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Neurophysiol. Lab. 36 (2014) 101–107 Online verfügbar unter www.sciencedirect.com ScienceDirect Diagnose von Myopathie und Myasthenie Diagnosis of myopathy and myasthenia Philipp Erdmann Klinik für Neurologie und klinische Neurophysiologie, Klinikum Vest, Behandlungszentrum Knappschaftskrankenhaus Recklinghausen, Dorstener Str. 151, 45657 Recklinghausen Eingegangen am 23. Juni 2014; akzeptiert am 27. Juni 2014 Online verfügbar seit 8. Juli 2014 Zusammenfassung Leitsymptom ist eine Schwäche der Muskeln mit variablem Schwerpunkt, die tageszeitlich oder auch belastungsabhängig sein kann. Störungen der Sensibilität kommen nicht vor. Die Diagno- stik bei Myopathien oder myasthenen Syndromen sind typische Domänen der Elektromyo- und Elektroneurografie. Die typischen Befunde werden vorgestellt und erklärt. Schlüsselwörter: Myopathie; Myasthenie; motorische Neurographie; repetitive Stimulation; Elek- tromyografie Summary Leading symptom is a muscular weakness with variable location which may depend on day time or on exercise. Sensory disturbances do not occur. Diagnostic management for myopathis and myasthe- nic syndromes are domains of electromyography and nerve conduction studies. Typical results are presented and explained. Keywords: myopathy; myasthenia; motor nerve conduction studies; repetetive stimulation; elec- tromyography 1. Leitsymptom Elektrophysiologische Befunde zur Diagnostik bei Myopathien oder myasthe- nen Syndromen sind typische Domänen der Elektromyo- und Elektroneurografie. Leitsymptom ist eine Schwäche der Muskeln mit variablem Schwerpunkt, die tageszeitlich oder auch belastungsabhängig sein kann. Störungen der Sensibilität Korrespondierender Autor: Klinik für Neurologie und klinische Neurophysiologie Klinikum Vest Behandlungszentrum Knappschaftskrankenhaus Recklinghausen Dorstener Str. 151 45657 Reckling- hausen. E-mail: [email protected] http://dx.doi.org/10.1016/j.neulab.2014.07.007

Diagnose von Myopathie und Myasthenie

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Page 1: Diagnose von Myopathie und Myasthenie

Neurophysiol. Lab. 36 (2014) 101–107

Online verfügbar unterwww.sciencedirect.com

ScienceDirect

Diagnose von Myopathie und Myasthenie

Diagnosis of myopathy and myasthenia

Philipp Erdmann ∗

Klinik für Neurologie und klinische Neurophysiologie, KlinikumVest, Behandlungszentrum KnappschaftskrankenhausRecklinghausen, Dorstener Str. 151, 45657 Recklinghausen

Eingegangen am 23. Juni 2014; akzeptiert am 27. Juni 2014Online verfügbar seit 8. Juli 2014

Zusammenfassung

Leitsymptom ist eine Schwäche der Muskeln mit variablem Schwerpunkt, die tageszeitlich oderauch belastungsabhängig sein kann. Störungen der Sensibilität kommen nicht vor. Die Diagno-stik bei Myopathien oder myasthenen Syndromen sind typische Domänen der Elektromyo- undElektroneurografie. Die typischen Befunde werden vorgestellt und erklärt.

Schlüsselwörter: Myopathie; Myasthenie; motorische Neurographie; repetitive Stimulation; Elek-tromyografie

Summary

Leading symptom is a muscular weakness with variable location which may depend on day time oron exercise. Sensory disturbances do not occur. Diagnostic management for myopathis and myasthe-nic syndromes are domains of electromyography and nerve conduction studies. Typical results arepresented and explained.

Keywords: myopathy; myasthenia; motor nerve conduction studies; repetetive stimulation; elec-tromyography

1. Leitsymptom

Elektrophysiologische Befunde zur Diagnostik bei Myopathien oder myasthe-nen Syndromen sind typische Domänen der Elektromyo- und Elektroneurografie.

Leitsymptom ist eine Schwäche der Muskeln mit variablem Schwerpunkt, dietageszeitlich oder auch belastungsabhängig sein kann. Störungen der Sensibilität

∗Korrespondierender Autor: Klinik für Neurologie und klinische Neurophysiologie Klinikum VestBehandlungszentrum Knappschaftskrankenhaus Recklinghausen Dorstener Str. 151 45657 Reckling-hausen.

E-mail: [email protected]://dx.doi.org/10.1016/j.neulab.2014.07.007

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Abb. 1. Typologie der motorischen Einheiten.

kommen nicht vor. Die Muskeleigenreflexe sind nur bei massiven Schwächenherabgesetzt oder fehlend.

Zur Vertiefung sei hier verwiesen auf Lehrbücher der klinischen Elektroneu-rophysiologie [1–6].

2. Myopathie

Zum Verständnis der elektromyographischen Befunde bei einer Myopathie istdie Kenntnis über Aufbau und Funktion der durch die Elektromyografie unter-suchten motorischen Einheiten sinnvoll. Eine motorische Einheit bezeichnet manals das übergeordnete aus dem Rückenmark entspringende Motoneuron mit sei-nen an den Axonverzweigungen innervierten einzelnen Muskelfasern, die durchdieses neuronal versorgt werden. Es existieren zwei verschiedene Formen moto-rischer Einheiten, von denen die kleineren motorischen Einheiten höherfrequentmit niedrigerer Aktivierungsschwelle entladen und zu feinerer Abstufung vonKraftentfaltung beitragen. Die großen motorischen Einheiten tragen bei nieder-frequenterer Maximalentladung und höherer Aktivierungsschwelle zur grobenKraftentfaltung bei. Diese lassen sich elektromyographisch auch in Bezug aufihre Amplitude und Dauer bereits so als normale Varianz im EMG darstellen(Abb. 1).

Kommt es nun zu einer physiologischen Muskelanspannung werden bei nied-riger Kraft zunächst kleinere motorische Einheiten (englisch auch motor units,abgekürzt MU genannt) aktiviert, die mit einer relativ niedrigen Entladungsfre-quenz beginnen. Bei weiterem Kraftzuwachs werden die größeren motorischenEinheiten mit niedriger Frequenz hinzugeschaltet, so dass ein Mischbild aus klei-nen und wenigen großen motorischen Einheiten entsteht. Bei weiter zunehmender

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Abb. 2. Systematik der Kraftsteuerung.

Abb. 3. Interferenzmuster bei zunehmender Muskelanspannung – Kennwerte sind die Amplitudeund deren Hüllwerte, sowie die Anzahl der Wendungen (Turns).

Kraft bis hin zur Maximalkraftentfaltung erhöhen sich die Entladungsfrequen-zen sämtlicher kleiner und großer motorischer Einheiten im Aufnahmeradius derEMG-Nadel bis hin zu einem komplett dichten Aktivierungsmuster (Abb. 2).

In der Praxis der Elektromyografie führt dies dazu, dass sich bei hoher Anspan-nung eines Muskels in der so genannten Interferenzmusteranalyse die Anzahl derPotentiale motorischer Einheiten, sowie die Entladungsfrequenz wie auch dieHüllkurvenamplitude der Maximalinnervation charakterisieren und analysierenlassen (Abb. 3).

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Elektromyographisch sind in dieser Analyse typische Auffälligkeiten beimyopathisch geschädigter Muskulatur erkennbar. Klinisch machen sich Myopa-thien durch eine progrediente Schwäche, die je nach Erkrankungstypus akut oderchronisch schleichend verlaufen kann, insbesondere im Bereich der proximalenMuskelgruppen bemerkbar. Bei Akuterkrankungen können trotz vorliegenderdeutlicher Paresen teilweise keine Muskelatrophien sichtbar sein. Ursachenmyopathischer Syndrome sind insgesamt extrem heterogen und reichen vongenetischen Erkrankungen mit unterschiedlichsten Manifestationen bis hin zuautoimmun entzündlichen Myopathien.

Die wichtigste Differenzialdiagnose myopathischer Syndrome sind chronischneurogene Störungen, die sich gut elektromyographisch differenzieren lassen.Labordiagnostisch können die Kreatinkinase oder die Entzündungswerte zusätz-liche Hinweise auf einen muskulären Schädigungsprozess geben. Zur genauennosologischen Zuordnung ist die Muskelbiopsie das entscheidende diagnostischeWerkzeug.

In der zunächst orientierend durchzuführenden elektromyographischen Unter-suchung lassen sich am besten Muskeln untersuchen, die eine deutliche klinischeBeteiligung in Form einer Parese aufweisen, jedoch nicht plegisch sind. In allerRegel sind die großen Muskeln deutlich zuverlässiger elektromyographisch zubeurteilen als kleine Muskeln, daher sind die typischen Muskeln mit den ambesten zu reproduzierenden Ergebnissen der M. bizeps brachii und der M. vastuslateralis.

Pathophysiologisch ereignet sich bei einer Myopathie eine Destruktion voneinzelnen Muskelfasern oder zumindest Ausdünnung derselben. In der Einzelpo-tentialanalyse des EMG’s fallen daher viele verschiedene deutlich verkleinerteund verkürzte sowie teils polyphasisch aufgesplitterte Potentiale motorischerEinheiten (PmE) auf.

Durch die Verkleinerung der einzelnen motorischen Einheiten durch denmuskeldestruktiven Prozess verlieren die motorischen Einheiten als solchesan Kraftentwicklung zur Ausführung der Bewegung. Dies führt in der Inter-ferenzmusteranalyse bei maximaler Kraftentfaltung unter anderem zu einerdeutlich niedrigeren Aktivierungsschwelle der großen motorischen Einhei-ten, so dass selbst bei niedriger Kraftentfaltung bereits viele motorischeEinheiten gleichzeitig entladen (Phänomen der frühzeitigen Rekrutierung).Daneben nimmt die Amplitude der Hüllkurve aufgrund der generellenAmplitudenreduktion der einzelnen motorischen Einheiten ab und erscheintinsgesamt homogen angeglichener als bei einem normalen Interferenzmu-ster.

In der sogenannten Cloud-Analyse wird das Interferenzmuster in Einzelteilezerlegt (Abb. 4). Aus der Gesamtamplitude dieses Zeitabschnittes im Verhält-nis zur Anzahl der Positiv-/Negativwendungen (Turns) der Potentiale zu diesemZeitpunkt lassen sich Einzelpunkte in ein Diagramm einfügen. Liegt eine Wolke(sog. Cloud) aus Messpunkten an verschiedenen Einstichstellen der Muskula-tur unterhalb des altersdefinierten Normalbereiches bedeutet dies, dass zu kleineAmplituden im Verhältnis zu einer zu hohen Turn-Zahl vorliegt und dies bestätigtdas Vorliegen einer Myopathie (Abb. 5).

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Abb. 4. Zerlegung des Interferenzmusters.

Abb. 5. Typische Befunde der Analyse des Interferenzmusters mit der Cloud-Analyse.

3. Myasthenie

Unter myasthenen Syndromen werden Erkrankungsbilder durch Störung derneuromuskulären Übertragung von Nerv auf Muskel zusammengefasst.

Deren typisches Leitsymptom sind Belastungs- und tageszeitlich abhän-gige Muskelschwäche von Muskelgruppen von unterschiedlicher Lokalisation.Pathophysiologisch lassen sich in die postsynaptischen Übertragungsstörun-gen, bei denen das Ansprechen der postsynaptischen Acetycholinrezeptoren aufder Muskelmembran erniedrigt ist und präsynaptische Transmissionsstörungenunterscheiden, bei denen nicht genügend Acetylcholin in den synaptischen Spaltausgeschüttet wird, um die postsynaptische Membran überhaupt erregen zukönnen.

Die einfachste und am besten anwendbare elektrophysiologische Untersu-chung zur Bestätigung von myasthenen Syndromen ist die sogenannte repetitiveStimulation oder auch Endplattenbelastungstest. Dabei wird ein zueinandergehöriges Nerv-Muskelpaar (z. B. N. accessorius und M. trapezius) serienweise

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Abb. 6. Normale Amplituden der Muskelaktionspotenziale bei niedrig und hochfrequenter repetitiverStimulation und bei Myasthenie.

neurographisch mit einer bestimmten Frequenzspanne stimuliert und die Mus-kelsummenpotentiale bezüglich der Amplitudenabnahme (sog. Dekrement) oder-zunahme (sog. Inkrement) im Verlauf der Serie ausgewertet.

Bei postsynaptischen neuromuskulären Übertragungsstörungen wie derMyasthenia gravis kommt es bei repetitiver Stimulation mit einer Frequenz um 3Hertz typischerweise zu einer Minderung der Amplitude und Fläche der Muskel-summenpotentiale - insbesondere des vierten und fünften Potentials - im Verlaufum mehr als 10% zum Ausgangspotential (Abb. 6). Gut zu untersuchende Sti-mulationsorte sind z. B. der N. facialis mit Ableitung am M. orbicularis oculi,der N. accessorius mit Ableitung am M. trapezius oder der Plexus brachialis mit

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Ableitung am M. deltoideus. Zu bedenken ist die rechtzeitig vorhergehende The-rapiepause der eventuell bestehenden cholinergen Medikation vor der Testung.

Bei präsynaptischen Transmissionsstörungen, deren typischer Vertreter dasLambert-Eaton-Syndrom ist, müssen höhere Stimulationsfrequenzen bis 50Hertz angewandt werden. Am besten untersuchbar sind distale Nerv-Muskelpaare wie z.B. der N. ulnaris mit Ableitung am M. abductor digitiminimi. Die Untersuchung ist häufig aufgrund der hohen Stimulationsfrequenzschmerzhaft. Als typischer Befund zeigt sich bei einer pathologisch niedrigenAusgangsamplitude ein Anstieg der Amplitude im Verlauf der Untersuchung ummehr als 50% durch die Erhöhung der Ausschüttung von Acetylcholinquanten inden synaptischen Spalt durch die künstlich maximal erhöhte Entladungsfrequenzder Neuronen.

4. Take Home

Die Elektromyografie kann typische Befunde für eine Myopathie erbringenund damit die Diagnose belegen. Allerdings ist sie nicht sehr sensitiv und nichtspezifisch. Das Ausmaß der myografischen Veränderungen geht nicht immer mitder der Schwäche einher.

Die repetitive Stimulation kann eine neuro-muskuläre Übertragungsstörungbelegen. Allerdings kommt ein Dekrement auch bei Erkrankungen der Muskelnvor und ist damit nicht spezifisch für eine neuromuskuläre Übertragungsstörung.Das Dekrement geht nicht parallel mit den klinischen Symptomen.

Interessenkonflikt

Der korrespondierende Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

Literatur

[1] M.J. Aminoff, Electrodiagnosis in Clinical Neurology, Elsevier, 2012.[2] Ch. Bischoff, W.J. Schulte-Mattler, Das EMG-Buch, Thieme, 2011.[3] Ch. Bischoff, R. Dengler, H.-Ch. Hopf, EMG-NLG, Thieme, 2014.[4] J. Kimura, Electrodiagnosis in diseases of nerve and muscle, Oxford University Press, 2013.[5] M. Stöhr, R. Pfister, Klinische Elektromyographie und Neurographie – Lehrbuch und Atlas, 6.

Auflage angekündigt, Kohlhammer, September 2014.[6] P. Vogel, Kursbuch Klinische Neurophysiologie, Thieme, 2011.