich zu einerEinheitsfront zusammengeschlossen.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

– Gut, dass Sie alle noch wach sind. – Der KollegeSeehofer hat zwar geschworen, dass das die absoluteAusnahme sein werde. Aber ich frage mich natürlich:Warum braucht es diese Einheitsfront, um eine angeblichso sinnvolle Reform durchzusetzen?

(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Duo infernale!)

Offensichtlich sind die beteiligten Parteien selbst nichtvon ihrem Handeln überzeugt und jeder sucht denSchutz beim anderen. SPD, CDU/CSU und Bündnis 90fürchten den Zorn der Menschen, die von dieser angebli-chen Reform betroffen sein werden. Die Menschen wer-den zu Recht zornig sein.

Sie haben den Entwurf eines Gesetzes zur Moderni-sierung der gesetzlichen Krankenversicherung vorge-legt. Schon der Titel ist Blasphemie.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

Denn es geht Ihnen nicht um die Modernisierung desGesundheitssystems. Was wird hier modernisiert?Nichts! Nennen wir doch lieber das Kind beim Namen:Es ist ein Patientenabzockegesetz. Der Patient soll fürweniger Leistung mehr bezahlen.

(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])

Leider ist die Zeit viel zu kurz, um alle Zuzahlungs-regelungen im Detail aufzuzählen.

(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Es gibt eben doch Gerechtigkeit auf dieser Welt!)

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Dr. Gesine Lötzsch

Die Patienten können davon ausgehen, dass sie im Jahr2004 im allergünstigsten Fall circa 130 Euro extra zu-zahlen müssen. Im Jahre 2007 werden es im Durch-schnitt 280 Euro an Extrazuzahlungen sein.

(Horst Seehofer [CDU/CSU]: Rechenfehler!)

Das deutsche Gesundheitssystem verschlingt Milliar-den. Einige verdienen sich eine goldene Nase; anderezahlen drauf. OECD-Studien belegen, dass unser Ge-sundheitssystem zwar sehr teuer ist, dass aber die Men-schen in Deutschland nicht gesünder sind als die Men-schen in den Ländern, in denen weniger Geld in dasGesundheitssystem fließt.

Was Sie uns vorgelegt haben, ist ein Pharmakonzern-umsatzförderungsgesetz. Nicht umsonst haben Sie vonder Koalition sich die Positivliste abschwatzen lassen.Die Pharmalobby und die Kassenärztliche Vereinigunghaben sich wieder einmal durchgesetzt. Der Gesund-heitsmarkt wird weiter geöffnet und die Konzerne derPharmaindustrie können mit ordentlichen Umsatzsteige-rungen rechnen.

(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sprechen Sie jetzt vom gleichen Gesetz wie wir?)

Aber auch die Arbeitgeber können sich freuen. Dennes ist gelungen, den Ausstieg aus der paritätischen Fi-nanzierung festzuschreiben. Das Krankengeld und derZahnersatz sollen in Zukunft nicht mehr durch Arbeitge-ber und Arbeitnehmer gemeinsam finanziert werden.Die Arbeitnehmer sollen die größte Last übertragen be-kommen. In Zukunft zahlt der Arbeitnehmer 53 Prozentund der Arbeitgeber nur noch 47 Prozent des Versiche-rungsbeitrages. Ich wage die Prognose, dass es nicht sobleiben wird. Ein Kollege von den Grünen hat ja schonverkündet, dass er den Faktor Arbeit weiter entlastenmöchte. Es wird laut über Kopfpauschalen nachgedacht.

Wenn von der Entlastung des Faktors Arbeit gespro-chen wird, dann ist das immer nur ein anderer Ausdruckfür Lohnkürzungen. Die Kopfpauschale, die Herr Rürupund Herr Kuhn von den Grünen ins Gespräch gebrachthaben, wäre der komplette Ausstieg der Arbeitgeber ausder paritätischen Finanzierung.

Doch die paritätische Finanzierung hat einen tieferenSinn. Die Arbeitgeber haben eine Verantwortung für dieGesundheit ihrer Beschäftigten. Nachtarbeit, Überstun-den und Stress führen zu Krebs, Herzinfarkt und Depres-sionen, sagen uns die Arbeitsmediziner. Allein psychischbedingte Krankheiten verursachen jährlich 24 MilliardenEuro an Kosten. Diese 24 Milliarden Euro – um nurdiese Zahl zu benutzen – würden ausreichen, um die Fi-nanzierungslücke zu schließen, die Sie mit diesem Ge-setz beseitigen wollen. Ich frage Sie, liebe Kolleginnenund Kollegen: Warum der Ausstieg aus der Parität? Wa-rum soll hier nicht das Verursacherprinzip gelten? Wa-rum muss derjenige, der Menschen krank macht, nichtdafür bezahlen?

(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Raucht der Ar-beitgeber oder der Arbeitnehmer?)

Mit dem vorliegenden Gesetz greifen Sie nicht nurdie Gesundheit der Menschen – insbesondere die derje-

nigen, die arm sind – an, sondern auch ein Grundprinzip:das solidarische Gesundheitssystem. Solidarität ist– noch – ein konstituierendes Moment in dieser Gesell-schaft. Wer dies infrage stellt, greift die Gesellschaft alsGanzes an. Dagegen werden wir von der PDS Wider-stand leisten.

Vielen Dank.

(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Annette

Widmann-Mauz.

Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Frau Lötzsch, wie erfolgreich Sie und Ihre ParteiPolitik, insbesondere Haushaltspolitik, betreiben, kön-nen die Menschen in Berlin und in Mecklenburg-Vor-pommern sehen. Bevor Sie die Deutschen insgesamt be-lehren, wie man die Dinge besser macht, sollten Sie daVerantwortung übernehmen, wo Sie sie tragen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Wir beraten heute über den Bundeshaushalt und überden parteiübergreifend gefundenen Kompromiss in derGesundheitspolitik. Beides gehört zusammen. Denn ge-rade dieser desolate Staatshaushalt und seine negativenWirkungen auf Arbeit und Beschäftigung sowie die of-fensichtliche Hilflosigkeit in der Gesundheitspolitik sindes gewesen, die die Union dazu bewogen haben, in Ver-handlungen mit der Bundesregierung einzutreten.

Aus eigener Kraft hätte diese Bundesregierung es nie-mals geschafft, ein Paket zu schnüren, das über einenZeitraum von vier Jahren den durchschnittlichen Bei-tragssatz der gesetzlichen Krankenversicherung vonzurzeit noch 14,3 auf 13 Prozent drücken kann. Ob diesgelingt, hängt nicht nur von der Bereitschaft aller Betei-ligten im Gesundheitswesen ab, die Instrumente undMöglichkeiten anzunehmen und auch wirklich zu nut-zen, die dieses Gesetz ihnen an die Hand gibt, sondern eshängt vor allem auch von der weiteren Wirtschafts- undArbeitsmarktpolitik dieser Bundesregierung ab. Wirbrauchen wieder ein nennenswertes Wirtschaftswachs-tum, damit die Spirale der Arbeitslosigkeit endlich ge-stoppt wird. Denn sonst werden die Beitragssatzsenkun-gen nur auf dem Papier stehen, aber niemals Realitätwerden.

(Dr. Dieter Thomae [FDP]: So ist es!)

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einmalein Wort zur landwirtschaftlichen Krankenversiche-rung sagen; sie ist heute noch nicht erwähnt worden.Wir von der Union erwarten, dass auch die Krankenver-sicherungsbeiträge der Landwirte sinken können. Dashaben wir in den Verhandlungen immer wieder ange-mahnt. Es darf doch nicht sein – es wäre aus unsererSicht auch überhaupt nicht gerecht –, dass die Landwirteund ihre Angehörigen durch die höheren Zuzahlungenund die Leistungseinschränkungen in gleichem Maße

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Annette Widmann-Mauz

betroffen wären wie alle anderen gesetzlich Krankenver-sicherten, aber im Gegensatz zu diesen nicht von den er-warteten Beitragssatzsenkungen profitieren könnten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Wir fordern Frau Künast und Herrn Eichel auf: Neh-men Sie die Kürzung der Zuschüsse zur landwirtschaftli-chen Krankenversicherung zurück! Sie können doch denohnehin stark gebeutelten Bauern

(Dr. Dieter Thomae [FDP]: So ist es!)

keine zusätzlichen Beitragssatzsteigerungen von teil-weise 40 Prozent und mehr zumuten. Meine Damen undHerren von Rot-Grün, wir wollten in diesen Verhandlun-gen gemeinsam niedrigere Beiträge für alle schaffen.Verzichten Sie auf diese Kürzung der Zuschüsse, sonstfehlt diesem Konsens die Glaubwürdigkeit und somiteine wirklich wichtige Grundlage.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Was uns heute vorliegt, ist ein Kompromiss der Ver-nunft. Wir haben eine Übereinkunft durch gegenseitigeZugeständnisse getroffen. Das ist aus unserer Sicht einPflichtprogramm, keine Kür. Wir haben nicht alles ver-hindern, aber wir haben vieles abmildern und Entschei-dendes in die richtige Richtung durchsetzen können. Ne-ben einem spürbaren Beitragssatzsenkungspotenzialhaben wir wesentliche Richtungswechsel bewirken undauch einige zentrale Kritikpunkte ausräumen können.Wir haben vor allen Dingen die Bevormundung, die Ihrerstes Gesetz noch durchzogen hat, eliminiert. Wir ha-ben die Verantwortlichkeiten der Anbieter und das Ver-antwortungsbewusstsein der Patienten durch mehr Frei-heit, mehr Wettbewerb und Selbstbeteiligung gestärkt.

Wir sind uns bewusst, dass wir allen Beteiligten vielzumuten. Aber wir haben das Zutrauen in die Fähigkei-ten der Menschen. Wir sehen in den Patienten keine Bitt-steller, sondern wirkliche Beteiligte im System. Deshalbbekommen Patientinnen und Patienten sowie Selbsthil-fegruppen deutlich mehr Mitsprache- und Beteiligungs-möglichkeiten im Bundesausschuss, wenn es um Fragenihrer medizinischen Versorgung geht.

Zudem eröffnen wir neue Gestaltungsmöglichkeitenfür den Versicherungsschutz: angefangen bei der Mög-lichkeit, zwischen der privaten und der gesetzlichenKrankenversicherung bei der Absicherung des Zahner-satzes zu wählen, über die Wahl der Kostenerstattung bishin zur Auswahl von spezifischen Versorgungsangebo-ten, der integrierten Versorgung, der hausarztzentriertenVersorgung und Bonusmodellen für gesundheitsbewuss-tes und präventionsorientiertes Verhalten. Hinzu kom-men Beitragsrückgewähr und Selbstbehalte für freiwilligVersicherte. Das bedeutet mehr Gestaltungs- und Mit-wirkungsmöglichkeiten für Patienten und Versicherteund mehr Wettbewerb in der gesetzlichen Krankenversi-cherung.

Wir von der Union konnten der angestrebten Zentrali-sierung und Verstaatlichung des Gesundheitswesens einEnde setzen. Es wird kein staatliches Institut zur Steue-rung der medizinischen Behandlung von über

70 Millionen Versicherten geben. Das heißt, die Thera-piefreiheit in unserem Land bleibt erhalten. Es wirdauch keine bevormundende Listenmedizin geben, auchwenn sie in noch so positive Worte gekleidet werdensollte.

Die Freiberuflichkeit in unserem Gesundheitswesenwird nicht zu Grabe getragen. Das konnten wir verhin-dern, die Glocken sollten es ja schon einläuten.

Es wird keine marktbeherrschenden Einkaufsmono-pole der Kassen zulasten einer flächendeckenden, quali-tativ hochwertigen Versorgung geben; denn es ist beiweitem kein Wettbewerb, wenn der einzelne Arzt einemmarktbeherrschenden Einkaufsmonopol einer Kranken-kasse gegenübersteht. Das wollten Sie von Rot-Grün. Eswird aber nicht kommen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Auch künftig wird es eine flächendeckende Qualitäts-und Leistungssicherung durch Kollektivverträge geben.Das Wettbewerbsmodell der Union wird dafür sorgen,dass innerhalb der Kollektivverträge ein Wettbewerb derÄrzte um die beste Qualifikation stattfindet und im Be-reich der integrierten Versorgung ein Wettbewerb um dieFrage, ob die kollektiv- oder die einzelvertragliche Ver-sorgung die bessere Alternative ist.

Wir haben es geschafft, den Qualitätswettbewerb imSystem zu stärken, und zwar unter fairen Bedingungenzwischen gleichberechtigten Marktteilnehmern; das sageich ganz bewusst. Wer immer wieder davon redet, wirhätten zu wenig Wettbewerb, der weiß nicht, wovon erspricht, oder will nur kaschieren, dass er ein Monopolzugunsten eines anderen, nämlich eines Kassenmono-pols, etablieren will.

(Horst Seehofer [CDU/CSU]: So ist es!)

An anderer Stelle beenden wir endlich einen unsägli-chen Zustand, nämlich die Budgetierung. Budgetierungbedeutet in unserem System verdeckte Rationierung. DieVerunsicherung der Ärzte, nicht zu wissen, was sie amJahresende für ihre Arbeit bekommen, und die Verlage-rung des Krankheitsrisikos der Versichertengemein-schaft auf die Ärzteschaft haben ein Ende. FallendePunktwerte gehören ab dem Jahr 2006/2007 der Vergan-genheit an. Es gibt wieder Planungssicherheit. Nicht dieÄrzte müssen das Risiko der Morbidität tragen, sondernder gesundheitliche Bedarf wird von der Gemeinschaftder Kassen getragen. Dort gehört dieses Risiko auch hin.

(Beifall des Abg. Horst Seehofer [CDU/CSU])

Damit haben wir wieder mehr Verlässlichkeit und mehrMotivation in diesem Bereich geschaffen. Gerade jün-gere Ärztinnen und Ärzte müssen nicht mehr um ihrewirtschaftliche Existenz bangen. Das ist wichtig, damitwir auch in Zukunft eine flächendeckende ambulanteVersorgung gerade auch in den neuen Bundesländern si-cherstellen können.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Beim Zahnersatz ist der Einstieg in die lohnunab-hängige, beschäftigungsfördernde Versicherung eines

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Annette Widmann-Mauz

medizinischen Leistungsbereichs geschafft. Das ist eingesundheitspolitisches Novum von weitreichender Be-deutung insbesondere für die gesetzliche Krankenversi-cherung. Wer die Abhängigkeit der gesetzlichen Kran-kenversicherung von Lohn und Gehalt problematisiert– aus meiner Sicht zu Recht –, der erlebt jetzt zum erstenMal die Wirklichkeit der Abkopplung. Das ist ein echterBeitrag, damit Arbeit in Deutschland endlich billigerwird.

Den Versandhandel konnten wir zwar nicht ganzverhindern, haben aber für Rahmenbedingungen gesorgt,die einen fairen Wettbewerb zwischen Versand- und Of-fizinapotheke ermöglichen. Ich erwarte jetzt von derBundesregierung, dass sie mit dem heutigen Tag auchdie Notifizierung gegenüber der EU-Kommission einlei-tet.

Wir wissen, dass dieser Kompromiss den Versicher-ten und Patienten erhebliche Lasten auferlegt.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Ich komme zum Schluss. – Dies gilt nach Beitrags-

satzsicherungsgesetzen, Zwangsrabatten und Nullrundenim Übrigen auch spürbar für die Ärzte und Krankenhäu-ser, die Apotheker und die Pharmaindustrie.

Meine Damen, meine Herren, wir tragen den Kom-promiss nicht aus Begeisterung über ein Jahrhundertre-formwerk mit, sondern aus Verantwortung für die Versi-cherten und die Patienten in unserem Land.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Hilde Mattheis.

(Horst Seehofer [CDU/CSU]: Es ist alles ge-sagt!)

Hilde Mattheis (SPD): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Sie von der Opposition sind zum Beispiel noch nicht aufdas Thema Sozialhilfereform eingegangen. Es ist alsonoch nicht alles gesagt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte nun den Blick auf diesen Bereich wenden,denn es handelt sich um ein weiteres wichtiges Reform-gesetz von SPD und Grünen.

„Armut bedeutet, dass über einen verfügt wird“. Die-ser Satz stammt von dem Vorsitzenden des StuttgarterVereins Tafelladen. Der Tafelladen verkauft an Bedürf-tige sehr billig Lebensmittel, die umsonst von Bäcke-reien, Großmärkten und Supermärkten kommen.

(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Umsonst nicht, aber kostenlos!)

Solche Einrichtungen gibt es – das wissen Sie – in vielenStädten. In ihnen wird nichts verschenkt. Die niedrigenPreise decken meist gerade die Unkosten. Aber die Men-schen, die dort einkaufen, können selbst wählen. Es wirdihnen nichts zugeteilt.

Durch den vorliegenden Gesetzentwurf zieht sich ge-nau dieser rote Faden. Bezieherinnen und Bezieher vonSozialhilfe werden einbezogen statt bürokratisch bevor-mundet. Mit diesem Gesetz aktivieren wir die individu-ellen Ressourcen der Betroffenen und beziehen sie alsPartner in den Hilfeprozess ein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Bislang standen die ausreichende Bemessung derHilfe und die effiziente Abwicklung der Transferleistun-gen im Mittelpunkt des Verwaltungshandelns. Mit die-sem Gesetz werden – Herr Stöckel hat es bereits ausge-führt – die Kommunen entlastet. Die Zahlen gehendeutlich zurück. Die Träger der Sozialhilfe können sichauf eine Personengruppe konzentrieren, die ganz indivi-duelle Fördermaßnahmen benötigt. Dass sich die Akti-vierung außerhalb des Arbeitsmarktes für die Kommu-nen mittel- und langfristig rechnet, wurde uns unteranderem von dem Leiter des Sozial- und Jugendamtesder Stadt Freiburg bestätigt.

Darüber hinaus kann festgestellt werden: Sozialamts-mitarbeiterinnen und -mitarbeiter sind hoch qualifiziertund sehr erfahren, was die Beratung und Betreuung die-ses Personenkreises mit sehr vielschichtigen Problemenanbelangt. Die Sozialstrukturen und -netze zum Beispielfür psychisch Kranke und für Personen mit anderen Auf-fälligkeiten sind über Jahre hinweg gewachsen und kön-nen umso intensiver genutzt werden. In diesem Geist istdas neue Sozialhilfegesetz geschrieben, das wir heute inerster Lesung zu beraten haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ein weiterer wichtiger Baustein des Förderns undForderns ist die Neubemessung der Regelsätze. Dabeibestand folgender Handlungsbedarf: Seit Jahren hat sichdie bisherige Abgrenzung laufender und einmaligerLeistungen als nicht sachgerecht erwiesen. Für alles undjedes musste bisher ein neuer Antrag gestellt werden.Dies ist nicht nur ein ungeheurer Verwaltungsaufwand,sondern bedeutet auch eine große Bevormundung fürdiejenigen, die von Sozialhilfe abhängig sind. In denneuen Regelsatz sind hingegen bis auf wenige Ausnah-men die einmaligen Leistungen der Hilfe zum Lebensun-terhalt einbezogen.

Außerdem wurde bislang nur unzureichend berück-sichtigt, dass größere Haushalte günstiger wirtschaftenkönnen als kleinere. Das Ungleichgewicht zwischen äl-teren und jüngeren Kindern, Alleinerziehenden und Fa-milien musste ausgeglichen werden. Unsere Forderungnach einem Mehrbedarfsfaktor für Alleinerziehende istin diesem Zusammenhang richtig und gerecht.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

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Hilde Mattheis

Fest steht: Durch die Pauschalierung der Regelsätzeund die andere Gewichtung der Struktur wird das Ver-fahren zur Bemessung der Regelsätze schlüssig und ein-fach.

Ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen zu kön-nen ist ein berechtigtes Anliegen, das auch kranke, be-hinderte und pflegebedürftige Menschen haben. Dazudient die Einrichtung eines trägerübergreifenden per-sönlichen Budgets, das es den Menschen erleichtert,selbstständig Betreuungsleistungen zu organisieren undzu bezahlen. In dieses Budget, das im SGB IX verankertwird, fließen alle in Betracht kommenden Leistungenein. Das persönliche Budget wird aus der Hand einesLeistungsträgers erbracht. Das ist überschaubar undspart Verwaltungskosten. Das Gesamtbudget wird denBetroffenen auf Antrag zur Verfügung gestellt. Wir wer-den es zunächst bis 2007 zu testen und wissenschaftlichzu begleiten haben. So entsteht eine solide Datenbasis,auf deren Grundlage wir dann weitere Entscheidungenfällen können.

Fördern statt Gängeln, Aktivieren statt Wegschieben,Fordern statt lediglich Anklagen – das sind die aus demGesetzentwurf erkennbaren Grundlinien. Es ist gelun-gen, ein Maßnahmenpaket zu schnüren, durch das dieMenschen, die auf unsere Solidarität angewiesen sind,nicht im Stich gelassen werden. Im Gegenzug erwartenwir zu Recht, dass sich alle im Rahmen ihrer Fähigkeitenund Möglichkeiten bemühen, aus dieser Bedürftigkeitauch wieder herauszukommen.

In diesen Tagen wird immer wieder einmal populis-tisch gegen die Empfängerinnen und Empfänger der So-zialhilfe gehetzt. Dabei geht es nie um sachliche Infor-mationen und um Argumente. Nein, vielmehr sollenVorurteile bedient werden. Es soll der Eindruck entste-hen, als ob alle Leistungsempfängerinnen und -empfän-ger ihre Leistungen zu Unrecht beziehen, um sich einschönes Leben unter Palmen zu machen. Unsere Bun-desministerin Ulla Schmidt hat sofort und konsequentgehandelt.

Wir verfolgen mit dieser Sozialhilfereform das Anlie-gen, Menschen Wege zu zeigen, wie sie mehr Eigenver-antwortung tragen und den Weg aus der Sozialhilfe fin-den können.

Ich danke.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Ministerin für Soziales, Frauen,

Familie und Gesundheit des Landes Niedersachsen, FrauUrsula von der Leyen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ina Lenke [FDP])

Dr. Ursula von der Leyen, Ministerin (Nieder-sachsen):

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Abgeordnete! Vor we-nigen Tagen traf ich einen früheren gesundheitspoliti-

schen Sprecher der Union, der in den 80er-Jahren somanche Debatte hier im Hause miterlebt hat. Er sagtemir: Damals hat sich niemand für Gesundheitspolitik in-teressiert. Das war ein Nischenthema.

Heute ist die Gesundheitspolitik eines der zentralenThemen. Das Gesundheitswesen ist mit mehr als 4 Mil-lionen Beschäftigten der dynamischste und zukunfts-trächtigste Sektor in unserem Land. Dennoch sind wir ineiner Situation, in der der Gesundheitssektor eine Belas-tung für unser Land ist. Er ist für jene hohen Lohnneben-kosten mitverantwortlich, die den Faktor Arbeit belastenund den Wirtschaftsmotor in diesem Lande abzuwürgendrohen. Deshalb steht die Gesundheitspolitik heute zuRecht im Zentrum des Interesses. Es geht darum, den so-zialen Charakter unserer Marktwirtschaft zu wahren undDeutschland gleichzeitig international wieder fit zu ma-chen. Ich bin überzeugt: Diese Reform bringt uns diesenbeiden Zielen ein Stück näher.

Meine Damen und Herren, es konnte nicht nur einKonsens zwischen den Koalitionsfraktionen auf dereinen und der Union auf der anderen Seite erzielt wer-den, vielmehr wurde auch eine Übereinstimmung mitden Bundesländern erzielt. Das möchte ich ausdrücklichbetonen. Vor allem ist es den Ländern in den Verhand-lungen gelungen – deshalb sind wir natürlich auchangetreten –, zentrale bürokratische Strukturen zuguns-ten von mehr föderaler Vielfalt und mehr Wettbewerbaufzubrechen. Ich nenne das einen wichtigen Erfolg fürzwei wesentliche Grundprinzipien, auf denen unseredeutsche Krankenversicherung beruht, nämlich für dasPrinzip der Selbstverwaltung und für das Prinzip derSubsidiarität.

Die Subsidiarität fängt beim Patienten an. Patientenhaben einen Anspruch auf Beteiligung und Transparenz.Nur dann ist ihnen auch mehr Eigenverantwortung zuzu-muten.

(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Genau!)

Durch diese Reform wird die Transparenz hinsichtlichder Angebote, der Leistungen, der Kosten und der Quali-tät ganz wesentlich erhöht. Die Stichpunkte sind vielfachschon genannt worden: Patientenquittung, Gesundheits-karte, die Möglichkeit zur Kostenerstattung, Tarife mitBeitragsrückgewähr oder Selbstbehalten und Bonuslö-sungen. Das macht es den Patienten möglich, auch selbstEntscheidungen treffen zu können. Damit stärken wirdie einzige Instanz, die Angebot und Nachfrage im Ge-sundheitswesen unbürokratisch und wirkungsvoll insGleichgewicht bringen kann, nämlich die Patienten.

Wir alle wissen doch auch aus Erfahrung, woran unserGesundheitssystem vor allem krankt – das es ist heuteschon mehrfach thematisiert worden –: Der Hausarzt un-tersucht gründlich und schickt den Patienten zum Fach-arzt. Dieser lotet erst einmal alle Möglichkeiten aus. VomFacharzt geht es ins Krankenhaus. Das Krankenhaus ord-net seine Palette von Untersuchungen an. Es gibt Dop-peluntersuchungen und Informationsverluste. Das kostetZeit – kostbare Lebenszeit – und Geld. Wir habenschlechte Erfahrungen mit Patienten gemacht, die zwi-

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Ministerin Dr. Ursula von der Leyen (Niedersachsen)

schen ambulantem und stationärem Budget, zwischenRehabilitation und Pflege hin- und hergeschoben wur-den.

Deshalb haben wir in dieser Reform – das sollte manbetonen – mit der integrierten Versorgung einen wich-tigen Schritt zu einer Behandlung im Verbund und damiteiner Behandlung für die Menschen und ihre Krankheitals Ganzes getan. Wir öffnen in der integrierten Versor-gung die Option, Einzelverträge abzuschließen. Das er-möglicht es uns, in diesem Segment gewissermaßen alsdeutschlandweites Modell Erfahrungen mit mehr Wett-bewerb zu sammeln, die wir auch brauchen – wir müs-sen in diesem System lernen –, ohne gleich das Kind mitdem Bade auszuschütten und das gesamte System aufWettbewerb pur umzustellen. Auch da gibt es internatio-nal negative Erfahrungen. Ich halte diesen Teil des Ge-setzes für eine wichtige und wegweisende Innovation.

Aus Ländersicht ist mir zudem wichtig, dass die Pla-nungshoheit der Länder in der Krankenhausversor-gung unangetastet geblieben ist.

(Horst Seehofer [CDU/CSU]: Da haben Sie uns über den Tisch gezogen!)

– Jawohl, das ist eine entscheidende Voraussetzung fürdie flächendeckende Krankenhausversorgung. Wenn wirdie ländlichen Räume – ich bin Ministerin eines Landesmit vielen ländlichen Räumen – am Leben erhalten wol-len, dann brauchen wir dort vor allem Schulen und Kran-kenhäuser. Das muss weiterhin Landesaufgabe bleibenund das ist auch gut so.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Diese Gesundheitsreform ist ein wichtiger Schritt. Siewird kurz- und mittelfristig die Stabilisierung der Finan-zen bewirken. Aber sie ist kein Endpunkt. Gesundheits-reform ist ein kontinuierlicher Prozess in einer alterndenGesellschaft. Langfristig werden auch aus Gründen derGenerationengerechtigkeit weitere Weichenstellungenzur nachhaltigen Reform der gesetzlichen Krankenversi-cherung notwendig sein. Die Diskussion darüber hatlängst begonnen. Wir müssen in absehbarer Zeit zu Ent-scheidungen kommen. Ich hoffe sehr, dass diese Ent-scheidungen bei aller Unterschiedlichkeit der berechtig-ten Interessen von einer breiten Mehrheit getragenwerden können.

Die gemeinsame Gestaltung des für die ganze Gesell-schaft so wichtigen Gesundheitssystems für einen langenZeitraum muss uns allen ein hohes Gut sein. Es lohnt dieAnstrengung; denn das sind wir den zukünftigen Patien-tinnen und Patienten schuldig.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD und der FDP und der Abg.Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN])

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Michael

Luther.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Man wird es kaum glauben: Bei der ersten Le-sung des Bundeshaushalts gibt es tatsächlich noch je-manden, der zum Bundeshaushalt redet. Das will ichjetzt an dieser Stelle tun.

Schließlich ist dieser Haushalt nicht der unbedeu-tendste, sondern der mit dem größten Ausgabevolumen,mit immerhin 81,9 Milliarden Euro, also 32,6 Prozentam Gesamthaushalt. Leider ist es so, dass es dort eineneinzigen riesengroßen Haushaltsposten gibt, nämlichden Bundeszuschuss zu den Rentenkassen: 76,3 Milli-arden Euro. Das ist nicht neu. Es ist auch nicht neu, dassdieser Bundeszuschuss in den letzten Jahren dramatischgewachsen ist. Neu ist allerdings, dass die Bundesregie-rung nun plant, hier einen Kurswechsel vorzunehmen.

Ich will erinnern: 1999 hat die Bundesregierung einenWeg eingeleitet, den Bundeszuschuss dramatisch zu er-höhen, und zwar durch die Finanzierung mithilfe derÖkosteuer. 1999 betrug der Bundeszuschuss 60,5 Mil-liarden Euro. In diesem Jahr sind es 77,3 MilliardenEuro. Das Ziel der Bundesregierung war, damit die Bei-träge zur Rentenversicherung zu senken. Die Frage ist:Hat die Bundesregierung dieses Ziel erreicht? – Nein, siehat es nicht. Sie hat die Beiträge höchstens stabilisiert.Sie betrugen 1999 19,5 Prozent, betragen in diesem Jahr19,5 Prozent und sollen im nächsten Jahr 19,5 Prozentbetragen. Das Wahlziel, sie auf 18,9 Prozent zu senken,ist auf jeden Fall nicht erreicht.

Womit wurde diese Scheinstabilität erkauft? Zusätz-lich zu diesem enormen Anwachsen des Bundeszuschus-ses durch eine Aushöhlung der Schwankungsreserve.Was ist die Schwankungsreserve? Die Schwankungsre-serve ist die Tageskasse der Rentenkasse. Sie garantiertdie Stabilität der Rentenauszahlung. 1999 betrug sienoch eine Monatsrate, 2002 wurde sie auf 0,8, 2003 auf0,5 gesenkt und nächstes Jahr soll sie auf 0,3 einer Mo-natsrate gesenkt werden. Es ist ein erhebliches Finanz-volumen, das den Rentenkassen entzogen wird. Diegeplante Senkung der Schwankungsreserve für nächstesJahr soll immerhin einen Beitragsanstieg um 0,3 Pro-zentpunkte verhindern.

Was wird hier gemacht? Sie greifen in die Tageskasseder Rentenkasse. Lassen Sie mich an einem Beispiel be-legen, was das heißt. Wenn der Bäckersfrau die Tages-einnahmen samt Wechselkasse entwendet werden, istdas Diebstahl nach § 242 des Strafgesetzbuches, der mitFreiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe ge-ahndet wird. Sagen Sie mir, was der Unterschied zumGriff in die Schwankungsreserve ist.

(Beifall bei der CDU/CSU – Erika Lotz [SPD]: Die karnevalistische Pirouette!)

Der Bundesrechnungshof hat bereits im vergangenenJahr auf die Risiken hingewiesen, die mit einer Senkungverbunden sind. Erfahrungsgemäß ist der Oktober im-mer der schwierigste, weil einnahmeschwächste Monat.Und der kommt noch. Das stetige Abschmelzen der

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4928 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Dr. Michael Luther

Schwankungsreserve ist ein Tanz auf dem Vulkan. Ichwill an dieser Stelle als Haushälter sagen: Es entstehenhiermit erhebliche Risiken für den Bundeshaushalt.

Aber es kommt noch schlimmer. Ich zitiere aus einerInformation des VdK:

Durch die Kürzung der Schwankungsreservekönnte die Rentenkasse in einnahmeschwachenMonaten mangels Rücklagen zahlungsunfähig wer-den. In diesem Fall müsste der Bund mit Steuermit-teln einspringen. Um dies zu verhindern, plant dieRegierung laut „Spiegel“, Gelder aus dem Risiko-strukturausgleich zwischen finanzstarken und fi-nanzschwachen Krankenkassen künftig auch zunutzen, um Löcher bei der Rentenversicherung zustopfen.

Was heißt das? Die Schwankungsreserve dient auchzum Handling des Risikostrukturausgleichs. Das heißt:Die Kassen zahlen ein und schwache Kassen kriegenGeld. Jetzt soll im Zweifelsfalle dieses Geld zurückge-halten werden, damit man die Renten finanzieren kann.

(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Afrika!)

Das ist ein „Spiegel“-Bericht. Wir sollten das zumindestin den Haushaltsberatungen thematisieren.

Eines ist sicher: Noch mehr kann man die Schwan-kungsreserve nicht senken. Spätestens wenn keine Sen-kung mehr möglich ist, steht die Bundesregierung vordem Offenbarungseid und muss sagen, wie die Rentenlangfristig und ohne Tricks zu finanzieren sind.

Weiterhin wurde die Scheinstabilität durch den dra-matischen Anstieg des Bundeszuschusses erkauft. DieZahlen hatte ich bereits genannt. Hier sehe ich allerdingseinen Kurswechsel der Bundesregierung, die erkennt,dass ein maßloses Wachsen des Bundeszuschusses andie Rentenkassen nicht zu finanzieren ist und eine struk-turelle Rentenreform her muss. Spät kommt die Erkennt-nis, aber sie kommt.

Deshalb sollen nun angesichts leerer Kassen jährlich2 Milliarden Euro beim Bundeszuschuss eingespart wer-den. Das ist bereits im Bundeshaushalt 2004 etatisiertund im Haushaltsbegleitgesetz festgestellt. Was fehlt, istdie Umsetzung. Im Haushaltsbegleitgesetz steht ledig-lich:

Die zur Stabilisierung des Beitragssatzes notwendi-gen Maßnahmen werden später durch entspre-chende Änderungen des Sozialgesetzbuches umge-setzt.

Ich frage Sie, Frau Schmidt: Wie wollen Sie im nächstenJahr 2 Milliarden Euro bei den Rentnern einsparen? Wa-rum haben Sie heute dazu nichts gesagt?

(Horst Seehofer [CDU/CSU]: Sie will es nicht!)

Wir beraten heute den Bundeshaushalt. Der Einzel-plan 15 des Bundeshaushaltsentwurfs ist Makulatur,wenn das nicht in diesem Jahr beschlossen wird. LegenSie aus diesem Grunde die Zahlen und Fakten auf denTisch und ziehen Sie bis dahin den Bundeshaushalt zu-

rück. Legen Sie ihn dann wieder vor, wenn Sie die Haus-aufgaben gemacht haben. Denn erst dann ist dieserHaushalt beratungsfähig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Lassen Sie mich als Haushälter noch etwas zur Ge-sundheitsreform sagen. Im Bundeshaushalt 2004 erle-ben wir den Einstieg in die steuerfinanzierte Kranken-versicherung: durch die Tabaksteuer.

(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Davon sind wir aber mit 4 Milliardenvon 140 Milliarden noch weit entfernt!)

Meine Kritik – besser gesagt: meine Mahnung – richtetsich an alle Gesundheitspolitiker. Dieser steuerfinan-zierte Weg wird schnell zum Holzweg, wenn im Versi-cherungssystem keine strukturellen Änderungen vorge-nommen werden. Die Rente soll hierbei als mahnendesBeispiel dienen.

(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Dann wenden Sie sich mal vertrauens-voll an Herrn Seehofer!)

– Ich habe mich als Haushälter ausdrücklich an alle ge-wandt.

(Beifall des Abg. Wolfgang Zöller [CDU/CSU])

Ich denke, im Rahmen des Konsenses, der heute immerwieder erwähnt worden ist, ist auch mir als Haushälterdieses mahnende Wort erlaubt.

(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Vielleicht klären Sie das in Ihrer eige-nen Fraktion! – Horst Seehofer [CDU/CSU]:Musste das sein?)

Ein weiteres Thema, das mir Sorgen bereitet, ist dasAnspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz.Die neuen Bundesländer sollen in diesem Zusammen-hang 2004 1,84 Milliarden Euro zahlen, und zwar mitstark steigender Tendenz. Das ist auf eine Rechtspre-chung zurückzuführen, die zur Folge hat, dass eine ur-sprünglich vernünftige Kostenlösung für die neuen Bun-desländer zu einer fiskalischen Falle wird. Ich denke,wenn wir in den neuen Bundesländern den Aufbau Ostorganisieren wollen, dann ist es nicht in Ordnung, wennihnen auf diese Art und Weise wieder viel Geld entzogenwird. Es lohnt sich vielleicht, darüber zu reden, wie da-mit in Zukunft umzugehen und was in diesem Zusam-menhang möglich ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Lassen Sie mich noch eine abschließende Bemerkungmachen. Es wurde angemahnt, dass seitens der Unionnichts zum SGB XII gesagt worden ist. Im Rahmen desBundeshaushalts kam heute eine Vielzahl von wichtigenThemen zur Sprache. Auch das SGB XII ist ein Thema,zu dem man viel hätte sagen können, aber leider war da-für nicht genug Zeit.

Aber wer sich den Gesetzentwurf ansieht, wird fest-stellen, dass es eine Vielzahl von offenen Fragen gibt,die noch geklärt werden müssen. Das muss zwar leider

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4929

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Dr. Michael Luther

dem Ausschuss vorbehalten werden, aber dort ergebensich noch genug Gelegenheiten.

Recht herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Weitere Wortmeldungen zu diesem Geschäftsbereich

liegen nicht vor.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 15/1525, 15/1514 und 15/1526 andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Wir kommen zu dem Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums für Familie, Senioren, Frauen undJugend.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächstdie Frau Bundesministerin Renate Schmidt.

Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie, Se-nioren, Frauen und Jugend:

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! LiebeKolleginnen! Meine sehr geehrten Herren! Meine sehrgeehrten Damen!

Dem Zwang zum Sparen konnte sich ... auch derEtat des Familienministeriums nicht entziehen. Ichwill hier kein Missverständnis aufkommen lassen.Keine Mark, die den Familien zugute kommt, ist zuviel. Wir werden uns sicher auch in der Zukunftnoch weitere Gedanken machen müssen, wie wirden Familienlastenausgleich noch gerechter gestal-ten können. Mir sind deshalb die Entscheidungen,die wir treffen mussten, mit Sicherheit nicht leichtgefallen, aber ich denke, dass es uns im Ergebnisnicht nur gelungen ist, unabwendbare Einsparungensozial verträglich zu gestalten, vielmehr wurde so-gar die Familienförderung ein Stück gerechter.

(Beifall bei der SPD)

Ich wundere mich darüber, auf welcher Seite ge-klatscht wird; denn dies ist ein Zitat der damaligen Fa-milienministerin Hannelore Rönsch vom 8. Septem-ber 1993,

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Damals wird es gestimmt haben!)

als die damalige Bundesregierung insgesamt für dasvolle Jahr des Wirksamwerdens 660 Millionen DM beimErziehungsgeld eingespart hat.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Gegen Ihren Widerstand!)

Ich stelle Ihnen die Zitate der damaligen Opposition,die ähnlich ausfielen wie Ihre heutigen Reaktionen,gerne zur Verfügung. Ich meine aber, dass diese immergleichen Rituale überflüssig sind. Wenn Mittel knappsind, wird unabhängig von der Parteifarbe – übrigensauch bei Ländern und Kommunen – gespart. Dann

braucht man ein klares Konzept: Zielgenauigkeit derLeistungen, Anreize zur Eigeninitiative, soziale Ausge-wogenheit. Das sind die Leitlinien der Agenda 2010.Genau diese Leitlinien habe ich umgesetzt. Ich halte esnämlich für vertretbar, wenn eine Familie beim erstenKind bei einem jährlichen Bruttoeinkommen von40 500 Euro des- oder derjenigen, der oder die keine El-ternzeit in Anspruch nimmt – also von einem derbeiden –, für die ersten sechs Monate noch volles Erzie-hungsgeld in Anspruch nehmen kann. Bei der Geburtdes zweiten Kindes liegt der Grenzwert dann bei45 000 Euro. Rund 95 Prozent aller Eltern, die es bishererlebt haben, werden in den ersten sechs Monaten wei-terhin volles Erziehungsgeld bekommen.

Übrigens waren wir es, die die Einkommensgrenzenfür den Zeitraum ab dem 7. Monat erstmals nach15 Jahren angehoben haben. Diese Einkommensgrenzenbleiben selbstverständlich unangetastet, sodass genausoviele Familien wie bisher ab dem 7. Monat volles Erzie-hungsgeld bekommen werden.

Ich halte es für vertretbar, und nicht nur das, sondernich halte es sogar für ein Gebot der Gerechtigkeit, dassArbeitslosengeld und andere Lohnersatzleistungen an-gerechnet werden; denn diese können bei einem gut ver-dienenden Angestellten deutlich höher ausfallen als dasGehalt einer teilzeitbeschäftigten allein erziehenden Ver-käuferin, die lieber erwerbstätig ist, als von Sozialhilfeabhängig zu werden. Ich halte es auch für vertretbar, dasErziehungsgeld von 307 Euro auf 300 Euro abzusenken.Ich habe bisher keine Eltern getroffen, die davon gespro-chen hätten, sie bekämen 307 Euro Erziehungsgeld.

Ich möchte aber ehrlicherweise zugeben, dass michdas stufenweise Absenken des einkommensabhängigenErziehungsgeldes ab dem 7. Monat schmerzt, das not-wendig wurde, um das Einsparziel zu erreichen. DiesemEinsparziel stimme ich im Übrigen uneingeschränkt zu,weil es richtig ist, Investitionen von den Einsparungenauszunehmen, und weil es richtig ist, Ausgaben für Bil-dung und Forschung nicht zu kürzen; denn letztendlichsind beides Investitionen zugunsten unserer Kinder.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe im Einzelplan 17 beim Erziehungsgeld nichtnur, aber im Wesentlichen zulasten der gut verdienendenFamilien einsparen müssen. Ich habe aber im Gegenzugerreicht, dass für diejenigen, die es besonders brauchen,Zusätzliches getan wird. Der neu eingeführte Kinder-zuschlag von bis zu 140 Euro für diejenigen Eltern, dieerwerbstätig sind, aber so wenig verdienen, dass es nichtauch noch für den Unterhalt ihrer Kinder reicht, wird150 000 Kinder aus dem Arbeitslosengeld II holen. Vomzusätzlich erwirtschafteten Einkommen bleibt den Fami-lien etwas übrig. Eigeninitiative lohnt sich also – dasSicheinrichten in der Sozialhilfe nicht.

Vielleicht sollten Sie bei all Ihrer Kritik gerade hierzu Ihrer eigenen Verantwortung stehen. 1998 lebten1,1 Millionen Kinder in der Sozialhilfe. Die Verantwor-tung dafür trägt allein die heutige Opposition. In 16 Jah-ren Regierungsverantwortung haben Sie kein einziges

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4930 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Bundesministerin Renate Schmidt

Mal irgendeine Initiative ergriffen, um Armut von Kin-dern zu bekämpfen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Mit solchenFrechheiten werden Sie nie die Präsidentin! –Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

– Ich weiß, dass Sie das schmerzt, genauso wie mich an-deres schmerzt.

Das Fraunhofer-Institut hat nun eine Zahl von zusätz-lich 220 000 Kindern im neuen Arbeitslosengeld II er-rechnet. Diese Kinder – auch das sollte uns klar sein –haben aber zuvor nicht in Wohlstand gelebt, sondern vonArbeitslosenhilfe. Diese war für Familien nicht seltengeringer als das, was sie an Anspruch in der Sozialhilfegehabt hätten.

Ich behaupte auch gar nicht – das wäre eine Übertrei-bung –, dass mit dem Kinderzuschlag, der für 2004 mit125 Millionen Euro und für die Folgejahre mit 250 Mil-lionen Euro im Einzelplan 17 enthalten ist, das ProblemKinderarmut gelöst sei. Es ist aber ein erster wichtigerSchritt. Diese Sicht wird von Fachleuten und Sozial-verbänden ausdrücklich geteilt. Es ist im Übrigen einSchritt, dem weitere folgen müssen, sobald sich finan-zielle Spielräume ergeben. Leistungen zielgenau denenzugute kommen zu lassen, die sie wirklich benötigen:Das ist die Maxime dieser Bundesregierung. Vor diesemHintergrund konnte ich dank der Unterstützung HansEichels und vor allem auch des Bundeskanzlers eine aufDauer geltende steuerliche Regelung für tatsächlich Al-leinerziehende erreichen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wo steht die denn? Die steht doch nir-gendwo!)

Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtshatte uns dazu gezwungen, den bisherigen Haushalts-freibetrag für alle Alleinerziehenden abzuschmelzen.Ein Ausdehnen dieses Freibetrags auf alle Familien wärezwar verfassungsrechtlich, nicht aber finanziell darstell-bar gewesen; denn das hätte zweistellige Milliarden-beträge an Steuerausfällen beim Bund, aber auch beiLändern und Kommunen bedeutet. Ich kenne keinen ein-zigen Ministerpräsidenten eines unionsgeführten Lan-des, der eine solche Forderung gestellt hätte. Das bleibtoffenbar eine typische Oppositionsforderung und nichtmehr.

(Beifall bei der SPD – Steffen Kampeter[CDU/CSU]: Zeigen Sie mir die Bundestags-drucksache, wo die Regelung steht! Wo istdenn der Gesetzentwurf dafür? Das sind allesvirtuelle Ankündigungen!)

Zwischen tatsächlich Alleinerziehenden und denen innicht ehelichen Lebensgemeinschaften Lebenden müssenwir ebenfalls wegen dieses Urteils des Bundesverfas-sungsgerichts unterscheiden. Ich darf dazu den damali-gen Richter und Berichterstatter des Bundesverfassungs-

gerichts, Professor Paul Kirchhof, vom 26. Januar 1999zitieren. Er sagte damals:

Die Forderung, die Alleinerziehenden steuerlich zuentlasten, besteht fort. Nur haben wir jetzt festge-stellt, dass die steuerliche Entlastung der unverhei-ratet Zusammenlebenden ein Nachteil ist für dieverheirateten Eltern. Und deshalb wird man hierGleichheit herstellen müssen.

Wenn nun Frau Kollegin Stewens aus Bayern kriti-siert, dass eine Prüfung, ob jemand tatsächlich allein er-ziehend ist, schwer sei, dann verweise ich auf das übrigeEuropa und unsere eigenen gesetzlichen Sozialhilfe-,Wohngeld-, Arbeitslosenhilfe- und Erziehungsgeldrege-lungen. Was dort geht, muss auch im Steuerrecht mög-lich sein.

Der neue Freibetrag

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Den gibt esdoch gar nicht! Es gibt noch nicht einmal ei-nen Gesetzentwurf dazu!)

trägt der erschwerten Haushaltsführung von Alleinerzie-henden Rechnung, die mangels Synergieeffekten im Zu-sammenleben mit anderen Erwachsenen zwangsläufighöhere Ausgaben haben. Abstand haben wir von Ände-rungen des Unterhaltsvorschussgesetzes genommen.Das Einführen von Einkommensgrenzen hätte nämlichso gut wie nichts gebracht; denn diejenigen Alleinerzie-henden, die Unterhaltsvorschuss beziehen, bewegen sicham unteren Ende der Einkommensskala.

(Beifall der Abg. Antje Tillmann der [CDU/CSU])

In Deutschland reduziert sich allzu häufig die fami-lienpolitische Diskussion auf den materiellen Aspekt.Hier liegen aber nicht unsere größten Defizite. Im euro-päischen Vergleich liegen wir bei den materiellen Leis-tungen im oberen Drittel, was nicht zuletzt ein Erfolg derrot-grünen Bundesregierung ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Familienpolitik hat nicht erst mit Ihnenangefangen!)

Gemeinsam mit Luxemburg liegen wir zum Beispielbeim Kindergeld an der Spitze. Bei Quantität und Quali-tät der Betreuungs-, Bildungs- und Erziehungseinrich-tungen sind wir aber europäisches Schlusslicht. Diesefalsche Prioritätensetzung, verbunden mit einer ideologi-sierten Debatte über den angeblichen Niedergang der Fa-milien durch staatlich ergänzende Betreuung und angeb-lich verantwortungslose Rabenmütter,

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

hat zu folgenden Ergebnissen geführt: Wir haben eineder niedrigsten Geburtenraten, eine niedrige Erwerbs-beteiligung von Frauen, schlechte PISA-Ergebnisse undeine beschämend hohe Kinder- und Familienarmut imeuropäischen Vergleich. Das müssen wir ändern.Deshalb bin ich froh, dass trotz aller Sparzwänge das4-Milliarden-Euro-Programm für Ganztagsschulen im

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4931

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Bundesministerin Renate Schmidt

Haushalt von Edelgard Bulmahn genauso unangetastetist

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das gibt esdoch gar nicht! Sie haben überhaupt keine Ah-nung!)

wie der bis zu 1,5 Milliarden Euro jährlich umfassendeAnsatz für den Betreuungsausbau zugunsten derKleinsten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNISS 90/DIE GRÜNEN)

Beides sind Maßnahmen des Bundes, für die er keine ei-gene Zuständigkeit hat.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Keine Markist bisher aufgebracht worden! Auch keinEuro!)

Aber die Bundesregierung hat erkannt, dass der Moder-nisierungsbedarf unseres Landes in diesem Bereich ge-nauso dringend ist und dass hier entsprechende Maßnah-men genauso überfällig sind wie im Bereich derGesundheits-, der Arbeitsmarkt- oder der Rentenpolitik.

Wir wollen, dass sich junge Menschen ihre Kinder-wünsche erfüllen können. Wir wollen, dass damit eineaktive Bevölkerungsentwicklung eingeleitet wird, dieuns vom viertletzten Platz in der EU und von einem derschlechtesten Plätze weltweit wegbringt. Wir wissen,dass wenig Kinder nicht erst in drei oder vier Jahrzehn-ten zu Problemen in den Sozialversicherungssystemenführen werden, sondern schon heute, also ganz aktuell,weniger Wachstum und damit weniger Wohlstand fürunser Land bedeuten. Deshalb werden wir die Rahmen-bedingungen für Familien verbessern. Dies ist nochwichtiger, als dauernd über die Höhe materieller Leis-tungen zu reden.

Im nächsten Jahr werde ich die notwendigen gesetzli-chen Regelungen dazu in Absprache mit Ländern undKommunen vorlegen. Dabei wird es nicht nur um Quan-titäten, sondern auch um Qualitäten gehen müssen; dennes geht nicht nur um mehr Möglichkeiten zur Vereinbar-keit für die Eltern – hierbei ist auch die Wirtschaft in er-heblichem Maße gefordert –, sondern vor allem auch umeine verbesserte Bildung und Erziehung unserer Kinder.Diese findet an erster Stelle selbstverständlich in der Fa-milie statt; sie muss aber durch öffentliche Einrichtun-gen ergänzt werden.

(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genauso ist es!)

Wir geben in Deutschland das meiste für die Ober-stufen der Gymnasien und das wenigste für den frühenElementarbereich aus. Das ist einer der Gründe dafür,warum bei uns wie in keinem anderen Land die Herkunftso sehr über die Bildungschancen der Kinder entschei-det. Das eine Ziel heißt deshalb: mehr und bessere Kin-derbetreuungseinrichtungen. Das zweite Ziel heißt: inder „Allianz für die Familie“ mit den Wirtschaftsverbän-den und dem DGB familienfreundliche Arbeitsbedin-gungen erreichen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das nützt Eltern und Kindern. Das rechnet sich volks-und betriebswirtschaftlich und nützt deshalb auch denUnternehmen.

Diese Erkenntnis ist in den Spitzen der deutschenWirtschaft und in den Gewerkschaften inzwischen All-gemeingut. Wir werden sie gemeinsam und beispielhaftin lokalen Bündnissen für Familie mit der Unterstützungeines dafür eingerichteten Büros in meinem Ministeriumvor Ort umsetzen.

Meine sehr geehrten Herren, meine sehr geehrten Da-men, für mich ist im Rahmen dieser Debatte wichtig,dass nicht die Frauen durch das Zusammenlegen von Ar-beitslosenhilfe und Sozialhilfe bei der Eingliederung inden Arbeitsmarkt benachteiligt werden. So haben künf-tig alle erwerbstätigen Personen einen Anspruch aufLeistungen der Jobcenter, gleichgültig ob sie Leistungs-bezieher bzw. Leistungsbezieherinnen sind oder nicht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Erwerbsfähige Unterhaltsberechtigte haben zudem einenvorrangigen Anspruch auf Vermittlung, auch auf Ver-mittlung eines Kinderbetreuungsplatzes. Die Bundes-agentur für Arbeit soll sicherstellen, dass dies auch reali-siert wird.

Auf mein Drängen hin wurde geregelt, dass Mütternmit einem schulpflichtigen Kind keine Nachmittagstätig-keit zugemutet werden kann, wenn der Arbeitsmarktauch Vormittagsstellen hergibt.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Schon wieder ein Beschäftigungshindernis für Frauen!)

Insbesondere allein erziehende Sozialhilfeempfängerin-nen, deren Schlechterstellung wir vermieden haben,profitieren davon, dass zukünftig für Bezieher und Be-zieherinnen des Arbeitslosengeldes II Beiträge zur Ren-tenversicherung gezahlt werden.

Dies alles sind Beispiele dafür, dass mein Ministe-rium bei allen Reformen die Auswirkungen auf Frauenberücksichtigt, Nachteile verhindert und, wo immermöglich, Verbesserungen erreicht hat.

Meine sehr geehrten Herren, meine sehr geehrten Da-men, auch auf der Seite des Zivildienstes kann ich Ent-spannung melden.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU –Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Sie wollen ihn jaabschaffen!)

Gleichzeitig will ich mich bei den Wohlfahrtsorganisa-tionen und den anderen Trägern des Zivildienstes fürihre Geduld und Kooperationsbereitschaft im Hinblickauf das Einberufungsjahr 2002/2003 bedanken.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe mein Versprechen gehalten: Die Kostenauftei-lung zwischen Bund und Trägern liegt für 2004 wiederbei 70 Prozent zu 30 Prozent. Die Bundesarbeitsgemein-schaft der Freien Wohlfahrtspflege begrüßt die Pla-nungssicherheit. Im Zivildienstjahr 2003/2004 werden

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4932 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Bundesministerin Renate Schmidt

im Jahresdurchschnitt circa 95 000 Zivildienstleistendeeinberufen.

Ein Beispiel für erfolgreiche Schwerpunktsetzung istunser Engagement für die soziale und berufliche Inte-gration von Jugendlichen. Mit dem freiwilligen sozia-len Trainingsjahr haben wir ein Angebot geschaffen, mitdem es gelingt, diejenigen Jugendlichen zu integrieren,für die es bisher keine Angebote gab.

Die bisherige Bilanz ist sehr vielversprechend. DieMittel wurden aufgestockt und in 2004 wird die erreichteHöhe erhalten bleiben. Ich erwarte von diesem Konzept,dass diejenigen Jugendlichen nachhaltig integriert wer-den, die wir bisher nicht erreicht haben oder die oft ohneden erwünschten Erfolg von Maßnahme zu Maßnahmegeschickt wurden.

Keinerlei Kürzungen gibt es auch im Bereich der Se-niorenpolitik. Schutz und Sicherheit für das hohe Alterbleiben weiter ein Schwerpunkt der Arbeit. Daneben istdie Konzentration auf eine Zukunftsfrage eingeleitet:Welche Entscheidungen brauchen wir, um die Erfahrun-gen und Potenziale der Älteren für unsere Gesellschaftnachhaltig zu nutzen? Ich wehre mich dagegen, dass Al-ter mit „hilfsbedürftig“, „krank“ und „ohne Nutzen fürdie Gesellschaft“ gleichgesetzt wird.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Alte Menschen mit ihrer Lebenserfahrung werden inunserer Gesellschaft genauso wie junge Menschen ge-braucht, und zwar sowohl in der Wirtschaft als auch inder gesamten Gesellschaft. Es wäre gut, die Diskussionintensiver auf diesen Punkt zu konzentrieren, als sich mitNützlichkeitsaspekten in Bezug auf alte Menschen odermit Kosten, die Alte verursachen, zu beschäftigen. Daswürde dem gesamten Parlament wohl anstehen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich freue mich auf die Diskussion in den Ausschüssenmit Ihnen über den Einzelplan 17. Ich bin gespannt, obSie, meine Herren und Damen von der Union, diesmalfinanzierbare Alternativen vorlegen werden, zum Bei-spiel zu Ihrem Familiengeld, das Sie ausweislich derletzten Pressemeldungen angeblich immer noch wollen,

(Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Natürlich!)

oder ob Sie Konzepte zur Anerkennung von zusätzlichdrei Rentenversicherungsjahren pro Kind mit einem Fi-nanzbedarf von 12 Milliarden Euro vorlegen werden. Eswird aber dabei bleiben, glaube ich, dass dies nur Äuße-rungen ohne Substanz für Wahlreden, Presseerklärungenund Talkshows sind.

Sie werden im Rahmen der Debatten erkennen: Wirunterstützen Familien als Leistungsträger der Gesell-schaft in ihrer wirtschaftlichen Eigenständigkeit durchzielgenaue Förderung. Wir schaffen eine Infrastruktur,die es jungen Menschen erlaubt, sich Kinderwünsche zuerfüllen,

(Ina Lenke [FDP]: Nein!)

und unterstützen damit eine aktive Bevölkerungsent-wicklung. Wir nehmen die Wirtschaft in die Verantwor-tung für die Familien und das ist überfällig.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir ermöglichen eine bessere Förderung unserer Kinder;denn wir wissen: Auf den Anfang kommt es an. Das istder Weg zu mehr Familien- und Kinderfreundlichkeit inDeutschland. Diesen Weg werden wir gehen und durch-setzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Maria Eichhorn.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Maria Eichhorn (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Frau Ministerin, Ihre Rede, auch wenn sie nochso forsch vorgetragen worden ist, kann nicht darüberhinwegtäuschen, dass Sie die Familien ins Abseits stel-len.

(Widerspruch bei der SPD)

Auch eine Zeitschrift wie der „Spiegel“ hat in diesemJahr, im Mai, geschrieben:

(Ute Kumpf [SPD]: Seit wann liest die CSU den „Spiegel“ so intensiv?)

Niemand scheint sich mehr für Familienpolitik zuinteressieren, auch weil es Renate Schmidt ver-säumt hat, das Land für Familienpolitik zu interes-sieren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ihre Auftritte im Kabinett oder in der Fraktion be-schränken sich auf Appelle, mehr für Familien undFrauen zu tun. Dann nicken alle zustimmend undwenden sich wieder anderen Dingen zu.

(Zuruf von der SPD: So ein Blödsinn!)

Die Familienpolitik wurde bei Ihnen aufs Abstellgleisgeschoben. Jetzt versuchen Sie, den bayerischen Land-tagswahlkampf zu nutzen, um angebliche familienpoliti-sche Erfolge zu vermarkten.

Die Lebenswirklichkeit von Familien sieht nachfünf Jahren Rot-Grün aber anders aus. Sie hat sich dra-matisch verschlechtert. 1998 waren 1 Million Kinder inder Sozialhilfe – auch das war natürlich schon zu viel –;heute sind es aber 1,1 Millionen Kinder, Tendenz stei-gend.

(Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Schockie-rend!)

Wir haben in unserer Regierungszeit die Leistungenfür Familien verdreifacht.

(Nicolette Kressl [SPD]: Wer hat denn das Verfassungsgerichtsurteil eingefahren?)

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4933

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Maria Eichhorn

Wir haben mit dem Erziehungsgeld und dem Erzie-hungsurlaub sowie mit der Anrechnung von Kinderer-ziehungszeiten in der Rentenversicherung bahnbre-chende Neuerungen eingeführt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie jedoch streichen und kürzen. Mit der geplanten kom-pletten Streichung der Eigenheimzulage treffen Sie inerster Linie Familien. Mit der Kappung der Pendlerpau-schale greifen Sie Familien nochmals in die Tasche. Mitder Einführung der Ökosteuer haben Sie Familien weit-aus stärker belastet als andere Bevölkerungsgruppen.

Bei der Beratung des Haushalts 2003, also im letztenJahr, haben Sie, Frau Schmidt, noch behauptet, dass inkeinem Ressort zulasten von Familien gespart wird.Noch kürzlich haben Sie getönt, bei Familien würdenkeine Kürzungen vorgenommen. Die Realität sieht an-ders aus. Ihr Haushalt wurde um 7 Prozent gekürzt. Dassind 345 Millionen Euro. Knapp 70 Prozent davon ent-fallen allein auf die Kürzung des Erziehungsgeldes.

(Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das ist schlimm!)

Bekanntlich sind die finanziellen Einschnitte nach derGeburt eines Kindes besonders hoch; das Erwerbsein-kommen der Eltern sinkt. Trotzdem sanieren Sie IhrenHaushalt auf Kosten junger Eltern durch drastische Re-duzierung der Einkommensgrenzen beim Erziehungs-geld. Das halten Sie noch für vertretbar? Das kann dochnicht wahr sein!

(Beifall bei der CDU/CSU – Nicolette Kressl[SPD]: Wie viele sind betroffen? – Ute Kumpf[SPD]: Was ist mit Kindergeld? Was ist mitBAföG? Was ist mit Ganztagsbetreuung?)

Mit diesen Einsparungen treffen Sie vor allem die El-tern, die sich entscheiden, zumindest eine bestimmteZeit bei ihrem Kind zu Hause bleiben zu wollen. Dannsagen Sie doch gleich, dass Sie das Erziehungsgeld ganzstreichen wollen. Das wäre wenigstens eine ehrlicheAussage. Schönreden hilft nicht, Frau Ministerin.

Noch bei den Beratungen zum Haushalt 2003 habenSie gesagt – da zitiere ich Sie aus dem Bundestagsproto-koll –, es gebe keinerlei Einschränkungen beim Erzie-hungsgeld. So lautete Ihre Aussage. Die Realität siehtheute ganz anders aus. Sie, Frau Ministerin, richten IhrePolitik doch völlig daran aus, dass beide Eltern erwerbs-tätig sein müssen.

(Ute Kumpf [SPD]: Das ist Quatsch!)

Das kann doch nicht richtig sein. Ich habe immer ge-dacht, dass auch Sie der Meinung wären, dass ElternWahlfreiheit besitzen sollen, also selbst entscheiden,wie sie Familie und Erwerbstätigkeit vereinbaren wol-len. Sie aber verschlechtern zunehmend die Rahmenbe-dingungen und schränken damit diese Wahlfreiheit ein.Einsparungen auf Kosten derjenigen, die Kinder erzie-hen, gehen zulasten der Zukunftsfähigkeit unseres Vol-kes.

Sie haben die Geburtenrate angeführt. Wir liegenmit 1,34 Kindern unter 191 Staaten, die verglichen wer-den, an 180. Stelle.

(Erika Lotz [SPD]: Aber nicht erst seit Rot-Grün!)

Sie müssten doch eigentlich das Ja zum Kind erleichtern,vielmehr bestrafen Sie aber die jungen Familien.Schauen Sie nach Frankreich. Dort liegt die Geburten-rate bei 1,8.

(Erika Lotz [SPD]: Ganztagsschulen haben die!)

In den skandinavischen Ländern liegt sie bei 1,7.

(Zuruf von der SPD: Kinderbetreuung!)

In Frankreich werden Familien nicht nur durch ein viel-fältiges Betreuungsangebot unterstützt – das ist richtig,das haben die –,

(Anton Schaaf [SPD]: Eine vernünftige Infra-struktur haben die, die haben Sie aus ideologi-scher Verblendung nicht aufgebaut!)

sondern der Erfolg des französischen Familienkonzeptesbasiert auch auf der finanziellen Förderung von Fami-lien in den ersten Lebensjahren eines Kindes. In Norwe-gen zahlt der Staat beispielsweise für jedes Kind unge-fähr 425 Euro im Monat. Dieser Satz liegt dreimal sohoch wie die 154 Euro, die wir in Deutschland zahlen,ganz abgesehen davon, dass Ihre Kindergelderhöhungden Familien nichts gebracht hat, weil Sie an andererStelle den Familien das Geld wieder aus der Tasche ge-zogen haben. Sie machen Politik nicht für Familien, son-dern gegen sie.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Um von Ihrem völligen Versagen in der Familienpoli-tik abzulenken, haben Sie nach Ausgleichsmaßnahmengesucht. Schauen wir uns doch an, was bei den Allein-erziehenden passiert ist. Zunächst haben Sie den300 000 Alleinerziehenden den Freibetrag von2 900 Euro weggenommen. Jetzt wollen Sie wieder ei-nen neuen Freibetrag von 1 300 Euro einführen. Werrechnen kann, stellt aber fest, dass das keinen Ausgleich,sondern eine Verschlechterung um mehr als 50 Prozentdarstellt.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Maria Eichhorn (CDU/CSU): Den lächerlichen Vorschlag, pro Kind 20 Euro zu zah-

len, haben Sie schnell wieder fallen gelassen. – Bittesehr.

Nicolette Kressl (SPD): Vielen Dank, aber ich glaube, es erteilt immer noch

die Präsidentin das Wort, wenn ich mir diese Bemerkungerlauben darf.

Page 92: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

4934 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Nicolette Kressl

Frau Eichhorn, sollten Sie vielleicht bei den Beratun-gen in der letzten Legislaturperiode übersehen haben,dass der Haushaltsfreibetrag für die Alleinerziehendennicht einfach gestrichen, sondern durch einen Freibetragfür Betreuung, Erziehung und Ausbildung ersetzt wor-den ist? Ich kann Sie hier nur auffordern, diese Heuche-lei zu lassen,

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Was ist das denn hier für ein Umgangston?)

zu behaupten, der Freibetrag sei einfach gestrichen wor-den und nicht durch einen fast gleich hohen Freibetrag,der pro Kind und nicht pro Haushalt gilt, ersetzt worden.Das heißt, sobald Sie zwei Kinder in einer Familie ha-ben, liegt die Höhe des neuen Freibetrages schon überdem damaligen Haushaltsfreibetrag.

(Beifall bei der SPD)

Ich kann Sie nur auffordern, richtig zu rechnen und inZukunft bei der Wahrheit zu bleiben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter (CDU/CSU): Ist das eine Frage oder was ist das?)

Maria Eichhorn (CDU/CSU): Frau Kollegin, wenn das stimmen würde, was Sie ge-

rade gesagt haben,

(Lachen bei der SPD)

dann verstehe ich nicht, warum die Alleinerziehendenund allen voran die Halbschwester von Herrn Schröderauf die Barrikaden gegangen sind und sich dagegen ge-wehrt haben, dass der Freibetrag für Alleinerziehendegestrichen wird. Ich denke, die haben Recht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Jetzt unterscheidet das Ministerium – und verstehtdies als Beitrag zum Abbau von Bürokratie – zwischenechten und falschen Alleinerziehenden.

(Zuruf von der SPD: Ja, sowas soll’s geben!)

Ich frage Sie: Wie wollen Sie denn feststellen, wer einechter und wer ein falscher Alleinerziehender ist?

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die echten haben nur eineZahnbürste!)

Wollen Sie Detektive anstellen? Damit könnten Sie dannvielleicht auch gleich die Arbeitslosigkeit etwas verrin-gern, Frau Ministerin.

Nicht nur Alleinerziehende, sondern auch verheirateteEltern mit Kindern sind von Armut betroffen. Nun wol-len Sie einen Kinderzuschlag für Geringverdiener inHöhe von 140 Euro einführen und damit 150 000 Kinderaus der Sozialhilfe holen. Es ist gut, dass Sie unsere Ideedes Familiengeldes,

(Lachen bei der SPD)

die genau dieses Ziel verfolgt, aufgreifen. Kinder aus derSozialhilfe zu holen ist ja das gemeinsame Ziel. Deswe-gen werden wir Ihren Vorschlag konstruktiv begleiten.

Wir werden aber unser Gesamtkonzept dagegenstellen,das mit der Einführung eines Familiengeldes – ichwiederhole es bewusst – erstens eine echte Wahlfreiheithinsichtlich verschiedener Lebensentwürfe ermöglicht,zweitens die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstä-tigkeit durch einen bedarfsgerechten Ausbau der Kinder-betreuungsmöglichkeiten für alle Altersgruppen fördertund drittens die Erziehungskompetenz von Müttern undVätern stärkt.

Meine Damen und Herren von den Grünen – ich seheim Moment allerdings nur Damen bei den Grünen –,

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollen doch keine Män-ner diskriminieren!)

Ihre Sozialexpertin Thea Dückert kam vor kurzem in ei-nem Artikel in der „Welt“ zu der wegweisenden Er-kenntnis: „Heute stehen Mütter mit zwei und mehr Kin-dern bei der Rente sogar besser da als Frauen ohneKinder.“ Da frage ich Sie schon: Wo lebt denn dieseFrau? Das kann doch nicht ernst gemeint sein! DieseAuffassung ist eine Diskriminierung von Eltern, die ihreKinder ganz oder zeitweise selbst erziehen wollen. Weilwir uns für diese Eltern stark machen, wirft uns FrauDückert ein „antiquiertes Frauenbild“ vor. An andererStelle hingegen beklagt sie die demographische Ent-wicklung.

Das Bundesverfassungsgericht ist anderer Meinungals Frau Dückert. Es hat im April 2001 für verfassungs-widrig erklärt, dass Mitglieder der sozialen Pflegeversi-cherung, die Kinder betreuen und erziehen, mit einemgleich hohen Pflegeversicherungsbeitrag wie Mitgliederohne Kinder belastet werden. Wir von der Union setzenuns bei den jetzt anstehenden Reformen für eine ange-messene Berücksichtigung der Erziehungsjahre ein. Dassind wir den Müttern schuldig.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Seit einem Jahr rühmt sich die Bundesregierung eines1,5-Milliarden-Euro-Programms zur Finanzierung derKinderbetreuung. Aber Sie sind die Antwort schuldiggeblieben, wie Sie das finanzieren wollen. Um von sichabzulenken, verbreiten Sie Zahlen über angeblichschlechte Kinderbetreuung in Bayern. Tatsache ist: Beider Betreuung der unter Dreijährigen und im Hortbe-reich steht Bayern schon längst an der Spitze aller west-lichen Flächenländer in Deutschland.

(Ute Kumpf [SPD]: Bayern ist doch katho-lisch! Lügen verboten!)

Das Kinderbetreuungsangebot wurde und wird konse-quent ausgebaut. Frau Schmidt, auch wenn Sie das imLandtagswahlkampf immer wieder so darstellen, stim-men die Zahlen, die Sie bringen, einfach nicht.

Eines ist interessant: In der Haushaltsrede im letztenJahr haben Sie von 24 Ganztagsschulen in Bayern ge-sprochen. Da darf ich Sie korrigieren. Sie haben offen-sichtlich nur die Hauptschulen gezählt; denn bereits imSchuljahr 2001/2002 gab es laut Statistik der Kultusminis-terkonferenz 314 offene und gebundene Ganztagsschulenin Bayern. Im laufenden Schuljahr sind es sogar

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4935

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Maria Eichhorn

570 Ganztagsschulen. Kümmern Sie sich also um richtigeZahlen und bleiben Sie bei der Wahrheit, Frau Ministerin.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Im Übrigen sollten Sie sich einmal um die Kinderbe-treuung in Berlin kümmern. Hier haben die Vertreter derWirtschaft und der Wissenschaft kürzlich die familien-feindliche Politik von Wowereit kritisiert.

Meine Damen und Herren, die rot-grüne Regierungwar mit dem Anspruch angetreten, die Gleichberechti-gung der Frauen zu verwirklichen. Doch bereits zweiJahre später hat der Deutsche Frauenrat festgestellt, eineFrauenpolitik finde bei Rot-Grün nicht statt. Haben Sieheute von Frauenpolitik viel gehört? Frau Ministerin,wir vermissen Frauenpolitik nach wie vor.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Bei der Einbringung des Haushalts 2003 beklagte dieSPD, dass Deutschland bei der Erwerbstätigkeit derFrauen am unteren Ende der Skala in Europa sei. Sieverschweigen jedoch, dass Bayern im Vergleich zu ande-ren Bundesländern mit 63 Prozent die höchste Erwerbs-quote von Frauen in Deutschland aufweisen kann.

Meine Damen und Herren von Rot-Grün, die Anlie-gen junger Menschen haben Sie sträflich vernachläs-sigt. Wir haben über den Bundesrat einen ergänzendenGesetzentwurf eingebracht, um der wachsenden Gewalt-bereitschaft insbesondere der jungen Menschen zu be-gegnen. Die Erfüllung unserer Forderungen nach Ver-besserungen im Jugendschutzgesetz haben Sie aberabgelehnt. Auch beim drängendsten Problem, der Ju-gendarbeitslosigkeit, hat die Bundesregierung versagt.Eine falsche Arbeitsmarktpolitik hat die Interessen derJugend völlig außer Acht gelassen.

Frau Ministerin, Sie waren vor kurzem in meiner Hei-matstadt Regensburg und haben die Koordinierungs-stelle für die deutsch-tschechische Jugendarbeit be-sucht. Sie haben dort versprochen, dass die Mittel fürden Jugendaustausch erhöht werden. Ich bin froh da-rüber, dass Sie damit auf mein Schreiben vom April rea-giert haben; denn Tandem, diese deutsch-tschechischeKoordinierungsstelle, leistet hervorragende Arbeit. Siewurde von Frau Nolte eingerichtet und konnte im Jahre2002 über 250 Begegnungen mit etwa 7 500 Jugendli-chen veranstalten bzw. organisieren. Deswegen ist esgut, dass die Mittel hierfür erhöht worden sind.

Ich würde gerne noch über Seniorenpolitik sprechen.Aber Seniorenpolitik, Frau Ministerin, hat in dieser Le-gislaturperiode nicht stattgefunden. Sie haben zwar einAltenhilfestrukturgesetz angekündigt, aber weiter habenwir nichts gehört. Wir brauchen eine Politik, die sich anden individuellen Bedürfnissen der älteren Generationorientiert. Ich stimme Ihnen zu, dass wir dabei natürlichauch die aktiven Älteren im Blick haben müssen. Dabeiist es besonders wichtig, dass die älteren Arbeitnehmerdurch eine Verbesserung der Arbeitsmarktpolitik, durchQualifizierung und Weiterbildung wieder eine Chancebekommen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist richtig!)

Aber auch die Förderung des bürgerschaftlichen En-gagements ist wichtig. Es ist unverantwortlich, auf dieKenntnisse und Fähigkeiten älterer Menschen zu ver-zichten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Bei der Suche nach Lösungen sind alle gesellschaft-lichen Gruppen gefordert. Jung und Alt müssen bei denanstehenden Reformen zusammenarbeiten. Wir müs-sen gemeinsam die Herausforderungen der Zukunftmeistern. Frau Ministerin, Ihr Haushalt ist nicht zu-kunftsfähig. Er wird den großen Aufgaben, die sichuns stellen, nicht gerecht. Ich bin gespannt darauf, wasIhnen in den Haushaltsberatungen noch einfällt, umwenigstens noch eine kleine Anleihe zur Zukunftsfä-higkeit zu erreichen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Der fällt nichtsmehr ein!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ekin Deligöz.

Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Eichhorn, als Tochter einer Mathematikerin mussich mit Zahlen anfangen, und zwar mit der Korrekturvon Zahlen.

Die Zahl von 1,1 Millionen Kindern in der Sozial-hilfe ist das Ergebnis nicht dieser Bundesregierung, son-dern Ihrer Bundesregierung. Das war nämlich das Ergeb-nis im Kinder- und Jugendhilfebericht 1998, das Sie vorder Wahl nicht veröffentlichen wollten, weil Ihnen dieZahl zu unangenehm war.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Zweitens. Die Zahl von 341 Ganztagsschulen inBayern stimmt nicht. Die reale Zahl ist 30, und das seit2003 durch den Einsatz der Bundesregierung. Ich kannes Ihnen nachweisen. Vor mir liegt ein Artikel der„Augsburger Zeitung“ vom 6. September 2003, in demgenau das steht,

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie zitieren ausMedien, wir aus fundierten Daten! Das ist derUnterschied!)

nämlich dass eine Neu-Ulmer Schule eine von 30 Schu-len in Bayern und eine von vier in Schwaben ist. Es sindalso nicht 300, sondern 30.

(Abg. Maria Eichhorn [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

– Ich möchte erst diese Punkte abhandeln. Danach kön-nen Sie gerne eine Zwischenfrage stellen.

Drittens. Die Reform der Freibeträge für Alleiner-ziehende war nicht der Wunsch dieser Bundesregierung.Sie wurde deswegen notwendig, weil Sie nicht in der

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4936 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Ekin Deligöz

Lage waren, ein Gesetz verfassungskonform zu formu-lieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD – Otto Fricke [FDP]: Habt ihrnicht im Bundesrat mitgemacht?)

Erst danach kam es zu der Entscheidung des Bundesver-fassungsgerichts, wodurch wir gezwungen waren, dieseÄnderung auf den Weg zu bringen. Das ist die Wahrheit.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Der Eichelwar schon ein schlimmer Täuscher! Aber Sieübertreffen ihn!)

Meine Kollegin Kressl hatte Recht. Was Sie gesagt ha-ben, ist nicht richtig.

Jetzt dürfen Sie gerne eine Zwischenfrage stellen.

Maria Eichhorn (CDU/CSU): Frau Deligöz, ich kann jetzt nicht überprüfen, was ge-

nau in der Zeitung gestanden hat. Es muss aber richtiger-weise heißen, dass es eine von 30 neuen Ganztagsschu-len ist,

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

die im Rahmen eines 313-Millionen-Euro-Programms,das Bayern zur Förderung und Betreuung von Schü-lern am Nachmittag aufgelegt hat, zusätzlich eingerich-tet werden. Zu diesem Programm gehört auch die Ein-richtung von zusätzlichen Ganztagsschulen.

Wenn Sie diese Zahl nicht glauben, dann bitte ich Sie,sich bei der Kultusministerkonferenz zu erkundigen. Ichdenke, die Zahlen der Kultusministerkonferenz sindnicht anzuzweifeln; denn diese Konferenz ist nicht aus-schließlich mit Vertretern aus CDU und CSU besetzt.Dort sind vielmehr alle Parteien vertreten.

Ich darf Sie noch dahin gehend aufklären, dass es ver-schiedene Formen von Ganztagsschulen gibt. Die KMKunterscheidet drei verschiedene Formen: Es gibt Ganz-tagsschulen in gebundener Form, die von morgens bisabends durchgehend Unterricht machen. Daneben gibtes Ganztagsschulen in offener Form, wobei die Betreu-ung und Förderung der Schüler am Nachmittag im Vor-dergrund steht. Alle Schulen dieser Formen zählt dieKMK zu den Ganztagsschulen. Demnach gibt es in Bay-ern in diesem Schuljahr 570 Ganztagsschulen, die denSchülerinnen und Schülern am Nachmittag unterstüt-zend zur Seite stehen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Liebe Kollegin Eichhorn, Sie kommen wie ich aus

Bayern. Ich komme aber zu dem Schluss, dass es unterdiesen 570 Schulen nur einige Ganztagsschulen gibt. Die„Augsburger Allgemeine“ nennt die Zahl 30. Sie wollensicherlich nicht die Angaben dieser Zeitung anzweifeln.

(Lachen bei der CDU/CSU – Abg. MariaEichhorn [CDU/CSU] meldet sich zu einerweiteren Zwischenfrage)

– Ich möchte Ihre Frage erst zu Ende beantworten. Da-nach können Sie eine weitere Zwischenfrage stellen.

Ich zitiere die „Augsburger Allgemeine“:

Die Emil-Schmid-Schule ist eine von 30 Schulen inBayern und vier in Schwaben, die Ganztagsklassenanbieten.

(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Ja! Aber neu eingerichtet!)

Es geht also um Ganztagsschulen. Sie beziehen sich aberauf ein Programm der Bayerischen Staatsregierung, dasnicht Ganztagsschulen umfasst, sondern eine Hausauf-gabenbetreuung am Nachmittag, die vorwiegend vonHausfrauen, Rentnern und Rentnerinnen, Schülern undSchülerinnen durchgeführt wird.

Ein Modellversuch läuft in Regensburg. Sie könnensich das gerne einmal anschauen. Dort findet die Betreu-ung, durchgeführt von nicht qualifiziertem Personal, ineinem heruntergekommenen Haus statt. Diese Betreuungwird aber als Ganztagsangebot deklariert. Die Qualitätdieses Angebots ist aber jenseits der Qualität, die vonGanztagsschulen erbracht wird.

(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Das ist genau das, was Sie propagieren!)

Wir verstehen unter einer Ganztagsschule etwas ande-res, nämlich eine qualitativ hochwertige Betreuung, dienicht einfach nebenher läuft und bei der nicht geringfü-gig Beschäftigte ein paar Stunden am Nachmittag dasAnfertigen der Hausaufgaben betreuen.

(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Pädagogische Betreuung!)

Es ist also nicht richtig, was Sie sagen. Es handeltsich vielmehr um 30 Schulen; das ist die richtige Zahl.Bei allen anderen Schulen handelt es sich um Nachmit-tagsangebote, wie zum Beispiel der Arbeitskreis „Aus-ländische Kinder“ und Ähnliches.

(Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt bekommenSie den Medienpreis der „Augsburger Allge-meinen“ überreicht!)

– Ich mag die „Augsburger Allgemeine“. Das ist meineHeimatzeitung. Sie sollten sie ab und zu einmal lesen.Das würde Ihnen guttun.

Ich will Ihnen nun aber erklären, was das Ergebnis Ih-rer Politik war. Laut Shell-Studie sagen 16-, 17- und 18-Jährige auf die Frage, was junge Menschen in diesemLand wollen: Wir hätten gerne einen Beruf und auch einKind. – Wenn man sie zehn Jahre später noch einmal in-terviewt und fragt: „Was ist aus euren Lebensträumengeworden?“, sagen sie: Entweder wir haben ein Kindund sind zu Hause oder wir haben einen Job und dannkönnen wir leider keine Kinder bekommen, weil die fürKinder notwendigen Rahmenbedingungen nicht vorhan-den sind. 41 Prozent der Akademikerinnen in diesemLand bekommen keine Kinder – nicht deswegen, weilsie sie nicht wollen, sondern deswegen, weil sie nichtwissen, wie sie Kinder mit ihrem Job vereinbaren sollen.Frauen in meinem Alter, Frauen um die 30, sagen: Ich

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Ekin Deligöz

hätte gerne ein Kind; aber ich kann keines bekommen,weil ich dann umsonst studiert bzw. umsonst meineLehre gemacht hätte.

Deshalb setzt die Bundesregierung darauf, Rahmen-bedingungen, die Sie nicht geschaffen haben, einzurich-ten. Unter „Rahmenbedingungen“ verstehen wir nicht,Anreize zu schaffen, um zu Hause zu bleiben. Mit dennotwendigen Rahmenbedingungen setzen wir Anreizezur Erwerbstätigkeit. Genau das ist auch die Formel,mit der Armut bekämpft werden kann.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ja, wir sparen auch; das ist in der Tat richtig. Wir spa-ren beim Erziehungsgeld, wobei man festhalten muss:95 Prozent der betroffenen Haushalte bleiben davon un-berührt; lediglich 5 Prozent, die Gutverdienenden, erhal-ten weniger Geld. Wir sparen auch, um zu gestalten, wasSie in all den Jahren aufgrund Ihrer ideologischen De-batten vermieden, verpasst und nicht zugelassen haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Dazu gehören die Ganztagsbetreuung, die Betreuung imKindergarten und die Betreuung von Kindern zwischennull und drei Jahren, Qualitätsinitiativen und das 4-Mil-liarden-Programm für die Einrichtung von Ganztags-schulen.

Ich möchte noch einmal die „Augsburger Allge-meine“ von heute zitieren. Dort steht nämlich:

Die Ganztagesklassen

– die von der Bundesregierung finanziert werden –

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Da wird keineKlasse finanziert! Da wird eine Baumaßnahmefinanziert! Wie kann man nur mit einem sol-chen Beitrag an das Rednerpult gehen!)

an der Emil-Schmid-Schule sind … ein Hit: Mittler-weile ist die Nachfrage so groß,

– also die nach Ganztagesklassen –

dass es schon eine Warteliste gibt …

Derzeit gibt es dort drei Ganztagesklassen. Weiter wirddarauf hingewiesen, dass die Zeugnisse derjenigenSchülerinnen und Schüler, die eine Ganztagsklasse besu-chen, deutliche Notenverbesserungen aufweisen.

Das ist das Ergebnis unserer Politik. Wir investierenin die Kinder; wir investieren in die Bildung und in dieRahmenbedingungen zur Vereinbarkeit von Beruf undFamilie. Wir schaffen Rahmenbedingungen, von denenSie nur träumen können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD – Manfred Grund [CDU/CSU]: Nur zu!)

Nun möchte ich darauf eingehen, was die bayerischeAntwort auf diese Rahmenbedingungen ist.

(Otto Fricke [FDP]: Meine Güte: Ihr mit eurem Bayern!)

Bayern hat ein Kindergartengesetz eingebracht mit demZiel, 9 000 Stellen im Bereich der Kindergärten und derKinderkrippen einzusparen und 3 800 Gruppen zuschließen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Jetzt mussaber Schluss sein mit dem bayerischen Land-tagswahlkampf der Grünen!)

Das ist das, was wir wollen: Kernzeiten in die Kinderbe-treuung aufnehmen. Genau dazu sagt Ihnen jeder Päda-goge: Das muss sein; Kinder brauchen feste Punkte inBezug auf Mittagessen, Mittagsschlaf, Aufstehen undSpielen. – Genau das wollen Sie abschaffen.

(Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Es geht um Bundespolitik!)

Ihre Antwort auf die Investition in Kinder und auf dieInvestition in die richtigen Rahmenbedingungen ist: Siekürzen, wo es nur geht, nämlich dort, wo es um die Le-benswirklichkeit der jungen Frauen, der jungen Mütterund der jungen Männer in diesem Land geht.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: LiberalitasBavariae ist ja in Ordnung! Aber die Ge-schäftsordnung fordert, zur Sache zu reden!)

Wir investieren, um die Armut zu beseitigen. Wir ha-ben ein Modell, das Anreize zur Erwerbstätigkeit setzt.Mit einem Zuschlag von 140 Euro pro Kind investierenwir in ein Grundsicherungsmodell für Familien, um sieaus der Armut herauszuholen und um Anreize zu setzen.

Wir machen ein Weiteres: Wir unterstützen die echtenAlleinerziehenden. Ich verstehe überhaupt nicht, wa-rum es so verpönt sein soll – Sie haben das gerade darge-stellt –, das zu tun. Wenn eine Mutter bzw. ein Vater esauf sich nimmt, ein Kind allein zu erziehen und die Ver-antwortung dafür zu übernehmen, kann sie oder er nichtUnterstützung genug von diesem Staat bekommen.

Sie haben gesagt, die Familienministerin sei nichtdurchsetzungsfähig. Ich habe Ihnen nur einen Teil des-sen aufgezählt, was alles in dieser Wahlperiode ange-packt wurde. Ich bezeichne sie erstens sehr wohl alsdurchsetzungsfähig. Zweitens möchte ich mich aus-drücklich bei ihr dafür bedanken, dass wir als Fachabge-ordnete eine so gute Unterstützung von ihr bekommen.Vielen Dank!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Jetzt kommt der notwendige Kotau!)

Denn im Gegensatz zu Ihnen ist die Familienministerinin der Realität verwurzelt, in der Wirklichkeit der Mütterund Väter. Sie ist dort, wo Kinder aufwachsen. Sie istdort, wo Kinder erzogen werden. Sie investiert mit unsin die Gesellschaft.

Rot-Grün setzt Rahmenbedingungen – auch inschwierigen Zeiten. Es gehört sich, dass auch Sie vonder Opposition uns darin unterstützen und uns nicht da-von abhalten, unsere Politik fortzusetzen.

(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Rahmenbedin-gungen gegen die Familien!)

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Ekin Deligöz

Ich fände es schön, wenn Sie es endlich einmal schaffenwürden, gerade in diesem Bereich Ihre Ideologien zuverlassen und in der Lebenswirklichkeit der Mütter undVäter anzukommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Otto Fricke.

Otto Fricke (FDP): Frau Präsidentin, mit der Bitte um ebenso rücksichts-

volle Berücksichtigung meiner kurzen Redezeit!

(Zuruf von der SPD: Das war doch die Ant-wort auf die Zwischenfrage!)

Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Ichmuss schon sagen, ich komme mir hier ein bisschen vor,als wären wir im Maximilianeum. Es geht ständig umBayern und die Frage, was irgendwo steht. Warumwohl? Das muss ich mich dann wirklich fragen. Das giltauch für das, was Frau Deligöz gemacht hat: diese De-tailfragen und dieses Sich-daran-Festhalten. Wir unter-halten uns hier über einen Haushaltsplan. Das Komischeist: Wenn man versucht, den Landtag da hineinzuziehen,dann ist man wohl an der Kernpolitik, um die es eigent-lich geht – Frauen, Familie, Jugend, Senioren –, nichtwirklich interessiert. Dann liegt es am Redner, das zustoppen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir haben einen Sparhaushalt. Frau Ministerin, ichgebe Ihnen Recht: Es ist einer, und zwar so, wie ein Ein-zelhaushalt sein muss. Jetzt geht es nicht um die Frage,dass gespart werden muss, sondern darum, wie gespartwerden muss. Da müssen wir Wege finden.

(Zuruf von BÜNDNISS 90/DIE GRÜNEN: Wo will denn die FDP sparen?)

– Jetzt kommt die Frage, wo die FDP spart. Es wird sosein wie in der letzten Legislaturperiode, dass wir ein-zelne Vorschläge zum Sparen machen. Das Komischewird dann sein, dass Sie die ablehnen.

(Nicolette Kressl [SPD]: Es sind bisher nur wel-che gewesen, die extra gekostet haben!)

– Dass sie die nicht kennen, liegt daran, dass Sie nichtim Haushaltsausschuss sind; aber das macht ja nichts.

Wir haben eigentlich großes Glück – auf der anderenSeite beklagen wir es wieder –, dass dieser Haushaltüberhaupt noch am Leben ist und einigermaßen funk-tionsfähig ist. Das liegt an der sinkenden Geburtenrate.Hätten wir wirklich die Geburtenraten, die wir für unsereSozialsysteme bräuchten, dann möchte ich nicht wissen,wie hoch die Ausgaben beim Erziehungsgeld, beim Un-terhaltsvorschussgeld und in anderen Bereichen wären.Das müssen wir einfach so sehen. Das ist etwas zynisch– das gebe ich sehr gern zu –, aber so ist die Lage imMoment.

Zum Erziehungsgeld selbst sage ich ganz kurz: Ichwerde hier nicht in Bausch und Bogen behaupten: Nein,auf gar keinen Fall, das können wir nicht machen. Ichsage Ihnen ganz ehrlich: Meine Frau und ich haben fürdie ersten beiden meiner drei Kinder Erziehungsgeld be-kommen. Ich habe mich darüber gefreut. Es hat das fa-miliäre Leben in den ersten sechs Monaten erleichtert.Aber ich sage Ihnen auch ganz klar: Es war zum Teil einLuxus, den ich für meine Familie gern in Anspruch ge-nommen habe; denn er hat auch dafür gesorgt, dassmeine Frau und ich Zeit für die Familie hatten.

Wenn es uns allen schlechter geht, dann müssen wiraber auch gucken, wo wir an dieser Stelle einsparen kön-nen. Wo hier die richtigen Grenzen sind, möchte ich vor-sichtigerweise nicht sagen. Das wissen wir noch nichtgenau. Das Ministerium hat seine Vorstellungen bekanntgemacht. Wir werden wahrscheinlich auch sagen, wowir die Grenzen sehen. Aber wir müssen noch schauen.Mit einem generellen Nein – das sage ich auch in Rich-tung CDU/CSU – bin ich nicht einverstanden. – Zu derFrage, was den anderen Bereich gerade der letzten18 Monate betrifft, wird die Kollegin Lenke sicherlichnachher noch ein paar Worte finden.

Die globale Minderausgabe, die beim Bundesamt fürden Zivildienst vorliegt, ist – auch da wollen wir realis-tisch sein –, auch noch ein Riesenbrocken. Zum Zivil-dienst selbst: Frau Ministerin, Sie haben hier sehr nettformuliert, dass mit den Wohlfahrtsverbänden nun allesin Ordnung ist. Aber jetzt wollen wir doch einmal ganzehrlich sein: Der Grund dafür, dass wir diese Zahl über-haupt halten können, obwohl wir wieder auf die70 Prozent gehen, weil die alte Regelung wieder in Krafttritt, liegt doch schlichtweg darin, dass wir wenigerZivildienstleistende haben.

(Beifall bei der FDP)

Dann erinnere ich mich an die leider etwas ver-quaste Diskussion, die wir darüber hatten, dass weni-ger Zivildienstleistende weniger Hilfe für die Kranken,Alten und Schwachen bedeuten. Dafür sind Zivildienst-leistende nicht da. Ich finde es aber bemerkenswert,dass diese Diskussion hier bisher so nicht aufgekom-men ist. Letztlich – das wissen Sie auch aus Gesprä-chen, die wir geführt haben – finde ich diese komischeVorstellung von Gerechtigkeit, nämlich dass die Zahlender Wehrpflichtigen und Zivildienstleistenden mög-lichst gleich sein sollen, nicht so ganz angenehm. Ichgebe aber andererseits aus Sicht der FDP gern zu, dassich froh darüber bin, dass dadurch ein weiterer Druckauf die Frage von Wehrgerechtigkeit und Zivildienstge-rechtigkeit kommt.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)

Es wird nachher so sein, dass junge Leute sagen:Beim Zivildienst werden nur 60 Prozent der Bewerbergezogen, bei der Bundeswehr 70 Prozent, dann gehe ichlieber in den Zivildienst; vielleicht habe ich Glück undwenn ich dann vier, fünf oder sechs Jahre später beimBewerbungsgespräch bin, habe ich den Vorteil, dass ich

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ein Jahr jünger bin und der andere seine Wehrpflichtoder seinen Zivildienst absolviert hat. Das kann nichtsein.

Ich bin gespannt, liebe Kolleginnen und Kollegen vonder SPD, wie Sie dieses Problem auf Ihrem Parteitag lö-sen werden. Ich kann es mir vorstellen. Denn leider ist esso, dass, obwohl wir dieses Ministerium seit fast 50 Jah-ren haben, es aufgrund dieses so dünnen Haushaltspla-nes – wir tun hier so, als wäre das ein ganz großer Haus-haltsplan und als ginge es um sehr viele Dinge – nichtfür wichtig genommen wird. Es wird wichtig geredetund angeblich für wichtig gehalten, aber es wird nichtfür wichtig genommen, weil der Haushalt wenig Bedeu-tung hat. Die meisten finanziellen Mittel – das wissenSie ganz genau – laufen über Steuern und Finanzen undan ganz anderer Stelle, nur nicht in dem Ministerium.Außerdem muss es darum gehen, dass sich die Ministe-rin gegen einen Kanzler durchsetzen kann, der manch-mal auch unschöne Worte – in dem Falle ein G-Wort –für diese Art der Politik benutzt hat.

Eine letzte Bemerkung. Ich habe gedacht, dass wir inder Bundesrepublik Deutschland bei der Frage derEigenverantwortung in die richtige Richtung gehen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Nicht mit dieser Regierung!)

Der Finanzminister hat heute Morgen gesagt, eine Voll-kaskoversicherung – das sei einmal von der FDP gekom-men – könnten wir uns nicht mehr leisten. Das stimmt.

Ich finde es aber interessant, nun zu sehen, was es fürSie bedeutet, wenn mehr Verantwortung übernommenwerden muss. Ich habe immer gedacht, das fänden allegut, bis ich erfahren habe, welche Stellung die Grünenauf ihrer Tagung in Miesbach zu der Frage bezogen ha-ben, wer für wen wie lange unterhaltspflichtig ist. Wennwir damit anfangen würden, dass Kinder zukünftig fürihre Eltern nach einer bestimmten Zeit nicht mehr unter-haltspflichtig sind oder umgekehrt – die Frage nachmöglicher staatlicher Leistung ist in diesem Falle egal –,dann entbinden wir sie von der gegenseitigen Verantwor-tung, die es in den Familien gibt.

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine Grundsicherung im Al-ter haben wir jetzt schon!)

Diese wollen wir aber doch gerade fördern und stärken,deswegen brauchen wir doch die Familien.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist rich-tig! Fricke hat Recht!)

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Sie sindder Meinung, dass das richtig ist. Ich bin gespannt, wiedie Ministerin es begründen wird, warum es falsch ist.Ich hoffe jedenfalls, dass sie das tun wird.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Anton Schaaf, SPD-

Fraktion.

Anton Schaaf (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Sehr geehrte Frau Eichhorn! Vieles von dem,was Sie heute hier vorgetragen haben, ist dem bayeri-schen Wahlkampf geschuldet. Sei es drum.

In einem Punkt möchte ich aber sehr deutlich werden.In den fünf Jahren, in denen wir gemeinsam Verantwor-tung tragen, haben wir im Bereich der materiellen Leis-tungen für Familien mit Kindern deutlich mehr getanals Sie in den 16 Jahren zuvor.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist vielerlei Dingen geschuldet und ich nehme eshin. Es ist aber nicht hinnehmbar, dass Sie in den16 Jahren, in denen Sie in der Verantwortung waren, ver-säumt haben, sich anzuschauen, was in anderen Länderngemacht wurde. Dort ist die Infrastruktur für Familienmit Kindern deutlich verbessert worden und damit dieMöglichkeit, Familie und Beruf miteinander zu verbin-den. Hier liegen Ihre größten Versäumnisse. Wir müssenmit riesengroßen Anstrengungen aufarbeiten, was Sie in16 Jahren versäumt haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Abg.Maria Eichhorn [CDU/CSU] meldet sich zueiner Zwischenfrage)

– Ich möchte im Zusammenhang vortragen, kommegleich aber gerne auf Sie zurück.

Wirksame Politik hängt unter anderem vom zielge-richteten Einsatz vorhandener Mittel ab. Das gilt insbe-sondere in Zeiten knapper Kassen. Die Einnahmesitua-tion der öffentlichen Haushalte macht es notwendig,auch die Fördermöglichkeiten in zentralen Politikfeldernzu überprüfen und gegebenenfalls neu zu justieren. DasZiel darf dabei nicht aus den Augen verloren werden,insbesondere diejenigen zu unterstützen, die wirklich aufstaatliche Hilfe angewiesen sind. Sparen ist aber keinSelbstzweck. Was macht es für einen Sinn, diejenigen,die man heute besonders fördert, in Zukunft die Schul-den dafür zahlen zu lassen?

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Unsere Prämisse lautet also: konsolidieren und zielge-richtet fördern.

Wir gehen diesen Weg. Wir wissen, was die Men-schen bewegt. Wir setzen um, was Verlässlichkeit undEntfaltungsmöglichkeiten schafft. Für das Jahr 2004spiegelt das der Einzelplan 17, der Haushalt des Bundes-ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,im Besonderen wider. Themen, an denen sich das zeigenlässt, sind zum Beispiel der Zivildienst, die Verbesse-rung der Rahmenbedingungen für bürgerschaftliches

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Anton Schaaf

Engagement und unsere Aktivitäten für benachteiligteJugendliche.

(Ina Lenke [FDP]: Was ist da gut?)

Trotz der schwierigen gesamtwirtschaftlichen Lagemüssen die Träger des Zivildienstes im kommenden Jahranstatt 50 Prozent nur noch 30 Prozent der Kosten fürdie Zivildienstleistenden tragen. Die befristete Änderungbei der Kostenverteilung für das laufende Jahr hat er-möglicht, dass die Zahl der Zivildienstleistenden im Jah-resdurchschnitt nicht dramatisch sinken musste. DieWohlfahrtsverbände hatten so die Möglichkeit, sich aufdie vorgesehenen Veränderungen einzustellen. Im Jahr2002 wurde der Zivildienst auf zehn Monate verkürzt.Darüber hinaus werden jährliche Obergrenzen für dieEinberufungszahlen festgelegt. Im Zivildienstjahr 2003/2004 werden es im Jahresdurchschnitt circa 95 000Dienstleistende sein. Damit gehen wir einen weiterenSchritt in Richtung Wehrgerechtigkeit.

(Lachen der Abg. Ina Lenke [FDP])

Gleichzeitig sind unsere konkreten Vorgaben die Voraus-setzung für Planungssicherheit in den Verbänden und fürdie Zivildienstleistenden. Strukturelle Veränderungenwird es aber nicht geben.

Lassen Sie mich an dieser Stelle mit einer Legendeaufräumen, die im Laufe dieser Debatte mit Sicherheitzu stricken versucht werden wird. Die Absenkung desEtatansatzes für den Zivildienst beruht im Wesentlichenauf zwei Gründen. Der eine Grund ist, wie Sie alle wis-sen – zumindest trifft das auf die Mitglieder des Aus-schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu –,ein Computerfehler, der in diesem Jahr behoben werdenmusste, wofür 30 Millionen Euro veranschlagt wurden.Der zweite Grund ist – die Diskussion stammt noch ausdem letzten Jahr –, dass wir generell um 20 MillionenEuro senken müssen. Nichts anderes ist der Grund fürden veränderten Ansatz im Zivildienst. Ich bitte Sie, andieser Stelle keine Legenden zu bilden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir werden den Zivildienst weiterentwickeln. Dazuwurde die Kommission „Impulse für die Zivilgesell-schaft“ beim Bundesministerium für Familie, Senioren,Frauen und Jugend eingerichtet. Hier werden Perspekti-ven für die Freiwilligendienste und den Zivildienst erar-beitet.

Damit einher geht die Förderung von Maßnahmenund Organisationen des Ehrenamtes und der Selbsthilfe.Für das Jahr 2004 steigt auch hier der Ansatz. Hinzukommen noch die Mittel für die Freiwilligendienste imsozialen und im ökologischen Jahr. Wir unterstützen dieFähigkeit zur Selbstorganisation und stärken damit dieZivilgesellschaft nachhaltig. Unsere Maßnahmen rei-chen von der Unterstützung und der Förderung von Pro-jekten bis zu der Frage, wie der Staat seine eigenenStrukturen engagementfreundlicher gestalten kann.

Meine Damen und Herren, wir haben mit dem not-wendigen Umbau des Sozialstaates begonnen. Gleich-zeitig müssen und werden wir benachteiligten Jugendli-

chen weiterhin helfen. Das Sonderprogramm „JUMPplus“ soll 100 000 Jugendlichen den Einstieg in Be-schäftigung und Qualifizierung ermöglichen.

(Otto Fricke [FDP]: Wie viele sind es? –Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Kaum einerhat dadurch eine anständige Beschäftigung er-halten!)

Bis zum Dezember 2004 wird das Programm den Über-gang vom jetzigen zum neuen Leistungssystem – Zu-sammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe – eb-nen. Daneben führt das Familienministerium weitereProgramme in Zusammenarbeit mit Arbeitsämtern undKommunen durch, die die soziale und berufliche Inte-gration Jugendlicher zum Ziel haben.

Bei der Fortführung der Kinder- und Jugendplanför-derung auf hohem Niveau geht es um den Erhalt einerverlässlichen Förderung für die Träger und Organisatio-nen, aber auch darum, mit innovativen Modellprojektenzu einer Weiterentwicklung der Hilfe für junge Men-schen beizutragen.

(Beifall der Abg. Kerstin Griese [SPD])

In der mittelfristigen Finanzplanung für 2004 waren fürden Kinder- und Jugendplan des Bundes insgesamt101,19 Millionen Euro vorgesehen. Im Regierungsent-wurf sind 102,19 Millionen Euro veranschlagt, also1 Millionen Euro mehr.

Lassen Sie mich noch ein paar Worte zum ThemaAusbildung sagen. Ohne staatliche Hilfe wäre das Aus-bildungssystem kaum noch aufrechtzuerhalten. Mittler-weile erbringt 40 Prozent der Ausbildungsleistung dieöffentliche Hand. Nur noch ein Drittel der Unternehmenin Deutschland bildet aus, aber 100 Prozent der Unter-nehmen sind auf gut ausgebildete Mitarbeiter angewie-sen.

Es kann nicht sein, dass der Staat bei der Ausbildungjunger Menschen die Wirtschaft ersetzen muss. Ausbil-dung muss eine grundlegende Aufgabe und Verantwor-tung der Wirtschaft bleiben.

(Beifall bei der SPD)

Deshalb sollten Sie, meine Damen und Herren von derOpposition, endlich die Notwendigkeit einsehen, dassverbindliche Übereinkommen für die Ausbildung in derprivaten Wirtschaft zu treffen sind.

Wir haben angekündigt, dass wir handeln werden,wenn die Ergebnisse zu Beginn des Ausbildungsjahresnicht zufriedenstellend sind.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Total verqueres Denken!)

Die Mittel, die staatlicherseits für Ausbildung zur Verfü-gung gestellt werden müssen, weil die Wirtschaft so we-nig ausbildet, könnten wir jetzt an anderer Stelle wirk-lich gut gebrauchen.

Trotz Sparnotwendigkeiten können wir unsere politi-schen Schwerpunkte vernünftig setzen. Wir schaffen mitder Ausarbeitung dieses Haushaltes eine gute Grundlage

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Anton Schaaf

für die politischen Entscheidungen in diesem und imnächsten Jahr.

Wenn Sie unsere Vorschläge nicht teilen, ist das Ihrgutes Recht. Es ist dann aber auch Ihre Pflicht, andereVorschläge zu machen und den Menschen im Lande zusagen, was Sie wollen. Sie sind am Zuge.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Antje Tillmann,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Antje Tillmann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Frau Ministerin! Ich habe die Vorstellungender Familienministerin zur Familienpolitik mit sehr vielInteresse gehört. Leider passen ihre Vorstellungen weitüberwiegend weder zu den Gesetzentwürfen, die unsvorliegen, noch zum Einzelplan 17, den wir zur Haus-haltsberatung vorgelegt bekommen haben. Die meistendieser Vorstellungen stehen weder im Gesetz noch imHaushalt.

Beispiel Erziehungsgeld. Der Haushaltsentwurf siehteine Kürzung von 245 Millionen Euro vor. Mittelfristigsind es sogar 400 Millionen Euro, das ist eine Kürzungum 12 Prozent. Die Einkommensgrenzen werden ge-senkt. Frau Ministerin hat eben wieder behauptet, dassdavon nur die gut verdienenden Familien betroffenseien. Ich hoffe, sie weiß selber, dass das nicht stimmt.Denn mit der gleichzeitigen Absenkung der Ausgaben-pauschale von 27 auf 24 Prozent schließt sie gerade dieFamilien aus, die den berühmten Euro mehr verdienen,damit aus allen Förderprogrammen fliegen und de factosogar weniger haben als die tatsächlich sozial Schwa-chen.

Völlig verschwiegen hat sie auch, dass von der Ent-scheidung über die Entfernungspauschale auch die Ein-kommensgrenzen beim Erziehungsgeld betroffen sind.Die Kilometerpauschale für die Fahrt zur Arbeit konntebei der Einkommensberechnung in Bezug auf das Erzie-hungsgeld bisher nämlich abgezogen werden. Das isteine weitere erhebliche Kürzung der Einkommensgren-zen um fast 1 500 Euro. Frau Ministerin, es stimmt ebennicht, dass die Empfänger niedriger Einkommen nichtbetroffen sind.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hört! Hört! Dann hat uns die Ministerin hier ja getäuscht!)

Sie haben die Ausgaben- und die Entfernungspauschaleunterschlagen. Das sind fast 5 000 Euro für die Betroffe-nen.

Geradezu zynisch finde ich die Begründung zur Kür-zung des Erziehungsgeldes. Ich bin froh, dass Sie daseben nicht wiederholt haben. Im Gesetzentwurf steht,dass die Kürzung von 307 Euro auf 300 Euro bzw. von

460 Euro auf 450 Euro eine Glättung im Sinne der Kon-solidierung sei.

(Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das ist ein Skandal!)

Als Sie das Kindergeld vor wenigen Jahren um10 Mark erhöht haben, war Ihnen kein Plakat zu groß,um diese Errungenschaft zu verkaufen. Jetzt gibt es auchbei den niedrigen Einkommensgruppen massive Ein-schnitte und Sie reden von Glättung.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Pfui!)

Ich glaube, die Familien werden das nicht verstehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine letzte Bemerkung zum Erziehungsgeld: Eingroßer Teil derjenigen, die durch die von Ihnen ange-strebten Änderungen aus dem Bezug des Erziehungsgel-des herausfallen, werden demnächst als arbeitslos, abernicht vermittelbar verkauft bzw. geführt. Ich weiß nicht,ob wir uns die Gleichstellung nicht sparen können, wennwir den Eltern, die diese Leistungen auf sich nehmen,diesen Stempel aufdrücken.

Das nächste Beispiel ist der Haushaltsfreibetrag. Siewurden im vergangenen halben Jahr nicht müde, öffent-lich zu verkünden, dass die Alleinerziehenden als Aus-gleich für durch den Wegfall des Haushaltsfreibetrages490 Millionen Euro erhalten sollen. Sie haben ausge-führt, dass zum 1. Januar 2004 ein Steuerfreibetrag von1 300 Euro eingeführt werden soll. Ich gebe zu, dass ichIhre Meinung, dass man das auf allein wohnende Elternbeschränken sollte, teile. Das Problem ist nur, dass Sietrotzdem 190 Millionen bei den Alleinerziehenden ein-sparen und dass die 300 Millionen Euro, die Sie hier ver-kündet haben, nirgendwo im Haushalt auftauchen. Dane-ben ist auch im Rahmen der Änderungen desEinkommensteuergesetzes in Art. 8 des Haushaltsbe-gleitgesetzes kein Haushaltsfreibetrag enthalten.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Nirgendwo im Etat ist das Geld dafür bereitgestellt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn Sie beides nicht während der Haushaltsberatungennachholen, können Sie Ihr Versprechen auf keinen Falleinhalten.

Das nächste Beispiel ist der Unterhaltsvorschuss. Esist völlig abstrus: Im Etat sehen Sie eine Kürzung von50 Millionen Euro vor. Gott sei Dank haben Sie ebenwieder bestätigt, dass Sie im Gegensatz zu Ihrem Kolle-gen Eichel keine Gesetzesänderungen vorsehen. Offen-sichtlich konnten Sie sich bei den Haushaltsansätzen abernicht durchsetzen; denn der Gesetzentwurf sieht beimUnterhaltsvorschuss Kürzungen in Höhe von 40 Millio-nen Euro vor. In den Erläuterungen steht – ich zitiere –,dass „im parlamentarischen Verfahren angestrebt wird,die im Haushaltsentwurf 2004 bereits vollzogene Absen-kung“ um 40 Millionen Euro rückgängig zu machen.

Was sind das für Beratungsgrundlagen, wenn die Re-gierung die Politik auffordert, bei den Bereinigungs-sitzungen mal eben 40 Millionen Euro zu finden. Sie

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4942 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Antje Tillmann

wissen genau, dass wir das bei diesem Etat nicht leistenkönnen. Das ist auch nicht unsere Aufgabe. Die Haus-haltsaufstellung ist Aufgabe der Regierung.

Mein nächstes Beispiel ist der Kinderzuschlag. Hierkann man Sie für Ihre Öffentlichkeitsarbeit eigentlichnur loben. Alle Zeitungen titelten: FamilienministerinSchmidt führt Kinderzuschlag für bedürftige Familienvon 140 Euro ein. Ich war positiv überrascht. Leiderwich diese Überraschung eher einer Verwunderung darü-ber, mit welchem Beifall man eine solche Augenwische-rei betreiben kann. Auch dem, was Sie eben gesagt ha-ben, kann ich nicht entnehmen, dass Sie wissen, dass beiden Familien so gut wie kein Euro von den 140 Euro an-kommt. Ich zitiere aus dem Gesetzentwurf, mit dem derKinderzuschlag eingeführt werden soll:

Die Einführung des Kinderzuschlags führt dazu,dass geringere Leistungen in der Grundsicherungfür Arbeitssuchende erforderlich sind.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Aha!)

Nur etwa ein Drittel der hier ausgewiesenen Kos-ten... sind echte Mehrkosten, die anderen zwei Drit-tel werden durch entsprechend geringere Ausgabenbei der Grundsicherung für Arbeitssuchende kom-pensiert.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist schonwieder ein Täuschung! Pfui, kann man da nursagen!)

Es gibt für die Familien also nur wenig bis kein Geld zu-sätzlich; das wird eingespart.

(Nicolette Kressl [SPD]: Das ist nicht so!)

Der Name ist natürlich freundlicher: Kinderzuschlaghört sich besser an als Sozialhilfe.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Aha!)

Übrigens: Auch diese erforderlichen Mittel sind im Etatnicht eingestellt; sie stehen nicht im Haushalt.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist ja nicht beratungsreif!)

Das nächste Beispiel ist der Ausbau der Kinder-betreuung. Leider gibt es auch hierzu kein belastbaresMaterial bezüglich der Mehrkosten. Als Frau Eichhorneben gesprochen hat, haben Sie auf den Haushalt ver-wiesen. Die Zahlen kenne ich sehr gut. Dort wird vorge-rechnet, dass aufgrund der Einsparungen durch Hartz beiden Kommunen 1,5 Milliarden Euro übrig bleiben sol-len, die für den Ausbau der Ganztagsbetreuung verwen-det werden können.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Virtuelle Einsparung!)

Der Städtetag hat Sie aber mittlerweile darauf hingewie-sen – Herr Eichel hat das bestätigt –, dass in diesen1,5 Milliarden Euro 1 Milliarde Euro Drittmittel aus derEU und dem Bund eingerechnet sind, die den Kommu-nen gar nicht mehr zur Verfügung stehen. Auch dieseZahl ist nicht belastbar und kann im Haushalt nicht nach-vollzogen werden.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Schon wiedereine Täuschung dieser Regierung! – Dr. MariaBöhmer [CDU/CSU]: Unerhört!)

Es bleiben weitere recht traurige Tatsachen. Der Fami-lienetat muss neben dem Verbraucherschutz mit 8,38 Pro-zent die höchsten Kürzungen hinnehmen. Dieser Trendsetzt sich aus den Vorjahren fort. Seit 2001 sind die Aus-gaben im Etat 17 von 5,5 Milliarden Euro auf 4,7 Milliar-den Euro gesunken, eine Kürzung von fast 14 Prozent.Beim Kinder- und Jugendplan schlagen Sie uns eine Kür-zung von 8,5 Prozent vor. Warum eigentlich nur bei denJugendlichen und nicht in anderen Bereichen? Ich nenneals Beispiel den Bereich der Öffentlichkeitsarbeit oderder öffentlichen Begleitung neuer Programme. Hier istnicht gekürzt worden, aber vielleicht könnten wir uns diewirklich doofe Plakataktion mit den kleinen Kindern, dieim Moment läuft, sparen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Der einzige Bereich, in dem zusätzliche Mittel bereitstehen, ist Ihr eigenes Ministerium. Ich sage ganz ehr-lich: Ich bin kein Freund der pauschalen Kürzung beiden Personalkosten. Auch in diesem Jahr sind wieder1,5 Prozent pauschal einzusparen. Ich halte das für keinesinnvolle Lösung. Wir sollten beim Personaletat in denHaushaltsberatungen genau prüfen, ob sie überhauptdurchsetzbar ist. Ich denke, wir sollten nicht prozentual,sondern anhand konkreter Vorgaben kürzen. Deshalbwerden wir uns den Stellenplan besonders genau anse-hen.

Aber es wird auch deutlich, dass in dem Bereich ge-rade für das letzte Jahr erhebliche Mehrkosten angefal-len sind. Dazu sage ich: Einen von Ihnen mitgetragenenHaushalt muss man einhalten. Auch die freien Trägerkönnen nicht einfach über 2 Millionen Euro mehr fürPersonalkosten bei Ihnen einfordern. Von daher müssenwir das, was wir den freien Trägern abverlangen, auchim eigenen Haus einhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Mittel für den Zivildienst werden weiter zusam-mengestrichen, obwohl noch 5 Millionen Euro zusätzli-che globale Minderausgabe im Etat vorgesehen sind undzeitgleich die Mittel für freiwillige Jahre um 1 MillionEuro gekürzt werden. Ich erinnere mich noch sehr gut anIhre Vorstellung im letzten Jahr, als Sie erklärt haben:Ein Ziel könnte sein, den Zivildienst durch freiwilligeJahre zu ersetzen. – Diese Auffassung kann man vertre-ten. Aber wenn zeitgleich in beiden Bereichen gekürztwird, wird beides nicht erreicht werden. Die jungenLeute wissen nicht, wohin mit ihrem Engagement, zumBeispiel in freiwilligen Jahren.

Es werden zulasten bekannter und anerkannter Pro-gramme immer wieder neue Programme aufgelegt. DieNachhaltigkeit – das Lieblingswort des Bundeskanzlers –wird gerade bei der Jugendpolitik völlig missachtet. Soläuft zum Beispiel das Programm Sondermaßnahmen inden neuen Bundesländern aus. Ersetzt wird es durch dasProgramm „Jugend bleibt“, das – ich zitiere – „eineintensivere Identifizierung der Jugendlichen mit ihren

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4943

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Antje Tillmann

Heimatregionen ermöglichen“ soll. Ich habe Ihnenschon im letzten Jahr gesagt: Den Thüringer Jugendli-chen fehlt es nicht an Identifizierung mit ihrer Heimat,sondern ihnen fehlt es an Arbeits- und Ausbildungsplät-zen. Dabei hilft ihnen dieses 2-Millionen-Euro-Pro-gramm nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich finde es ausgesprochen schade, dass das Verspre-chen, das im letzten Jahr in den Haushaltsberatungengemacht wurde, die Bundesprüfstelle für jugend-gefährdende Medien werde entsprechend dem erhöh-ten Aufgabenzuwachs auch einen Personalaufwuchs be-kommen, nicht eingehalten wurde. Es ist gesagt wor-den, die zusätzlichen Aufgaben, die wir alle gemein-sam beschlossen haben, wären dadurch zu bewältigen,dass Personal eingestellt wird. Ich habe schon damalsangekündigt, dass ich eine Gebührenerhebung für diePrüfung von jugendgefährdenden Medien und Filmensehr wohl mittragen werde. Aus diesen Einnahmenkönnte sich das Personal gegebenenfalls selbst finanzie-ren. Der Gesetzentwurf ist im Haushaltsbegleitgesetzenthalten. Die Einnahmeposition habe ich nirgendwogefunden und die daraus zu bezahlenden Personalstel-len leider auch nicht.

Sehr geehrte Frau Ministerin Schmidt, Ihr Einzelplanbeinhaltet Unklarheiten in Höhe von 690 MillionenEuro: Gesetzentwürfe, die nicht vorliegen, Gesetzent-würfe, die im Haushalt nicht eingestellt sind und Gesetz-entwürfe, die noch nicht verabschiedet sind.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Der Einzel-plan ist noch gar nicht beratungsreif!)

Das sind 15 Prozent Ihres Etats. Dies macht eineBeratung annähernd unmöglich. Ich hoffe sehr, dassdie aufgeworfenen Fragen und die Gesetzentwürfe biszum Berichterstattergespräch vorliegen, damit wirgemeinsam sehen können, wie wir Familienpolitik be-treiben. Sie können ganz sicher sein, dass Sie bei denVorstellungen, die wir für vernünftig halten, unsereUnterstützung erhalten werden und wir gegen denFinanzminister vielleicht das eine oder andere durch-setzen können.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Gute Rede!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk,

Bündnis 90/Die Grünen.

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Um es vorweg zu sagen: Haushaltskonsolidierungmacht bei einem gesellschaftspolitisch so relevanten Mi-nisterium, das zudem nur einen Etat von 3 MilliardenEuro hat, überhaupt keinen Spaß. Aber wir sind nicht inden Bundestag gewählt worden, um Spaß zu haben, son-

dern um die Probleme für die jetzige und die nächste Ge-neration zu lösen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Zum Sparen gibt es überhaupt keine Alternative, willman nicht auf Kosten der nächsten Generation leben.

Bis 2002 ist es uns gelungen, die Neuverschuldungkonsequent zurückzufahren, was angesichts der über-nommenen Schulden notwendig war. Dass die Situationmit der vorgezogenen Steuerreform jetzt eine andere ist,gebe ich gern zu.

Auf den ersten Blick erbringt das Ministerium für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend mit einer Reduzie-rung von 7 Prozent einen der höchsten Einsparhaus-halte. Schaut man allerdings genauer hin, so stellt manfest, dass es lediglich 4 Prozent sind. Frau Tillmann, ichwerde Ihnen das gleich erläutern. Im Wesentlichen wer-den die Kürzungen durch Änderungen beim Bundeser-ziehungsgeldgesetz und dem Zivildienst erreicht. BevorSie sich pflichtgemäß lautstark aufregen, gebe ich unum-wunden zu:

(Antje Tillmann [CDU/CSU]: Ich rege mich nie lautstark auf!)

Die Zustimmung zur Änderung des Erziehungsgeld-gesetzes war für uns Bündnisgrüne und für die SPD eineschwere Entscheidung.

(Ina Lenke [FDP]: Habt ihr aber trotzdem ge-macht!)

Vielleicht gelingt es im parlamentarischen Verfahren,noch die eine oder andere Veränderung zu ermöglichen.Aber natürlich müssen Sie die neuen Leistungen für Fa-milien gegenrechnen. Ich nenne den Kinderzuschlag vonmonatlich bis zu 140 Euro, die Steuerentlastung für Al-leinerziehende in Höhe von 1 300 Euro im Jahr und denAusbau von Betreuungsangeboten für Kinder unter dreiJahren.

(Ina Lenke [FDP]: Wann denn?)

– Das werde ich gleich sagen. – Mit diesen Maßnahmenbewahren wir 150 000 Kinder vor der Sozialhilfe, unter-stützen Alleinerziehende finanziell und sorgen mit derSchaffung von Kinderbetreuungseinrichtungen nicht nurfür eine Frühförderung von Kindern, sondern ermögli-chen überhaupt erst einmal die Erwerbstätigkeit von El-tern,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

und das mit 200 Millionen Euro zusätzlich.

Dieses Geld wird – das ist eine Vereinbarung – imRahmen des parlamentarischen Verfahrens zwischen derersten und dritten Lesung des Haushalts eingestellt. Siekönnen sicher sein, dass es dann enthalten ist, sonst wür-den wir es hier nicht verkünden.

Das ist eine Familienpolitik, die den Menschen tat-sächlich eine Wahlfreiheit bietet. Frau Eichhorn, Siehatten von Wahlfreiheit gesprochen. Bisher hatten die

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4944 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Irmingard Schewe-Gerigk

Frauen sie nicht. Sie mussten sich entscheiden, ob sieeine Familie gründen, zuhause bleiben oder in den Berufgehen wollten. Sie kennen das Resultat: Jede dritte Frauist heute kinderlos. Das ist das Ergebnis.

(Zuruf des Abg. Otto Fricke [FDP])

– Überhaupt nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Hier muss die Politik Rahmenbedingungen schaffen,die beides ermöglichen, nämlich Erwerbstätigkeit undKinder. Mit den vorgeschlagenen Maßnahmen haben wirheute einen großen Beitrag dazu geleistet.

Es wäre allerdings viel zu kurz gesprungen, glaubteman, dass die Gleichstellung von Frauen in der Er-werbsarbeit erledigt wäre, wenn die Kinderfrage gelöstist. Ich glaube, es war August Bebel, der sagte: Wenn dieKinderfrage gelöst ist, ist auch die Frauenfrage gelöst.

(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Typisch Mann!)

Aber dem ist nicht so. Der Anteil von 40 Prozent kinder-losen Akademikerinnen spricht dagegen; obwohl siekeine Kinder haben, erhält nur jede zehnte von ihneneine Professur oder eine Führungsposition in der Wirt-schaft. Von der tatsächlichen Gleichstellung sind wirLichtjahre entfernt.

Und was die Frauen so kränkt: Trotz besserer Schul-abschlüsse und Ausbildung verdienen sie im Durch-schnitt fast 30 Prozent weniger als Männer. GesetzlicheRegelungen wären hier sicher notwendig gewesen. Diestattdessen erfolgte Vereinbarung mit den Spitzenver-bänden der Wirtschaft hat außer verlorener Zeit nunwirklich überhaupt nichts gebracht. Das Institut für Ar-beitsmarkt- und Berufsforschung hat herausgefunden,dass in 4,1 Prozent der Privatunternehmen tatsächlichbetriebliche oder tarifliche Maßnahmen der Gleichstel-lung erfolgt sind.

Diese Zahlen verdeutlichen, dass es sich hier nicht nurum ein Demokratieproblem handelt, sondern dass diesauch nachhaltig Innovationen behindert. Denn mit denFrauen sind die Innovationen zu haben. Wenn wir die gutausgebildeten Frauen außen vor lassen, werden sie unsnicht gelingen. Was macht es für einen Sinn, in die Aus-bildung von Frauen zu investieren, aber ihre Potenzialenicht zu nutzen? Ich frage Sie ganz ernsthaft: Welche Ge-sellschaft kann sich das überhaupt auf Dauer leisten?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Deshalb brauchen wir nicht nur Maßnahmen zur Be-wusstseinsbildung – die sind auch nötig –, sondern dieverpflichtende Gleichstellung in den Betrieben und dieKopplung der Vergabe öffentlicher Aufträge an Maßnah-men zur Gleichstellung. Das ist das Lieblingsthemameiner Kollegin Ina Lenke. Ein erster Schritt dazu ist diezügige Umsetzung der EU-Richtlinien zur Antidiskrimi-nierung.

(Otto Fricke [FDP]: Ja, sehr zügig!)

– Im April 2004. Das verspreche ich Ihnen. – Diese mo-derne Gleichstellungspolitik wird durch die Einrichtungeines Gender-Kompetenzzentrums unterstützt.

Ich komme nun zu den Senioren. Die gestiegene Le-benserwartung bietet die Chance, die Potenziale der äl-teren Generation auch im Interesse der Gesellschaft zuerhalten und zu fördern. Trotzdem gibt es bekanntlich injedem zweiten Betrieb keine Beschäftigten über50 Jahre. Ich meine, dies stellt eine massive Diskrimi-nierung älterer Beschäftigter dar.

Denjenigen, die auf Hilfe und Pflege angewiesen sind,müssen wir ein selbstbestimmtes und würdiges Leben imAlter garantieren. Wir werden – dazu gibt es bereits Vor-arbeiten – die Altenhilfestrukturen besser vernetzen undden Bedürfnissen der Menschen anpassen. Eine Enquete-Kommission „Menschen in Heimen“ wäre meiner Mei-nung nach ein entscheidender Beitrag dazu. Die Grünenpräferieren dieses Vorhaben und wir werden sehen, wiewir es gemeinsam mit Ihnen umsetzen können.

Meine Damen und Herren, auch wenn beim Zivil-dienst die Ansätze reduziert sind, gibt es keine substan-ziellen Kürzungen. Der Kollege Schaaf hat eben daraufhingewiesen. Weil weniger Wehrpflichtige benötigt wer-den, reduziert sich auch die Zahl der Zivildienstleistenden.

(Ina Lenke [FDP]: Wieso das denn? – MariaEichhorn [CDU/CSU]: Das ist eine Milchmäd-chenrechnung, die Sie aufmachen!)

Sie haben bereits darauf hingewiesen. Die alte Finanzie-rungsregelung 70 : 30 wurde, wie von der Ministerinversprochen, wiederhergestellt, sodass – das halte ich fürwichtig – die Träger jetzt Planungssicherheit haben.

(Otto Fricke [FDP]: Die haben sie! Bei weniger Plätzen!)

Die Verbände haben sich dafür bedankt, dass Wort ge-halten wurde.

Lassen Sie mich noch einen Satz zu den jungen Men-schen sagen, die jetzt die Schulen verlassen. Ich halte esfür einen Skandal, dass immer noch mehr als 100 000Ausbildungsplätze fehlen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD – Otto Fricke [FDP]: Alsomachen die besser Zivildienst, oder was?)

Wenn die Wirtschaft ihrer Verantwortung nicht nach-kommt, sollten wir konsequent sein und eine Ausbil-dungsplatzumlage beschließen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ich komme zum Schluss. Reformen sind notwendig.Wir stellen die Weichen und übernehmen die Verantwor-tung für das Leben mit Kindern, für bessere Chancenvon Jugendlichen, für eine gerechte Teilhabe von Frauenund für ein Alter in Würde.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4945

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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Ina Lenke, FDP-

Fraktion.

Ina Lenke (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Schaaf, Sie haben keine Zwischenfragen zum Zivildienstzugelassen und Sie wissen auch, warum.

(Anton Schaaf [SPD]: Das habe ich doch alles erklärt!)

Denn obwohl nur noch jeder zweite junge Mann zumZwangsdienst – zum Zivildienst oder zur Wehrpflicht –einberufen wird, sprechen Sie immer noch von Einberu-fungsgerechtigkeit. Sie ist aber extrem ungerecht unddas dürfen wir nicht zulassen. An dieser Stelle muss dieOpposition immer wieder den Finger auf die Wunde le-gen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wie Sie wissen, will die FDP die Wehrpflicht und so-mit auch den Zivildienst abschaffen. Wir haben in dervergangenen Legislaturperiode auch schon eine Konzep-tion erstellt, Herr Schaaf.

(Anton Schaaf [SPD]: Dafür bekommen Sie im Hause keine Mehrheit, Frau Lenke!)

Wenn das auch Ihre Fraktion und die Fraktion der Grü-nen getan hätten, dann wären wir schon weiter undbräuchten keine Unterausschüsse und Ähnliches.

Der Ministerin will ich zum Thema Zivildienst einessagen: Frau Ministerin, Sie sollten ehrlich sein. WennSie die Anzahl der Zivildienstleistenden in den Einrich-tungen kürzen, dann fehlen sie dort. Wenn Sie ihnendann statt 50 Prozent bis zu 70 Prozent der Kosten fürdie Zivildienstleistenden in Aussicht stellen, dann kön-nen sie sich sozusagen ein Ei darauf pellen.

(Anton Schaaf [SPD]: Die sehen das anders, Frau Lenke!)

– Nein, die sehen das nicht anders. Wenn Sie mit ihnenreden, dann merken Sie, dass sie das genauso sehen wieich.

(Otto Fricke [FDP]: Was sollen die denn sagen?)

– Sie haben völlig Recht, Herr Fricke. Die hängen docham Tropf; was sollen sie denn sagen?

Ich komme jetzt zum Haushalt. Der Gesamthaushaltvon Rot-Grün ist von der schlechten Wirtschaftslage undder hohen Arbeitslosigkeit gekennzeichnet.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Dümpe-Krüger zu?

Ina Lenke (FDP): Nein, die lasse ich jetzt nicht zu.

Meine Damen und Herren, zu Beginn der rot-grünenBelagerung des Volkes durch die Bundesregierung

(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?)

verkündeten Sie sehr selbstbewusst: Wir fangen mit derFrauen- und Familienpolitik jetzt erst richtig an. 1998begann also der Aufbruch in die neue Zeit. Was ist imHaushalt 2004 davon zu spüren? – Die ziel- und orientie-rungslose Familienpolitik der Bundesregierung wird andrei Beispielen deutlich. Beim Bundeserziehungsgeld-gesetz haben Sie 2001 großmäulig die Einkommens-grenzen für das Erziehungsgeld erhöht. Jetzt sollen dieEinkommensgrenzen mit Ihrem Haushaltsbegleitgesetzdrastisch abgesenkt werden. Für die ersten sechs Monatenach Geburt des Kindes wollen Sie die Einkom-mensgrenzen der Eltern von bisher 51 000 Euro auf30 000 Euro senken. Die monatlichen Zahlungen an dieEltern – das hat auch eine andere Kollegin gesagt – wer-den bei Ihnen von 460 auf 450 Euro geglättet. Das istkein Glätten. Seien Sie bitte ehrlich und sagen Sie „kür-zen“.

Zweitens: der Haushaltsfreibetrag für Alleinerzie-hende. Bei der Unterstützung der Alleinerziehenden istder Bundesregierung wirklich peu à peu die Puste ausge-gangen.

(Kerstin Griese [SPD]: Wir haben das docherst erkämpft! Bundesverfassungsgerichtsur-teil!)

– Natürlich! Sie haben das in den letzten Jahren, FrauGriese, auch begründen müssen, damit Sie noch hinterIhrer Regierung stehen.

Wir suchen jetzt die echten Alleinerziehenden. Wirwerden im Ausschuss einmal schauen: Was sind echteAlleinerziehende, was sind unechte Alleinerziehende?Sie werden dann die Prüfungen bestätigen. Ich sage Ih-nen: Schlüssellochprüfungen, wo eine echte Alleinerzie-hende und wo eine unechte Alleinerziehende ist, lassenwir als Liberale nicht zu.

(Beifall bei der FDP – Zuruf von der SPD:Aber dem Lauschangriff haben Sie zuge-stimmt! – Weiterer Zuruf der Abg. KerstinGriese [SPD])

– Frau Griese, die Erklärung Ihres Finanzstaatssekretärs,Herrn Halsch, dass es verfassungsrechtliche Problemegeben könnte, teile ich.

Sie sind augenscheinlich bisher nicht in der Lage, ein-fache und für die Bürger und Bürgerinnen verständlicheRegelungen einzuführen.

Drittens. Jetzt komme ich zur steuerlichen Absetz-barkeit von Haushaltshilfen. Neid und Missgunst ha-ben Sie mit dem fiesen Ausdruck „Dienstmädchenprivi-leg“ geschürt. Die FDP will aber, dass Frauen, die Berufund Familie miteinander vereinbaren wollen, personelleHilfe im Haushalt haben. Wir, Frau Böhmer, wollendoch keine Schwarzarbeit.

(Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Mitnichten!)

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Ina Lenke

Von daher wollen wir da etwas ändern. Sie haben 2002die steuerliche Absetzbarkeit von sozialversicherungs-pflichtigen Arbeitsplätzen in Privathaushalten gestri-chen. Die Verwirrung ist groß.

(Nicolette Kressl [SPD]: Haben Sie vielleicht mitgekriegt, was neu dazugekommen ist?)

Sie schenken doch der Bevölkerung keinen reinen Weinein, wo Sie sparen müssen. Ermöglichen Sie den Men-schen, ihre familiäre Zukunft auf langfristig verlässli-chen politischen Rahmenbedingungen zu planen!

Zur versprochenen Kinderbetreuung, Frau Ministe-rin, hätte ich gerne noch ein Wort von Ihnen gehört. Siehaben gesagt: 1,5 Milliarden Euro ab 2004. Jetzt lese ichin Ihrer Pressemitteilung vom 19. August: Aus dem Jahr2004 wird das Jahr 2005. In den sechs Jahren, die Sie inder Regierung sind, haben Sie also nur Luftschlösser pro-duziert. Wenn Sie erst im Jahre 2005 anfangen, dann frageich mich, was aus Ihren Versprechungen geworden ist.

Ich will zum Schluss sagen: Wir von der FDP habengute, wir haben bessere Konzepte: gleiche Freibeträgefür Kinder, volle steuerliche Absetzbarkeit der Kinder-betreuungskosten, Abschaffung der Steuerklasse V,

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ab-schaffung der FDP!)

Vielfalt der Kinderbetreuung durch bessere ganzheitli-che Konzepte mit Tagesmüttern und gleiche Chancen fürFrauen auf dem Arbeitsmarkt.

(Anton Schaaf [SPD]: Und einen guten Finan-zierungsvorschlag!)

Dazu haben wir detaillierte Konzepte in den Bundestageingebracht, mit frauenpolitischen Schwerpunkten.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Ina Lenke (FDP): Danke, Frau Präsidentin. Ich komme jetzt zum

Schlusssatz.

Meine Damen und Herren, solange eine verfehlteWirtschafts- und Steuerpolitik unser Land lähmt und dasJobwunder ausfällt, wird es auch für Frauen schwierigsein, sich auf dem Arbeitsmarkt durchzusetzen. DenkenSie daran: In der Wirtschafts- und in der Steuerpolitikhaben Sie bisher noch nichts erreicht. Da sehen Sie ganzalt aus.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Christel Humme,

SPD-Fraktion.

Christel Humme (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kollegin-

nen! Was haben wir uns alles in dieser Debatte anhören

müssen! Frau Eichhorn, vor allen Dingen mussten wiruns heute einen Verweis auf die Familienpolitik aus IhrerZeit anhören, die vom Bundesverfassungsgericht dieNote „ungenügend“ bekommen hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe die Debatte mit Spannung verfolgt und ei-gentlich erwartet, dass ich heute auch von Ihnen einmalKonzepte bekomme und nicht immer ein großes, fett ge-schriebenes Nein.

(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Frau Schmidthat damit angefangen, nicht wir! Frau Schmidtwollte ablenken von ihren Versäumnissen!)

Nein zum Erziehungsgeld, Nein zur Eigenheimzulage,Nein zur Kilometerpauschale – Nein war das bestim-mende Element Ihrer Reden.

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Quatsch!)

Ich glaube, das ist nicht das, was wir brauchen. Was wirbrauchen, sind schlüssige familienpolitische Konzepte.

Frau Eichhorn, ich habe wirklich nicht erwartet, dassSie heute das Familiengeld noch einmal ins Spiel brin-gen. Deshalb bin ich darauf gar nicht vorbereitet. Aberauch das wird wahrscheinlich dem Wahlkampf inBayern geschuldet sein; denn wenn man sich das Wahl-programm der CSU in Bayern anschaut, dann stellt manfest, dass es im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Fami-lie und Beruf überhaupt kein familienpolitisches Kon-zept enthält. Dort ist nur von einem Familiengeld dieRede. Aber wie Sie das finanzieren wollen, steht nir-gendwo. 31 Milliarden Euro würde es kosten, wenn dasFamiliengeld, wie Sie es fordern, umgesetzt würde. Daswäre unseriös, aber auch ungerecht; denn Sie würdendas Geld nach dem Gießkannenprinzip an alle Familienverteilen, egal wie viel Einkommen sie haben. Das wärein höchstem Maße ungerecht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Last, but not least: Ein Familiengeld ist unmodern. Dassagt Ihnen sogar der sozialpolitische Berater von RolandKoch, Herr Professor Jürgen Borchert. Er hat eindeutigklar gemacht, dass das Familiengeld ein Irrweg ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Fragen Sie einmal Professor Kirchhof!Der wird Ihnen etwas anderes sagen!)

Ich gebe Ihnen Recht, wenn Sie darauf hinweisen,dass die Rahmenbedingungen schwierig sind. Das istkeine Frage. Wir können das nicht leugnen. Aber des-halb dürfen wir nicht wie Sie, liebe Kolleginnen undKollegen von der CDU/CSU, die Augen vor der Realitätverschließen. Wir sind diejenigen, die handeln müssen,um den Tanker Deutschland wieder flott zu machen.

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das sollten Sie! Schließlich sind Sie an der Regierung!)

Das tun wir in der Tat – hören Sie genau zu – mit unsererAgenda 2010. Mit ihr reformieren wir heute unsere So-

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Christel Humme

zialsysteme, damit der Sozialstaat morgen weiter rei-bungslos funktionieren kann. Wir machen heute eineHaushaltskonsolidierung und sparen Mittel ein, damitwir auch in Zukunft über den notwendigen Handlungs-spielraum verfügen. Wir machen heute eine Steuerreformund verzichten auf Steuereinnahmen, damit die Konjunk-tur wieder anspringt und gleichzeitig neue Arbeitsplätzegeschaffen werden. Das alles tun wir im Interesse der Fa-milien. Wir stellen die Familien nicht ins Abseits, wieSie, Frau Eichhorn, behaupten. Im Gegenteil: Die Fami-lien stehen nach wie vor im Mittelpunkt unserer Politik.

(Beifall bei der SPD)

Die Erneuerungskur, die ich gerade beschrieben habe,ist aber nicht – das ist klar – zum Nulltarif zu haben.Manche Einsparungen und Entscheidungen – daraufwurde schon hingewiesen – sind sicherlich auch für unsschmerzhaft. Ich möchte aber in Erinnerung rufen, dasswir bisher eine Familienpolitik gemacht haben, die dieFamilien in höchstem Maße unterstützt hat.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Schauen Sie sich einmal an, was wir bisher geleistet ha-ben! Keine andere Bundesregierung hat das bisher ge-schafft: mehr Kindergeld, mehr Freibeträge und mehrBAföG auch für Alleinerziehende. Daher ist der Haus-haltsfreibetrag – das wurde vorhin schon deutlich ge-macht – nicht vollkommen weggefallen. Wir haben dieFamilien finanziell in höchstem Maße unterstützt, wie esvorher keine andere Regierung getan hat.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir setzen unsere Politik fort. Die Bundesregierung– auch das ist neu – stellt Geld zur Verfügung bzw. ver-zichtet auf Geld für den Ausbau der Betreuung von unterDreijährigen und der Ganztagsschulen.

Frau Lenke, Sie behaupten, dass Kinder nicht geför-dert würden. Schauen Sie sich doch einmal genau an, wasdas Vorziehen der letzten Stufe unserer Steuerreformbringt. Wenn man als Beispiel eine Familie nimmt, dieüber ein jährliches Einkommen von rund 40 000 Eurobrutto verfügt – das ist die Grenze, ab der es künftig viel-leicht kein Erziehungsgeld mehr geben wird; davon wer-den 5 Prozent der Familien betroffen sein –, dann stelltman fest, dass diese Familie ab 2004 ganze 3 000 Euromehr im Portemonnaie haben wird als noch zu Zeiten Ih-rer CDU/CSU-FDP-Regierung. Ich denke, das ist einganz wichtiger Erfolg für alle Familien mit Kindern undfür Alleinerziehende. Man darf nicht vergessen, dass dasnicht nur für 2004, sondern auch für alle Folgejahre gilt.

(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Das ist dasMärchen, das man den Kindern vor dem Ein-schlafen erzählt!)

Richtig ist, dass wir zum ersten Mal viel für die Familienausgeben. Richtig ist aber auch, dass die knappen Fi-nanzmittel uns jetzt zwingen, unsere Maßnahmen mehrdenn je auf Zielgenauigkeit und Effizienz zu überprüfen.Diese Hausaufgabe haben wir gemacht.

Wir wollen – das ist das Ziel des Haushalts 2004 – un-sere Familienpolitik noch wirksamer machen. Unsere

Familienpolitik wird wirksamer durch die Konzentrationder Förderung auf diejenigen Familien, die auf unsereHilfe dringend angewiesen sind.

Frau Eichhorn, es ist eine Lüge, dass wir, was den Be-zug von Erziehungsgeld angeht, drastische Einkom-mensgrenzen setzen.

(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Ja, schauen Siedoch rein, was Sie vorhaben! Kennen Sie IhreVorhaben nicht?)

Ich habe es gerade gesagt: Ganze 5 Prozent werden da-von betroffen sein. Wir werden aber gleichzeitig – auchdas wurde schon gesagt – die Familien im unteren Ein-kommensbereich fördern. Wir werden damit – das istsehr wichtig – ihre Selbsthilfekräfte stärken, wir werdenArbeitsanreize schaffen und wir helfen den Alleinerzie-henden mit einem Steuerfreibetrag.

(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Den haben Sie vorher abgeschafft! Das ist ja lächerlich!)

Ich denke, das ist gerechte Familienpolitik.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich danke der Ministerin, dass es ihr gelungen ist, genauin diesem Bereich zusätzliche Mittel in den Haushalteinzustellen.

Wir machen die Familienpolitik auch durch Investi-tionen in die Zukunft wirksamer. Deshalb bauen wir dasBetreuungsangebot für Kinder unter drei Jahren ausund schaffen mehr Ganztagsschulen.

(Ina Lenke [FDP]: Wann?)

– Wann schaffen wir die Rahmenbedingungen? LassenSie mich an dieser Stelle einmal feststellen: Ich freuemich darüber, dass der Ausbau der Ganztagsschulen invollem Gange ist. Ich nenne als Beispiel das Land Nord-rhein-Westfalen, aus dem ich komme: Ute Schäfer, diezuständige Ministerin, hat unser mit 4 Milliarden Euroausgestattetes Programm als Initialzündung genutzt.Nordrhein-Westfalen hat eigenes Geld in die Hand ge-nommen, den Bundeszuschuss obendrauf gepackt undschafft jetzt Hunderte neuer Ganztagsschulen.

(Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das ist dieschlechteste Meldung, die es gibt! 100 Euromüssen die Eltern da bezahlen! – Otto Fricke[FDP]: Das sind die mit dem verfassungswid-rigen Haushalt!)

Ich muss natürlich auch noch ein paar Wermutstrop-fen verteilen: Meine sehr verehrten Damen und Herrenvon der Union

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

– ich würde jetzt nicht so lachen –, acht von den neununionsgeführten Ländern beteiligen sich bisher leidernicht an diesem Programm und haben noch kein Geldabgerufen.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hört!Hört! – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Diehaben vielleicht schon Ganztagsschulen!)

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4948 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Christel Humme

Diejenigen Länder, die Geld abgerufen haben, stehenunter sozialdemokratischer Verantwortung. Ich denke,das verdeutlicht, dass Sozialdemokraten und Sozialde-mokratinnen eine Familienpolitik machen, die gewähr-leistet, dass Eltern diejenigen Rahmenbedingungen vor-finden, die sie brauchen, um so leben zu können, wie siees wünschen, und nicht so, Frau Eichhorn, wie andere esihnen vorschreiben wollen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Folgende kann man nicht oft genug sagen, damites endlich einmal in alle Köpfe geht: Es geht tatsächlichum die Entscheidungsfreiheit; denn 80 Prozent der jun-gen Menschen – Frauen und Männer – wollen beides,Erwerbsarbeit und Familie. Ich empfehle Ihnen: LesenSie die jüngste Studie des Instituts für Wirtschaftsfor-schung von Ende August! Dort steht, dass teilzeitbe-schäftigte Mütter mit ihrem Leben sehr zufrieden sind,viel zufriedener als Mütter, die wegen der Kinder auf Er-werbsarbeit verzichten. Das bestätigt die Richtigkeit un-seres Weges in der Familienpolitik.

(Otto Fricke [FDP]: Viel zu pauschal!)

– Das ist nicht pauschal.

Sind Familie und Beruf vereinbar, stimmt nicht nurdie Lebenszufriedenheit der Mütter, sondern stimmenauch die Bildungschancen der Kinder. Das lehrt unsPISA; denn in allen europäischen Ländern, wo in Ganz-tagsschulen und in die elementare Bildung von Kindernschon von klein an investiert wird, überzeugt der Bil-dungserfolg.

Die Herkunft darf auch bei uns nicht länger über dieBildungschancen von Kindern entscheiden. Ich fügehinzu: Über die Bildungschancen darf auch nicht ent-scheiden, in welchem Bundesland ein Kind geborenwird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Warum sind die Kosten in Nordrhein-Westfalen so hoch?!)

Unsere Politik schafft Chancengleichheit. Die früheFörderung der Kinder und Ganztagsschulen schaffen denRahmen dafür, jedes Kind entsprechend seinen Fähig-keiten zu fördern. Für die Kinder bedeutet das bessereLebenschancen, für die Frauen bedeutet das bessere Er-werbschancen und für die deutsche Wirtschaft bedeutetdas besser ausgebildete Fachkräfte.

Die ökonomischen Vorteile liegen auf der Hand:Stimmt die Kinderbetreuung, werden mehr Frauen er-werbstätig. Frau Lenke, eine höhere Frauenerwerbsquoteführt zu einem stärkeren Ausbau des Dienstleistungssek-tors und damit zu mehr Arbeitsplätzen. Neue Arbeits-plätze bedeuten Abbau der Arbeitslosigkeit und einebessere Bewältigung des demographischen Wandels.Auch hier zeigt sich: Unser Ansatz ist der richtige!

Ein Drittel der 1965 geborenen Frauen wird kinderlosbleiben. Die meisten davon verzichten freiwillig aufKinder, weil sie ihrem Beruf Priorität einräumen. Aber:

Kinder und Karriere, beides lässt sich für Frauen inDeutschland nur schwer realisieren. Das ist die traurigeBilanz einer rückwärts gewandten Politik der Vergan-genheit. Das muss nicht so sein. Andere Länder wieGroßbritannien oder Schweden machen uns das erfolg-reich vor. Überall dort, wo die Vereinbarkeit von Familieund Beruf möglich ist, sind mehr Frauen erwerbstätigund kriegen zudem mehr Kinder.

Der Haushalt 2004 legt den Grundstein für Zukunfts-investitionen. Mit dem Ausbau von Kinderbetreuungund Ganztagsschulen beseitigen wir den wesentlichenHemmschuh für die Gleichstellung von Männern undFrauen. Wir sorgen für bessere Bildung und mehrBildungsgerechtigkeit für Kinder. Wir sorgen für mehrqualifiziertes Personal für die Unternehmen. Unsere Fa-milienpolitik ist ein Mittel, den Tanker Deutschland wie-der in Schwung zu bringen.

Meine Damen und Herren von der Opposition, unter-stützen Sie uns dabei! Legen Sie uns keine unnötigenHemmnisse in den Weg, sondern ziehen Sie mit uns aneinem Strang! Die Bürgerinnen und Bürger dieses Lan-des erwarten Lösungen: von uns – wir haben sie –,

(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Zulasten der Familie!)

aber auch von Ihnen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Thomas Dörflinger, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Thomas Dörflinger (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministe-rin, über weite Strecken Ihrer Rede zur Einbringung Ih-res Einzelplans war ich etwas erstaunt, weil die Worte,die Sie gefunden haben, dem geähnelt haben, in weitenTeilen zumindest, was Ihr Kabinettskollege Hans Eichelheute Morgen geboten hat. Wie der Kollege Kampetervorhin zutreffend bemerkte, sind Sie zwar präsidial ein-gestiegen, was auch an die Worte erinnerte, die Sie kurznach der Bundestagswahl im Ausschuss gefunden ha-ben, aber Sie haben dann große Teile Ihrer Redezeitdarauf verwandt, den Versuch zu unternehmen, es sodarzustellen, als habe die Familienpolitik 1998 erst be-gonnen.

(Anton Schaaf [SPD]: Eine gute Familien-politik!)

Nun gehöre ich nicht zu denjenigen, die sagen, dieRegierung aus Union und FDP hätte 1998 paradiesischeZustände hinterlassen. Wir haben vieles geschafft, man-ches aber auch nicht. Diesen Schuh – ich bin da selbst-kritisch – ziehe ich mir durchaus an. Aber komplett aus-

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4949

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Thomas Dörflinger

zublenden, dass beim Regierungsantritt von HelmutKohl im Herbst 1982 das Kindergeld bei 50 DM

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

und beim Amtsabtritt der Regierung von Helmut Kohl1998 bei 220 DM lag,

(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: So ist es!)

dass in dieser Zeit Kinderfreibeträge im Steuerrecht erstwieder eingeführt werden mussten,

(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: So ist es! Das ist die Wahrheit!)

dass Kindererziehungszeiten in der Rente zunächst ein-mal ins Recht Eingang finden mussten, dass auch derRechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz erst veran-kert werden musste – ich könnte noch vieles andere nen-nen –,

(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: So ist es!)

finde ich nicht in Ordnung und das lasse ich Ihnen soauch nicht durchgehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Nun ist es ja nicht so, Frau Humme, dass 1998 die Fa-milienpolitik begonnen hätte. Wenn es so wäre, wie Siees dargestellt haben,

(Christel Humme [SPD]: So war es in der Tat!)

dann müsste die Fanpost zur Familienpolitik dieser Bun-desregierung täglich waschkörbeweise entweder imMinisterium oder aber im Kanzleramt eingehen

(Christel Humme [SPD]: Kommen Sie doch mal in mein Büro!)

und hätten Sie kein Problem damit, im Unterschied zuanderen in diesem Haus, Ihr Projekt 18 in wenigen Ta-gen zumindest in einem Bundesland erfolgreich umzu-setzen.

(Otto Fricke [FDP]: Na, na, na!)

Ich will ein paar Beispiele dafür nennen, was mir andiesem Haushalt aufgefallen ist. Zunächst einmal fälltauf, dass das einzige Kapitel, das einen deutlichen Auf-wuchs erfährt, das Bundesministerium selbst ist. Daswird begründet mit Fehlplanungen zum Personalhaus-halt, die offensichtlich im Jahr 2002 passiert sind. Ichstelle zunächst einmal fest, dass dies der buchhalterischeund haushälterische Beleg des eigenen Versagens undder schlampigen Arbeit im Bundeshaushalt 2003 ist. Dasist nun einmal Fakt. Ich bin gespannt, ob ich in den Aus-schussberatungen erfahre, ob denn beispielsweise diePersonalkosten, die 2002 zu wenig etatisiert wordensind, zumindest für 2004 fortfolgende ausreichend ein-geplant werden; sonst haben wir in den Beratungen zumEtat 2005 – für den Fall, dass Sie die noch erleben –

(Anton Schaaf [SPD]: Keine Sorge! –Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Bei bester Gesundheit!)

das gleiche Problem wie heute.

In diesem Zusammenhang werden wir – das kündigeich jetzt schon an, damit Sie Zeit haben, sich darauf vor-zubereiten – die eine oder andere Frage zum Personal-haushalt, die wir schon bei den Etatberatungen des Jah-res 2002 gestellt haben, nochmals stellen. Es interessiertja nicht nur uns als Bundestagsfraktion von CDU/CSU,sondern vielleicht auch den einen oder anderen in derÖffentlichkeit, wieso Beamte, die auf einer B-2-Plan-stelle sitzen, aufgrund einer besonderen Vereinbarungnach B 5 bezahlt werden. Eine Erklärung dafür hätte ichgerne. Ich bin gespannt, was Sie im Ausschuss dazusagen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich will ein zweites Thema ansprechen, das auch Ge-genstand der heutigen Debatte war, nämlich die Sprach-förderung von jugendlichen Migranten, soweit das inden Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend fällt. Ich erinneremich noch sehr genau an wiederholte Erklärungen IhrerVorgängerin im Amte, Christine Bergmann, die auf dieVorhaltungen seitens der Unionsfraktion, wo denn einGesamtsprachkonzept für diesen Bereich, abgestimmtzwischen den verschiedenen Ressorts, bleibe, sagte, daswerde in Bälde vorgelegt. Nun wissen wir alle, dass dasZuwanderungsgesetz aus den bekannten Gründen nichtin Kraft getreten ist.

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: An wem liegt das wohl?)

Ich frage mich, warum Sie eigentlich nicht die Zeit nut-zen, in der das Zuwanderungsgesetz noch beraten wird,um das von uns und von vielen Betroffenen eingefor-derte Gesamtkonzept für eine Sprachförderung von Mig-rantinnen und Migranten vorzulegen. Wo bleibt dasKonzept?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Stattdessen schreiben Sie die Kürzungen der Jahre 2001und 2002 fort. Auch das ist eine Form von Kontinuität inder Politik.

Der dritte Punkt ist haushälterisch bestimmt nicht be-deutend; denn es geht um 260 000 Euro. In der13. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages hateine Enquete-Kommission getagt, die den Namen „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ trug, geleitetvon meiner früheren Fraktionskollegin Ortrun Schätzle.Einer der Aufträge, den die Kommission seinerzeit inihrem Abschlussbericht formulierte, bestand darin, dassman auf diesem Gebiet forschen und sich das in dieserFrage federführende Bundesministerium engagierensollte. Beim Blick in den Haushalt stellte ich fest, dassdie 260 000 Euro, die 2003 noch im Haushalt enthaltenwaren, im Etatentwurf für 2004 gestrichen wurden.Eine Enquete-Kommission ist nicht irgendein Debattier-klub, der irgendetwas auf einem Blatt aufschreibt, son-dern ein Organ des Deutschen Bundestages, dessen Be-schlüsse nicht so einfach beiseite gewischt werdenkönnen. Ich wünschte mir, Sie würden dem Auftrag,den die Kommission seinerzeit in der 13. Legislatur-

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4950 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Thomas Dörflinger

periode formuliert hat, auch im Etatentwurf für 2004Rechnung tragen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Vierter Punkt. Ich war heute Nachmittag mit einerGruppe von Kommunalpolitikern aus meinem Wahlkreiszusammen und habe an die Adresse der Damen und Her-ren des Gemeinderates die Frage gerichtet: Was würdenSie sagen, wenn Ihr Bürgermeister Ihnen einen Haushaltvorlegt, in dem bei der Gewerbesteuer sowie der Grund-steuer A und B Beträge stehen, die wesentlich höher lie-gen als die im Haushalt des Vorjahres und für die dierechtliche Grundlage aber eigentlich erst noch geschaffenwerden muss? Die Kommunalpolitikerinnen und Kom-munalpolitiker sagten: Dann würden wir ihm helfen – derBürgermeister war dabei. Im Einzelplan 17 sind eineFülle von Haushaltsansätzen enthalten, die ausgehendvon Gesetzesvorhaben ermittelt wurden, die dem Deut-schen Bundestag entweder erst seit gestern vorliegenoder erst in den kommenden Wochen vorgelegt werden.Das ist alles andere als eine seriöse Haushaltspolitik,meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Anton Schaaf [SPD]: Genau an der Stelle sindSie gefragt, Herr Dörflinger! Da können Siemithelfen!)

Ich nenne beispielsweise die, wenn ich mich richtigerinnere, von Ihnen auch angesprochene Neuerung beimUnterhaltsvorschussgesetz. 250 Millionen Euro sind2003 etatisiert worden, 200 Millionen Euro sind für2004 vorgesehen. Das ist nicht Gegenstand des Haus-haltsbegleitgesetzes. Deshalb frage ich: Wann kommtdie gesetzgeberische Vorlage, die Sie ermächtigt, diesenBetrag hier im Haushalt zu veranschlagen? Ein zweitesBeispiel: Die Neuerungen im Zusammenhang mit demBundeserziehungsgeld, die im Haushaltsbegleitgesetzstehen, hängen bekanntermaßen von der Zustimmungdes Bundesrates ab. Nach den Erfahrungen, die Sie mitdem so genannten Steuervergünstigungsabbaugesetz ge-macht haben, ist es alles andere als seriös, vielmehr grobfahrlässig, einen Betrag, der sich erst aus einem Geset-zesvorhaben ergibt, eins zu eins in den Bundeshaushaltzu übertragen. Im Zusammenhang mit dem so genanntenSteuervergünstigungsabbaugesetz mussten wir ja erfah-ren, dass von dem, was das BMF wollte, nach den Bera-tungen im Bundestag und im Bundesrat so gut wie nichtsübrig geblieben ist.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Durch Ihre Blockade!)

Sich auf eine konkrete Buchung in dieser Hinsicht einzu-stellen ist bestenfalls abenteuerlich.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich will ein Wort zum Zivildienst sagen, weil diesesThema auch Gegenstand einer Korrespondenz zwischenIhrem Hause, Ihnen persönlich und mir war. Ich fand esschon sehr erstaunlich – um das einmal ganz vorsichtigzu formulieren –, dass bei der konstituierenden Sitzungder parlamentarischen Begleitkommission zu der von

Ihnen eingesetzten Kommission zur Zukunft des Zivil-dienstes – ich habe die Einrichtung dieser Kommissionseinerzeit begrüßt –

(Anton Schaaf [SPD]: Zu Recht!)

– zu Recht, zugestanden, Herr Kollege Schaaf – auf dieFrage der Kollegin Tillmann und meine Frage, was dennmit Blick auf 2004 an Haushaltsauswirkungen in diesemBereich zu erwarten sei, keine Antwort kam, wir dannaber zwei Tage später, als wir den Haushaltsentwurf mitder Post bekamen, klüger waren bezüglich dessen, wasuns Staatssekretär Ruhenstroth-Bauer zwei Tage zuvornicht sagen konnte oder wollte.

Es war dann mehr als interessant, wenige Tage später,am 16. Juli dieses Jahres, in einer Berichterstattung in derTageszeitung „Die Welt“ zu lesen, dass Sie, Frau Minis-terin, planten, den Zivildienst im Jahre 2004 zu verkür-zen. Nun war von diesen Plänen – bislang jedenfalls –nicht mehr die Rede. Ich stelle die Frage, ob das Themagegebenenfalls wieder in der Versenkung verschwundenist; das mag ja sein. Interessant wäre allerdings für dieMitglieder dieser Kommission, auch wenn sie sich nurals eine parlamentarische Begleitkommission der eigent-lichen Kommission versteht, wenigstens über die Rah-menbedingungen des Umstands, über den dort diskutiertwerden soll, informiert zu werden, und zwar nicht durchdie Tagespresse, sondern durch die Stelle, die diese Kom-mission erstens einberufen und zweitens eingeladen hat,nämlich das Bundesministerium für Familie, Senioren,Frauen und Jugend. Das sind Sie den Damen und Herren,die Mitglieder dieses Hohen Hauses sind, schuldig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Letzter Punkt, meine Damen und Herren. Ich möchtegerne wissen, ob dieser Etat im Einzelplan 17 tatsächlicheine ausreichende und verlässliche Grundlage für eineHaushaltsberatung des Deutschen Bundestages ist. Ichlasse die Frage ganz bewusst offen und stelle sie an unsalle.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Schönes Offenlassen!)

Es ist keine Arbeitsgrundlage für ein deutsches Parla-ment, wenn derart viele Luftbuchungen Gegenstand ei-nes Haushalts sind, dass man sich schier an den Kopfgreifen und sich fragen muss, wer da schlussendlich ge-rechnet hat. In den Ausschussberatungen haben Sie Ge-legenheit, aus dieser bisher sehr löchrigen Grundlageeine beratungsfähige Haushaltsvorlage zu machen. Ichwürde mich freuen, wenn Sie dies tun.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.

Wir kommen zu dem Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums des Innern. Das Wort hat BundesministerOtto Schily.

Page 109: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4951

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Otto Schily, Bundesminister des Innern: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle-

gen!

(Unruhe)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Minister, einen Augenblick bitte noch. Ich bitte

die Kolleginnen und Kollegen, die dieser Debatte nichtbeiwohnen wollen, den Saal zu verlassen.

(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Wir haben unsalle so lange nicht gesehen! – Gegenruf desAbg. Reinhard Grindel [CDU/CSU]: GeradeHerrn Wiefelspütz nicht! Nach dem hatte ichSehnsucht!)

Bitte schön, Herr Minister.

Otto Schily, Bundesminister des Innern: Die Zahlen des Einzelplanes 06 im Haushalt 2004,

den wir heute beraten, sind Ausweis einer soliden, ver-lässlichen und erfolgreichen Innenpolitik der Bundesre-gierung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie können insbesondere bei den Sicherheitsinstitutioneneine kontinuierlich gute finanzielle Ausstattung ver-zeichnen, zum Teil sogar mit einem deutlichen Zuwachs.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)

Das ist in Zeiten knapper Haushaltsmittel bekanntlichkeine Selbstverständlichkeit, sondern ein klarer Beweisfür das entschiedene Engagement der Bundesregierungfür die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger inDeutschland.

Selbstverständlich muss sich auch das Innenressortsolidarisch an der Konsolidierung der Staatsfinanzen be-teiligen. Daher haben wir in einigen Bereichen Ein-schränkungen vornehmen müssen. Wir haben uns aberauch dadurch finanzielle Spielräume verschafft, dass wirdie Verwaltungsstrukturen gestrafft und modernisiert ha-ben.

Wenn Sie sich die Haushaltspositionen im Einzelnenanschauen, dann stellen Sie fest, dass der Einzelplan 06insgesamt 4,093 Milliarden Euro umfasst. Das ist gegen-über dem Ansatz im Finanzplan 2004 eine Erhöhung um168 Millionen Euro oder rund 4,3 Prozent.

Unser besonderes Augenmerk galt selbstverständlichder Gewährleistung der inneren Sicherheit. Die Gewähr-leistung der inneren Sicherheit ist eine Schwerpunktauf-gabe meines Ressorts.

(Beifall bei der SPD)

Ich glaube, angesichts der Bedrohungslage ist dasauch eine pure Selbstverständlichkeit. Aber wir dürfenangesichts der Bedrohungslage durch den internationa-len Terrorismus nicht darüber hinweggehen, dass es denMenschen auch Sorgen bereitet, wenn ihnen im Alltag

Kriminalität begegnet. Deshalb müssen wir uns beson-ders auch der Alltagskriminalität zuwenden.

Wir haben für eine wichtige Institution des Bundes,den Bundesgrenzschutz, gegenüber dem bisherigen An-satz im Finanzplan 2004 eine Erhöhung um rund102 Millionen Euro erreicht. Der Gesamtansatz für 2004beträgt nunmehr rund 2 Milliarden Euro. Das entsprichteiner Steigerung von rund 5,4 Prozent. Darin enthaltensind die Ausgaben für die Erhöhung der Personalstärkevon rund 30 150 auf 31 600 Polizeivollzugsbeamte, ins-besondere für den wichtigen Bereich Sicherheit im Luft-verkehr.

Ich will in dem Zusammenhang auch darauf hinwei-sen, dass es uns gelungen ist, das Hebungsprogramm zurVerbesserung der Personal- und Planstellenstruktur imPolizeivollzugsdienst des Bundesgrenzschutzes fortzu-setzen. Ich will offen bekennen: Das war in den Chef-gesprächen mit dem Herrn Finanzminister nicht immereine einfache Übung. Umso froher bin ich darüber, dasses uns gelungen ist, dieses Hebungsprogramm fortzuset-zen. Das ist eine gute Nachricht für die Kolleginnen undKollegen beim Bundesgrenzschutz. Für 2004 bedeutetdies rund 2 860 zusätzliche Beförderungsmöglichkeitensowie rund 700 Beförderungsmöglichkeiten aus der re-gulären Personalfluktuation.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Aufgrund des guten finanziellen Rahmens haben wirauch die technische Ausstattung des Bundesgrenzschut-zes verbessern können, indem wir die Hubschrauber-flotte modernisiert und hochseetüchtige Patrouillenbootebeschafft haben.

Wir haben beim Bundeskriminalamt für eine sehrgute finanzielle Ausstattung sorgen können. Ich will da-rauf hinweisen: Im internationalen Vergleich ist die Ar-beit des Bundeskriminalamtes hoch anerkannt. Es gehörtzu den besten Einrichtungen der Polizei auf der ganzenWelt. Deshalb, glaube ich, bedarf es auch einer solidenfinanziellen Ausstattung.

Ich will das Bundeskriminalamt bei dieser Gelegen-heit dazu beglückwünschen, dass das neue Auskunfts-und Fahndungssystem, Inpol-neu, jetzt seinen Wirkbe-trieb aufnehmen konnte. Ich habe in der Presse vieles ge-lesen, was mit der Realität und den Qualitätsmerkmalendieses Systems nichts zu tun hat. Ich wiederhole: MeinGlückwunsch geht an das Bundeskriminalamt für diesehervorragende technische Einrichtung,

(Beifall bei der SPD)

die sich nicht zuletzt dadurch auszeichnet, dass sie aus-baufähig ist. Das ist kein abgeschlossenes, sondern einentwicklungsfähiges System, das auch weiterentwickeltwerden wird.

Lassen Sie mich von dieser Stelle aus allen Polizeibe-amtinnen und Polizeibeamten – das gilt selbstverständ-lich nicht nur für die Polizei des Bundes, sondern auchfür die Polizei der Länder – für die von ihnen geleisteteArbeit sehr herzlich danken.

(Beifall im ganzen Hause)

Page 110: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

4952 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Bundesminister Otto Schily

Wir können froh darüber sein, eine so zuverlässige undrechtsstaatlich denkende Polizei zu haben, die eine hochprofessionelle und engagierte Arbeit leistet. Sie gewähr-leistet nicht nur die Sicherheit der Bürgerinnen und Bür-ger in unserem Vaterland, sondern auch außerhalb unse-rer Landesgrenzen.

Es gibt eine große Zahl von Bundeskriminalbeamtenund Bundesgrenzschutzbeamten als Verbindungsbeamtein vielen Ländern. Es gibt in anderen Staaten Einsätzevon Polizeibeamten des Bundes und der Länder, die ichin mein Lob einbeziehe. Besonders hervorheben möchteich die hervorragende Arbeit der Polizeibeamtinnen und-beamten in Afghanistan, einem sehr gefährlichen Ge-biet.

(Beifall im ganzen Hause)

Ihre Arbeit findet international allerhöchste Anerken-nung. Sie dient zwar in erster Linie der Sicherheit Af-ghanistans, aber indirekt auch der Sicherheit unseresLandes.

Bei dem Entführungsfall in Algerien, der sich späternach Mali verlagert hat und der in den letzten Monatenviel Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit gefunden hat,ist ebenfalls die Arbeit vieler Sicherheitsbeamten zuwürdigen. Ich glaube, es ist nicht zuletzt – ich sage so-gar: zuallererst – diesen Beamtinnen und Beamten zuverdanken, dass dieses Entführungsdrama glücklich be-endet werden konnte. Deshalb schulden wir auch diesenBeamtinnen und Beamten großen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte an dieser Stelle eine Bemerkung machen.Wer sich mutwillig einer Gefahr aussetzt und dannglaubt, wir würden in jedem Fall das Leben unserer Poli-zeibeamtinnen und -beamten aufs Spiel setzen, der irrtsich gewaltig.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und derCDU/CSU) – Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Da haben Sie Recht! Die sollten auchzahlen!)

Ich kann einige sehr provokante Bemerkungen, die ichgelesen habe, nicht akzeptieren. Ich will in diesem Zu-sammenhang darauf hinweisen, dass niemandem einLeid geschehen oder ein Haar gekrümmt worden ist, derdie Leistungen von Touristikunternehmen, die in Alge-rien tätig sind, in Anspruch genommen hat. Nur die Per-sonen, die glaubten, sich auf eigene Faust in dieses Ge-biet begeben zu müssen, sind in Schwierigkeitengeraten.

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist wahr!)

Diese Bemerkung möchte ich als klaren Hinweis für dieZukunft verstanden wissen.

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sehr

richtig!)

Gegenüber vielen anderen Ländern in Europa und inder Welt haben wir den Vorzug, dass wir ein Bundesamtfür Sicherheit in der Informationstechnik eingerichtet

haben, das meine besondere Aufmerksamkeit findet. Wirhaben den Etat dieses Bundesamtes um rund52 Millionen Euro erhöhen können. Wir leben in einerZeit, in der die moderne Informations- und Kommunika-tionstechnik auch im Alltag für die Sicherheit unsererBürgerinnen und Bürger eine immer größere Rolle spieltund von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist. VieleLänder beneiden uns um diese Institution, die eine guteArbeit leistet, worüber ich sehr froh bin.

Zu dem großen Bereich der inneren Sicherheit gehörtder Katastrophenschutz – früher wurde er Zivilschutzgenannt –, den wir nicht vernachlässigen dürfen. Wiralle wissen, dass wir aufgrund der veränderten Situationzu einer anderen Zusammenarbeit zwischen Bund undLändern kommen müssen. Dankenswerterweise habenBund und Länder eine Rahmenkonzeption entwickelt,durch die die Institutionen neu organisiert werden unddurch die die Zusammenarbeit auf eine neue Basis ge-stellt wird. Auch in diesem Bereich müssen wir selbst-verständlich dafür sorgen, dass eine entsprechende Aus-stattung vorhanden ist.

Dazu gehört ein Thema, über das wir in diesem Ho-hen Hause des Öfteren diskutiert haben und wo ich er-freulicherweise von allen Seiten unterstützt wurde: Ichmeine den Aufbau eines modernen digitalen Sprech-und Datenfunknetzes. Ich bin froh darüber, dass sichder Bundeskanzler in meinem Beisein mit den Minister-präsidenten der Länder geeinigt hat. Diese Einigungwerden wir jetzt umsetzen. Das ist eine schwierige orga-nisatorische Aufgabe.

Ich sage an dieser Stelle: Wenn einer meint, er wollesich diesem Vorhaben noch nicht anschließen, dann wer-den wir mit denjenigen Ländern vorangehen, die dazubereit sind. Ich glaube, das ist die richtige Entscheidung.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –Clemens Binninger [CDU/CSU]: Mit 0 Euroim Haushalt! – Thomas Strobl (Heilbronn)[CDU/CSU]: Was haben Sie im Etat?)

– Wir haben eine entsprechende Arbeitsgruppe einge-setzt, die alle organisatorischen Vorbereitungen für dieAusschreibung trifft. Sie werden sehen, dass wir entge-gen einigen Unkenrufen – ich hoffe, Sie beteiligen sichnicht daran – zumindest in den Regionen, in denen 2006die Fußballweltmeisterschaft ausgetragen wird, über die-sen modernen Polizeifunk verfügen werden.

(Beifall bei der SPD – Clemens Binninger [CDU/CSU]: Das sagen Sie zu?)

– Ich bin ein Optimist und nicht ein Pessimist; das wis-sen Sie doch von mir.

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Dann sollten Sie Geld etatisieren!)

– Auch die haushaltsmäßige Absicherung wird stattfin-den, Herr Kollege.

Heute beschränken sich Innenpolitik und die Fragen,die uns dabei beschäftigen, wahrlich nicht auf unserenationalen Grenzen. Innenpolitik ist vielmehr im inter-

Page 111: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4953

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Bundesminister Otto Schily

nationalen Raum, insbesondere im europäischen Raum,angesiedelt. Auch dort sind wir gut aufgestellt. Wir sindder Motor der europäischen Innenpolitik; das können wirmit großem Selbstbewusstsein sagen. Das wird in deneuropäischen Mitgliedstaaten anerkannt. Wir haben ge-rade zur Verbesserung der inneren Sicherheit entspre-chende Vorschläge gemacht. Wir sind an vielen Initiati-ven nicht nur im Rahmen der Europäischen Union,sondern auch im Rahmen der Zusammenarbeit der G-8-Staaten beteiligt.

Meine Damen und Herren, mein Schicksal ist es, dassich in den 14 Minuten, die mir zur Verfügung stehen,alle Bereiche meines Ressorts abdecken soll. Das ist mirwie immer nicht möglich. Ich sehe auf die Uhr: Es blei-ben mir gerade noch 37 Sekunden, um meine Rede abzu-schließen.

Deshalb mache ich an dieser Stelle eine Schlussbe-merkung, die auf ein Datum zielt, das zwei Jahre zurück-liegt. Ich kann mich noch gut erinnern: Am11. September vor zwei Jahren war ich bei der Vorberei-tung meiner Haushaltsrede. Dann erreichte mich dieNachricht von dieser Katastrophe. Wenn wir an diesenTag zurückdenken, erschauern wir alle über dieseschrecklichen Verbrechen.

Wir müssen leider sagen, dass diese Bedrohung unge-achtet großer Erfolge, die wir im Kampf gegen den in-ternationalen Terrorismus erzielt haben, wahrlichnicht aus der Welt ist. Diese Bedrohung ist nach wie vorernst zu nehmen. Aber wir sollten darüber nicht verges-sen, dass wir in diesem Kampf auch Erfolge erzielt ha-ben. Dies ist nicht zuletzt auf die Entschlossenheit diesesHohen Hauses – dafür bedanke ich mich – zurückzufüh-ren, gesetzliche Grundlagen für unsere Sicherheitsinsti-tutionen im Kampf gegen diesen Terrorismus zu schaf-fen.

Dass das nicht umsonst war, entnehme ich einemSatz, den ich vor einigen Wochen in einer Agenturmel-dung gelesen habe:

Ich bin sicher, dass die Sicherheitsgesetze eins undzwei und die massive Alarmierung der Sicherheits-behörden nach dem 11. September uns bisher vorweiteren Anschlägen bewahrt haben.

Das ist ein Satz von Günther Beckstein, dem bayeri-schen Innenminister. Ich stimme ihm zu.

Das darf aber nicht heißen, dass wir nicht nach-schauen – darüber werden wir in den Ausschüssen undhier in diesem Hause zu reden haben –, ob an der einenoder anderen Stelle gesetzlicher Ergänzungsbedarf be-steht

(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

und ob es nicht an der einen oder anderen Stelle im ad-ministrativen Bereich Veränderungen bedarf. Wir habenzwar viel erreicht und haben die Zusammenarbeit der Si-cherheitsinstitutionen erheblich optimieren können.Aber sicherlich gibt es noch an der einen oder anderenStelle etwas zu tun. An Arbeit fehlt es nicht.

Vor allen Dingen darf es uns nicht an Wachsamkeitfehlen. Es darf uns auch an einer Erkenntnis nicht fehlen,nämlich dass der Kampf gegen den internationalen Ter-rorismus nicht allein durch die Polizei, die Staatsanwalt-schaften und die Gerichte zu gewinnen ist, sondern nichtzuletzt durch die geistig-politische Auseinandersetzung.

Deshalb lassen Sie mich mit dem Hinweis schließen,dass im Rahmen der italienischen Präsidentschaft meinKollege und Freund Giuseppe Pisanu dankenswerter-weise in diesem Jahr in Rom eine Konferenz der Innen-minister unter Beteiligung von Führern aus den großenabrahamitischen Weltreligionen veranstalten wird. Dashalte ich für ein hervorragendes Vorhaben. Er wird einenRabbi aus Deutschland – auch das ist eine gute Idee –,einen Imam aus Frankreich und einen kirchlichen Wür-denträger des Christentums aus Italien einladen. Auchder Papst wird vermutlich an dieser Konferenz teilneh-men. Das ist eine Gelegenheit, dieser geistig-politischenAuseinandersetzung eine neue Tiefe zu verleihen. Ichhoffe, Sie beteiligen sich daran an der Stelle, an der esIhnen möglich ist.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Thomas Strobl von der

CDU/CSU-Fraktion.

Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wir führen diese Debatte heute, am9. September 2003, zwei Jahre nach den schrecklichenAnschlägen von New York und Washington. Übermor-gen ist der zweite Jahrestag des 11. September 2001. Wirmüssen feststellen, dass unser Land und wir als Deut-sche keinesfalls außer Gefahr sind. Wir dürfen in unsererWachsamkeit nicht nachlassen. Wir stimmen mit Ihnenüberein, Herr Bundesinnenminister: Vor internationalemTerrorismus und insbesondere vor gewaltbereitem Isla-mismus muss nach wie vor gewarnt werden.

In den Düsseldorfer Terroristenprozessen haben An-geklagte ausgesagt, dass es al-Qaida-Terrorzellen unteranderem in Düsseldorf, Köln, Essen und Krefeld gebeund dass in der Vergangenheit ein Sprengstoffanschlagauf die Düsseldorfer Altstadt geplant worden sei. DieseNachricht wurde zwar publiziert, aber sie hat lange nichtdie öffentliche Aufmerksamkeit erfahren, die sie eigent-lich verdient hätte. Leider kann es keinen ernsthaftenZweifel daran geben, dass Deutschland für gewaltbe-reite Islamisten und für den internationalen Terrorismusnicht nur Ruhe- und Rückzugsraum war oder ist, wasschon schlimm genug wäre. Wir dürfen uns nicht dertrügerischen Illusion hingeben, wir könnten nicht vonheute auf morgen vom Ruhe- und Rückzugsraum zumAktionsraum und zum Ziel terroristischer Angriffe wer-den.

Der stereotype Hinweis auf eine erhöhte abstrakteGefährdungslage reicht zur Gefahrenabwehr nicht aus.

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Page 112: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

4954 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Thomas Strobl (Heilbronn)

Selbstverständlich ist es richtig, dass man eine Gefah-renlage nicht unnötig dramatisieren und hierdurch dieBevölkerung nicht unnötig in Angst und Schrecken ver-setzen sollte. Richtig ist aber auch, dass die Menscheneinen Anspruch darauf haben, über drohende Gefahrenrechtzeitig, vollständig und wahrhaftig unterrichtet zuwerden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Nicht nur das: Die Bevölkerung verlangt von den po-litisch Verantwortlichen zu Recht, dass sie all jene Maß-nahmen ergreifen, die in einem demokratischen Rechts-staat ergriffen werden können – und nach unsererAuffassung auch ergriffen werden müssen –, um dasLand so gut wie eben möglich vor terroristischen Angrif-fen und Verbrechen aller Art zu schützen. Dieser Ver-pflichtung wird Rot-Grün bis zur Stunde nur unzurei-chend gerecht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Daswird durch nichts untermauert! – Weiterer Zu-ruf von der SPD: Dann müssen Sie es bessermachen!)

Dabei verkennen wir nicht, dass die Bundesregierungnach dem 11. September 2001 zwei Gesetzespakete zurBekämpfung terroristischer Bedrohungen vorgelegt hat,die – im Übrigen mit den Stimmen der Union –

(Rüdiger Veit [SPD]: Na also!)

vom Deutschen Bundestag beschlossen worden sind.Richtig ist aber auch, dass die Koalition bis zur Stundenicht das beschlossen hat, was eigentlich zur Abwehrterroristischer Gefahren hätte beschlossen werden kön-nen und müssen, sondern nur das, worauf man sich mitMühe und Not bei Rot-Grün hat einigen können. Das isterkennbar zu wenig.

(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Mit Ihrer Zustimmung!)

Es genügt im Übrigen nicht, die Bedrohung durch deninternationalen Terrorismus in regelmäßigen Abständenwortreich zu beklagen. Was alleine zählt, sind Taten.Herr Bundesinnenminister, ich habe am vergangenenSonntag mit Interesse Ihr Interview im „Tagesspiegel“gelesen.

(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Ich auch! – Dr. Michael Bürsch[SPD]: Das bildet enorm!)

Was Sie zur Biometrie und zur Rasterfahndung ausge-führt haben, findet meine volle Zustimmung. Zwischendem, was Sie sagen, und den Taten der Koalition und derBundesregierung gibt es allerdings einen himmelweitenUnterschied. Wenn ich Ihre Aussagen zur Biometrienehme und in den Einzelplan 06 schaue, den wir heuteberaten, muss ich beim Thema Bundesgrenzschutz unterdem Titel 0625 auf Seite 139 lesen:

Gegenüber dem Vorjahr entfallene Titel: Kosten füreine biometrisch unterstützte Grenzkontrolle.

Das ist in diesem Punkt zu wenig. Sie haben soeben dasThema Digitalfunk angesprochen. Auch hier ist festzu-stellen, dass im Haushalt dafür keine Mittel eingestelltsind. Dies können wir so nicht akzeptieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir können Ihnen, Herr Bundesinnenminister, im Üb-rigen nicht zustimmen, wenn Sie sagen, ein Beitrag zurBekämpfung des internationalen Terrorismus sei derEU-Beitritt der Türkei. Dies ist ein Argument, bei demich Ihnen ehrlich gesagt nicht folgen kann. Zur Be-kämpfung des Terrorismus brauchen wir ein weiteresAntiterrorpaket und eine Änderung des Grundgesetzes,um auf sicherer verfassungsrechtlicher Grundlage dieBundeswehr im Inland zur Abwehr schwerwiegenderGefahren dann einsetzen zu können, wenn nur sie, nichtaber unsere Polizeikräfte die Fähigkeiten dazu hat. Dasangekündigte Luftpolizeigesetz alleine reicht dafür nichtaus.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ruhig bis zur Untätigkeit ist es in den Reihen der Ko-alition aber nicht nur beim Thema Terrorbekämpfunggeworden, sondern auch beim Thema Zuwanderungund Integration.

(Widerspruch bei der SPD und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN)

Vorbei sind die Zeiten, in denen der Innenminister miteinem geradezu kuriosen Argument für das rot-grüneZuwanderungsgesetz geworben hat.

(Rüdiger Veit [SPD]: Ich wünsche Ihnen einen begnadeten Ohrenarzt!)

Zur Erinnerung: Nach zunächst erfolgreichem Verfas-sungsbruch durch den damaligen BundesratspräsidentenWowereit war das rot-grüne Zuwanderungsgesetz zu-mindest schon teilweise in Kraft getreten. Endgültigsollte dies am 1. Januar dieses Jahres geschehen. Nach-dem im ersten Halbjahr 2002 die Asylbewerberzahlengegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres zurück-gegangen waren, wusste der Bundesinnenminister mitder ihm eigenen Brillanz hierfür sofort den wahrenGrund. Originalzitat des Bundesinnenministers OttoSchily:

Offensichtlich haben die Verabschiedung des Zu-wanderungsgesetzes und die intensive Diskussionauch nach außen hin deutlich gemacht, dass miss-bräuchliche Asylaufenthalte in Deutschland künftigerheblich rascher beendet werden können. Nachder Umsetzung des Zuwanderungsgesetzes ist miteinem weiteren signifikanten Rückgang der Zahlder Asylanträge zu rechnen. Wer – wie die Union –das Zuwanderungsgesetz aus wahltaktischemKalkül ablehnt, verhindert eine wirkungsvolleSteuerung und Begrenzung der Zuwanderung inDeutschland.

(Beifall bei der SPD)

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4955

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Thomas Strobl (Heilbronn)

Im Juli vergangenen Jahres haben Sie, Herr Bundes-innenminister, noch einen draufgesetzt – ich zitiere –:

Die weiter rückläufigen Zahlen sind die Vorauswir-kungen des Zuwanderungsgesetzes.

(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: So et-was gibt es! Rüdiger Veit [SPD]: So ist es! –Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Es gibt Nachwirkungen und Vor-auswirkungen!)

Mit In-Kraft-Treten des Gesetzes wird sich dieserTrend noch verstärken.

Am 18. Dezember vergangenen Jahres hat das Bun-desverfassungsgericht das Zuwanderungsgesetz fürverfassungswidrig und nichtig erklärt.

(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Nichtdas Gesetz, sondern die Zustimmung im Bun-desrat!)

Wäre auch nur ein einziger Satz des Innenministers rich-tig gewesen, hätten die Asylbewerberzahlen nach seinerLogik sprunghaft ansteigen müssen. Tatsächlich ist je-doch genau das Gegenteil eingetreten. Sie sind nach derEntscheidung des Bundesverfassungsgerichtes nochweiter zurückgegangen. In den offiziellen Verlautbarun-gen seines Ministeriums hieß es in der Folgezeit diesbe-züglich nur noch kurz und trocken: Asylbewerberzahlweiter rückläufig; Asylbewerberzahlen auch im Aprilrückläufig; Asylbewerberzahlen auf geringstem Standseit 1987; Asylzugang unverändert auf niedrigem Ni-veau usw. usw.

(Rüdiger Veit [SPD]: Hätten Sie es gern an-ders, oder was?)

Einen Hinweis auf das Zuwanderungsgesetz konnte manin Ihren Pressemitteilungen, Herr BundesministerSchily, in der Folgezeit erstaunlicherweise nicht mehrfinden. Gäbe es wirklich gute und überzeugende Argu-mente für das rot-grüne Zuwanderungsgesetz, hätte derBundesinnenminister sicherlich darauf verzichtet, ein sokurioses Argument wie die Vorauswirkung des Zuwan-derungsgesetzes auf Asylbewerberzugangszahlen zustrapazieren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Vorgang zeigt, dass es selbst für den Bundesinnen-minister schwer ist, Argumente für das rot-grüne Zu-wanderungsgesetz zu finden.

Wir haben keinen Mangel an Zuwanderung, sondernleider – das ist wahr – einen unübersehbaren Mangel anIntegration.

(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Auchdarum brauchen wir das Zuwanderungsge-setz!)

Deshalb ist nicht mehr Zuwanderung, sondern mehr In-tegration das Gesetz der Stunde.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir wollen die ohnehin große Zuwanderung nachDeutschland steuern und begrenzen und in puncto Inte-

gration weit mehr tun, als Rot-Grün bislang zu tun bereitist.

(Lachen bei der SPD – Rüdiger Veit [SPD]: vor allen Dingen als die Regierung Kohl!)

In Kürze werden wir im Vermittlungsausschuss dieVerhandlungen über das Gesetz beginnen. Unsere Ände-rungsvorschläge liegen auf dem Tisch. Wir als Unionwerden sachlich und konstruktiv verhandeln. Es ist nunan der Koalition, auf Argumente wie das eben zitiertevon Herrn Bundesminister Schily zu verzichten und vorallen Dingen die entscheidende Frage zu beantworten,ob man nicht nur zu redaktionellen und kosmetischen,sondern auch zu substanziellen Änderungen des Geset-zes bereit ist.

Einem Gesetz, das Zuwanderung nach Deutschlandweiter ausweiten würde, einem Gesetz, das bei der Inte-gration weit hinter dem zurückbleibt, was dringend ge-tan werden müsste, werden wir nicht zustimmen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir werden einem Gesetz, das unserem Land schadetund nicht nützt,

(Lachen und Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

nicht zustimmen. Einem Gesetz, welches letztlich Aus-länderfreundlichkeit nicht fördert, sondern ausländer-feindlichen Parolen Zulauf verschafft, können und wer-den wir nicht zustimmen, heute nicht und morgen auchnicht.

(Rüdiger Veit [SPD]: Das wird ja immer grau-samer!)

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Silke Stokar von

Neuforn, Bündnis 90/Die Grünen.

Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kein Er-eignis der vergangenen Jahre hatte so tief greifende Aus-wirkungen auf die Innenpolitik wie der 11. September.Die schrecklichen Anschläge des 11. September habenvor zwei Jahren – der Herr Innenminister hat daran erin-nert – hier zu einer Unterbrechung der Beratungen überden Haushalt des Innenministeriums, geführt. Ich denke,dass die rot-grüne Koalition gerade im gesetzgeberi-schen Bereich alles Notwendige getan hat, um eineschnelle und geschlossene Antwort auf diese neue He-rausforderung zu finden.

In der Diskussion um den 11. September vermisse ichdie Einbeziehung der vielen Fachtagungen und Beiträgevon Fachleuten, die es in den vergangenen zwei Jahrendazu gegeben hat. Ich habe viele Dinge nachgelesen.

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das hat aber nicht geholfen!)

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4956 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Silke Stokar von Neuforn

In all diesen Diskussionen ist mir deutlich geworden,dass nach dem 11. September von einem erweitertenSicherheitsbegriff ausgegangen wird. Ich merke, dassdie insbesondere von der CDU/CSU vertretene traditio-nelle Meinung, Innenpolitik bedeute, nationale Gesetzeimmer weiter zu verschärfen, nichts, aber auch gar nichtsmit dem erweiterten Sicherheitsbegriff zu tun hat, derauf den Fachtagungen von Sicherheitsexperten aus denverschiedensten Richtungen vertreten wird.

Ihre Innenpolitik orientiert sich an Grundsätzen, diein Friedenszeiten gut waren. Wir haben aber nicht nurdie Anschläge des 11. September gehabt. Wir erlebenauch zunehmend regionale Konflikte und leider auch zu-nehmende Kriege. Es ist einfach so, dass die innereSicherheit Deutschlands heute auch zum Beispiel in Af-ghanistan verteidigt wird.

Zu einem erweiterten Sicherheitsbegriff gehört – dashat der Innenminister hier auch noch einmal sehr deut-lich gemacht – heute auch der Dialog zwischen den Reli-gionen und ein Ausgleich zwischen Arm und Reich.Diese Erkenntnis fehlt in Ihrem Denken und in IhrenÜberlegungen. Die alte, ausgrenzende Debatte zum Zu-wanderungsgesetz, die Sie, Herr Strobl, gerade wiedereröffnet haben, gehört dagegen gerade nicht dazu.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Deutschland ist ein Einwanderungsland; das istRealität. Der Islam ist die drittgrößte Religion in Europa.Ich denke, ein EU-Beitritt der Türkei würde einen wich-tigen Weg eröffnen und einen Beitrag dazu zu leisten,dass der Islam und die Kultur der westlichen Rechtsstaa-ten, die wir hier im guten alten Europa haben, miteinan-der vereinbar werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich bitte Sie, das bei dieser Auseinandersetzung um dasZuwanderungsgesetz zu bedenken.

Sie haben hier in Ihrer Rede deutlich gemacht, dassSie in weiteren Verhandlungen eine Verschlechterungdes jetzt bestehenden Ausländergesetzes erreichen wol-len. Das macht für uns keinen Sinn. Das Ausländerge-setz ist veraltet. Wir brauchen in Deutschland ein moder-nes Zuwanderungsgesetz. Wir sagen deutlich: Wie allegesellschaftlichen Gruppen – von der großen Mehrheitder Kirchen, Gewerkschaften und insbesondere auch derWirtschaft wird dies so vertreten – wollen auch wir eineVerbesserung des Status quo.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Wir auch!)

Herr Strobl, ich möchte noch auf zwei andere interes-sante Bereiche zu sprechen kommen, die Sie angespro-chen haben, nämlich auf den Digitalfunk und die Bio-metrie. Ich bin nicht ganz glücklich damit, wie in diesemHaushalt die Bund-Länder-Finanzierung gelöst wurde.Ich denke, dass wir uns einmal Gedanken darüber ma-chen müssen, ob es so weitergehen kann, dass der Bunddie Hauptlasten für die Auslandseinsätze der Polizei

übernimmt und die Bereitschaftspolizeien der Länderweiterhin mit hohen Summen unterstützt werden. Eskann nicht sein, dass die Bundesländer die Inhalte be-stimmen – Sie wollen bestimmen, mit welcher Technikder Digitalfunk eingeführt werden soll – und der Bund,bitte schön, bezahlen soll.

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das ist doch überhaupt nicht wahr!)

Das funktioniert so nicht. Ich bin sehr für eine andereLösung.

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Wel-ches Bundesland will das denn?)

– Das will ich Ihnen sagen. Gerade in Bayern gab es eineAuseinandersetzung darüber. Dort heißt es: Wir schützenunsere Grenzen in einem vergrößerten Europa selbst– das sollen die Gebirgsjäger tun – und deshalb müssenwir Wert darauf legen, dass wir beim Digitalfunk densel-ben Standard haben wie Österreich. – Welches Systemder BGS oder die anderen Länder einführen, ist Bayernschnurzegal. Sie müssen einmal etwas mehr ins Detailgehen!

Ich möchte auch etwas zur Biometrie sagen und da-rauf hinweisen, vor welcher Auseinandersetzung wir hierstehen. Wir haben als Grüne längst beschlossen, dass einbiometrisches Merkmal in den Pass aufgenommen wer-den kann. Das ist schon lange kein Streitpunkt mehr.Priorität hat für mich die Frage der Finanzierung. Wir ha-ben in Deutschland ungefähr 7 000 Einwohnermeldeäm-ter; meiner Meinung nach sind das erheblich zu viele. Ichmöchte von Ihnen wissen, warum in diesen Zeiten derknappen Kassen – dies gilt ja nicht nur für den Bund, son-dern auch für die Länder – dieses Thema für Sie Prioritäthat. Unser deutscher Pass ist absolut fälschungssicher.Die USA haben gerade beschlossen, dass der EU-Passden Sicherheitsbedürfnissen der USA entspricht. Warumsollten wir heute 7 000 Einwohnermeldeämter und diePolizei, die ja entsprechende Lesegeräte bräuchte, mit ei-ner nicht ausgereiften Technik ausstatten?

Ich möchte erst einmal wissen, an welches Merkmalgedacht wird.

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Sind Sie jetzt dafür oder dagegen?)

Wir Grüne wollen eine Sicherheitstechnik, die nicht zueinem Ausbau der Überwachung führt. Wir stimmen fürdie Einführung eines biometrischen Merkmals, wenn esSinn macht, wenn die Finanzierung möglich und es not-wendig ist. Zuvor habe ich aber noch eine Reihe vonFragen.

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Sie sind also doch dagegen!)

Meine Redezeit ist leider gleich zu Ende. Herr Strobl,ich habe mich darauf eingelassen, auf Ihre Rede zu ant-worten.

Ich möchte zum Schluss ein Wort zu den Beamtinnenund Beamten, insbesondere zu den Polizeibeamten undSoldaten sagen. Es ist uns schwer gefallen, die Novellezum Sonderzuwendungsgesetz mit ihren Kürzungen

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4957

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Silke Stokar von Neuforn

auf den Weg zu bringen. Ich möchte hier auch im Namenmeiner Fraktion deutlich machen: Wir möchten über die-sen Bereich, über eine soziale Staffelung und die Siche-rung von Leistungsprämien, im Innenausschuss ein offe-nes Gespräch führen. Wir strecken gegenüber denGewerkschaften und dem Deutschen Beamtenbund zueinem konstruktiven Dialog die Hand aus.

Es wäre gut, wenn wir im Innenausschuss zu all denFragen der Reform des öffentlichen Dienstrechtes ingroßer Einigkeit sehr schnell eine Anhörung vereinbar-ten, um über fundierte Vorschläge beraten zu können.

Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich dankeIhnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Max Stadler von

der FDP-Fraktion.

Dr. Max Stadler (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Frau Stokar ist immerhin lernfähig; denn ich darfdaran erinnern, dass die Anhörung, die die FDP zu dergeplanten Reform im Beamtenrecht und den einschnei-denden Kürzungen bei der Beamtenbesoldung beantragthatte, von Ihnen vor wenigen Wochen noch abgelehntworden ist. Wenn Sie nun plötzlich doch dazu bereitsind, dann kann ich das nur begrüßen.

(Beifall bei der FDP)

In einer Haushaltsdebatte wie der heutigen ist zuRecht von mehreren Rednern der Opposition immer wie-der der Rücktritt dieser Bundesregierung oder einzelnerMinister gefordert worden. Vielleicht wird es Sie daherüberraschen, dass ich sage: Wenn diese Bundesregierungschon nach wie vor im Amt ist, bin ich froh, dass einWechsel im Amt des Bundesinnenministers in der Som-merpause nicht in der Weise vollzogen worden ist, wiedies in manchen Teilen der Presse angekündigt wordenwar.

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Er wollte zurück zu seinen Oliven!)

Beizeiten wurde kolportiert, dass man den SPD-General-sekretär in dieses Amt wegloben wolle, weil man mitihm und seiner Amtsführung als Generalsekretär nichtmehr einverstanden sei.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Welche Zeitung lesen Sie denn?)

Das hätte dieses Bundesinnenministerium nicht ver-dient. Dazu ist es zu wichtig und die Aufgabe zu verant-wortungsvoll. Dafür braucht man schon einen Ministervon politischer Statur. Das heißt nicht, Herr MinisterSchily, dass wir mit allem, was sich in der Innenpolitikabspielt, zufrieden sein könnten.

(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Warum nicht?)

In der kurzen Zeit kann ich nur einige wenige Kritik-punkte ansprechen: Es zeugt schon von einem merkwür-digen Verständnis von der Bedeutung des Amtes desBundesdatenschutzbeauftragten – dies hat aber weni-ger der Innenminister als vielmehr sein grüner Koaliti-onspartner zu verantworten;

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schon wieder die Grünen!)

denn dieser hat das Vorschlagsrecht für die Neubeset-zung –, dass die grüne Fraktion nicht in der Lage gewe-sen ist,

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?)

termingerecht einen Vorschlag für die Nachfolge einzu-reichen. Sie wissen, dass die Amtszeit von Dr. Jacob ab-gelaufen ist und dass wir aufgrund Ihres Zögerns erstjetzt in der Lage sind, über seinen Nachfolger zu beratenund zu entscheiden. Dabei wird – dafür sehe ich deutli-che Anzeichen – der Datenschutz, so wie er vonDr. Jacob verdienstvollerweise vertreten worden ist, inseinem Stellenwert erhalten und vielleicht sogar gestei-gert werden müssen.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)

Im Zuge der innenpolitischen Debatte der letztenzwei Jahre haben – nach dem 11. September war das völ-lig verständlich – in der alten Abwägung zwischen staat-lichen Eingriffsbefugnissen und der Achtung der Privat-sphäre die staatlichen Eingriffsmöglichkeiten deutlich anGewicht gewonnen. Daher ist es nicht falsch, wenn nunallmählich eine Gegenbewegung einsetzt, und zwar un-absichtlich von denjenigen gefördert – ich meine, es wa-ren nicht die Innenminister, sondern die Justizministerder Länder –, die den absurden Vorschlag in die Öffent-lichkeit gebracht haben, dass man künftig Schornsteinfe-ger – oder wie wir sagen: Kaminkehrer – und Hausmeis-ter dazu verpflichtet, Wohnungen zu verwanzen. Ichbringe das als ein Beispiel dafür, dass seither in der Be-völkerung die Sensibilität für den Schutz der Privatheitwieder gestiegen ist; denn dieser Vorschlag ist vielen zuweit gegangen. Deswegen wird diese Diskussion um dasalte Spannungsverhältnis neu zu führen sein.

(Beifall bei der FDP)

Übrigens sieht man auch an anderen Beispielen in derPraxis, dass manches, was man auf den Weg gebrachthat, vielleicht doch nicht so wirkungsvoll ist oder zuweit geht. Ich habe mir von der JustizministerinWerwigk-Hertneck sagen lassen, dass in Baden-Württemberg Videokameras zur Überwachung öffentli-cher Plätze wieder abgebaut werden, weil sie nicht dengewünschten Erfolg erbracht haben und sich die Krimi-nalität auf andere Plätze verlagert.

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]:Weil sie so erfolgreich sind! Wenn es keineKriminalitätsschwerpunkte mehr gibt, brau-chen wir sie auch nicht!)

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4958 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Dr. Max Stadler

Zu weit gegangen sind Sie, eine sehr große Koalitionvon SPD, Grünen und Union, bei der Neugestaltung desWaffengesetzes. Das ist so bürokratisch geblieben wie esimmer war, aber es enthält auch Neuerungen, die rechts-staatlich bedenklich sind. Bei dem Begriff der Unzuver-lässigkeit, der für den Jagdschein von Bedeutung ist,werden neuerdings Straftaten herangezogen, die keiner-lei Bezug zum Waffenführen haben.

(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Es geht um die Verlässlichkeit der Person!)

Die Regelung ist so ausgestaltet worden, dass Straftatenherangezogen werden, die mehr als zehn Jahre zurück-liegen. Das halte ich wirklich für rechtsstaatlich bedenk-lich.

(Beifall bei der FDP – Hans-Christian Ströbele[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sind Sie jetztWaffenlobbyist? Herr Stadler, Sie enttäuschenmich!)

Die FDP vertritt in der Innenpolitik immer die Auf-fassung, dass wir weniger neue Gesetze brauchen alsvielmehr eine optimale Ausstattung der Sicherheitsbe-hörden. Deswegen ist die Einführung des Digitalfunkssehr wohl ein Thema, egal ob man in diesem Haushalts-entwurf schon dafür Mittel benötigt oder nicht. Auf kei-nen Fall darf Wirklichkeit werden, was heute in der„Welt“ dargestellt worden ist, nämlich dass man mit derEinführung des Digitalfunks bis zum Jahr 2010 wartenmüsste. Ich will der Fairness halber aber auch sagen:Dies ist ein kompliziertes Thema, das nicht in der allei-nigen Verantwortung des Bundesinnenministers liegt,sondern auch der Mitarbeit der Länder bedarf.

Zwei Anmerkungen noch am Schluss in Kürze. FrauStokar von Neuforn hat am Ende das Beamtenrecht an-gesprochen. Ich will nur eines sagen: All die vollmundi-gen Versprechen, Öffnungsklauseln im Tarifbereich wür-den auch benutzt werden, um Verbesserungen in derBesoldung einzuführen, haben sich nicht bestätigt.

(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Da haben Sie Recht!)

Es handelt sich vielmehr um eine reine Sparmaßnahme,was wir schon immer vorhergesagt haben.

Ein letzter Punkt – das ist in dieser Debatte noch nichterwähnt worden –: Ich bin wegen des Art. 28 Abs. 2 desGrundgesetzes der Meinung, dass auch wir als Innenpo-litiker Verantwortung für die Selbstverwaltung der Kom-munen und damit für die Finanzausstattung der Kommu-nen tragen. Sie gehen leider den völlig falschen Weg,wenn Sie die Freiberufler in die Gewerbesteuer einbezie-hen

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagt der Anwalt!)

und somit entweder deren Steuerlast erhöhen wollenoder dort, wo diese verrechnet wird, mehr Bürokratieeinführen, was wir auch nicht brauchen können.

(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Mein Anwalt findet das völligokay!)

Ergreifen Sie doch die Chance, sich auf das Modell derFDP einzulassen und durch einen höheren Mehrwert-steueranteil und ein eigenes Hebesatzrecht auf dieEinkommen- und Körperschaftsteuer eine verlässlicheFinanzausstattung der Kommunen herbeizuführen.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das war pro domo, Herr Stadler!)

Das wäre ein Modell für eine vernünftige Innenpolitik,in der die FDP die ihr gemäße Rolle mit Erfolg ausübenwürde, nämlich zwischen Ihren fehlerhaften Ansichtenzu vermitteln, die leider sowohl die SPD als auch dieCDU haben. Dasselbe gilt für das, was Herr Strobl zumZuwanderungsgesetz gesagt hat. Auch dazu liegt einKompromissvorschlag der FDP vor. Wir laden Sie ein,darauf zuzugehen.

(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das finde ich auch ganz gut!)

Denn Sie sehen: In der Innenpolitik ist viel zu tun. Wirbeteiligen uns an der Debatte wie immer konstruktiv undzielführend.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Rüdiger Veit von der

SPD-Fraktion.

Rüdiger Veit (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Lieber Kollege Max Stadler, als ehemaligerKommunalpolitiker, aber auch als immer noch zugelas-sener Rechtsanwalt und damit Freiberufler stimme ichausdrücklich zu, dass wir den Kommunen durch eineRevitalisierung der Gewerbesteuer Finanzkraft zurück-geben wollen, aber bitte schön nicht mit einem Schon-park und einem Artenschutz für Freiberufler. Auch diegehören dazu, aber auch die Kapitalgesellschaften sollensich beteiligen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich darf mich etwas flapsig äußern, weil ich selber dieserBerufsgruppe angehöre.

Ansonsten hat bei den Vorrednern die Anerkennungder Politik bzw. die Zustimmung zur Politik des Bundes-innenministers und auch zu diesem Haushalt überwogen.

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Na ja!)

Deswegen wird es Sie nicht wundern, dass sich auchdie rot-grüne Koalition mit diesem Haushaltsplanent-wurf wie auch mit dem Minister und seinen Mitarbeite-rinnen und Mitarbeitern zufrieden erklärt

(Zurufe von der CDU/CSU: Na ja! – ReinhardGrindel [CDU/CSU]: Die Frage ist doch, obder Minister mit Ihnen zufrieden ist!)

und ihnen ausdrücklich für all die Mühe dankt, die indiesem Entwurf zum Ausdruck gekommen ist.

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Rüdiger Veit

Lieber Herr Zeitlmann und lieber Herr Strobl, Sie ha-ben geglaubt, zwei Punkte haushaltstechnisch kritisierenzu können. Dazu möchte ich Ihnen eine Erwiderung zu-teil werden lassen; denn vielleicht sind Sie wenigstensbereit, die Faktenlage zur Kenntnis zu nehmen.

Sie haben bemängelt, dass es keine Haushaltsansätzeim Bereich des Digitalfunks gebe. In der Tat weistSeite 14 des Einzelplans einen Leertitel aus. Die Frageist aber, warum das so ist. Der Einzelplan enthält diesenLeertitel, weil der maßgebende Beschluss der Minister-präsidenten erst nach der Drucklegung erfolgte und die-ser Titel erst jetzt mit Leben erfüllt werden kann.Schließlich kann man in diesem Bereich nicht im Wegedes vorauseilenden Gehorsams tätig werden.

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]:Aber noch ist der Haushalt nicht beschlossen!Da kann man noch etwas tun! – Gegenruf desParl. Staatssekretärs Fritz Rudolf Körper: Dasmachen wir auch!)

Auch was die Biometrie angeht, liegen Sie ein biss-chen schief. Wir haben für den Einsatz der Biometrie amFlughafen Frankfurt im Haushaltsjahr 2003 2 MillionenEuro und 2004 500 000 Euro veranschlagt.

Im Zusammenhang mit dem Haushalt des BSI darfich Ihnen kurz vortragen, für welche StudienmaßnahmenMittel vorgesehen sind: BioFace IV und V, BioISO-Standardisierungsaktivitäten und smartcardbasierte bio-metrische Zutrittskontrolle, abgekürzt BioKON.

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Wie viel?)

Soweit hier aber darüber diskutiert wird, dass nochsehr viel Entwicklungsarbeit vor uns liege und dass allesso unklar sei, möchte ich darauf hinweisen – das möchteich meiner Kollegin Stokar sagen –: Beim Besuch desInnenausschusses bei der Bundesdruckerei durften wirdoch miterleben, wie technisch zuverlässig die Gesichts-felderkennung schon ist. Wenn der gute Eindruck sicherauch damit zusammenhing, dass es bei einer sympathi-schen Person, nämlich unserer Ausschussvorsitzenden,vorgeführt wurde, so denke ich doch, dass wir gar nichtmehr so viel Pionierarbeit leisten müssen.

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Herr Veit, sind Sie dafür oder dagegen?)

– Ich bin dafür. Das halte ich für die am wenigsten ein-schneidende Maßnahme.

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Bei Frau Stokar war das nicht so klar!)

Ich schäme mich meines Gesichtes nicht und kann ande-ren nur empfehlen, das gleiche gemäßigte Selbstbe-wusstsein an den Tag zu legen. Wenn man erkannt wird,ist es doch vergleichsweise egal, ob es durch einenFreund oder eine Videokamera geschieht oder ob einPolizeibeamter feststellt, dass eine Person mit dem Ge-sicht auf ihrem Ausweis übereinstimmt. Mit einem ha-ben Sie nämlich Recht, Frau Stokar: Wir haben bei derBundesdruckerei auch erfahren, dass unsere Personal-dokumente absolut fälschungssicher sind. Problematisch

ist gegebenenfalls eher die Identität der Person, auf diedas Dokument ausgestellt ist.

(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Aber das löst man doch nichtdurch ein „Facelifting“!)

Die 4,093 Milliarden Euro, die im Einzelplan 06 ver-anschlagt sind, machen zwar lediglich 1,63 Prozent desGesamthaushaltes aus, aber wir von der rot-grünen Koa-lition sind letztlich der Überzeugung, dass der so gestal-tete Haushalt maßvoll ist und den Reformnotwendigkei-ten unserer Gesellschaft im Kompetenzbereich desInnern durch manche Straffungen und organisatorischeÄnderungen gerecht wird. Er vernachlässigt nicht die in-nere Sicherheit – das haben Sie auch anerkannt – vor al-lem aber gefährdet er auch nicht die Freiheitsrechte desBürgers.

Ich denke, es ist bemerkenswert, dass bei einer Stei-gerung von saldierten 168 Millionen Euro – nämlich4,3 Prozent für den gesamten Einzelplan – der Personal-bestand im Geschäftsbereich des BMI seit 1998 um ins-gesamt 17,2 Prozent reduziert werden konnte. Allein imMinisterium selbst wurden rund 2,4 Prozent des Perso-nalkörpers abgebaut. Das allein ist an sich noch kein ho-her Wert. Wenn es – auch im Interesse der Beschäftig-ten – um soziale Gerechtigkeit geht, bedeutet dies, dassdie breiten Schultern mehr tragen sollen und müssen alsdie schwachen und dass wir allen gesellschaftlichenGruppen nur das zumuten können, wozu wir auch selbstbereit sind.

Es heißt aber – etwa im Bereich des BGS oder beimBSI – auch, dass wir an neuen oder erweiterten Aufga-ben orientiert sehr wohl Personaleinsparungen oder Ver-einfachungen vornehmen und entsprechende Zuwächsedort zu verzeichnen sind, wo sie nötig sind. Das ist mei-nes Erachtens in der Tat Ausdruck eines verantwortungs-vollen Sparens.

Noch nicht ausreichend erwähnt wurde an dieserStelle, dass im Rahmen der Umsetzung des Beschlussesder Bundesregierung vom 9. Juli 2003 unter Federfüh-rung des BMI eine Reihe von Maßnahmen zum Büro-kratieabbau auf folgenden Handlungsfeldern auf denWeg gebracht worden ist: Arbeitsmarkt und Selbststän-digkeit, Wirtschaft und Mittelstand, Forschung undTechnologie, Zivilgesellschaft und Ehrenamt, Dienst-leistungen und Bürgerservice. Das BMI selbst ist mitacht Projekten an der Initiative beteiligt, die allesamtbürgerorientiert sind und die gute Fortschritte machen,indem sie die amtliche Statistik vereinfachen, das Bun-desreisekostengesetz novellieren, die Reform des Tarif-rechts im öffentlichen Dienst oder beispielsweise aucheine Vereinfachung des Melde- und des Passwesens vo-rantreiben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zur inneren Sicherheit wurde angesichts eines histo-rischen Datums einiges gesagt. Ich bitte meinen Kolle-gen und Freund Gerold Reichenbach um Verständnis,wenn ich deswegen die Bereiche THW, Katastrophen-und Zivilschutz bei der Gelegenheit ausklammere und in

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4960 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Rüdiger Veit

den verbleibenden drei Minuten Redezeit abrupt zu ei-nem anderen Feld komme.

Jetzt zitiere ich nicht wie Otto Schily HerrnBeckstein, sondern jetzt zitiere ich Otto Schily selbst. Erhat einmal gesagt:

Wer unsere Musikschulen schließt, gefährdet die in-nere Sicherheit.

Er hat damit gemeint, dass wir uns Gedanken darübermachen müssen, in welcher Vielfalt im musischen Be-reich, bei der Sportförderung oder bei Maßnahmen zurpolitischen Bildung, schließlich aber auch bei Maßnah-men der Integrationsleistung und damit bei Sprachkur-sen Leistungen im Sinne der Gewährleistung des innerenFriedens erbracht werden können.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zurufdes Abg. Ernst Burgbacher [FDP])

Jetzt ruft Herr Burgbacher mir zu und gibt mir dasnächste Stichwort: Viel zu wenig! – Ich verkneife mir ander Stelle allzu ausführliche Bemerkungen zu den be-merkenswerten Höhenflügen, Herr Kollege Strobl, zudenen Sie eben angesetzt haben. Ich habe den Eindruckgehabt, Sie haben sich da ein bisschen verheddert. Dasklang so, als hätte der Bundesinnenminister sagen müs-sen: „Um Gottes willen, jetzt kommen mehr Asylbewer-ber, weil das Zuwanderungsgesetz nicht kommt“. Viel-leicht haben Sie aber auch umgekehrt allen Ernstes dieAuffassung vertreten – ich habe gedacht, das sei einHörfehler –, das Zuwanderungsgesetz und das neue Aus-länderrecht seien ausländerfeindlich. Das war, mit Ver-laub gesagt, krauses Zeug und nicht sehr logisch.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das diente dazu, Redezeit zu füllen. Ich bin fest davonüberzeugt, dass selbst Sie das besser können.

Wir wollen zurückkommen zum Haushalt. Im Be-reich des Bundesamtes für die Anerkennung auslän-discher Flüchtlinge, BAFl, ist das Plansoll von128 Millionen Euro im Jahre 2002 auf 298 MillionenEuro im Jahre 2003 erhöht und im vorliegenden Haus-haltsentwurf nur noch ganz geringfügig reduziert wor-den. Mit In-Kraft-Treten des Zuwanderungsgesetzeswird das BAFl zu einem umfassenden Kompetenzzen-trum für Migration und Integration ausgebaut. Zur Um-setzung ist vorgesehen, dem dann so genannten BAMF,also dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, fürdie Durchführung von Sprachfördermaßnahmen insge-samt 171,5 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen.

Mit dem Förderkonzept wird die Integration der Aus-länder und Spätaussiedler, für die der Bund die alleinigeVerantwortung trägt, aufeinander abgestimmt. Künftigwird es daher möglich sein, für beide Zuwanderungs-gruppen die gleichen Kurse anzubieten und eine gemein-same Beschulung durchzuführen. Mittel zur Integrationvon Ausländern stehen auch dem BMI seit dem Jahr2000 zur Verfügung, nämlich zunächst 511 000 Euro,dann aufwachsend bis zu 1 Million Euro im Jahre 2004.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, darüber hi-naus widmen wir uns, widmet sich das BAMF und wid-met sich auch der Haushalt Projekten wie etwa der Bera-tungshilfe für Ausländerrecht und Staatsbürgerschaft,der Integration muslimischer Frauen und Jugendlicher,der Stärkung von Selbsthilfepotenzialen von Migranten,der Förderung des Zusammenlebens im Wohnumfeld,der Stärkung des ehrenamtlichen Engagements, dem in-terkulturellen Konfliktmanagement und der Öffentlich-keitsarbeit. Das alles mag ja noch zu wenig sein. DieSPD-Fraktion hätte es gerne, wenn wir ein Jahrzehnt derIntegration, auch der nachholenden Integration, haus-haltsmäßig so unterlegen könnten, dass wir bei der Be-hebung von Defiziten wesentlich vorankommen. Im Üb-rigen erkennen Sie diese Defizite heute an, aber geradeSie haben die Defizite in Ihrer 16-jährigen Regierungs-zeit – sträflicherweise, wie ich finde – selbst verursacht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)

– Diese Platte mögen Sie nicht hören, aber es ist ja wahr.

Lassen Sie sich nun doch einmal loben, wenn ichsage: Wenigstens die Selbsterkenntnis hinsichtlich desProblems ist da. Sie können jetzt aber nicht sagen: „Hal-tet den Dieb“; denn wir können unter schwierigen Haus-haltsbedingungen weniger Geld zur Verfügung stellen,als wir eigentlich wollen. Das können Sie jedenfallsnicht als Mittel und als Argument nehmen, um das Zu-wanderungsgesetz auszubremsen. Deswegen bin ich gu-ter Hoffnung, dass wir uns im Vermittlungsverfahren aufeinen vernünftigen Kompromiss werden einigen kön-nen – vielleicht und gerade auch mithilfe der FDP; sol-che Angebote nehmen wir gerne an.

Insgesamt richte ich noch einmal einen Dank an denMinister und an alle Mitarbeiter. Sie haben die volle Un-terstützung seitens der Koalitionsfraktionen für diesenHaushalt.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Norbert Barthle von

der CDU/CSU-Fraktion.

Norbert Barthle (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

beraten heute über den Einzelplan 06, zu dem auch derwichtige Bereich des Sports gehört. Herr MinisterSchily, dass Sie keine Zeit gefunden haben, etwas zu die-sem Bereich zu sagen, möchte ich Ihnen angesichts Ihrerknappen Redezeit nicht vorwerfen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Zur Leicht-athletik!)

Ich werfe Ihnen auch nicht vor, dass Sie kein Herz fürden Sport hätten. Im Gegenteil: Ich attestiere Ihnen so-gar, dass Sie eines haben. Aber, Herr Minister, der Sport

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4961

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Norbert Barthle

braucht nicht nur Ihr Herz, sondern auch Ihren Daumenund Ihren Zeigefinger; denn darum geht es bei den Haus-haltsberatungen.

In diesem Zusammenhang lohnt sich vielleicht auchein Blick über den Tellerrand hinaus. Bei der vorange-gangenen Debatte über den Einzelplan 17 ist darauf hin-gewiesen worden, wie wichtig der Koalition die Ganz-tagsbetreuung ist und dass trotz der katastrophalenHaushaltslage – man muss fast von organisiertem Staats-bankrott reden – zusätzliches, frisches Geld für solcheideologischen Lieblingsprojekte zur Verfügung steht.Deshalb bitte ich Sie, Herr Minister, dass Sie nicht nur inSonntagsreden darauf hinweisen, wie wichtig der Sportfür unsere Gesellschaft ist, wie groß seine Erziehungs-leistungen, die in den Vereinen stattfinden, bei den Ju-gendlichen sind und wie sehr sein Beitrag zur Integrationzu würdigen ist, sondern dass Sie auch den Sportetat ent-sprechend ausstatten.

(Beifall bei der CDU/CSU – Silke Stokar vonNeuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetztwill ich etwas von Ihnen zu Rudi Völler hö-ren!)

Wer sich über den Zustand des deutschen Sports kun-dig machen wollte, der hat in den vergangenen Tagenreichlich Gelegenheit dazu gehabt: die Leichtathletik-WM in Paris, das Fußballspiel gegen Island und die Aus-fälle unseres Nationaltrainers. Gerade jetzt sind unsereBasketballer bei der EM in Schweden ausgeschieden.Bei der Universiade in Daegu waren wir froh, dassDeutschland überhaupt im Medaillenspiegel erschienenist. Man kann diese Beispielkette beliebig fortsetzen.

Die Menschen fragen, wo eigentlich die Ursachen da-für liegen. Liegt es an mangelndem Fortune oder an derBundesregierung? Spaß beiseite, es liegt nicht nur an derBundesregierung. Aber es gibt – hören Sie gut zu, HerrWiefelspütz – folgende drei Parallelen zwischen der Si-tuation im Sport und den Etatberatungen bzw. der Situa-tion im Bundeshaushalt: Viel zu lange hat man von derSubstanz gelebt und sich in Sicherheit gewiegt, einStück weit das Erbe vervespert. Viel zu lange hat mansich vor einer realistischen Bestandsaufnahme gedrückt.Und viel zu lange hat man es versäumt, umzusteuern, da-mit auch künftig Erfolge gesichert sind; denn Erfolgefallen weder im Sport noch in der Finanz- und Haus-haltspolitik vom Himmel.

(Beifall bei der CDU/CSU)

In Ihrem Schwerpunktpapier zum Sporthaushalt ist zulesen:

Auch die Sportförderung leistet ihren Beitrag zurKonsolidierung des Bundeshaushalts.

Die Sportler dürfen sich also freuen. Auch wenn keinesportlichen Leistungen mehr möglich sind, leisten siedoch etwas für den Bundeshaushalt. Die doppelte Ironiewird besonders deutlich, wenn man fragt, was eigentlichkonsolidiert wird; denn die Verschuldung wächst Jahrfür Jahr. Sie nimmt 2003 zu und steigt 2004 ins Uner-messliche. Wenn gespart wird, dann tut man es an der

falschen Stelle, zum Beispiel beim Sport; denn dieser istbereits bis auf den letzten Blutstropfen ausgequetscht.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das kann man bei den Bundes-ligaspielern wirklich nicht sagen!)

– Die werden auch nicht von Herrn Schily bezahlt.

Die Sportförderung soll im Jahr 2004 gerade noch110 Millionen Euro betragen. Das sind 23 Millionen we-niger als 2003 und 90 Millionen weniger als 2002. Nunweisen Sie zu Recht darauf hin, dass hier die Mittel fürdie Förderung der Stadien in Berlin und Leipzig enthal-ten sind. Ich darf Sie daran erinnern, dass Sie diese Mit-tel im vergangenen Jahr in den Etat eingestellt und sienicht als Sondertitel geführt haben, um Ihre Kürzungenzu kaschieren und um den Vereinen weiszumachen, wiegroßzügig die Bundesregierung den Sport fördert. Jetzt,wo diese Förderung ausläuft, können Sie also nicht be-haupten, dass das damit nichts zu tun habe. Hier fehlenHaushaltsklarheit und Haushaltswahrheit an allen Eckenund Enden. Auch im Vergleich zu 1998, als Sie die Re-gierungsverantwortung übernommen haben, ist ein Mi-nus von de facto 4 Millionen Euro festzustellen. Rechnetman die Ausgaben für die Bewerbung Leipzigs für dieAustragung der Olympischen Spiele 2012 und die Aus-gaben für die Fußball-WM 2006 heraus, dann zeigt sich,dass dem Sport gegenüber 1998 sogar 11,7 MillionenEuro weniger zur Verfügung stehen. Das hat also mit denStadien nichts zu tun.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:Was ist Ihr Vorschlag?)

– Unser Vorschlag ist, bei den Investitionen nicht weiterzu kürzen. In diesen Bereich fließen pro Jahr im Durch-schnitt mehr als 10 Millionen Euro weniger als 1998. Ins-gesamt stehen für Sportinvestitionen also über 40 Mil-lionen Euro weniger zur Verfügung. Dafür haben Sie ge-sorgt.

Wir schlagen vor, dass das Geld, das durch den Sporteingenommen wird, in den Sport zurückfließt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es gibt zum Beispiel zur Fußball-WM 2006 Sportmün-zen, die verkauft werden. Durch den Verkauf dieserSportmünzen erzielt die Bundesregierung einen Brutto-erlös von 185,9 Millionen Euro. Zieht man davon dieKosten von 95,5 Millionen Euro ab, verbleibt ein Netto-erlös von 90,4 Millionen Euro. Diese Münzen werdenvon Sportfans in der Annahme gekauft, dass das Geld,das sie dafür ausgeben, dem Sport zur Verfügung steht.

Was passiert damit in Wirklichkeit? 30 Millionen Eurowerden für das Organisationskomitee der Fußball-WMausgegeben; das ist sozusagen Kulturprogramm. Undder Rest von über 60 Millionen Euro? Der Finanzminis-ter kann natürlich auf die rechtlichen Zusammenhängeverweisen und sagen: Das verschwindet in meinen Etat-löchern. Ich meine, aus Sicht des Sports wäre es ange-messen, dass das Geld, das durch diesen Verkauf einge-nommen wird, dem Sport zur Verfügung gestellt wird.Wenn das geschähe, könnten Sie nicht nur die zentralen

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Norbert Barthle

Maßnahmen des Sports und vor allem den Sportstätten-bau wieder besser ausstatten, sondern auch den „Golde-nen Plan Ost“ wieder aufleben lassen.

Im Wahlkampf haben Sie für den „Goldenen PlanOst“ 50 Millionen Euro versprochen. Es wurden dannzunächst 15 Millionen Euro. Dann wurden die Mittel auf10 Millionen Euro gekürzt und jetzt soll dieser Plan ganzgestrichen werden. Für die neuen Bundesländer ist dasein ganz fatales Signal. Es ist höchste Zeit, das zu än-dern. Wir fordern Sie auf, wenigstens wieder 15 Millio-nen Euro einzustellen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Barthle, kommen Sie bitte zum Schluss.

Norbert Barthle (CDU/CSU): Ich schließe mit meinem Appell sowohl an Herrn

Schily als auch an die gesamte Bundesregierung an: Zei-gen Sie nicht nur ab und zu bei großen Veranstaltungenein Herz für den Sport, sondern geben Sie den Adern desSports das Blut, das gebraucht wird, um künftig wiederErfolge erzielen zu können.

Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzter Redner zu diesem Geschäftsbereich hat der

Kollege Wolfgang Zeitlmann von der CDU/CSU-Frak-tion das Wort.

Wolfgang Zeitlmann (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Der Bundesinnenminister hat hier – wie kann es an-ders sein? – einen zeitlichen Bogen zum 11. Septembervor zwei Jahren geschlagen. Natürlich haben wir uns allean das Grauen und an das Gefühl des Schreckens von da-mals erinnert. Es ist sicherlich richtig, zu fragen: Habenwir in den vergangenen zwei Jahren wirklich alles ge-tan? Ist die Bedrohungslage in der Tat so, dass man sichzurücklehnen und vielleicht glauben machen kann, wirhätten alles zur Abwendung jeglicher Gefährdungen ge-tan?

Wenn ich mir den letzten Verfassungsschutzberichtanschaue, dann stelle ich fest, dass wir in Anbetracht derdort geschilderten Gefährdungen durch Extremistennicht von Entwarnung sprechen können. Ich bin derLetzte, der hier irgendeine Verunsicherung kundtun will,indem er behauptet, es gebe irgendeine konkrete Gefähr-dung. Ich frage mich aber manchmal: Muss in einemLand immer erst irgendetwas passieren, bevor man zuhandeln beginnt? Wenn wir wüssten, dass wir in absehba-rer Zeit ein schreckliches Ereignis zu bewältigen hätten,würden wir dann nicht rückblickend feststellen, dass wireigentlich noch dieses und jenes hätten vorlegen müssen?

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was denn?)

– Ich komme gleich darauf zu sprechen.

Ich habe einer Tickermeldung der letzten Tage ent-nommen, dass der Vorsitzende der GdP, Freiberg – keinMann der Union –, die Auffassung vertritt, man müsseim Bereich der Videobeweise vorankommen und manbrauche ein drittes Sicherheitsgesetz.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Auch ein Gewerkschafter kannirren!)

Herr Schily, Sie selbst haben in einem Interview mitder „FAZ“ gesagt – heute haben Sie es bestätigt –, dasses bei biometrischen Merkmalen hier und da Ergän-zungsbedarf gibt. Ich halte das für richtig. Ich frage michnun: Muss es zwei Jahre dauern, bis wir zu Stuhle kom-men? Auch jetzt ist noch gar nicht klar, ob ein entspre-chender Gesetzentwurf mehrheitsfähig ist. Zwei Jahrelang ist im Grunde nichts passiert, außer dass geprüftwurde. Muss das immer so lange dauern?

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Du hast nicht zugehört!)

Angesichts dessen, wie sich bei uns – zugegeben:durch die Rechtsprechung – Extremisten tummeln kön-nen, hätte ich erwartet, Herr Minister, dass Sie dasThema nicht wie der Weihnachtsmann nur so ein biss-chen streifen,

(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na, na, na!)

sondern dass Sie die Kernprobleme etwas eingehenderbehandeln. Zu den Kernproblemen zählt, wie wir mitExtremisten umgehen. Da nenne ich zum Beispiel denFall Kaplan.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich glaube nicht, dass wir im bilateralen Verhältniszur Türkei die dortigen Verhältnisse quasi deutschemRichterrecht entsprechend verändern können. Das Pro-blem, dass die Maßstäbe, die deutsche Richter anlegen,weltweit – –

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Ist das hier eine Richterschelteoder was?)

– Das können Sie nehmen, wie Sie wollen. Wenn ausdeutscher Sicht beurteilt wird, ob irgendwo auf der Weltvergleichbare Maßstäbe wie bei uns gelten, dann wirddas im Zweifel immer zu unseren Lasten gehen. Dasheißt: Leute wie Kaplan werden immer hier bleiben kön-nen. Da frage ich mich, Herr Minister: Hätten Sie hierdazu nicht einiges ausführen müssen?

Für völlig unwürdig halte ich – da nehme ich Sie einbisschen aus – die Debatte in den vergangenen Monatenüber das geplante Zentrum gegen Vertreibungen. Fürmich ist zutiefst unverständlich, dass in unserem Land,dessen Volk ein solches Schicksal

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Anderen zugefügt hat!)

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4963

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Wolfgang Zeitlmann

ertragen hat – bei uns leben 15 Millionen Menschen, dievertrieben wurden; der Leidensdruck ist nach diesen vie-len Jahrzehnten vielleicht nicht mehr in dem ursprüngli-chen Maße vorhanden; meine Generation hat da imGrunde kein eigenes Erleben mehr –, überhaupt darüberdiskutiert wird,

(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Es ist gut, dass es diskutiert wird!)

ob man so etwas machen kann, ob man das internationalabstimmen muss. Das ist doch überhaupt keine Frage! Ineiner freien Gesellschaft wird ein solches Zentrum gegenVertreibungen natürlich gemäß der historischen Wahr-heit aufgebaut werden müssen. Kein Mensch diskutiertetwas anderes. Die Ursachen für das Kriegsgeschehenmüssen klargestellt werden. Man kann nicht einseitig ir-gendwelche Aufrechnungen betreiben. Aber dass mansich abhängig macht

(Hubertus Heil [SPD]: Na, na, na!)

und ausländische Meinungen dazu hört, ob es ein sol-ches Zentrum in Berlin geben kann, halte ich für unmög-lich. So etwas wird in der Bevölkerung in Anbetrachtunserer Vergangenheitsdebatten nicht verstanden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Schily, eine letzte Bitte, weil wir uns dem3. Oktober nähern. Ich beobachte seit vielen Jahren dieFeierlichkeiten zum Nationalfeiertag. Wir sollten unsintern oder parteiübergreifend einmal darüber unterhal-ten, ob das bisherige Prozedere, dieser Wanderzirkus,dass am 3. Oktober jeweils ein anderes Bundesland Ortder Feierlichkeiten ist, beibehalten werden sollte. Zuüberlegen wäre doch, nach Ablauf der 16 Jahre, wenn je-des Land einmal dran war – das ist ja noch einige Jahrehin –, in einem neuen Zyklus eine zentrale Feierlichkeitdurchzuführen, sodass wir von diesem Wanderzirkus ab-kommen.

(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Wan-derzirkus, was soll das heißen? – Weitere Zu-rufe von der SPD)

Das ist als Vorschlag gedacht. Wir sollten die Dinge viel-leicht ein bisschen sinniger gestalten. Wir haben in derVergangenheit einmal überprüft, wer sich von uns Bun-despolitikern denn dieser Last des Wanderns unterzogenhat. Die Präsenz war nicht sehr gut. Das sollte Ansatz-punkt zum Nachdenken sein.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen

Otto Schily das Wort.

Otto Schily (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!

Ich kann ja verstehen, dass Sie von mir eigentlich erwar-ten, dass ich in 14 Minuten alle diese Fragen wie „Gol-

dener Plan Ost“, „Sportfinanzierung“ oder „Zentrum ge-gen Vertreibungen“ abhandele.

Ich will nur eine Bemerkung des Kollegen Zeitlmannaufgreifen. Auch ich bin durchaus der Meinung, dass esgeboten ist, über die Entscheidung im Fall Kaplan imDeutschen Bundestag zu sprechen. Ich teile die Auffas-sung derer, die sagen, es ist unerträglich, dass dieserMensch einstweilen in unserem Lande bleiben muss.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ein Mann, der wegen Anstiftung zum Mord zu vier Jah-ren Freiheitsstrafe verurteilt worden ist – auch dieseStrafe kann man mit einem Fragezeichen versehen, denndiese Anstiftung hat zu einem Mord geführt –, hat in un-serem Lande nichts zu suchen. Deshalb bedauere ich dieEntscheidung des Verwaltungsgerichtes Köln, von derein Innenministerkollege, den Sie kennen, HerrZeitlmann, gesagt hat, sie sei eine skandalöse Entschei-dung. Ich mache mir zwar diesen Wortgebrauch nicht zueigen, weil ich natürlich auch vor einer richterlichenFehlentscheidung den nötigen Respekt habe, aber auchich halte die Entscheidung für falsch. Sie beruht nämlichauf der Unterstellung, dass Kaplan, wenn er in die Tür-kei zurückbefördert würde, dort keinen fairen Prozesserhielte, weil man durch Folter erzwungene Aussagenverwerten würde.

Die Türkei hat unter Hinweis auf die in der Türkeigeltende Rechtslage erklärt, dass durch Folter erzwun-gene Aussagen in einem Strafprozess dort nicht verwen-det werden dürfen. Übrigens steht das auch im Zusam-menhang mit dem Besuch des MinisterpräsidentenErdogan in Deutschland, der sich vorgenommen hat– man mag die neue Regierung ja sehen, wie man will;auch die weltpolitischen Zusammenhänge kann man se-hen, wie man will –, rechtsstaatliche Standards in derTürkei durchzusetzen. Da er selber in Haft gesessen hat,bringt er vielleicht auch Erfahrungen mit, die ihn bei sei-nem Engagement in dieser Richtung besonders motivie-ren. Auch deshalb müssen wir dafür sorgen, dass dieEntscheidung dieser Richter korrigiert wird.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Unabhängig davon, dass der Bundeskanzler und Mi-nisterpräsident Erdogan bereits noch einmal miteinandergesprochen haben, werde ich mit meinem türkischen In-nenministerkollegen Aksu Gespräche aufnehmen – hof-fentlich kommt das Treffen in wenigen Tagenzustande –, um noch einmal eine zusätzliche Erklärungin dieser Richtung herbeizuführen. Ich hoffe, dass dannalle politischen Kräfte in dieser Frage zusammenstehen,

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Bei den Grünen habe ich meine Zweifel!)

damit wir diesen Fall so abschließen können, wie es ihmgebührt.

Ich verbinde das mit einem Hinweis: Ich bin nicht derMeinung, dass wir alle gesetzlichen Möglichkeiten, dienach dem geltenden Ausländerrecht heute bestehen, aus-schöpfen, um Personen, die eine Gefahr für die innereSicherheit Deutschlands darstellen, die Tür zu weisen.

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Otto Schily

An der einen oder anderen Stelle sollte man da vielleichtauch einmal schauen, ob im Landesvollzug immer alldas geschieht, was geboten ist.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Zeitlmann, wollen Sie erwidern? –

Nein. Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.

Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums für Verbraucherschutz, Ernährungund Landwirtschaft.

Bevor ich der Bundesministerin Renate Künast dasWort erteile, sollten wir noch einen Augenblick warten,damit der Austausch der Abgeordneten stattfindenkann. – Frau Künast, bitte.

Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-schutz, Ernährung und Landwirtschaft:

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren Abgeordnete! Die bisherigen Debatten zum Haushalt2004 haben ja gezeigt, dass es zur nachhaltigen Konsoli-dierung der Staatsfinanzen keine Alternative gibt. Daswar ja wohl das Thema des Tages. Dabei geht es insbe-sondere um Generationengerechtigkeit, dass wir alsonicht sorglos auf Kosten künftiger Generationen lebendürfen, und um Nachhaltigkeit in allen Politikbereichen.

Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit be-deuten in der Finanzpolitik – vor finanzpolitischen Er-wägungen kann sich auch dieser Haushalt nichtschützen – zweierlei, nämlich dass man einerseits Aus-gaben kontrolliert – das heißt, man muss auch manchelieb gewonnenen Subventionen abbauen, vor allemwenn sie der Umwelt schaden oder nicht zu rechtfertigensind – und andererseits Zukunftsinvestitionen in Struktu-ren tätigt, die auch den nachfolgenden Generationen, denjungen Landwirten Möglichkeiten eröffnen.

Deshalb war klar, dass auch das BMVEL seinen Bei-trag zum Subventionsabbau leisten muss. Das triffthauptsächlich jenen Bereich, in den bislang viele Mittelgeflossen sind: den Agrarbereich. Insbesondere müssenwir uns fragen, ob – und wenn ja, warum – hier Leistun-gen gewährt werden, die über das hinausgehen, was an-dere gesellschaftliche Gruppen vom Staat erhalten, obalso keine Gleichbehandlung stattfindet. Insgesamtschließt der Regierungsentwurf des Einzelplans mit5,2 Milliarden Euro ab, das sind 430 Millionen Euro we-niger als im Etat 2003. Damit kann und muss man sagen,dass dieser Einzelplan einen ganz erheblichen Beitragzur Haushaltskonsolidierung leistet.

Bei diesen Summen kommen wir an der Agrarsozial-politik nicht vorbei, für die in diesem Haushalt aber nochimmer über 70 Prozent der Mittel des Einzelplans 10veranschlagt werden.

(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Und den-noch den Tod vieler Bauern bedeutet!)

– Schön, dass auch Sie vom Bayernfest zurückgekom-men sind.

(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Ich warnicht beim Bayernfest, aber Sie sollten sichhier einmal deutlich äußern!)

– Und in entsprechender Stimmung sind!

Wir erbringen die Einsparungen auch bei der Kran-kenversicherung der Landwirte. Ziel ist es, die landwirt-schaftliche Krankenversicherung der gesetzlichenKrankenversicherung anzupassen.

(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Das istdoch grundfalsch, gnädige Frau! – Kurt J.Rossmanith [CDU/CSU]: Unerhört!)

–„Gnädige Frau“ dürfen Sie schon sagen; ich finde eswunderbar, wenn wir hier mittelenglische Umgangsfor-men pflegen – was bei dem letzten Redebeitrag zum vor-herigen Thema nicht der Fall war. Ich finde es gut, wennman hart in der Sache und immer fein im Benimm ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD – SilkeStokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ein Benehmen wie in der Grund-schule!)

Dann streitet es sich auch besser.

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht an derStelle vor, dass der Bundeszuschuss zur landwirtschaftli-chen Krankenversicherung künftig auf der Grundlagevon 85 Prozent statt von bisher 100 Prozent der Leis-tungsaufwendungen der Altenteiler berechnet werdensoll. Darüber reden wir in vielen Gesprächen mit denBetroffenen, den Verbänden und den Ländern. Dabeisind auch die Ergebnisse der im Konsens zwischen derKoalition und der CDU/CSU beschlossenen Gesund-heitsreform zu berücksichtigen, die auch für den Bundhöhere Einsparungen bringen.

Ich möchte diesen Bereich besonders ansprechen,weil ich glaube, dass er im Moment ein Kernthema ist –zu Recht.

Wir haben erste Gespräche dazu geführt, die mich zu-versichtlich stimmen, dass wir eine vertretbare Lösungfinden können, die nicht so aussieht wie das, was Sie an-nehmen, indem Sie schlicht und einfach die Einspar-summe umlegen und behaupten, es käme in einigen Be-reichen zu Beitragserhöhungen von bis zu 40 Prozent.Genau das wollen wir vermeiden.

(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Aber das ist die Tatsache!)

Ich wollte Ihnen aber nicht mit dem Haushaltsentwurfeine schnell gestrickte Lösung vorlegen, weil eine Viel-zahl von Gesprächen, auch mit den Krankenkassenträ-gern, erst nach Einbringung des Haushalts geführt wer-den können.

Es geht in diesem Haushalt zudem um den Abbauvon Steuervergünstigungen. Das bezieht sich zum ei-nen auf die Begrenzung der Umsatzsteuerpauschalierungauf nicht buchführende Betriebe und die Senkung des

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Bundesministerin Renate Künast

Durchschnittssatzes der Pauschalierung von 9 auf7 Prozent. Zum anderen bezieht es sich auf die Verringe-rung der Steuervergünstigung beim Agrardiesel um ins-gesamt 157 Millionen Euro. Dazu führen wir eine be-triebliche Obergrenze ein. Auch das war keine einfacheEntscheidung. Aber die Obergrenze von 10 000 Liternpro Betrieb bedeutet, dass kleinere Betriebe an dieserStelle nicht belastet werden.

Wenn man Gelder einsparen muss, kommt man nichtumhin, sich zu überlegen, wie man eine ausgewogeneBelastung oder Entlastung schaffen kann und wer anwelcher Stelle eher einen Ausgleich benötigt als andere.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Die Wettbe-werbsfähigkeit gegenüber den Franzosen wirdstark leiden!)

Meine Damen und Herren, das ist nur die eine Seite,der schwierige Teil der Finanzpolitik. Viel schöner istder andere Teil, nämlich das Tätigen von Zukunftsin-vestitionen. Wir haben in diesem Zusammenhang in die-sem Jahr einiges erreicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD – Kurt J.Rossmanith [CDU/CSU]: Das ist ja nicht zufassen!)

Die Ergebnisse von Luxemburg sind von der Landwirt-schaft durchaus positiv aufgenommen worden.

(Ilse Aigner [CDU/CSU]: Von wem?)

Ich will Ihnen auch sagen, warum.

Sie haben selbst gesehen, dass der Bauerntag in die-sem Jahr in Freiburg in weiten Teilen anders abgelaufenist als das, was man normalerweise gewohnt ist. Es warein nachdenklicher Bauerntag, der sich auch mit derFrage beschäftigt hat: Wie kann man die finanziellenPlanungen und Festlegungen bis 2013 und die Luxem-burger Beschlüsse mit der Entkoppelung und der obliga-torischen Modulation umsetzen?

Wir haben einen finanziellen Rahmen geschaffen. Mitder Stärkung der zweiten Säule haben wir im Übrigenauch Perspektiven für die ländliche Entwicklung ge-schaffen. Das ist in Ost und West gleichermaßen wich-tig. Es gibt dort eine inhaltliche Neuausrichtung, zumBeispiel ein Mehr an Möglichkeiten, Qualitätspro-gramme zu unterstützen. Es geht um Dinge, die dieLandwirte heute schon tun. Aber für diese Bemühungen,dass sie in einem hohen Qualitätssegment produzierenund damit auch bei der internationalen Konkurrenz ihrenTeil auf dem Markt finden, kann man sie in Zukunftauch finanziell ausstatten.

Wir haben auch die Möglichkeit – darüber wird mitden Bundesländern aktiv geredet –, die Betriebsprämie,die einige Nachteile hat, in Flächenprämien umzuwan-deln. Ich bin recht sicher, dass wir noch vor Weihnachtenmit den Bundesländern gemeinsam ein System vereinba-ren, damit die Landwirte klar sehen, wo es langgeht. Esgeht also darum, keine lange Debatte im Bundesrat zuführen, sondern schon vorher eine Einigung zwischenBund und Ländern darüber herzustellen, wie wir aus die-

sem System eine gute regionale Flächenprämie machen,die im Übrigen – ich gehe davon aus, dass das alle hierwollen – auch dazu führt, dass Ungerechtigkeiten bei derVerteilung der Gelder innerhalb der Landwirtschaft auf-gehoben werden. Ich denke zum Beispiel an eine Stär-kung der Grünlandstandorte, was Sie wollen müssten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD – Kurt J.Rossmanith [CDU/CSU]: Nicht „wollen müss-ten“, sondern was notwendig ist!)

– Jetzt rufen Sie dazwischen: „Nicht wollen müssten,sondern was notwendig ist!“. Dann frage ich mich aber,warum mich Ihre Fraktion noch vor zwei Jahren so vehe-ment bekämpft hat.

(Albert Deß (CDU/CSU): Bayern ist das ein-zige Bundesland, das eine Grünlandprämiezahlt!)

– Genau, wunderbar. Ich weiß es. Deshalb wird Bayern– wie andere Länder auch – sicherlich eine große Unter-stützung dabei leisten, die Grünlandprämie bundesweiteinzuführen.

Wir haben in diesem Haushalt Prioritäten für Zu-kunftsinvestitionen geschaffen; denn wir überlegenuns: Wie kann man Qualität verstärken? Wie kann mandie gemeinsame Verarbeitung und Vermarktung, auchauf dem Erzeugergenossenschaftssektor, unterstützen?Wie kann man zusätzliche Standbeine aufbauen?

Das heißt erstens: Es ist nicht nur im Haushalt desBMVEL, sondern auch im Haushalt des Bundesministe-riums für Umweltschutz eine breite Palette an Förder-maßnahmen für die erneuerbaren Energien enthalten,die, wenn man diese zusammen sieht, auch im Biomas-sebereich viele Möglichkeiten und Chancen bietet, dieviele Landwirte längst nutzen. Des Weiteren haben wirgünstige Fördermöglichkeiten für Biogasanlagen imAgrarinvestitionsförderprogramm der Gemeinschafts-aufgabe. Das ist ein Standbein, das man nutzen kann unddas zukünftig gute Chancen hat.

Zweitens: der ökologische Landbau. Dieses Pro-gramm wird in Zukunft mit einigen Veränderungen inden Bereichen fortgeführt, in denen besonderer Förder-bedarf besteht.

Drittens: der Verbraucherschutz. Kernstück bleibtder vorsorgende Verbraucherschutz. Das heißt, wir wol-len die Risikobewertung und das effektive Risikoma-nagement, mit dem wir, glaube ich, gut gefahren sind,fortführen. Ich hoffe auch in diesem Jahr auf Ihre Unter-stützung beim Ausbau der beiden Einrichtungen, demBundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsi-cherheit und dem Bundesinstitut für Risikobewertung,weil wir da noch Personal- und Sachmittel brauchen.

Der Verbraucherpolitik messen wir – ich glaube, dasist einhellige Auffassung in diesem Haus – eine großeBedeutung zu. Deshalb bleiben in diesem Haushalt dieMittel für die Verbraucherzentrale Bundesverband bei8,8 Millionen Euro, der Zuschuss an die Stiftung Waren-test bei 6,5 Millionen Euro. Ich glaube, in diesen Tagen

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Bundesministerin Renate Künast

kann man sagen, dass ein Gleichbleiben der Beträge fastschon eine Steigerung ist.

Der vierte Punkt, der mir in diesem Haushalt – auchinhaltlich – wichtig ist, ist das Thema „gesunde Ernäh-rung“. Auch das ist eine Investition in die Zukunft.

(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr richtig!)

Wir alle wissen, dass das Thema „massives Überge-wicht“ nicht mehr allein ein Problem der USA ist, woherwir es aus Film, Fernsehen oder eigener Anschauungkennen, sondern wir haben das Problem hier auch. DieZahl der chronischen Erkrankungen bei Jugendlichennimmt zu: Herz-Kreislauferkrankungen, Diabetes Typ 2.Das alles sind Dinge, die wir bitte schön nicht später imRahmen der Krankenkassendebatte hinsichtlich der Kos-ten für eine langjährige Chronikbehandlung diskutierenwollen. Deshalb fördern wir mit unseren Mitteln zurVerbraucheraufklärung in Höhe von 12,5 Millionen Euroim nächsten Jahr speziell Maßnahmen der Ernährungs-aufklärung bei den Verbraucherzentralen. Voraussetzungdafür ist eine Kofinanzierung durch die Bundesländer.Ich sehe mit Sorge, dass diverse Bundesländer glauben,dies sei eine gute Sparmöglichkeit.

Ich glaube, dass Verbraucheraufklärung und das Vermit-teln von Informationen über Ernährung bis hin zu Ver-tragsgestaltungen im Alltag ganz wichtige Punkte sind.Wir alle wissen, dass es immer mehr Insolvenzen vonPrivatpersonen gibt. An der Stelle sollten wir diese Pri-vatpersonen unterstützen und aufklären.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Angesichts der Vorgaben, die wir beachten müssen,und angesichts der Finanzprobleme, die wir haben,glaube ich, dass wir einen ganz guten und auf die Zu-kunft ausgerichteten Haushalt vorgelegt haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Ilse Aigner von der CDU/

CSU-Fraktion.

(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Ilse Aigner (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Ich möchte zunächst ein paar grund-sätzliche Anmerkungen zum Haushalt machen. Wieheute in der Finanzdebatte schon angesprochen, beratenwir einen Haushalt, der auf ziemlich tönernen Füßensteht, um nicht zu sagen: Er ist auf Sand gebaut.

(Walter Schöler [SPD]: Na!)

– Er ist wirklich auf Sand gebaut. Herr Schöler, Sieselbst müssten es am besten wissen. – Obwohl der Haus-halt auf Sand gebaut ist und sozusagen das Erdgeschossschon einsturzgefährdet ist, beraten wir über die Innen-

einrichtung der Obergeschosse. So verlaufen im Momentdie Haushaltsberatungen.

Die Unionsfraktion und insbesondere die Haushälterglauben, dass dieser Haushalt nicht beratungsreif ist. Wirkönnen Änderungsanträge, die kleinere oder größere Be-träge beinhalten, rauf und runter stellen. Am Schlusswerden sich aber aufgrund von Steuerschätzungen oderanderen Gegebenheiten wesentliche Veränderungen er-geben. Dann können wir mit den Beratungen von vornebeginnen. Dieser Haushalt ist also das Papier nicht wert,auf dem er gedruckt ist. Das muss man wirklich sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Christel Happach-Kasan [FDP])

Frau Ministerin, Sie haben den Einzelplan 10, der diegrößte Kürzung aller Einzelpläne in Höhe von7,4 Prozent aufweist, zu verantworten. Diese Kürzungbetrifft nicht, wie man vielleicht meinen könnte, einesIhrer Prestigeobjekte. Nein, es geht bei den Landwirtendirekt an die Substanz, nämlich – Sie haben es selbstangesprochen – im Bereich der landwirtschaftlichenKrankenversicherung.

Sie haben die Situation – um es etwas freundlich zusagen – schöngeredet. Sie haben auch die Zahlen schön-gerechnet. Sie rechnen nämlich mit Beitragssatzsteige-rungen von durchschnittlich 32 Prozent. In Rheinland-Pfalz kann die Steigerung aber sogar 48 Prozent betra-gen, wie es in Ihrer Unterlage steht. Die Sozialversiche-rungsträger haben uns glaubhaft versichert, dass Sie IhreZahlen schöngerechnet haben; denn Sie kalkulierennicht ein, dass diejenigen, die momentan freiwillig versi-chert sind, sehr schnell diese Versicherung verlassenwerden. Die Belastung aufgrund der Erhöhung wirddann also auf weniger aktive Landwirte verteilt. Bei-tragssatzsteigerungen von durchschnittlich 45 Prozent– in der Spitze können es 68 Prozent sein – sind zu er-warten.

(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Leider wahr!)

– Das ist in der Tat leider wahr.

(Peter Bleser [CDU/CSU]: Eine Unverschämt-heit!)

Auf der anderen Seite sollen die Beiträge zur gesetzli-chen Krankenversicherung gesenkt werden. Bei denBäuerinnen und Bauern steigen sie aber durch die ge-plante Kürzung der Zuschüsse auf bis zu 22 Prozent. Au-ßerdem haben die Landwirte noch die Zuzahlungen zuverkraften. Mir soll mal einer erklären, wie das funktio-nieren soll. Es ist unglaublich. So machen Sie das Sys-tem kaputt. Wenn das Ihre Absicht ist, dann sagen Sie esheute offen, damit man sich darauf einstellen kann.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ihr Handeln ist auch deshalb so unverständlich, weiles sich um einen der wenigen Bereiche handelt, der EU-und WTO-verträglich ist. Die Zuschüsse zur Kranken-versicherung sind Bestandteil der so genannten GreenBox, eine der wenigen Maßnahmen, die den Bäuerinnenund Bauern direkt helfen, die Benachteiligungen, die es

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Ilse Aigner

aufgrund der hohen Standards in der BundesrepublikDeutschland gibt, auszugleichen. Sie begründen die Kür-zung damit – Herr Staatssekretär Diller hat dies in einemSchreiben ausgeführt –, dass die Zuschüsse eine Subven-tion seien.

(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Der versteht von den Bauern nichts!)

Herr Staatssekretär, in Ihrem eigenen Subventionsbe-richt ist die landwirtschaftliche Krankenversicherungnicht explizit aufgeführt. Ich kann es Ihnen zeigen.

(Karl Diller, Parl. Staatssekretär: Da können wir mal nachschauen!)

– Ja, da schauen wir mal auf der nächsten Sitzung nach.

Interessant ist auch, dass in diesem Bericht andereVersicherungsträger, wie zum Beispiel die Knappschaft,nicht aufgeführt werden.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Darüber steht nichts im Subventionsbericht. Es geht ei-gentlich immer nur um die landwirtschaftliche Kranken-versicherung. Sie haben in diesem Bereich der Sozial-versicherung in den letzten Jahren, in denen Sie dieVerantwortung tragen, Kürzungen in Höhe von755 Millionen Euro vorgenommen. Angesichts dieserKürzung für einen einzigen Berufsstand drängt sich ei-nem schon der Verdacht auf, dass es ein Rachefeldzuggegenüber einem Berufsstand ist, der Ihre Partei offen-sichtlich nicht wählt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg.Dr. Christel Happach-Kasan [FDP] — Kurt J.Rossmanith [CDU/CSU]: Auch das ist leiderwahr!)

Sie setzen sehr auf die bäuerliche Landwirtschaft, derauch ich sehr nahe stehe. Mich stört, dass Sie mit diesenMaßnahmen insbesondere die bäuerliche Landwirt-schaft, die sehr personalintensiv ist, treffen. Durch IhreMaßnahmen werden hauptsächlich mitarbeitende Fami-lienmitglieder getroffen.

Ich nenne ein anderes Beispiel. In den Erläuterungenzum Entwurf des Haushaltsbegleitgesetzes steht – ichzitiere –:

Entscheidende wirtschaftliche Wachstumsimpulsewerden mit dem Vorziehen der dritten Stufe derEinkommensteuerreform von 2005 auf 2004 ver-bunden sein … Die Finanzierung der entstehendenZinsbelastung wird durch eine Änderung des Um-satzsteuergesetzes sichergestellt. Hier soll dieDurchschnittssatzbesteuerung für buchführendeLandwirte wegfallen. Gleichzeitig wird die Vor-steuerpauschale von 9 auf 7 Prozent bei Land- undForstwirten abgesenkt.

Es kommen noch mehrere Tatbestände hinzu. Es ist aberbezeichnend, dass die ersten zwei Tatbestände allein dieLandwirtschaft treffen.

Diese Maßnahme trifft wiederum in erster Linie diekleinen und mittleren Betriebe. Die Pauschalierung wareine Verwaltungsvereinfachung, die für beide Seiten, so-

wohl für die staatliche Seite als auch für die Landwirt-schaft, Vorteile hatte. Die Einzigen, die von dieser Ände-rung wahrscheinlich profitieren werden, sind dieSteuerberater. Aufgrund der Absenkung werden dieSteuererklärungen vermehrt von Steuerberatern erstelltwerden. Ob der Staat durch diese Maßnahme mehr Geldin die Kasse bekommt, wage ich zu bezweifeln. DieSteuerberater aber haben vielleicht mehr Geld in der Ta-sche.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Diese Maßnahmen sind nur ein Teil einer ganzenReihe von Ihnen vorgeschlagener Maßnahmen, die zu-lasten der Landwirtschaft gehen. Die Regelungen zumAgrardiesel – Sie haben ihn selbst schon angesprochen –stellen auch eine Wettbewerbsverzerrung gegenüber an-deren EU-Ländern dar. Sie haben – natürlich – die Öko-steuer verschwiegen, die mit 460 Millionen Euro eben-falls insbesondere die kleinen und mittleren Betriebetrifft, weil sie unterhalb der Sockelbeträge liegen und au-ßerdem keinen Ausgleich über die Lohnersatzleistungenbekommen können. Das geht zulasten der Landwirt-schaft.

Zu den landwirtschaftlichen Sozialversicherungs-systemen insgesamt möchte ich eines sagen: Sie sind– wie es in anderen Bereichen auch der Fall war – einge-führt worden, um den demographischen Wandel, denStrukturwandel in der Landwirtschaft zu begleiten. Wä-ren alle Nachkommen, die Kinder und Enkelkinder vonin der Landwirtschaft Tätigen, innerhalb des Systemsgeblieben, hätten die landwirtschaftlichen Sozialsiche-rungssysteme wahrscheinlich überhaupt keine Probleme.Es sind aber viele – natürlich – aus der Landwirtschaftabgewandert. Sie finanzieren nunmehr die gesetzlichenKrankenversicherungssysteme mit und belasten sozusa-gen dadurch auf der anderen Seite die landwirtschaftli-chen Krankenversicherungen.

Zum Vergleich: Bei den landwirtschaftlichen Sozial-versicherungssystemen reden Sie von Subventionen; beider gesetzlichen Rentenversicherung sprechen Sie hin-gegen von einem Zuschuss. Können Sie mir sagen, wohier eigentlich der Unterschied ist?

(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da ist kein Unterschied!)

Es werden über 70 Milliarden Euro in die Rentenversi-cherungssysteme transferiert. Ich frage mich, warum beider Landwirtschaft andere Maßstäbe angelegt werden.

Ein weiteres Lieblingskind von Ihnen – ich sage dasin Anführungsstrichen – ist die Gemeinschaftsaufgabe„Agrarstruktur und Küstenschutz“. Auch hierbei ha-ben Sie erneut Kürzungen vorgenommen. Insgesamt be-laufen sich die Kürzungen während Ihrer Amtszeit auf230 Millionen Euro. Dadurch entgehen uns Kofinanzie-rungsmittel vonseiten der Länder. Wir wissen natürlich,dass nicht alle Länder die vollen Summen abrufen kön-nen; auf alle Fälle gehen aber Mittel verloren. Auch Siewissen, dass Mittel, die vonseiten der EU bereitgestelltwerden, ebenfalls verloren gehen. Baden-Württembergund Bayern haben für ihre Umweltprogramme die

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Ilse Aigner

bereitstehenden Mittel der EU abgerufen, die ansonstenebenfalls verloren gegangen wären.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ihre Streichungen beziehen sich auf die Titel, die di-rekt an die betroffenen Bäuerinnen und Bauern gehen.Ihre Prestigeobjekte halten Sie hingegen aufrecht. DasProgramm „Zuschüsse zur Förderung des ökologi-schen Landbaus“, das Sie selbst angesprochen haben,möchte ich herausstellen: Sie haben den Eindruck er-weckt, es handele sich um eine Hilfe zur Umstellung.Wenn ich mir in der Auflistung die einzelnen Titel an-sehe, stelle ich fest, wofür die 20 Millionen vorgesehensind, nämlich für reine Informationskampagnen: Infor-mationsveranstaltungen, Ökolandbau auf Messen, Öko-verarbeitung auf Messen, Inno- und Informationspreis,Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Informationskampa-gne und so weiter und so fort. Ich könnte Ihnen das allesvorlesen.

(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Reine Schaumschlägerei!)

Im Grunde sind die 20 Millionen Euro rein für Öffent-lichkeitsveranstaltungen vorgesehen. Im Öffentlichkeits-titel sind aber lediglich 1,35 Millionen Euro vorgesehen.Das ist eine Irreführung der Bevölkerung. Sie legen einriesiges Programm auf, das nichts anderes als Öffent-lichkeitsarbeit ist.

(Beifall bei der CDU/CSU – Albert Deß[CDU/CSU]: Das muss der Rechnungshof ein-mal prüfen! – Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Unerhört!)

– Unerhört!

Sehr geehrte Frau Ministerin, abschließend sei mir einHinweis gestattet. Sie waren in der vergangenen Wochein meinem Wahlkreis, im Landkreis Miesbach. Die ört-lichen Grünen haben sich gerühmt, dass der Ökoanteilan der bäuerlichen Landwirtschaft dort bei über 20 Pro-zent liegt. Das stimmt. Das ist aber mit Sicherheit nichtder Erfolg Ihres Ökolandbauprogramms und nicht derErfolg der örtlichen Grünen. Das ist gute Strukturpolitikbei uns in Bayern gewesen. Das muss ich Ihnen ehrlichgesagt einmal ins Stammbuch schreiben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Nicht zuletzt haben Sie den Ökolandbauern mit IhremÖkosiegel mit Sicherheit keinen Gefallen getan. LetztesWochenende haben nicht wenige Landwirte ihre Milchverschenkt oder verschüttet, weil sie von der Molkereikeine Preise mehr bekommen, die kostendeckend sind.Durch die Einführung Ihres Ökosiegels haben Sie einenPreisverfall auf dem Ökomarkt herbeigeführt, der sozu-sagen sagenumwoben ist.

(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Ein Pseudo-Ökosiegel!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Aigner.

Ilse Aigner (CDU/CSU): Ich könnte noch vieles dazu sagen; es gibt noch viele

Titel, die mir am Herzen liegen. Eines kann ich Ihnenauf alle Fälle sagen: Sie haben ein schönes Programmaufgelegt, das „Aktionsprogramm bäuerliche Landwirt-schaft“, mit 0 Euro. Sie können sich solche Programmewahrscheinlich in Zukunft sparen, wenn Sie den Bäue-rinnen und Bauern weiterhin den Boden unter den Füßenwegziehen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Manfred Zöllmer von

der SPD-Fraktion.

Manfred Helmut Zöllmer (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Deutschland hatte einmal einen Kanzler, der einem Teilder Bevölkerung blühende Landschaften versprochenhat, dem anderen Teil warf er vor, in einer Freizeit- undSpaßgesellschaft zu leben. Seine Nachfolgerin als Par-teivorsitzende wird derzeit nicht müde, zusammen mitIhnen von der Opposition den Standort Deutschlandschlecht zu reden. Sie hat nun vorgeschlagen: Alle sollengefälligst mehr arbeiten.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Sind Sie heute Morgen nicht im Parlament gewesen?)

– Genau dazu komme ich jetzt.

Dies soll Deutschland dann vor dem Ruin retten. Dasist im Übrigen neben der Abschaffung des Flächentarif-vertrages der einzige konkrete Vorschlag der CDU zurÜberwindung der Wachstumsschwäche der Wirtschaft.Sonst hören wir vonseiten der Opposition nichts anderesals einen vielstimmigen Chor völlig gegensätzlicher Vor-schläge. Diese Vorschläge haben nur eines gemeinsam– die Debatte heute hat das eindeutig nachgewiesen –:

(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Sie sind doch die Regierung!)

Sie zeigen die völlige Handlungsunfähigkeit der Opposi-tion, wenn die Zeiten schwieriger werden, wenn esnichts mehr zu verteilen gibt.

(Beifall bei der SPD – Kurt J. Rossmanith[CDU/CSU]: Wer regiert denn? Die Opposi-tion oder die Regierung?)

Gäbe es eine Technische Anleitung „Heiße Luft“,müsste die CDU/CSU-Fraktion insgesamt stillgelegtwerden.

(Lachen bei der CDU/CSU)

Die Konjunkturschwäche in Deutschland dauert an,selbst wenn erste Anzeichen für eine Belebung derVolkswirtschaft wahrzunehmen sind. Verbunden mit derhohen Arbeitslosigkeit gibt es erhebliche Einnahme-aber auch Ausgabeprobleme. Deshalb dürfen wir dasPflänzchen Konjunktur nicht kaputtsparen, müssen aber

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Manfred Helmut Zöllmer

gleichzeitig die notwendigen Konsolidierungsmaßnah-men durchführen. Es wird mit uns keinen Marsch in denVerschuldungsstaat geben, wie das die CDU/CSU-ge-führte Bundesregierung 16 Jahre praktiziert hat.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Keinen Marsch? Wird sind doch mittendrin!)

Vor uns liegt ein Haushaltsentwurf, der sich diesenHerausforderungen stellt und nicht den Eindruck er-weckt, alles könne so bleiben wie bisher. Zur Konsoli-dierung müssen alle Bereiche beitragen. Keiner kannhiervon ausgenommen werden. Mit diesem Haushaltbringen wir Strukturreformen auf den Weg und betreibenWachstumskonsolidierung.

(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Wachstums-konsolidierung?)

– Ja, das wäre doch gar nicht so schlecht. Das wäre docheinmal was. Ich meinte jedoch Haushaltskonsolidierung.

(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: So einen Quatsch habe ich noch nicht gehört!)

Der Bundeshaushalt 2004 sieht dabei auch für denEinzelplan des Bundesministeriums für Verbraucher-schutz, Ernährung und Landwirtschaft erhebliche Kür-zungen vor. Diese schmerzlichen Einschnitte sind ge-nauso notwendig wie angesichts der skizziertenRahmenbedingungen unvermeidbar. Neben diesen Ein-sparungen muss dieser Bereich auch seinen Beitrag zurFinanzierung des Vorziehens der dritten Stufe der Steu-erreform leisten.

Wir wollen die Bürgerinnen und Bürger in diesemLand – dazu gehören natürlich auch die Landwirte –deutlich entlasten und damit das zarte Pflänzchen Kon-junktur düngen.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Was für ein Bild am späten Abend!)

– Wir sind ja im Landwirtschaftsbereich. – Dies bedeutetaber auch, dass eingefahrene Wege verlassen werdenmüssen. Subventionen, deren Kürzung von der Opposi-tion gebetsmühlenartig gefordert werden, müssen danneben auch gekürzt werden. Hier muss sich die Opposi-tion einmal eindeutig erklären. Denn oft genug machenwir die Erfahrung: Wenn es konkret wird, sind immerandere Subventionsbereiche gemeint. Das haben wir beiganz vielen Bereichen deutlich gesehen und jetzt ebenauch. Welche Subventionen nach Ihrer Meinung gekürztwerden sollen, das sagen Sie uns nicht.

(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Jetzt sagenSie etwas zum Thema! – Ursula Heinen[CDU/CSU]: Zum Thema, Kollege!)

– Ich spreche zum Thema. Das ist das Thema, bei demdie CDU/CSU in eine Denkstarre verfallen ist und kei-nerlei konkrete Vorschläge machen kann.

(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregie-rung verfolgt – das wird mit diesem Haushalt deutlich –weiterhin konsequent das Ziel einer Neuausrichtungder nationalen Agrarpolitik hin zu einer wettbewerbsfä-

higen und nachhaltigen Landwirtschaft, in deren Zen-trum der Mensch, seine Gesundheit und die Natur inDeutschland stehen. Ob BSE, Schweine- oder Hühner-pest, all diese Auswüchse einer fehlgeleiteten Landwirt-schaftspolitik sind nicht vergessen. Eine ökologisch ver-trägliche, aber gleichwohl wirtschaftlich erfolgreicheLandwirtschaft ist möglich und kann erreicht werden.

Wir arbeiten weiter an der Neuausrichtung der Agrar-politik. Das wird auch mit dem vorgelegten Haushalts-entwurf deutlich. Bei allen notwendigen Kürzungen wer-den wir die Ausweitung des ökologischen Landbausweiter vorantreiben, den Tierschutz verbessern sowie dieNutzung nachwachsender Rohstoffe fördern. Wir fördernweiterhin die Entwicklung ländlicher Räume. Die Ge-meinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küstenschutz“bleibt, Frau Aigner, auf einem hohem Niveau.

Wer die Landwirtschaft zukunftsfähig machen will,muss auf Reformen setzen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Angesichts der EU-Osterweiterung, angesichts der im-mer kritischer werdenden Diskussion in Deutschlandüber Subventionen, angesichts unserer Interessen beiden WTO-Verhandlungen war ein Paradigmenwechselin der Landwirtschaft notwendig. Er ist in Luxemburgerreicht worden. Frau Bundesministerin Künast hat dortfür Deutschland klug und erfolgreich agiert.

(Albert Deß [CDU/CSU]: Da sollten Sie ein-mal Ihren Parteifreund Funke fragen!)

Auf der Basis dieser Beschlüsse werden wir die Zu-kunftsfähigkeit der Landwirtschaft sichern. Es gilt, dieChancen zu nutzen und sie zum Wohle der Landwirt-schaft umzusetzen.

Was macht die Opposition? Sie von der CDU/CSUspielen Ihr traditionelles Doppelspiel und hoffen, dass esniemandem auffällt.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Aber Ihnen istes aufgefallen! Sie sind jetzt darauf gekom-men!)

Ihr Wirtschaftsflügel setzt sich für umfassende Handels-liberalisierungen und den Abbau bestehender Agrarsub-ventionen ein. Der Agrarflügel der CDU/CSU versucht,Attac beim Blockieren von Veränderungen noch zu über-holen. Das ist die Situation.

(Beifall des Abg. Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition:Diese Art der Arbeitsteilung werden wir Ihnen nichtdurchgehen lassen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Vorschläge der Bundesregierung für den Haushalt2004 liegen auf dem Tisch. Wir werden diese Vorschlägein den weiteren Beratungen sorgfältig prüfen. Wir wis-sen, dass das Einsparvolumen erreicht werden muss. Esmacht doch wenig Sinn, den Agrardiesel dauerhaft zu

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4970 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Manfred Helmut Zöllmer

subventionieren, wenn die Landwirtschaft mit dem Bio-diesel über eine eigene Energiequelle verfügt.

(Beifall der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Kurt J.Rossmanith [CDU/CSU]: Null Ahnung vomBauernhof!)

Eine solche Dauersubvention ist gesellschaftlich nicht zuvermitteln. Wir wollen im Rahmen der parlamentari-schen Beratungen auch die Chance für strukturelle Re-formen nutzen. Unzumutbare Belastungen wird es mituns nicht geben. Ihre Kritik werden wir erst dann ernstnehmen können, wenn Sie wirklich alternative Einspar-vorschläge vorlegen. Das haben Sie bisher nicht ge-macht.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, immer wiedergewinnt man den Eindruck, viele betrachten den Ver-braucherschutz als eine Dreingabe, als eine Art Sahne-häubchen für einige wenige. Viele meinen, der Verbrau-cherschutz störe nur eine erfolgreiche Wirtschaft. Diesist ein grundlegender Irrtum. Verbraucherschutz ziehtsich durch nahezu alle Lebensbereiche unserer Bürgerin-nen und Bürger und durch die unterschiedlichsten Poli-tikfelder und ist eine wichtige Aufgabe. Dabei wollenwir vom reinen Verbraucherschutz zu einer aktiven undgestaltenden Verbraucherpolitik kommen. Verbrauche-rinnen und Verbraucher müssen in allen Bereichen gutinformiert sein. Es muss ihnen die Möglichkeit gegebenwerden, sich für qualitativ hochwertige und nachhaltigeProdukte und Dienstleistungen zu entscheiden. Dies giltnicht zuletzt im Hinblick auf das Zusammenwachsen derEuropäischen Union und durch die Globalisierung.

Transparenz und Information sind die schärfsten Waf-fen wirksamer Verbraucherpolitik. Deshalb fließen wei-terhin die notwendigen Mittel an die wichtigen Verbrau-cherinstitutionen wie die Stiftung Warentest und dieVerbraucherzentralen, die in diesem Sinne tätig sind.Hier finden keinerlei Kürzungen statt. Auch für weiter-gehende Maßnahmen zur Aufklärung der Verbraucherin-nen und Verbraucher stellen wir erhebliche Mittel zurVerfügung. Dies wird auch in Zukunft so bleiben. Diesmacht deutlich: Diese Bundesregierung macht Ernst mitdem Verbraucherschutz.

Das haben wir auch in vielen anderen Bereichen deut-lich gemacht, etwa bei der Änderung des Telekommuni-kationsgesetzes. Dort wurde dem Missbrauch der 0190-Nummern ein Riegel vorgeschoben.

(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Auch da sind die Bauern schuld!)

Aber auch in vielen anderen Bereichen, etwa im Bereichder Finanzdienstleistungen, wird der Verbraucherschutzeine entscheidende Rolle spielen. In einem Zehnpunk-teprogramm der Bundesregierung zur Stärkung vonUnternehmensintegrität und zum Anlegerschutz geht esgerade auch um die Verbraucherthemen Haftung, Vergü-tung, Transparenz, Qualität und Unabhängigkeit.

Wir nehmen die Verbraucherinnen und Verbraucherernst. Uns geht es darum, dass Verbraucherinnen undVerbraucher als gut informierte Partner auf Augenhöhe

den Anbietern von Produkten und Dienstleistungen ge-genübertreten können. Wir sind zutiefst überzeugt: EineStärkung der Verbraucherinteressen führt zu einer Stei-gerung der Produktqualität. Dies treibt die Modernisie-rung der Wirtschaft voran und erhöht damit ihre Wettbe-werbsfähigkeit.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine aktive Ver-braucherpolitik, wie sie unsere Fraktion in ihrer verbrau-cherpolitischen Strategie formuliert und in der vergange-nen Woche mit über 300 Experten und Interessierten hierin Berlin diskutiert hat, ist ein wichtiger Bestandteil un-serer Reformpolitik und gleichzeitig Motor einer moder-nen Wirtschaftspolitik für unser Land. Darauf könnenwir stolz sein.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Christel Happach-

Kasan, FDP-Fraktion.

Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!

Herr Zöllmer, ich habe den Eindruck, Ihnen hat ein an-derer Einzelplan vorgelegen als mir. Ich finde viele Bei-spiele, die Sie genannt haben, in meinem Exemplar nichtwieder.

Frau Ministerin, es kann bei diesem Haushalt nichtnur um eine Konsolidierung der Finanzen gehen. Dasreicht nicht aus. Wir brauchen eine Stärkung der Wirt-schaftskraft. Wir brauchen ein stärkeres Wirtschafts-wachstum, um die Arbeitslosigkeit abzubauen. Dafürfinde ich keine Signale im Einzelplan 10.

An der Haushaltspolitik der Regierung lässt sich able-sen, wohin die Reise gehen soll. Der Einzelplan 10 weistein Minus von 7,4 Prozent auf. Das ist kritisiert worden.Konkret heißt das: Landwirtschaft und Ernährungswirt-schaft sowie die rot-grüne Wortschöpfung „Verbraucher-schutz“ sind für diese Bundesregierung – egal was sie er-klärt – Marginalien von nur noch untergeordnetem Wert.

Sie, Frau Ministerin, spüren das. Weshalb sonst habenSie zum Beispiel das Übergewicht von Kindern zu ei-nem Thema gemacht? Ich stimme Ihnen durchaus zu: Esist ein ganz wichtiges Thema. Aber es ist durchaus nichtein klassisches Thema der Landwirtschaft.

(Zuruf von der CDU/CSU: Aber populär!)

– Es ist nicht populär, sondern wichtig. Ich möchte dieMinisterin in diesem Punkt durchaus unterstützen. Aberes ist natürlich kein immanentes Thema der Landwirt-schaft.

In Deutschland hat die Landwirtschaft eine sehr vielgrößere Bedeutung, als dieser Haushalt widerspiegelt.Maßnahmen, die die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebeschwächen, werden sehr viel mehr Menschen inDeutschland zu spüren bekommen als nur die Landwirte.Wer die Landwirtschaft zerstört, nimmt dem ländlichen

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Dr. Christel Happach-Kasan

Raum seine Lebenskraft, nimmt Menschen in ländlichenRegionen ihre Heimat, zerstört eine in Jahrhunderten ge-wachsene Kulturlandschaft. Die Heckenstruktur inSchleswig-Holstein gründet sich auf die Mitte des18. Jahrhunderts.

Die Hälfte der Menschen in Deutschland lebt in länd-lichen und halbstädtischen Regionen. Jeder Bildbandvon Deutschland zeigt ganz selbstverständlich Kultur-landschaften als Beispiele für die Schönheit unseresLandes: Rapsfelder am Nord-Ostsee-Kanal, Weinbergean der Mosel, die Kirschblüte im Alten Land, Almwie-sen am Alpenrand. Die Liste ließe sich verlängern.Selbst die Bundeshauptstadt Berlin brüstet sich mit ihrenacht landwirtschaftlichen Betrieben.

Doch von der Schönheit des Landes können Land-wirte nicht leben. In dem Agrarbericht der Bundesregie-rung wird ausgewiesen, dass das Einkommen je Arbeits-kraft in den landwirtschaftlichen Haupterwerbsbetriebenzurzeit 17 Prozent unter dem gewerblichen Vergleichs-lohn liegt. Das heißt, Landwirte sind nicht auf Rosen ge-bettet. Im Schnitt arbeiten sie mehr als andere und ver-dienen weniger. Landwirte sind damit nicht dieklassischen Subventionsempfänger, als die Sie sie hierdargestellt haben, Herr Zöllmer.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die Stimmung in der Landwirtschaft ist vielerorts vonResignation gekennzeichnet.

Jede Skandalmeldung, egal wie berechtigt sie ist,wird pauschal allen Betrieben angelastet, auch wenn sienichts damit zu tun haben. Das erzeugt ein Gefühl derOhnmacht. Die BSE-Krise hat 2 Milliarden Euro gekos-tet. Sie steckt den Landwirten noch immer in den Kno-chen. Sie hatte ihren Ausgangspunkt in Großbritannien.Die Ausbreitung der Krankheit wurde durch ein eklatan-tes Versagen der EU-Veterinäre verursacht.

(Albert Deß [CDU/CSU]: So ist es!)

Herr Zöllmer, Sie haben hier eine falsche Darstellungder Dinge abgegeben.

Die rot-grüne Agrarpolitik hat einen entscheidendenAnteil an der schlechten Stimmung in der Landwirt-schaft. Darauf geben Sie mit diesem Haushalt keine an-gemessene Antwort. Es sind verschiedene Kürzungenvorgesehen, die so nicht stehen bleiben dürfen.

Zunächst nenne ich die Kürzung des Zuschusses zurlandwirtschaftlichen Krankenkasse. Der landwirt-schaftliche Strukturwandel ist seit der Gründung derKrankenkasse im Jahre 1972 die Begründung für denZuschuss. Der Strukturwandel hat sich beschleunigt. DieKürzung des Zuschusses bedeutet eine Erhöhung desBeitragssatzes um im Schnitt 40 Prozent. Diese Maß-nahme ist unsozial, sie belastet die Betriebe, die um ihreExistenz kämpfen.

Daneben nenne ich die Kürzungen bei der Gemein-schaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstrukturund des Küstenschutzes“. Ich finde es zynisch, dass dieRegierung darauf hofft, dass die Länder zu wenige Fi-

nanzmittel haben, um den erforderlichen Eigenanteil zuerbringen.

Als Drittes weise ich auf die Erhöhung des Steuersat-zes für den Agrardiesel hin. Der Vergleich mit Frank-reich zeigt: Die Wettbewerbsfähigkeit unserer landwirt-schaftlichen Betriebe wird geschwächt. In Frankreichbeträgt der Steuersatz 5,5 Prozent pro Liter, in Deutsch-land sind es 26 Prozent; das ist knapp fünfmal mehr.

Daneben ist noch auf die Umsatzsteuerpauschalie-rung hinzuweisen, die bereits erwähnt worden ist.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungs-koalition, in der Koalitionsvereinbarung heißt es, dasLeitbild der Regierung sei eine wettbewerbsfähige undnachhaltige Landwirtschaft. Weder der Agrarhaushaltnoch das Handeln der Regierung spiegeln das wider. DieRegierung fühlt sich dem eigenen Koalitionsvertragnicht verpflichtet und die Koalition fordert es nicht ein.Wo sind denn die Vorschläge von Rot-Grün zur Stärkungder unternehmerischen Landwirtschaft? Wo sind dieVorschläge für wettbewerbsneutrale Einsparungsmaß-nahmen? Auch wir von der FDP meinen, dass es imAgrarhaushalt Einsparungen geben muss.

(Manfred Helmut Zöllmer [SPD]: Welche denn konkret?)

Ein Kürzungsvorschlag genügt diesem Kriterium,Herr Kollege Zöllmer: Die Rückführung der Mittel inden Bundesprogrammen „Tiergerechte Haltungsverfah-ren“ und „Ökolandbau“ ist richtig. Der äußerst zögerli-che Mittelabfluss zeigt, dass Rot-Grün mit seinen Vor-stellungen von der so genannten Agrarwende gescheitertist. Weder für gute Worte noch für Geld sind die Betriebezu diesen Maßnahmen bereit; denn sie rechnen sichnicht.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Schon jetzt sind die Beihilfen des Staates an dieLandwirtschaft in Deutschland niedriger als in anderenEU-Mitgliedstaaten. Nach Angaben der EuropäischenKommission gewährt Deutschland Beihilfen in Höhevon 0,08 Prozent des Sozialproduktes, die Niederlandedagegen 0,26 Prozent. Die Botschaft dieses Haushalts andie Landwirte heißt doch: Zieht euch warm an. – DieHaushaltspolitik für 2004 entspricht damit der bisheri-gen Leitlinie rot-grüner Politik: Schwächung der Land-wirte, wo immer es geht.

(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Leider wahr!)

Herr Kollege Ostendorff, die Grünen schielen dabeinach dem Beifall der Umweltverbände, die alle wieder-holt sagen, dass eine Maßnahme nur dann in Ordnungist, wenn die Landwirtschaft jammert. Herr KollegeZöllmer, die Landwirte zahlen den Preis für die Unfähig-keit der SPD, mit dem grünen Partner tragfähige Kom-promisse auszuhandeln.

Ich komme nun zu einigen eklatanten Beispielen fürnationale Alleingänge und ein Politikversagen der SPD:

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Dr. Christel Happach-Kasan

Zunächst nenne ich die Hennenhaltungsverordnung.Der Tierschutzbeauftragte der SPD machte auf die ver-heerenden Folgen dieser Verordnung aufmerksam.

(Albert Deß [CDU/CSU]: Er versteht halt was davon!)

Die Schweinehaltungsverordnung ist ein weiteresBeispiel für die gleiche Problematik. Daneben nenne ichdas Tierarzneimittelgesetz. Die gemeinsame Initiativeder vier Fraktionen, das Gesetz in sieben Punkten zu än-dern und es praxistauglich zu machen, ging ins Leere;die SPD setzte sich nicht durch. Schließlich sind die No-velle des Baugesetzbuches und die Modulation zu nen-nen. Es gibt weitere Beispiele.

Herr Zöllmer, Sie kritisieren bei der CDU/CSU, dasssie einmal Hü und einmal Hott sagt und nach zwei Sei-ten argumentiert. Das machen Sie doch ganz genauso.

(Ursula Heinen [CDU/CSU]: Was heißt hier „genauso“?)

Sie sind die Opposition in der Regierung. Die SPD folgtdamit dem Beispiel der Grünen, die zum Beispiel inSchleswig-Holstein den Ausbau der Infrastruktur im Ko-alitionsvertrag unterschreiben, gleichzeitig dagegen abereinen Protest organisieren. Den Grünen bringt das Wäh-lerstimmen, der SPD ein Umfragetief. Liebe Kollegin-nen und Kollegen, darüber sollten Sie einmal ein wenignachdenken.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Im Agrarbericht von Schleswig-Holstein führt der zu-ständige grüne Minister aus, dass 20 Prozent der Arbeits-plätze im nördlichsten Bundesland direkt oder indirektvon der Landwirtschaft abhängen. Das dürfte in anderenBundesländern ähnlich sein. Das macht deutlich: DieAusgleichszahlungen der EU werden von den Landwir-ten nicht genutzt, um in der Toskana Urlaub zu machen,sondern sie werden investiert. Die Aufträge stärken diemittelständischen Betriebe im ländlichen Raum.

Arbeitsplätze in der Landwirtschaft sind kapitalinten-siv. Im Vorfeld von Basel II bekommen Landwirte dieZurückhaltung der Banken bei der Vergabe von Kreditenzu spüren. Die rot-grünen Wettbewerbsverzerrungen,insbesondere für Veredelungsbetriebe, führen dazu, dassjeder Landwirt einmal mehr überlegt, ob er angesichtsdes in Deutschland bestehenden Politikrisikos weitereInvestitionen wagt. Das ist kein Plan für den Abbau derArbeitslosigkeit. Dies führt vielmehr zur Verlagerungvon Arbeitsplätzen ins Ausland.

Damit sind wir unmittelbar beim Thema Verbrau-cherschutz. Es ist Ziel der Landwirtschaft und muss esbleiben, gesundheitlich einwandfreie Produkte bei gerin-ger Belastung der Umwelt herzustellen, und Ziel der Er-nährungswirtschaft, sie zu hochwertigen Endproduktenzu verarbeiten. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährungstellt der heimischen Obst- und Gemüseproduktion einglänzendes Zeugnis aus. Für Importware gilt das nichtim selben Umfang. Im „Focus“ der letzten Woche wurdeüber unerlaubt hohe Mengen an Pflanzenschutzmittelnbei Importware berichtet. Pflanzenschutzmittel, die beiuns verboten sind, gelangen über den Import von Obst

auf den Teller der Verbraucherinnen und Verbraucher.Das kann doch so nicht gewollt sein.

Damit wird deutlich, dass die Politik der Bundesregie-rung, der deutschen Wirtschaft in Alleingängen besondershohe Standards aufzuerlegen, nicht automatisch zu mehrSicherheit für die Verbraucherinnen und Verbraucherführt. Im Gegenteil: Es wird ein besonders hoher Kontroll-aufwand notwendig, der im Übrigen, wie wir alle wissen,von den Bundesländern nicht geleistet werden kann.

(Manfred Helmut Zöllmer [SPD]: Deshalb Ökolandbau!)

– Auch der Ökolandbau – das wissen Sie selbst – ist dafürkeine Alternative; denn für ihn werden Produktionsbe-dingungen vorgeschrieben, aber die Endprodukte werdennicht geprüft. Dies garantiert zum Beispiel das Gütesie-gel in Schleswig-Holstein – ein wundervolles Beispiel.

Über Kontrolle allein kann die Sicherheit von Le-bensmitteln nicht gewährleistet werden; denn Kontrollensind immer nur punktuell. Die rot-grüne Misstrauenskul-tur schafft nicht Sicherheit, sondern vermehrt die Unsi-cherheit.

Der Aktionismus in einigen Bereichen verschleiert,dass es durchaus Felder gibt, bei denen Handlungsbe-darf besteht, die ich zwar sehe, die aber nicht öffentlichdiskutiert werden. Thema Verbraucherschutz: Es gibt injedem Jahr Todesfälle durch Salmonelleninfektionen.Auch der vermehrte Medikamenteneinsatz bei der Bo-denhaltung von Geflügel ist ein wichtiges Thema.

Thema Ökolandbau: Im Ökolandbau werden nochimmer historische Pflanzenschutzmittel wie Kupferhy-droxid angewandt, die den Boden schädigen. Auch dasist keine nachhaltige Produktion. Es fehlen Fortschrittebei der Nachhaltigkeit der Lebensmittelproduktion. Be-triebsmitteleinsatz und Umweltbeeinträchtigung müssenin Bezug zur Erntemenge gesetzt werden. Eine Überprü-fung der Maßnahmen in der BSE-Bekämpfung auf ihreSinnhaftigkeit ist dringend überfällig. Wir brauchen An-reize für eine Landwirtschaft, die sich von EU-Forderun-gen unabhängig macht.

Vor diesem Hintergrund braucht die Regierung nichtauf andere Aktionsfelder auszuweichen, die ohne wesent-liche Probleme sind. Der Wald braucht bessere Holz-preise, aber keine Novellierung des Waldgesetzes mit demunvermeidlichen Mehr an bürokratischen Regelungen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.

Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Ministerin

Künast hat mit ihrer unqualifizierten Aussage vom Endedes Waldsterbens keine Basis für Vertrauen geschaffen.

Aus meinen Ausführungen folgt: Die FDP lehnt denvorgelegten Einzelplan 10 ab.

Danke.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt die Kollegin Jella Teuchner von derSPD-Fraktion.

Jella Teuchner (SPD):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen undKollegen! Wenn Sie sich den Einzelplan 10 anschauen,dann werden Sie feststellen, dass wir bei der Verbrau-cherpolitik – das ist keine rot-grüne Wortschöpfung,Frau Kollegin Happach-Kasan – einen klaren Schwer-punkt gesetzt haben. Alle Ausgaben werden auf demsel-ben hohen Niveau fortgeschrieben. Davon ausgenom-men ist lediglich die Biosiegelkampagne, die wiegeplant ausläuft. Angesichts der Rahmenbedingungen istdieses Bekenntnis zum Verbraucherschutz ein klarer Er-folg.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert)

Ziel unserer Politik ist es, den Verbraucherinnen undVerbrauchern eine eigenverantwortliche Konsument-scheidung zu ermöglichen. In vielen Bereichen ist diesrelativ problemlos möglich. Der technologische Fort-schritt sorgt aber genauso wie die wichtiger werdendeEigenverantwortung in der Daseinsvorsorge für kom-plexe Produkte, deren Qualität oft nicht wirklich einge-schätzt werden kann. Kaum jemand versteht einen Ver-trag über eine Lebensversicherung wirklich, obwohl dasfür die meisten Menschen der wichtigste Vertragsab-schluss überhaupt ist. Informationspflichten sind hiereine Maßnahme, die andere ist eine unabhängige Infor-mation. Das kostet Geld und das haben wir in diesenHaushalt eingestellt.

(Beifall bei der SPD)

Letzte Woche veranstaltete die SPD-Bundestagsfrak-tion einen Kongress zur Verbraucherpolitik. Im Rahmendieses Kongresses hat der Präsident des Ifo-Instituts,Professor Dr. Hans-Werner Sinn, auf die Notwendigkeiteiner aktiven Verbraucherpolitik hingewiesen. Aufzahlreichen Märkten gibt es ein Informationsungleichge-wicht, das dazu führt, dass sich gute Qualitäten nicht aufden Märkten durchsetzen können. Die notwendigenPreise können derzeit nicht erzielt werden. Um gegenzu-steuern, bedarf es – so die Aussage von Hans-WernerSinn – unabhängiger Informationen.

Er hat dabei explizit die Stiftung Warentest und Qua-litätslabels genannt. Bei uns hat er damit offene Türeneingerannt. Die Stiftung Warentest und der vzbv werdenauf dem Niveau von 2003 gefördert. Die Aufklärung derVerbraucher wird nach dem Auslaufen der Biosiegel-Kampagne auf dem Niveau von 2002 fortgesetzt. Dasheißt, dass wir die Finanzierung der Verbraucherarbeitverstetigt haben. Im Gegensatz zu den Ländern, die viel-fach die Mittel für die Verbraucherzentralen streichen,sind wir damit ein verlässlicher Partner der Verbrauche-rinnen und Verbraucher.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist notwendig. Aber auch die Länder sollten dafürsorgen, dass die Verbraucherzentralen funktionsfähigbleiben.

Die Stiftung Warentest gibt mit ihren Produkttestsnicht nur den Verbrauchern eine Entscheidungshilfe andie Hand, sondern sie trägt auch dazu bei, dass sich dieProduktqualität insgesamt verbessert. Auch wenn nichtalle die Zeitschrift „Test“ lesen – diese unabhängige Ver-braucherberatung sorgt dafür, dass sich bessere Qualitä-ten am Markt durchsetzen können. Wir brauchen dieseBeratung nicht nur bei den klassischen Produkten. Ge-rade bei Dienstleistungen besteht Beratungsbedarf. Auchmit der Beratung zur Energieeinsparung, deren Förde-rung wir auf hohem Niveau unverändert fortsetzen, set-zen wir Impulse für moderne und nachhaltige Produkte.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Verbraucherpolitik kann damit ein Motor für die Er-zeugung qualitativ hochwertiger Produkte sein. Wenndie Verbraucherinnen und Verbraucher die Qualität vonProdukten nicht wirklich einschätzen können, dannbleibt der Preis als alleiniges Entscheidungskriterium.Das heißt, bessere Produkte werden sich nicht durchset-zen, weil sie mehr kosten. Erst wenn die bessere Qualitätfür die Verbraucherinnen und Verbraucher sichtbar wird,wird sie auch zu einem Entscheidungskriterium. Die Ener-gieverbrauchskennzeichnung bei Hausgeräten ist ein er-folgreiches Beispiel. Daraus müssen wir lernen, eineverständliche und auch eine vergleichbare Kennzeich-nung herzustellen. Das ist möglich.

Hier sind vor allem die Unternehmen gefordert. Siegeben viel Geld für die Werbung aus, die kaum Infor-mationen über Produktqualitäten enthält. Solange wiruns aber laut Werbung zwischen einem Auto entschei-den müssen, das steile Berge hinauffahren kann, und ei-nem, das enge Kurven fahren kann, solange brauchenwir diese notwendigen Informationen von anderen. Beiden Autos übernehmen die Medien diese Information,wie zum Beispiel die Berichterstattung über die Interna-tionale Automobilausstellung zeigt. In vielen anderenBereichen muss die Verbraucherpolitik diese Informatio-nen bereitstellen.

Finanzierung von Beratung und Vertretung ist nur einTeil der Verbraucherpolitik. Eingebettet muss dies ineine Politik sein, die die Interessen der Verbraucherinnenund Verbraucher ausreichend berücksichtigt. Wir brau-chen in vielen Bereichen Transparenz. In der Landwirt-schaft diskutieren wir ständig über Kennzeichnung undLabels, in der Gesundheitspolitik haben wir gerade mitder Gesundheitsreform Regelungen vorliegen, die denPatienten besser über die Versorgung informieren. Da-rüber hinaus brauchen wir einen rechtlichen Rahmen,der es den Verbraucherinnen und Verbrauchern ermög-licht, ihre Rechte durchzusetzen. Auch hier haben wirFortschritte erzielt. Verwiesen sei auf die Schuldrechts-modernisierung oder auf die laufende Überprüfung derFahrgastrechte. Auch in diesem Bereich sind wir einverlässlicher Partner der Verbraucherinnen und Verbrau-cher.

Page 132: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

4974 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Jella Teuchner

Wir haben auf unserem verbraucherpolitischen Kon-gress von den Verbraucherverbänden viel Zuspruch fürunsere Politik bekommen. Es wurde aber vor allem einesdeutlich: Die Diskussion um die Verbraucherpolitik hatzwar an Bedeutung gewonnen, Verbraucherinteressensind aber weiterhin schwer organisierbar. Auch deshalbist die Förderung der Vertretung der Verbraucherinnenund Verbraucher wichtig. Wir brauchen ein starkes Ver-braucherministerium in Verbindung mit einem schlag-kräftigen vzbv, damit die Verbraucherinnen und Ver-braucher eine hörbare Stimme bekommen.

Mit dem Haushalt 2004 führen wir fort, was wir inden letzten Jahren aufgebaut haben: eine verlässlicheFinanzierung der Verbraucherpolitik auf einem hohenNiveau. Gleichzeitig setzen wir verschiedene Initiativenum. Der Aktionsplan der Bundesregierung oder das Stra-tegiepapier der SPD-Bundestagsfraktion sind neue Im-pulse innerhalb der Verbraucherpolitik.

(Ursula Heinen [CDU/CSU]: Die armen Ver-braucherinnen und Verbraucher!)

Die Verbraucherpolitik hat damit an Bedeutung gewon-nen. Dem tragen wir im Haushalt 2004, aber auch in un-serer täglichen Politik Rechnung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Albert Deß, CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Albert Deß (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Debatte zum Haushalt bietet die Gelegenheit, zwei Jahrenach der so genannten Agrarwende Bilanz

(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: „Agrar-ende“ wäre besser!)

zu ziehen und über die Haushaltsansätze zu diskutieren.Ilse Aigner hat die Haushaltsansätze angesprochen. Ichmöchte mich deshalb auf die Bilanz aus der agrarpoli-tischen Entwicklung in unserem Land konzentrieren.

Laut Agrarbericht 2003, den wir vor der Sommer-pause diskutiert haben, hatten die deutschen Landwirteim vergangenen Wirtschaftsjahr ein Einkommensminusvon 7 Prozent. Für das heutige Wirtschaftsjahr ist einEinkommensrückgang von bis zu 20 Prozent angekün-digt worden.

(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Unglaub-lich!)

Statt weitere Kürzungen, Belastungen und Einschnitteim Agrarhaushalt anzukündigen, müsste die Bundes-ministerin an das Rednerpult treten und einen agrarpoli-tischen Offenbarungseid leisten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die angedachten Belastungen werden das Höfesterben inDeutschland weiter beschleunigen, Frau Ministerin.1998, dem letzten Jahr unserer Regierungszeit, betrugder Strukturwandel 1,7 Prozent. Derzeit ist er fast drei-mal so hoch. Wenn die angekündigten Maßnahmen um-gesetzt werden, werden noch wesentlich höhere Werteerreicht.

(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Leider wahr!)

Bei der Einkommensminderung von 20 Prozent, dieim Agrarbericht aufgeführt war, sind aber – dafür kön-nen Sie allerdings nichts, Frau Ministerin – die Folgender Dürre, die sich auf die deutsche Landwirtschaft, zu-mindest in den betroffenen Gebieten, massiv auswirkenwird, noch nicht berücksichtigt.

Das Verhalten der Bundesregierung – auch was dieBehandlung der Landwirte in den Dürreregionen anbe-langt – können die Landwirte nur mit Verbitterung zurKenntnis nehmen. Ich habe der Presse entnommen, dassder französische Landwirtschaftsminister durch die be-troffenen Regionen gereist und sich in Gesprächen mitLandwirten und ihren Familien vor Ort ein Bild gemachthat, nach Paris zurückgekehrt ist und dann angekündigthat, dass die französischen Bauern in den Dürreregionenmit einem nationalen Hilfsprogramm in Höhe von500 Millionen Euro rechnen können.

Sie, Frau Ministerin, sollten einmal angeben, wieviele Dürreregionen Sie schon besucht haben. Sie besu-chen lieber Bioeisveranstaltungen mit Informationenund Spaß, wie es in der Einladung geheißen hat. Aberden Bauern in Deutschland ist längst der Spaß vergan-gen, wenn sie den Namen Künast hören.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Auch den Verbrauchern wird der Spaß noch vergehen,wenn ein immer größerer Teil der Agrarproduktion vonDeutschland ins Ausland verlagert wird. Dafür gibt esein konkretes Beispiel. An der bayerisch-tschechischenGrenze ist auf tschechischer Seite eine große Hühnerfa-brik gebaut worden. Dort werden über 63 MillionenEier produziert. Diese 63 Millionen Eier werden vor al-lem auf dem bayerischen und dem übrigen deutschenMarkt landen und werden unsere Hühnerhalter – vor al-lem unsere bäuerlichen Hühnerhalter – in große Be-drängnis bringen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es wärejetzt notwendig, dass die Ministerin, statt dass sie überKlimawandel schwadroniert, Programme auflegt, sodass auch in Deutschland den Bauern in den betroffenenDürreregionen geholfen werden kann. Ich finde, dass esunverantwortlich ist, in dieser schwierigen Zeit den Bau-ern in Deutschland weitere 400 Millionen Euro wegzu-nehmen. Frau Ministerin, was Sie hier tun, sind Trittegegen jemanden, der bereits am Boden liegt. Das findeich nicht in Ordnung, gerade was die Kürzungen imAgrarsozialbereich anbelangt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ilse Aigner hat die Zahlen schon angesprochen; ichmöchte sie wiederholen. 218 Millionen Euro Kürzun-

Page 133: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4975

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Albert Deß

gen in der landwirtschaftlichen Krankenkasse bedeutenmassive Beitragssteigerungen. Die Landwirtschaft– deshalb ärgert mich das so – zahlt laut Rheinisch-Westfälischem Wirtschaftsinstitut netto bereits über einehalbe Milliarde Euro Ökosteuer, damit im übrigen So-zialbereich das Geld vorhanden ist. Der Landwirtschaftwird hier Geld weggenommen, ohne dass in den Agrar-sozialbereich etwas zurückfließt. Hier wird jetzt zusätz-lich Geld weggenommen.

Der Kollege Rudi Kraus sitzt hier. Er war Staatssekre-tär bei Norbert Blüm und wir haben damals die Agrar-sozialreform beschlossen. Diese Agrarsozialreform1995 ist mit der damaligen Opposition, der SPD, abge-stimmt worden. Der Kollege Ottmar Schreiner war in al-len Verhandlungen dabei. Die SPD hat damals im Bun-destag und im Bundesrat zugestimmt. Kaum war dieSPD, war Rot-Grün in der Regierungsverantwortung,sind massive Kürzungen beim Altersgeld vorgenommenworden, was zum 1. Januar 1999 zu Beitragssteigerun-gen von bis zu 110 Prozent geführt hat. Jetzt werden dieKürzungen im Agrarsozialbereich in der Krankenkassevorgenommen. Nehmen Sie diese Kürzungsvorschlägezurück! Ich stelle hier schon ernsthaft die Frage an Rot-Grün, ob Sie Ihr soziales Gewissen an der Garderobe desDeutschen Bundestages abgegeben haben. Diese Kür-zungen können den Bauern nicht zugemutet werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Ich weiß, dass sich auch viele Kolleginnen und Kollegenin der SPD über das, was hier vorgeschlagen wird, är-gern. Wir werden dies so nicht hinnehmen.

Wir haben jetzt wochenlang die Debatte mitverfolgt,dass im übrigen Krankenkassenbereich der Beitragssatzvon etwas über 14 auf 12,5 Prozent abgesenkt werdensoll. In der Landwirtschaft würde diese Kürzung dazuführen, dass der Beitrag von 14 auf 20 Prozent des Ein-kommens ansteigen würde. So kann man mit der Land-wirtschaft nicht umgehen! Wir werden dies entspre-chend anprangern und werden auch versuchen, dort, wouns Einflussmöglichkeiten gegeben sind, diese unsozialeKürzung zu verhindern.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege, ganz offenkundig sind Sie mit einer

Zwischenfrage einverstanden! – Bitte schön.

Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):

Auch wenn es schon spät ist, muss ich noch eineFrage stellen. Herr Deß, heute Morgen haben die Kolle-gen aus Ihrer Fraktion der Koalition vorgeworfen, derHaushalt sei nicht ausreichend konsolidiert und damüsste es noch viel mehr Anstrengungen geben.

(Zuruf von der CDU/CSU: Mehr Wachstum!)

Ich höre jetzt von Ihnen den Vergleich mit den Franzo-sen, die 500 Millionen Euro für den Dürreausgleich be-

reitstellen. Ich höre Ihre Ausführungen zur Krankenver-sicherung.

(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Frage, keinen Beitrag!)

– Ja, natürlich, ich musste aber sagen, was ich fragenwill. – Insofern möchte ich Sie fragen, wie Sie die Kon-solidierungsforderungen Ihrer haushaltspolitischen Kol-legen mit Ihren ständigen eigenen Forderungen nach im-mer mehr Geld, in diesem Fall für den Agrarbereich,miteinander vereinbaren wollen?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Zuruf von der SPD: Das bleibt ein bayerischesWunder!)

Albert Deß (CDU/CSU): Frau Kollegin, wenn die ganzen Ökospielereien aus

dem Haushalt herausgenommen werden, kommt schoneine ganz beträchtliche Summe zusammen.

(Beifall bei den Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei Abgeordneten der SPD)

Das, was von Frau Künast im Haushalt eingeplant ist,dient auch nicht den Ökobauern. Im Gegenteil, die Öko-bauern sind heute schlechter gestellt, als dies vor zweiJahren der Fall war. Dieses Geld ist auch in den Sand ge-setzt; denn wir können aus der Presse überall entneh-men, dass der Absatz von Ökoprodukten europaweitrückläufig ist. Die größte schwedisch-dänische Molkereihat beispielsweise erst vor kurzem alle Verträge mit denBiobauern in Schweden und Dänemark gekündigt, weilder Absatz nicht mehr gegeben war. Ich finde es deshalbunverantwortlich, dass bei uns so viel Geld herausge-schmissen wird, ohne dass es den Ökobauern wirklichzugute kommt.

(Beifall bei der CDU/CSU – FranziskaEichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Sie sollten sich den Haushalt angu-cken!)

Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, es ist mit Sicherheitauch möglich, darüber nachzudenken, ob es tatsächlicheine Gleichbehandlung von ähnlichen Sozialsystemengibt. Deshalb müsste ich an Sie eigentlich die Frage zu-rückstellen: Ist im Haushalt eine Kürzung der Mittel fürdie Knappschaft in gleicher Größenordnung eingeplant,wie es bei der Landwirtschaft der Fall ist?

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege, glücklicherweise sieht die Geschäfts-

ordnung Rückfragen des Redners an das Plenum nichtvor.

(Heiterkeit)

Dafür eröffnet sich aber nun die Möglichkeit, eineweitere Zusatzfrage – diesmal aus den Reihen der eige-nen Fraktion – zu beantworten.

Albert Deß (CDU/CSU): Bitte, Herr Kollege Straubinger.

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Max Straubinger (CDU/CSU): Herr Kollege Deß, sind auch Sie der Meinung, dass

alle Programme für Aufklärung und Ökolandwirtschaft,die im Einzelplan 10 aufgeführt sind, nur Subventions-programme für Werbeagenturen darstellen?

Albert Deß (CDU/CSU): Ich kann Ihre Frage in aller Kürze mit Ja beantworten,

lieber Kollege Max Straubinger. Der Bundesrechnungs-hof sollte einmal genau prüfen, wohin die für diese Pro-gramme eingestellten Gelder fließen. Er hat ja FrauKünast bereits wegen ihrer Personalpolitik kritisiert.Vielleicht wird er auch hier Kritik an der Bundesministe-rin üben.

Angesichts meiner kurzen Redezeit möchte ich nochauf einen anderen Punkt hinweisen, nämlich auf dasAgrardieselgesetz. Frau Kollegin, ich bin damit einver-standen, dass die deutschen Landwirte einen bestimmtenSteuersatz beim Agrardiesel zahlen müssen. Er ist übri-gens der höchste in ganz Europa. Ich verlange zwarnicht, ihn zu senken. Aber ich fordere Frau Künast auf,sich dafür einzusetzen, dass Agrardiesel europaweitgleich besteuert wird. Damit könnten wir leben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich habe noch nie gehört, dass Frau Künast hier beson-dere Aktivitäten in Brüssel entwickelt hat. Tatsache ist,dass die deutschen Bauern beim Agrardiesel 135 Prozentmehr zahlen als ihre französischen Kollegen. Das istknallharte Wettbewerbsverzerrung. Damit kann die deut-sche Landwirtschaft nicht leben.

Des Weiteren schlage ich vor, dass die Bundesregie-rung Verordnungen und Gesetze zurücknimmt, die sieim nationalen Alleingang erlassen hat.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Den deutschen Bauern werden doch nur Knüppel zwi-schen die Beine geschmissen. Ich kann kurz einige auf-zählen: Die Bundesregierung sollte sofort das nationaleModulationsgesetz von Januar dieses Jahres zurückneh-men; denn der bürokratische Aufwand, den dieses Ge-setz verursacht, kostet mehr Geld, als aufgrund diesesGesetzes verteilt wird. Die Bundesregierung sollteaußerdem die Legehennenhaltungsverordnung zu-rücknehmen.

(Manfred Helmut Zöllmer [SPD]: Bayern hat doch zugestimmt!)

Hier werden Tierschutz und Verbraucherschutz nur vor-gegaukelt. Es gibt in Berlin ein Gauklerfest, auf demkann die Ministerin auftreten. Sie sitzt hier doch am fal-schen Platz.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Jetzt besteht die große Gefahr, dass die Schweinever-haltungsverordnung

(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

– Entschuldigung, ich meine natürlich die Schweinehal-tungsverordnung – wieder nicht eins zu eins umgesetztwird. Sie brauchen gar nicht zu lachen, nur weil ichSchweineverhaltungsverordnung gesagt habe. Schließ-lich hat die grüne Ministerin in Nordrhein-Westfalenschon vorgeschrieben, wie viele Minuten man täglich ei-nem Schwein widmen muss, damit man merkt, wie sichdie Schweine im Stall verhalten.

(Jella Teuchner[SPD]: Vielleicht sollten Sie sich auch einmal streicheln lassen!)

Weiteren Belastungen der deutschen Landwirtschaftmuss Einhalt geboten werden. Durch das UVP-Gesetzwird beispielsweise das Errichten von Stahlbauten un-verhältnismäßig erschwert. Die geplante Baurechtsno-vellierung wird in Zukunft Investitionen in der Tierhal-tung verhindern.

Die Rücknahme all dieser Maßnahmen, die den deut-schen Bauern massive Nachteile bringen – das dürfenwir nicht zulassen –, würde überhaupt kein Geld kosten.Wenn Knüppelwerfen eine olympische Disziplin wäre,dann wären Sie, Frau Ministerin, Goldmedaillenanwär-terin. Das sage ich Ihnen in aller Deutlichkeit.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Wir leiden unter einer dilettantischen und ideologischverbrämten Agrarpolitik. Der größte Wunsch unsererBauern ist, dass die rot-grüne agrarpolitische Geister-fahrt schnellstens gestoppt wird. Rot-Grün, insbesondereFrau Künast und der Kanzler, sorgen sonst bis 2006 da-für, dass die deutschen Bauern mit Karacho gegen dieWand gefahren werden.

Frau Ministerin, irgendwo müssen Sie besondere Fä-higkeiten haben: Es ist schon ein besonderes Kunststück,dass man bei dieser Trockenheit den agrarpolitischenKarren so in den Dreck fährt, wie Sie das fertig bringen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – JellaTeuchner [SPD]: War das Ihre Oktoberfest-rede? – Ute Kumpf [SPD]: Das war beinaheNockherberg!)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile dem Kollegen Friedrich Ostendorff, Bünd-

nis 90/Die Grünen, das Wort.

Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Nach so viel Schimpfe von der Oppositionwollen wir zur Sachlichkeit zurückkehren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU)

In den nächsten Wochen wird an vielen Orten imLand das Erntedankfest gefeiert. Eine gute Ernte kannman – das weiß jeder von uns – nicht fordern; man kannsie aber auch nicht garantieren oder genehmigen. Natur,

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Friedrich Ostendorff

Dürre und Flut sind etwas, womit Bäuerinnen und Bau-ern schon immer gelebt haben. Das gehört zu unseremBeruf, auch wenn es in diese Zeit, in der wir an Sicher-heit gewöhnt sind, nicht so recht passen will.

Ich glaube, es ist gut und richtig, dass die Gesellschaftden Landwirten, die durch die Dürre in ihrer Existenzgefährdet sind, Hilfe gewährt. Dementsprechend handeltunsere Ministerin und das findet unsere volle Unterstüt-zung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Wenn diese Woche in Cancún bei der WTO über denAbbau der weltweiten Handelshemmnisse verhandeltwird, dann werden es insbesondere die Agrarsubventio-nen sein, die wiederum im Zentrum der Kritik stehen.Dieser Kritik haben wir uns zu stellen. Wenn wir für un-sere Landwirtschaft weiterhin etwas tun wollen, dannmüssen wir es schon so einrichten, dass es auch vor derWTO Bestand hat. Auch deshalb ist das Ergebnis, dasMinisterin Künast im Juni in Luxemburg erzielt hat– nämlich die Hilfen produktionsunabhängig und mög-lichst als Flächenprämien zu gewähren –, so wichtig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Wenn wir denjenigen aus der Opposition, die diese Re-form verhindern wollten, gefolgt wären, hätten wir amEnde jeden Handlungsspielraum verloren.

Warum steht denn die Landwirtschaft – sie wird in ei-nem Atemzug mit der Steinkohle genannt, die quasi dasSynonym für negative Subventionierung ist –

(Peter Bleser [CDU/CSU]: Und mit der Wind-kraft!)

immer wieder so heftig in der Kritik, wenn es um Sub-ventionen geht? Die Agrarlobby und die Agrarpolitikhaben in den vergangenen Jahrzehnten ein System ge-schaffen, das für niemanden mehr zu durchschauen ist.Sie haben sich nicht die geringste Mühe gemacht, dasSystem der Öffentlichkeit plausibel zu erklären. DerGrund dafür, dass denjenigen immer wieder zugestimmtwird, die den Agrarhaushalt als Steinbruch nutzen wol-len, ist, dass man es nicht besser weiß.

Die Zeiten haben sich aber geändert. Bloßes Beharrenauf alten Besitzständen reicht nicht mehr aus. Ange-sichts der Haushaltslage muss den Mitbürgern jede Hilfeneu erklärt und gerechtfertigt werden. Das ist gut so;denn in Wahrheit brauchen wir Landwirte uns nicht zuverstecken:

Zum einen sind die Subventionen für die Landwirt-schaft bereits in den vergangenen Jahren überproportio-nal gesunken. Die neuesten Zahlen des Subventions-berichts belegen: Die Subventionen in Deutschland sindvon 2000 bis 2002 in einem Umfang von800 Millionen Euro abgebaut worden. Die Landwirt-schaft hat die Hälfte davon getragen.

Zum anderen gibt es sehr gute Gründe dafür, dassLandwirte einen Teil ihres Einkommens direkt von derGesellschaft erhalten; denn die Landwirtschaft, zumin-

dest eine bestimmte Art von Landwirtschaft, erbringtLeistungen für die Gesellschaft, die sonst nicht entgoltenwürden. Ich spreche von der Pflege unserer Kultur-landschaft, von Beiträgen zum Umweltschutz und vonder Schaffung von Erholungsraum. Auch deshalb ist derParadigmenwechsel, der in Luxemburg eingeleitetwurde, so wichtig. Es ist der Weg zu mehr Transparenzund zum Abbau von Benachteiligungen – zum Beispielin Bezug auf Grünland – in der gemeinsamen europäi-schen Agrarpolitik.

Die Opposition erklärt an dieser Stelle, was sie immermeint erklären zu müssen, dass nämlich die Bundes-regierung Unsummen für den ökologischen Landbau ausdem Fenster herauswerfe

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Für die Werbung!)

und den anderen Bauern das Geld wegnehme.

Was wir von Rot-Grün tun, ist eine Förderung derumweltfreundlichen Landwirtschaft – sie ist von derGesellschaft gewollt – durch Beratung, Forschung undEntwicklung. Meine Damen und Herren von der Opposi-tion, das ist die Zukunft für unsere Bäuerinnen und Bau-ern. Sie von der CDU/CSU glauben immer noch. Sie tä-ten der Landwirtschaft etwas Gutes, wenn Sie blind demDeutschen Bauernverband das Wort reden.

Auf der anderen Seite müssen sich natürlich auch dieVerbraucherinnen und Verbraucher sowie insbesondereder Handel fragen lassen, welche Landwirtschaft siewollen. Zu Dauertiefstpreisen kann kein Betrieb die ge-sellschaftlichen Leistungen erbringen, die uns laut derUmfragen so viel wert sind. Rund 40 Prozent der land-wirtschaftlichen Wertschöpfung sind im Bereich derMilcherzeugung angesiedelt. Milch ist das wesentlicheStandbein der bäuerlichen Landwirtschaft; doch geradedie Milchbetriebe trifft es derzeit besonders hart: Aldi,Lidl und Co. lassen sich von ihrem unerbittlichen Milch-preiskampf nicht abbringen. Im Gegenteil: Sie zwingenuns Bauern immer mehr in die Knie. Dass selbst wirBiomilchbauern am letzten Wochenende gestreikt habenund unsere Milch für zwei Tage nicht an die Molkereiabgegeben haben, ist ein deutliches Warnsignal an denHandel, aber auch an Verbraucherinnen und Verbrau-cher. Für 31 Cent pro Liter können wir keine Biomilcherzeugen. Ebenso wenig deckt ein Milcherzeugerpreisvon 25 Cent pro Kilogramm Milch die Kosten und denArbeitslohn auf konventionellen Betrieben.

Wir haben in Deutschland und in der EU allerdingsvor Jahrzehnten den Fehler gemacht, dass wir als Vo-raussetzung für maßvolle Lohnabschlüsse die Nah-rungsmittelpreise niedrig gehalten haben. In der Folgemussten die sinkenden und nicht kostendeckendenPreise, die die Bauern erhielten, durch staatliche Beihil-fen aufgestockt werden. Aus heutiger Sicht war dies einKardinalfehler. Als Bauer sage ich: Ich würde lieber al-leine vom Preis für meine Produkte am Markt leben.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist richtig!)

Aber das war eine Entscheidung auf politischer Ebene undschmerzte auch so lange nicht, wie der Staatshaushalt

Page 136: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

4978 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Friedrich Ostendorff

genügend abwarf. Das ist heute anders. Aus dieser Situa-tion wieder herauszukommen tut weh.

Verschärft wird die Herausforderung noch dadurch,dass die Landwirtschaft seit Jahrzehnten einen rasantenStrukturwandel durchlebt. Das merken wir besondersbei den Sozialversicherungen, wo auf einen aktivenLandwirt mittlerweile ein Altenteiler, sprich: landwirt-schaftlicher Rentner, kommt. Zusammen mit den mitver-sicherten Familienangehörigen sind das drei Leistungs-empfänger pro aktivem Landwirt. Demgegenüber sinddie Zahlen der allgemeinen Renten- und Krankenversi-cherung noch glänzend. Dies macht die besondere Pro-blemlage der Landwirtschaft und die enorme Herausfor-derung, vor der wir stehen, deutlich.

Aber anstatt sich dieser Aufgabe zu stellen und kon-struktiv mitzuarbeiten, wollen Sie von der CDU/CSUeinfach jede Reform verhindern und fordern stattdessenin alter Manier vollmundig mehr Geld für die Landwirt-schaft. Wo leben Sie denn eigentlich?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregie-rung hat mit ihrem Haushaltsentwurf 2004 und dem Ent-wurf des Haushaltsbegleitgesetzes einen Vorschlag ge-macht, wie der Sparzwang umgesetzt werden kann. Ichkann Ihnen versichern, dass das Verbraucherschutzminis-terium und die Fraktionen der Regierungskoalition inten-siv alle Möglichkeiten diskutieren und alles daransetzenwerden, um den Beitrag, den auch die Landwirtschaft zurKonsolidierung des Bundeshaushalts leisten muss, fürdie Gesamtheit der bäuerlichen Betriebe so sozial ausge-wogen wie möglich zu gestalten. Dies wird nicht leicht,aber wir werden es schaffen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun der Kollege Dr. Peter Jahr, CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Peter Jahr (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Erste Vorbemerkung. Der Haushalt ist die inZahlen gegossene Politik einer Regierung. Das trifftselbstverständlich auch auf den Haushaltsentwurf desBundes 2004 zu. Dieser Entwurf – das sei hier nur amRande bemerkt – würde sich vorzüglich als Anlage zurBegründung eines Insolvenzantrags eignen. Der Bundes-haushalt dokumentiert keinen Willen zu einer aktivenPolitik. Deutschland ist nahezu insolvent. Der Verfasserhat es leider noch nicht gemerkt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Zweite Vorbemerkung. Agrarpolitik und Politik fürden ländlichen Raum gehören nicht zum Schwerpunktdieser Bundesregierung. Während sich das Volumen des

Gesamthaushalts um 1,5 Prozent erhöht, soll der Agrar-haushalt laut Entwurf um 7,5 Prozent reduziert werden.Dies hält die Bundesregierung für angemessen und zu-mutbar. Im Haushalt sollen 418 Millionen Euro gespartwerden, davon allein bei der landwirtschaftlichen Kran-kenkasse – das ist schon mehrfach erwähnt worden –243 Millionen Euro. Im Rahmen des Haushaltbegleitge-setzes soll die Steuerrückerstattung bei Agrardiesel um157 Millionen Euro gesenkt werden. Durch die De-facto-Abschaffung der Umsatzsteuerpauschalierung willder Finanzminister noch weitere 320 Millionen aus derLandwirtschaft abziehen.

Ich erwähne diese drei Zahlen nur deshalb, weil diesedrei Komponenten – Krankenkasse, Mineralölsteuer-rückerstattung bei Agrardiesel, Abschaffung der Umsatz-steuerpauschalierung – im Gesamtumfang von720 Millionen Euro direkt einkommenswirksam werden.Einkommenseinbußen von 720 Millionen Euro mutetdie Bundesregierung einem Berufsstand zu, der mit20 000 Euro Jahreseinkommen de facto bereits im Nied-riglohnsektor angekommen ist. Das muten Sie, meineDamen und Herren von der Bundesregierung, einem Be-rufsstand zu, der in diesem Jahr aufgrund von Witte-rungsunbilden mehr als 15 Prozent Einkommenseinbu-ßen zu beklagen hat.

Die Einkommenssituation der deutschen Landwirt-schaft ist miserabel. Was tut die Bundesregierung? An-statt Wettbewerbsnachteile der deutschen Landwirt-schaft abzubauen, wird wieder einmal der Agrardieselhöher besteuert. Zum Vergleich – auch das ist schon ge-sagt worden –: Der dänische Landwirt zahlt 3,24 CentSteuern pro Liter, der französische 5,5 Cent und der hol-ländische 6,0 Cent; der deutsche Landwirt dagegen muss26,56 Cent pro Liter Diesel berappen.

Im Übrigen war mir bisher nicht klar, wie Sie, FrauMinisterin, zu einer Obergrenze von 10 000 Litern kom-men. Sie haben das heute erklärt, indem Sie sagten, manmüsse den Großen etwas wegnehmen, um den Kleinenetwas zu geben. Wenn man Ihre Logik auf die Luftfahrtübertragen würde, bedeutete das, dass man die großenFlugzeuge vom Himmel holen müsste und nur die klei-nen weiterfliegen dürften. Irgendwie ist das alles nichtnachzuvollziehen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Manfred Helmut Zöllmer [SPD]: Bei Ihnenauch nicht alles! – Weiterer Zuruf von derSPD: Vielleicht ist das in Sachsen anders!)

– Ja, bei uns in Sachsen dürfen die großen Flugzeugeweiterfliegen. Da können Sie ganz beruhigt sein.

Anstatt endlich eine Mehrgefahrenversicherung inDeutschland zu etablieren und diese, wie in fast allen an-deren europäischen Ländern, auch staatlich zu unterstüt-zen, nehmen Sie, Frau Künast, unseren Landwirten imnationalen Alleingang noch einmal 2 Prozent der Direkt-zahlungen weg. Schon aus diesen Gründen wird meineFraktion den vorliegenden Entwurf ablehnen. Außerdemsehen wir erheblichen Nachbesserungsbedarf.

Unser Standpunkt und unsere Forderungen sind ein-fach nachvollziehbar: Uns geht es schlicht und ergrei-

Page 137: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4979

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Dr. Peter Jahr

fend darum, Wettbewerbsnachteile für die deutscheLandwirtschaft innerhalb der Europäischen Union abzu-bauen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das heißt im konkreten Fall: keine Kürzung beimAgrardiesel, keine Kürzung der Zuschüsse zur landwirt-schaftlichen Krankenkasse, keine Abschaffung der Um-satzsteuerpauschale und Einführung einer Mehrgefah-renversicherung.

(Manfred Helmut Zöllmer [SPD]: Sehr origi-nell, Ihre Vorschläge! – Waltraud Wolff [Wol-mirstedt] [SPD]: Und was sollen wir IhrerMeinung nach machen?)

Die entsprechenden Änderungsanträge wird meine Frak-tion vorlegen. Wir gehen dabei von Folgendem aus:Wenn es um die Konsolidierung des Haushaltes durchKürzungen geht, dann sollten diese Kürzungen auch ge-recht und nachvollziehbar sein. Ich kann ganz einfachnicht verstehen, dass die Landwirte überproportional zurKonsolidierung beitragen sollen. Das ist ungerecht undunserem Berufsstand nicht zu vermitteln.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Wir sindkeine Gelddruckmaschine!)

Ich möchte Sie, meine Damen und Herren von der SPDund von den Grünen, bitten, diesen Anträgen unsererFraktion, die gut für die deutsche Landwirtschaft sind,zuzustimmen. Dazu haben Sie im Ausschuss die Chance.

Zum Schluss noch ein Wort an die Bundeslandwirt-schaftsministerin. Zu meiner Studienzeit in Leipzig gabes einen Professor Else, der gelegentlich zu uns Studen-ten, wenn er mit unserer Leistung unzufrieden war, ge-sagt hat: „Auch Sie, meine Damen und Herren, werdendie deutsche Landwirtschaft nicht kaputtkriegen. Dashaben vor Ihnen schon ganz andere versucht.“

(Manfred Helmut Zöllmer [SPD]: Die CDU hat ja lange regiert!)

Wenn ich an Sie denke, liebe Frau Künast, muss ich Ih-nen gestehen, dass ein Großteil meiner politischen Moti-vation diesem Zitat entspringt, weil es haargenau auf diederzeit von Ihnen betriebene Agrarpolitik zutrifft.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin

Waltraud Wolff, SPD-Fraktion.

Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Gemäß der alten Weisheit: „Wer schnell hilft, hilftdoppelt“ würde ich gerne auf einige Punkte aus der Redevon Deß eingehen. Wenn Sie zuhören, Herr Deß, erhal-ten Sie vielleicht eine Antwort auf Ihre Frage nach Kom-pensationsleistungen für Dürreschäden. Ich kann sie Ih-nen beantworten: Die Mittel, die von Länderseite

angefordert worden sind, werden auch in diesem Jahrvom Bund gegenfinanziert. An dieser Stelle hat FrauKünast also schnell alles Nowendige in Gang gesetzt.Wenn die Bauern diese Mittel noch in diesem Jahr abru-fen wollen, haben sie alle Hände voll zu tun. – SchönenDank, Frau Künast!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

– Ich hätte jetzt auch von Ihnen, Herr Deß, ein wenigBeifall erwartet.

Dass dieses Jahr nicht einfach zu bewältigen seinwird, habe ich schon im Frühjahr in meiner Haushalts-rede gesagt. Die Gründe dafür sind ganz schnell ge-nannt: Das liegt zum einen an der wirtschaftlichen LageDeutschlands, an der Reform der gemeinsamen Agrar-politik in Europa und an den WTO-Verhandlungen. Diegemeinsame Agrarpolitik Europas und die jetzige WTO-Verhandlungsrunde sind für die hiesigen Bauern sowiefür die europäische und die weltweite Agrarwirtschaftzukunftsweisend. Man kann sagen: Dieses Jahr standund steht voll im Zeichen der internationalen Verände-rungen.

Meine Damen und Herren, was die europäischeAgrarpolitik angeht, so hat die Gemeinschaft Ende Junidieses Jahres den Rahmen bis 2013 gesteckt. Schwer-punkte sind die weitgehende Entkoppelung von den Di-rektzahlungen – das wissen wir –, die Stärkung der För-derung der ländlichen Räume, die Einführung derobligatorischen Modulation und die Bindung der Direkt-zahlungen an die Einhaltung von Umwelt-, Tierschutz-und Lebensmittelstandards. Damit wird die künftigeAgrarpolitik immer mehr gesellschaftspolitischen ZielenRechnung tragen. Außerdem ist sie ein weiterer und sehrwichtiger Schritt, um die Landwirtschaft zu unterstützenund auch ihr Bild in der Gesellschaft weiter positiv zuverändern.

Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ichweiß, dass sich viele von Ihnen gerne als Sprachrohr desDeutschen Bauernverbandes benutzen lassen und dassSie ihm gern dienen. Der Bauernverband bemängelt,dass die vorgesehenen GAP-Regelungen unzureichendseien und dass es zu Einkommensverlusten kommenwerde.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt auch!)

Sie benutzen auch die kommenden WTO-Verhandlun-gen schon jetzt dazu, den Untergang der europäischenLandwirtschaft zu beschreien. Solche Bilder werden lei-der immer und immer wieder gern von CDU/CSU-Poli-tikern und Funktionären benutzt, die entweder keinenBlick für gesellschaftspolitische Veränderungen habenoder ihre vermeintliche Klientel mit schäbigen Parolenbedienen wollen, ganz nach dem Motto: Landwirtschaftwie vor 50 Jahren, das ist das, was wir wollen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Was Sie erzählen, ist doch lächerlich!)

Aber das ist anmaßend und erfolgt wider besseres Wis-sen. Seien Sie doch ehrlich und sagen Sie den Bauern,was Sie wissen, nämlich dass für die grüne Branche

Page 138: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

4980 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Waltraud Wolff (Wolmirstedt)

genauso wie für alle anderen Wirtschaftsbereiche gilt:Wer nicht innovativ ist und hohe Standards einhält, derwird sich auf dem Markt nicht behaupten können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir mit der Re-form der gemeinsamen Agrarpolitik den Standard fest-gesetzt haben, den wir brauchen, um international beste-hen zu können. Wir wissen, dass die WTO gerade imBereich der Amber- und der Blue-Box Subventionsab-bau verlangt. Das heißt, die beschlossenen Subven-tionsumschichtungen sind wichtig. Wir müssen wegvon Marktstützungen und wir müssen Prämienzahlungenverringern. Wir müssen Einkommenszahlungen entkop-peln und weiter Umweltprogramme unterstützen. Das istnotwendig, um die Landwirtschaft zu erhalten.

(Albert Deß [CDU/CSU]: Was in Bayern be-reits der Fall ist!)

Positiver Nebeneffekt ist, dass die Landwirtschaft auchnoch umweltgerechter wird.

(Albert Deß [CDU/CSU]: In Bayern gibt es diese Programme längst!)

Meine Damen und Herren, die EU-Agrarreform kamgenau zum richtigen Zeitpunkt, um jetzt optimal vorbe-reitet in die WTO-Verhandlungen gehen zu können.Auch der Opposition dürfte bekannt sein, dass ein inter-nationales Ziel der vierten Welthandelsrunde ist, denHandel weiter zu liberalisieren. Ich bin mir sicher, dasskein Politiker einer Oppositionspartei die WTO-Ver-handlungen tatsächlich wegen der Landwirtschaft schei-tern lassen will. Aus diesem Grund finde ich es ganz per-sönlich umso trauriger, dass gerade Ihre Fraktion in derletzten Zeit nicht ein einziges Mal zu konstruktiver Zu-sammenarbeit in der Lage war.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, für die Gegenfinanzierungder EU-Programme steht auch in Zukunft die Gemein-schaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und desKüstenschutzes“ mit 770 Millionen Euro zur Verfügung.Auch im Einzelplan 10 werden wir Kürzungen vorneh-men müssen. Ich weiß, liebe Kolleginnen und Kollegenvon der Opposition, dass Sie von der schwierigen Welt-wirtschaftslage nichts wissen wollen. Sie gehen auchnicht mit einem einzigen Wort auf die besonders schwie-rige Lage Deutschlands ein. Kein anderes europäischesLand musste wie wir zur Überwindung der deutsch-deut-schen Teilung billionenschwere Kosten schultern. DassSie den Schuldenberg ausblenden, den Sie uns aus IhrerRegierungszeit hinterlassen haben,

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Den die SED hinterlassen hat!)

ändert nichts, aber auch überhaupt nichts an der Tatsa-che, dass er unserer Volkswirtschaft enorm geschadet hatund noch immer schadet.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Albert Deß [CDU/CSU]:

Wenn die DDR so erfolgreich gewesen wärewie der Westen, hätten wir keine Wiederverei-nigungskosten!)

– Herr Deß, Sie könnten jetzt ruhig einmal zuhören.

Sie greifen den Bundesfinanzminister zum einen an,weil er Ihrer Ansicht nach zu wenig spart. Andererseitskritisieren Sie, wenn er spart, dass er spart. Ich finde daskurios. Das ist ganz nach der Manier: Wir wissen nicht,was wir wollen, aber das mit ganzer Kraft.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Einsparsumme, die wir in unserem Haushaltsplanaufbringen müssen, beläuft sich im nächsten Jahr aufcirca 418 Millionen Euro. Ich bin der Auffassung, dassdiese Einsparungen möglichst sozial gerecht verteilt wer-den sollten. Der Kabinettsentwurf sieht im Bereich derlandwirtschaftlichen Krankenversicherung Kürzun-gen von circa 218 Millionen Euro vor. Seit Jahren redenwir über den Erhalt eines eigenständigen landwirtschaft-lichen Sozialversicherungssystems. Aus Einspargründenhaben wir schon in der letzten Legislaturperiode die Neu-organisation der Träger vorgenommen. Ich sage hier aberganz deutlich, dass Einsparungen in Höhe von 218 Mil-lionen Euro bei der Krankenversicherung schlichtwegunmöglich sind. Da stimme ich der Opposition zu. AusParlamentariersicht muss ich das ganz kritisch betrach-ten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich will Ihnen sagen, warum. Durch die Gesundheits-reform entlasten wir die Beitragszahler der gesetzlichenKrankenkassen. Deshalb ist es natürlich im Gegenzugnicht zu vermitteln, wenn die Versicherten in der land-wirtschaftlichen Krankenversicherung durchschnittlicheBeitragssteigerungen von circa 30 Prozent hinnehmenmüssen. Durch die Besonderheiten im landwirtschaftli-chen Bereich würde es sogar zu Steigerungen von bis zu50 Prozent kommen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Mehr!)

Ich meine, dieser Einsparvorschlag des Kabinetts mussgeändert werden. Dazu haben wir das Parlament.

Frau Ministerin, ich habe Ihren Ausführungen sehraufmerksam zugehört. Ich bin sehr froh, dass Sie sichschon mit den Trägern ins Benehmen gesetzt haben. Ichdenke, wenn wir die Träger ins Boot holen, dann werdenwir es gemeinsam schaffen, hier zu einer guten Lösungzu kommen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich bitte Sie von der Opposition, mich nicht falsch zuverstehen: Ich will nicht an der Einsparsumme rütteln.Es geht mir einzig und allein darum, wo wir sparen. Dagibt es vonseiten der SPD keine Tabus und keine Denk-verbote. Wir werden hart zu arbeiten haben, um sozialgerechte Lösungen hinzubekommen. Aber wir wollenbei der Krankenversicherung die einseitige Belastungder Landwirte in den alten Bundesländern vermeiden.

Page 139: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4981

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Waltraud Wolff (Wolmirstedt)

Genauso wichtig ist es dann aber auch, eine einseitigeBelastung der Betriebe im Osten der Republik zu verhin-dern. Deshalb kann beim Agrardiesel nur eine lineareKürzung und nicht die Einführung einer Subventions-obergrenze von 10 000 Litern pro Betrieb die Lösungsein.

Wir reden über den Haushalt des Ministeriums fürVerbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft. Dasheißt, dass ökologisch und verbraucherschutzpolitischrelevante Bereiche weiterhin inhaltliche Schwerpunktebilden. Beispielsweise setzen wir uns auch in Zukunftfür die Mineralölsteuerbefreiung in Bezug auf Biodieselein.

Der Haushalt, sehr geehrte Frau Ministerin, ist unterden Einsparvorgaben sehr schwierig aufzustellen. Des-halb möchte ich Ihnen herzlich Danke sagen für die inIhrem Hause geleistete Arbeit. Ich bin sicher, wir wer-den gemeinsam eine gute Lösung finden.

Zum Schluss wünsche ich Ihnen persönlich, dass Sieab morgen bei den WTO-Verhandlungen in Cancunebenso große Erfolge für Deutschland erzielen können,wie Sie das bei der EU-Agrarreform getan haben.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Letzte Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Ulla

Heinen, CDU/CSU-Fraktion.

Ursula Heinen (CDU/CSU): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!

Frau Teuchner, die Verbraucherpolitik, die Sie vorhinhier skizziert haben, ist wirklich fern jeder Realität undmeines Erachtens ein reines Traumgebilde. Schön wär’s,könnte man dazu auch sagen. Sie haben beispielsweisedie 0190er-Nummern erwähnt und dargestellt, was füreinen tollen Erfolg Sie mit Ihrer Politik auf diesem Ge-biet erreicht haben.

Dazu muss ich eines sagen: Wenn wir nicht gewesenwären, wenn die von uns regierten Bundesländer nichtgewesen wären, wenn meine Kollegin MartinaKrogmann im Wirtschaftsausschuss nicht gewesen wäre,dann wäre aus dem 0190er-Gesetz niemals ein wirkli-ches Schutzgesetz für die Verbraucherinnen und Ver-braucher geworden, sondern reines Larifari.

(Beifall bei der CDU/CSU – Jella Teuchner[SPD]: Wenn Sie nicht gewesen wären, hättees die 0190er-Nummern gar nicht gegeben! Soein Schwachsinn!)

Ihre Verbraucherpolitik ist bestenfalls eine reine Ankün-digungspolitik. Mittlerweile finden wir diese reine An-kündigungspolitik auch im Bundeshaushalt wieder. Dasmöchte ich Ihnen gerne einmal anhand von ein paar Bei-spielen erläutern.

Es gibt die Projektliste zum Thema Verbraucherauf-klärung, die schon von mehreren Rednern erwähnt

wurde. Für Aufklärungsmaßnahmen zum so genanntennachhaltigen Konsum werden 3,75 Millionen Euro ver-anschlagt. Dabei geht es inhaltlich um einen nachhalti-gen Warenkorb – was immer dies auch ist – und um eineInformationskampagne für fairen Handel. Aber deutlichweniger Geld – deshalb, Frau Teuchner, verstehe ich Sienicht – wird für Maßnahmen zur Verbraucheraufklärungaußerhalb des Ernährungsbereichs ausgegeben, nämlichgerade einmal 2,9 Millionen Euro. Noch einmal zumVergleich: 3,75 Millionen Euro allein für die Informa-tion über nachhaltigen Konsum und 2,9 Millionen Eurozur Verbraucherinformation außerhalb des Ernährungs-bereichs.

Bei dieser Verbraucherinformation geht es um The-men wie die Liberalisierung des Strom- und Gasmarktes,die Verbesserung der Verbraucherinformation für Post-und Bahnkunden oder um allgemeine Themen wie Ver-braucherrechte neue neue Medien, Verbraucherrechtebei Finanzdienstleistungen – auch das ist schon einmalerwähnt worden – oder um die Unterstützung eines In-formationssystems zur Produktsicherheit. Ich fragemich, warum diese Schlagworte im Haushalt aufgeführtwerden, ohne dass tatsächlich Geld dahinter steckt undohne dass die Bereitstellung der entsprechenden Infor-mationen finanziert wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Noch mehr Geld!)

Frau Ministerin, Sie haben uns angekündigt, Verbrau-cherpolitik als Querschnittsaufgabe zu sehen. NennenSie das eine Querschnittsaufgabe? Ist das die Wahrneh-mung der Verbraucherinteressen in allen Bereichen? Istder nachhaltige Konsum für Sie wichtiger als Initiativenzum elektronischen Geschäftsverkehr oder zum Inter-net? Wir erleben doch zurzeit, welche Dimensionen derHandel im Internet mittlerweile angenommen hat undwelche Probleme damit verbunden sind.

Lassen Sie mich ein anderes Beispiel nennen: dieFachbeiräte. Dass der Verbraucherschutz in Ihrem Mi-nisterium eine wichtige Rolle einnehmen soll, habenSie uns bei den vergangenen Haushaltsberatungen mit-geteilt. Schon damals haben Sie auf den wissenschaftli-chen Beirat „Verbraucher- und Ernährungspolitik“ ver-wiesen, der neu eingerichtet wurde. So weit, so gut.Dieses Vorhaben findet ganz klar unsere Unterstüt-zung. Umso verwunderter war ich, nun zu lesen, dassder Mittelbedarf bei den Mitgliedern von Fachbeirätenerhöht worden ist, und zwar wegen der Intensivierungder Arbeiten des Agrarbeirats, aber auch des Verbrau-cherbeirats.

Ich habe mir das Heft angeschaut, in dem aufgeführtworden ist, wie viel Geld für welche Maßnahmen ausge-geben worden ist und welche Arbeiten Sie intensivierenwollen. Dabei habe ich unter dem Punkt „Fachbeiräte“entdeckt, dass Sie die Formulierungen aus dem Haus-haltsentwurf 2003 wortgleich übernommen haben, abereine Anhebung der Beiträge für 2004 verlangen. Dasverstehe ich nicht. Ich wäre dankbar, wenn Sie uns

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4982 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003

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Ursula Heinen

zumindest in den Ausschussberatungen dafür eine Erklä-rung geben würden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ein weiteres Thema, bei dem Sie sich ebenfalls keinengroßen Ruhm erworben haben, ist die Neuorganisationder Behörden in Ihrem Aufgabenbereich. Es geht insbe-sondere um das Bundesamt für Verbraucherschutz undLebensmittelsicherheit bzw. um das Bundesinstitut fürRisikobewertung. In diesem Bereich ist ein zusätzlicherBürokratieaufwand entstanden. So sind etwa Zuständig-keiten der Biologischen Bundesanstalt für Land- undForstwirtschaft auf das Bundesamt für Verbraucher-schutz und Lebensmittelsicherheit übertragen worden.

(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zu Recht!)

Aber es wird nicht eine Behörde durch die andere er-setzt. Die Biologische Bundesanstalt bleibt weiterhin amGenehmigungsverfahren beteiligt. Das heißt, es ist einezusätzliche Genehmigungsstufe eingeführt worden. Dashat nun wirklich nichts damit zu tun, dass man die Zahlder Behörden verringern und Bürokratiehemmnisse be-seitigen will, um es für die Unternehmen in Deutschlandeinfacher zu machen.

(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind zwei Themen! –Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Der Verbraucherschutz ist einge-führt worden!)

Damit haben Sie mehr und nicht weniger Bürokratie inDeutschland geschaffen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Christel Happach-Kasan [FDP])

Wie ist Ihr Anliegen, ein Bundesinstitut für Produkt-sicherheit zu gründen, mit Ihren Vorstellungen vereinbar,die Zahl der Bundesbehörden insgesamt zu verringern?Die Bundesregierung schreibt in ihrem aktuellen Berichtvon August 2003, dass das Institut nach wie vor geplantsei. Aber daran schließt sich folgende Anmerkung an:

Die fachlichen und strukturellen Überlegungen zurErrichtung des Instituts sind noch nicht abgeschlos-sen.

Da bleibt noch Hoffnung, dass dieses Institut nichtkommt.

Wir haben schon bei der Neuorganisation der Behör-den darauf hingewiesen, dass sowohl das Bundesamt fürVerbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit als auchdas Bundesinstitut für Risikobewertung personell durch-aus in der Lage sind, nicht nur im Bereich der Lebens-mittelsicherheit zu arbeiten. Sie haben die Strukturen,auch in anderen Bereichen tätig zu werden. Ich meine,wir brauchen hierfür kein zusätzliches Bundesinstitut.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Allen Rednerinnen und Rednern hier im Haus ist dieUnabhängigkeit der Stiftung Warentest – FrauTeuchner hat das schon erwähnt – ein wichtiges Anlie-gen. Wir stimmen der Koalition durchaus zu. Auch wir

sagen: Es ist gut, dass die Zuwendungen in Höhe von6,5 Millionen Euro für die Arbeit der Stiftung Warentesterhalten geblieben sind. Nichtsdestotrotz wünschen wiruns, dass wir uns in den nächsten Monaten Gedankendarüber machen, wie wir die Stiftung Warentest in einetatsächlich vom Staat unabhängige Stiftung überführenkönnen. Ich glaube, es ist allmählich an der Zeit, dieStiftung von den Zuschüssen des Staates unabhängig zumachen.

(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo finden Sie das Geld?)

In Ihrer Rede haben Sie die Arbeit der Verbraucher-zentralen angesprochen. In der Tat stehen viele Ver-braucherzentralen in den Bundesländern leider vor derSchließung, weil sie kaum noch Mittel zur Verfügunghaben. Das hat etwas damit zu tun, dass die Länder, aberauch viele Kommunen aufgrund Ihrer Finanzpolitikschlicht und ergreifend nicht mehr in der Lage sind, Ver-braucherzentralen angemessen mitzufinanzieren.

(Manfred Helmut Zöllmer [SPD]: Herr Koch zum Beispiel!)

Die Verbraucherzentralen in den Bundesländern wer-den vom Bund unterstützt, aber nur im Ernährungsbe-reich. Eine Kollegin von der FDP, Frau Kopp, hat eineentsprechende Frage an den zuständigen Staatssekretärgestellt, der das in seiner Antwort bestätigt hat. Letzt-endlich bedeutet das, dass die Bundesregierung nur be-reit ist, die Ernährungsberatung zu finanzieren – sie istgut und wichtig und sie wird zunehmend wichtiger –,nicht aber andere Beratungen, die bei der Arbeit der Ver-braucherzentralen ebenfalls eine wichtige Rolle spielen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das ist Ländersache! – FranziskaEichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Rechnen Sie aus, was das alles kostet!)

Keine Spur von Projekten zur Beratung bei der Al-tersvorsorge! Frau Teuchner, Sie haben vorhin die Le-bensversicherungen erwähnt. Die Bundesregierungkönnte doch genauso gut Projekte zu den Themen Miet-fragen oder Produkt- und Energieberatung fördern undnicht nur Projekte im Ernährungsbereich. Verbraucher-politik ist nicht nur Ernährungspolitik, sondern betrifftschlicht und ergreifend alle Bereiche.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder FDP – Franziska Eichstädt-Bohlig[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und die Län-der? Die dürfen ihr Geld abbauen!)

Die Haushaltslage insgesamt ist prekär. Sie bietet kei-nen Anlass und keinen Spielraum für politisch-ideolo-gisch motivierte Eskapaden. Vielmehr ist solide Arbeitgefragt. Wir wünschen uns, dass Sie in den nächstenMonaten an diesem Haushalt arbeiten und dann einenvernünftigen Plan vorlegen.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Page 141: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4983

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Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe

damit die Aussprache.

Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destages auf morgen, Mittwoch, den 10. September2003, 9 Uhr, ein.

Dann beginnen wir mit der Beratung des Etats desKanzleramtes. Wer auf den Plätzen sitzen bleibt, die ergerade eingenommen hat, ist morgen früh nah am Ortdes Geschehens. All denen, die von dieser Option keinenGebrauch machen wollen, wünsche ich noch einen schö-nen Abend und eine gute Nacht.

Die Sitzung ist geschlossen.

(Schluss: 21.53 Uhr)

Berichtigung57. Sitzung, Seite 4805 (A), dritter Absatz, der erste

Satz ist wie folgt zu lesen: „Wie im Tarifbereich werdendie Dienst- und Versorgungsbezüge für die Beamten,Richter und Soldaten in drei Schritten linear um ins-gesamt 4,4 Prozent angehoben und die tariflich verein-barten Einmalzahlungen übertragen.“

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Page 142: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:
Page 143: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/15/15058.pdfPlenarprotokoll 15/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 Inhalt:

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. September 2003 4985

(A) (C)

(B)

Anlage zum Stenografischen BerichtAnlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

(D)

Abgeordnete(r)entschuldigt biseinschließlich

Adam, Ulrich CDU/CSU 09.09.2003

Bruckmann, Hans-Günter

SPD 09.09.2003

Carstensen (Nordstrand), Peter H.

CDU/CSU 09.09.2003

Daub, Helga FDP 09.09.2003

Dautzenberg, Leo CDU/CSU 09.09.2003

Ferner, Elke SPD 09.09.2003

Fritz, Erich G. CDU/CSU 09.09.2003***

Goldmann, Hans-Michael

FDP 09.09.2003

Hartnagel, Anke SPD 09.09.2003

Heinrich, Ulrich FDP 09.09.2003

Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

09.09.2003

Hoppe, Thilo BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

09.09.2003

Hustedt, Michaele BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

09.09.2003

Jonas, Klaus Werner SPD 09.09.2003**

Kolbe, Manfred CDU/CSU 09.09.2003

Kopp, Gudrun FDP 09.09.2003

Dr. Kues, Hermann CDU/CSU 09.09.2003

Lensing, Werner CDU/CSU 09.09.2003

* für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlungdes Europarates

** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union *** für die Teilnahme am Parlamentariertreffen der Interparlamentari-

schen Union

Dr. Leonhard, Elke SPD 09.09.2003

Lintner, Eduard CDU/CSU 09.09.2003*

Pflug, Johannes SPD 09.09.2003***

Dr. Pinkwart, Andreas FDP 09.09.2003

Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 09.09.2003

Schaich-Walch, Gudrun SPD 09.09.2003

Schmidt (Fürth), Christian

CDU/CSU 09.09.2003

Singhammer, Johannes CDU/CSU 09.09.2003

Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

09.09.2003

Dr. Uhl, Hans-Peter CDU/CSU 09.09.2003

Dr. von Weizsäcker, Ernst Ulrich

SPD 09.09.2003

Wieczorek-Zeul, Heidemarie

SPD 09.09.2003

Winkler, Josef Philip BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

09.09.2003***

Dr. Zöpel, Christoph SPD 09.09.2003

Abgeordnete(r)entschuldigt biseinschließlich

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