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Die Komplexitat der Kriege

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Thomas Jäger (Hrsg.)

Die Komplexität der Kriege

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Globale Gesellschaft und internationale Beziehungen

Herausgegeben von

Thomas Jäger

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Thomas Jäger (Hrsg.)

Die Komplexität der Kriege

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1. Auflage 2010

Alle Rechte vorbehalten© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010

Lektorat: Frank Schindler

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Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, HeidelbergGedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in Germany

ISBN 978-3-531-17311-5

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

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Inhaltsverzeichnis Inhalt Vorwort Thomas Jäger ......................................................................................................................... 7 Kriegstheoretische Analyse von neuen Gewaltformen Rasmus Beckmann .................................................................................................................. 8 I. Kriege im Zeichen von Ordnung und Sicherheit Reflexionen über den Begriff des Weltordnungskonfliktes Andreas Herberg-Rothe ....................................................................................................... 37 Die Bedeutung des Militärs für die Großmächtepolitik Matthias Zimmer .................................................................................................................. 54 Ein wirksames Instrument für die Zukunft? – Die ESVP als europäischer Kriseninterventionsmechanismus Matthias Vogl/Jan-David Blaese ......................................................................................... 70 Private Militärfirmen in der internationalen Sicherheitspolitik: Ansätze einer Einordnung Carsten Michels/Benjamin Teutmeyer ................................................................................. 97 II. Kriege im Zeichen schwacher Staatlichkeit Gefährliche Davids: Wie schwache Staaten ihre Nachbarn bedrohen Daniel Lambach ................................................................................................................. 127

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Inhaltsverzeichnis 6

Pulverfass Andenregion? – Der kolumbianische Konflikt und seine Auswirkungen auf die Stabilität der Region Eika Auschner/Corinna Walter .......................................................................................... 144 Gewaltökonomien und ihre externe Eindämmung Johannes Le Blanc ............................................................................................................. 162 Irreguläre Kräfte und der interessierte Dritte im modernen Kleinkrieg Dirk Freudenberg ............................................................................................................... 179 Kleinkrieg in der Wüste: Nomadische Kriegsführung und die „Kultur des Krieges“ bei den Tuareg Georg Klute ........................................................................................................................ 188 III. Kriege im Zeichen der Globalisierung Die Bedrohung durch transnational organisierte Kriminalität Lars J. Gerdes .................................................................................................................... 223 Die Digitalisierung der Medien und ihre Auswirkungen auf Kriegsführung und Öffentlichkeit Henrike Viehrig .................................................................................................................. 247 Schutzraum, Kampfzone oder Pax Americana? – Der Weltraum und die Kriegsführung der Zukunft Mischa Hansel .................................................................................................................... 261 Ungleichzeitige Kriege Thomas Jäger ..................................................................................................................... 287 Autorenverzeichnis ............................................................................................................ 306

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Vorwort

In den letzten Jahren, insbesondere seit das weltumspannende Deutungsmuster des Ost-West-Konflikts für Gewaltauseinandersetzungen in und zwischen Staaten verloren ging, wurde eine intensive Diskussion um die Veränderung des Krieges geführt. Die Entwicklun-gen der internationalen Ordnung, die Wandlungen von Staatlichkeit, die faktische Ord-nungskraft der Globalisierung, die Politisierung von ethnischen Identitäten und Religionen sowie andere Faktoren bildeten den Rahmen, in dem die Gewaltauseinandersetzungen neu beobachtet und interpretiert wurden. Innerhalb dieser Entwicklungen selbst bildeten sich neue Felder und Formen der Auseinandersetzung aus und der Krieg wandelte in dieser Zeit erneut sein Gesicht. Dabei entwickelten und veränderten sich die Mittel der Gewaltanwen-dung ebenso drastisch wie die Zwecksetzungen der einzelnen Kriegsparteien variierten. Die Komplexität der Kriege wurde in den unterschiedlichen Blickwinkeln auf das Kriegsge-schehen deutlich und bildet seither die Grundlage, auf der über die neuen Aufgaben zur Herstellung und Gewährleistung von Sicherheit nachgedacht wird. Diese Diskussion ist noch an kein Ende gekommen. Sie wird heute insbesondere in zwei Richtungen geführt. Erstens, wie bestimmte Konflikte analysiert werden können, um auf dieser Basis zu ent-scheiden, wie internationale Ordnungsleistungen erbracht werden können. Zweitens, was der Einsatz bestimmter Mittel der Gewaltanwendung über die politischen Zwecke aussagt, die die jeweiligen Akteure verfolgen.

Mit den hier vorgelegten Analysen wollen wir dazu beitragen, diese Komplexität der Kriege weiter zu vermessen. Wir haben den Band in drei große Abschnitte unterteilt. Im ersten werden Kriege im Zeichen von Ordnung und Sicherheit betrachtet. Der zweite Ab-schnitt widmet sich Kriegen im Umfeld schwacher Staatlichkeit und im dritten Teil wenden wir uns Kriegen im Zeitalter der Globalisierung zu.

Ohne die gute Zusammenarbeit mit den Autorinnen und Autoren wäre dieses Buch nicht entstanden und ich möchte an erster Stelle allen sehr herzlich danken, dass sie mit großem Engagement und herausragender Fachkenntnis beigetragen haben, dieses Buch zu schreiben. Ein ebenso herzlicher Dank geht an Herrn Frank Schindler vom VS Verlag für Sozialwissenschaften, der die Entstehung dieses Buches mit viel Wohlwollen und intensiv begleitet sowie unterstützt hat. Ganz besonders danke ich Herrn Dominik Wellhäuser, der mit viel Ausdauer, Engagement und Akribie die Beiträge redaktionell bearbeitet und das gesamte Projekt betreut hat. Thomas Jäger

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Kriegstheoretische Analyse neuer Gewaltformen1

Rasmus Beckmann 1 Einleitung

Welchen Beitrag kann der klassische Kriegstheoretiker Clausewitz, der im Zeitalter der napoleonischen Kriege über Krieg und Strategie nachgedacht hat, zur Analyse der enormen Bandbreite neuer Gewaltformen, die der vorliegende Band dokumentiert, noch leisten? Für viele ist die Antwort klar. Unter den völlig anderen politischen, gesellschaftlichen, ökono-mischen, technologischen und kulturellen Bedingungen des frühen 21. Jahrhunderts sind die strategischen Überlegungen von Clausewitz bestenfalls irrelevant – schlimmstenfalls sogar irreführend. Die katastrophalen Folgen, die eine Übertragung der strategischen Grundsätze von Clausewitz in andere Zeitalter haben kann, sind in wissenschaftlichen Ana-lysen hinlänglich belegt worden: Gutgläubig dem strategischen Rat von Clausewitz fol-gend, unter allen Umständen die Entscheidungsschlacht zu suchen, verstrickten sich bei-spielsweise die Generäle im I. Weltkrieg – die veränderten Rahmenbedingungen außer Acht lassend – heillos in einen verlustreichen, jahrelangen Grabenkrieg (Liddell Hart 1933). Auch weitere strategische Ratschläge von Clausewitz sind heute ein sicherer Weg in die Katastrophe: Zu nennen ist seine Fixierung auf den zwischenstaatlichen Krieg aufgrund seiner eigenen Lebenserfahrung im 19. Jahrhundert. Creveld zeigt in seiner historisch breit angelegten wie analytisch tiefen Forschungsarbeit überzeugend, dass heutige Strategen ihr Augenmerk vielmehr auf die so genannten Low Intensity Conflicts richten sollten, vor sich hinschwelende, von brutaler Gewaltanwendung geprägte politische Konflikte an der Peri-pherie der Staatenwelt, bei denen der Staat – wenn überhaupt – nur einen Typ von Kon-fliktpartei unter vielen anderen darstellt und in denen häufig die Staatlichkeit selbst auf dem Spiel steht (Creveld 2001). Eine Ausrichtung von Gerät, Doktrin und Strategie auf zwi-schenstaatliche Kriege, ginge – Creveld zufolge – schlicht an der sicherheitspolitischen Realität der postbipolaren Welt vorbei. Die Liste der Clausewitz’schen „Fehlleistungen“ lässt sich beinahe beliebig lang fortsetzen: Seine strikte Trennung zwischen Taktik und Strategie ist nicht mehr aufrechtzuerhalten. In Zeiten des strategic corporal, dem einzelnen Soldaten, der strategische Wirkungen erzielen kann (Kilcullen 2006: 6), muss die Definiti-on von Strategie als Koordination der Gefechte und Taktik als die Führung derselben in die Irre führen usf.

Die genannten Vorwürfe an Clausewitz sind alle richtig, basieren sie doch je auf tief greifenden wissenschaftlichen Analysen. Die vorliegende Arbeit schließt sich der präsen-tierten Kritik an, möchte jedoch einen weiteren Aspekt im Werk von Clausewitz aufgreifen. Ausgangspunkt ist die in der Clausewitz-Forschung mittlerweile gut belegte These, dass es eine Entwicklung in seinem Denken gegeben hat, die sich in teilweise sogar widersprüchli-

1 Ich danke Thomas Jäger und Roland Kaestner für ihre unschätzbare Unterstützung.

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chen Aussagen im Hauptwerk „Vom Kriege“ (Clausewitz 1980) widerspiegelt. Heuser hat dies auf den Punkt gebracht, indem sie in ihrer Untersuchung von den „beiden Clausewit-zen“ schreibt (Heuser 2005: 51-54). Kondylis weist darüber hinaus nach, dass Clausewitz gegen Ende der Fertigstellung seines Werkes einen zündenden Gedanken hatte, den er aber aufgrund seines frühzeitigen Todes nur noch teilweise in sein Werk einarbeiten konnte (Kondylis 1988: 62-63). Völlig zufrieden war Clausewitz, wie er selbst schreibt, nur mit dem ersten Kapitel des ersten Buches (Clausewitz 1980: 181); das auf diesen Seiten enthal-tene Denken findet sich jedoch ebenfalls im restlichen ersten Buch, im zweiten und im achten Buch „Vom Kriege“ (Kondylis 1988: 62-63).

Worin besteht der zündende Gedanke, den Clausewitz erst gegen Ende seiner Karriere hatte? Ihm war nach jahrelanger penibler Auswertung vergangener Kriege erstens klarge-worden, dass die äußere Form, die der Krieg annimmt, einem enormen Wandel unterliegt, dass er sich hinsichtlich seiner Intensität, der verfolgten Ziele und eingesetzten Mittel, so-gar hinsichtlich der kriegführenden Akteure, ständig verändert. Zweitens war er zu der Erkenntnis gelangt, dass die Entwicklung erfolgreicher Strategien zur Erreichung der eige-nen Zwecke im Krieg fundamental vom Verständnis dieses Wandels abhängt. Drittens hatte er erkannt, dass die Kriegsgeschichte trotz allen Wandels einen roten Faden – nämlich den engen Zusammenhang zwischen Politik und Krieg in jeder Ära – aufweist, den seine Kriegstheorie, freilegen musste, um auch künftigen Generationen bei der Strategieformulie-rung hilfreich zu sein. Schließlich war er viertens zum Schluss gekommen, dass Kriege, zumindest auf der strategischen Ebene derart komplex sind, dass strategische „goldene Regeln“ überhaupt nicht seriös aufgestellt werden können; dass der Stratege auf eine wis-senschaftlich-systematische Analyse des Krieges, den er führt, zurückgeworfen ist und dass die Komplexität von der taktischen, über die operative und strategische bis zur politischen Ebene so stark zunimmt, dass nur noch das strategische „Genie“ mit seinem „Takt des Ur-teils“ der Herausforderung, unter diesen Bedingungen richtige Entscheidungen zu treffen, gewachsen ist.

Die früher geschriebenen Teile des Werkes „Vom Kriege“ enthalten hingegen eine Reihe strategischer „goldener Regeln“, die von den oben genannten Autoren zu Recht zu-rückgewiesen wurden, da sie schlicht zeitgebunden sind, d.h. zu Clausewitz’ Zeiten mögli-cherweise gültig waren. Aufgabe der vorliegenden Untersuchung ist es, die Gedanken des späten Clausewitz herauszuarbeiten. Entsprechend seiner Erkenntnisse können diese Ge-danken lediglich aus der Konstruktion eines theoretischen Analysemodells bestehen. Dieses Modell „zerlegt“ das Phänomen Krieg (von Clausewitz bewusst sehr breit definiert als politische Gewaltanwendung zur Erreichung politischer Zwecke) durch den Einsatz von klar definierten Begriffen in seine Bestandteile und zeigt mögliche (Wechsel-)Wirkungen zwischen diesen Bestandteilen auf. Es liefert einen Zugriff und Ausgangspunkt, um jeden gegebenen vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Krieg empirisch bzw. – mit den Methoden der Zukunftsanalyse – szenariotechnisch (Brust et al. 2006) analysieren zu kön-nen. Dies hat zwei Konsequenzen: Zum einen fängt die Arbeit, will man sich mit einem gegebenen Krieg auseinandersetzen, nach der Konstruktion des Clausewitz’schen Analy-semodells erst an, nämlich in Form des Zusammentragens und Auswertens großer Mengen von Daten. Zum anderen kann das Modell – ganz im Sinne des späten Clausewitz – kein Automat zur Fließbandproduktion von Strategien sein. Welches die richtigen Strategien zur Lösung eines gegebenen Konflikts sein könnten, kann nur in einem kreativen Prozess be-

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stimmt werden, der, so würde Clausewitz wahrscheinlich hinzufügen, in enger Zusammen-arbeit zwischen militärischer und politischer Führung erfolgen sollte.

Auf den folgenden Seiten wird der Gedankengang von Clausewitz in dem oben bereits erwähnten, von ihm als einzig vollendet betrachteten, ersten Kapitel seines ersten Buches analysiert. Der Sinn seiner Gedanken erschließt sich dem Leser, wenn man sie als zweitei-liges Gedankenexperiment begreift (Abschnitt 2). Im ersten Teil des Experiments analysiert Clausewitz den Krieg in seiner definitorischen, reinsten Form, dem gewaltsamen Aufeinan-derprallen zweier sich widersprechender Machtansprüche, isoliert von jeglichen Umwelt-faktoren, als fände er in einem Reagenzglas statt (a). Im zweiten Teil wiederholt er das Experiment, indem er nach und nach die Variablen Zeit, Raum, Akteurseigenschaften, internationale Umwelt usf. in das Gedankenexperiment einbringt und jeweils fragt, welche Veränderungen des Kriegs sich ergeben (b). Es ist eben dieses Offenlegen seines Gedan-kengangs, welches ihn anpassbar macht an unterschiedliche historische Bedingungen, im Sinne von unterschiedlichen Akteurseigenschaften, Zuständen des internationalen Systems usf. Im Abschnitt 3 werden die Erkenntnisse Clausewitz’ Schritt für Schritt zu einem hand-lungstheoretischen Analysemodell verdichtet. Strategisches Handeln wird definiert als der Mitteleinsatz in Zeit und Raum zur Erreichung konkreter Ziele, die wiederum übergeordne-ten, abstrakten politischen Zwecken dienen. Strategische Akteure handeln dabei in Bezug auf andere strategische Akteure, jedoch eben nicht in einem Reagenzglas, sondern in einer Umwelt, die hier durch das Konzept der inneren und äußeren Rahmenbedingungen begrif-fen wird (a-c). Anschließend werden strategische Prinzipien von Clausewitz dargestellt, die natürlich unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen unterschiedliche Konsequenzen haben (d). Um diesen letzten Punkt zu demonstrieren werden schließlich Gewaltformen, die vom zwischenstaatlichen Krieg abweichen, im Werk von Clausewitz untersucht (e). Im Schluss (Abschnitt 4) wird noch einmal zusammenfassend analysiert, welchen Beitrag Clausewitz zur Analyse der in diesem Band dokumentierten Gewaltformen leisten kann und wo die Grenzen seiner Anwendung liegen.

2 Gedankenexperiment

„Aber wenn es darauf ankommt, nicht selbst zu handeln, sondern in einer Beratung andere zu überzeugen, dann kommt es auf klare Vorstellungen, auf das Nachweisen des inneren Zusammenhanges an.“ (Clausewitz 1980: 182)

Clausewitz beginnt seine Theorie mit einer allgemeinen Definition des Krieges: „Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen“ (Clausewitz 1980: 191-192). Demzufolge dient Krieg zunächst einmal dazu, einen Gegner dazu zu bringen etwas zu tun, was er eigentlich nicht tun wollte bzw. etwas zu unterlassen, was er eigentlich gern getan hätte. Das heißt also, Krieg ist ganz allgemein ausgedrückt ein Mittel zur Machtausübung.2 Die Machtausübung durch Krieg unterscheidet sich von ande-ren Formen der Machtausübung dadurch, dass im Krieg physische Gewalt gegen den Geg-ner ausgeübt wird, um ihn zur Erfüllung des eigenen Willens zu zwingen. Diese Explikati-on ordnet sich der von Weber unter, indem man die Gewalt als spezielle „Chance“ ansieht, „den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen.“ Eine weitere Besonderheit

2 Nach Weber bedeutet Macht „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“ (Weber 1984: 89).

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ist, dass sich der Gegner im Krieg diese Gewalt nicht einfach gefallen lässt, sondern dass er sich mit Gewalt wehrt. Es entsteht ein Kampf, durch den die Gegner in eine besondere Form der sozialen Beziehung zueinander treten (Weber 1984: 65). Schließlich ist Krieg kein Kampf zwischen zwei Menschen, sondern ein Kampf zwischen Kollektiven. Da der Zweikampf jedoch sein Element ist und bleibt, schlägt Clausewitz vor, sich den Krieg als gigantischen Ringkampf vorzustellen (Clausewitz 1980: 191-192).

Nun führt Clausewitz wichtige Grundbegriffe des Krieges ein. Der Zweck des Krieges, definiert als sein „ursprüngliches Motiv“ (Clausewitz 1980: 200), besteht – gemäß seiner Natur als Mittel zur Machtausübung – ganz allgemein darin, dem Gegner den eigenen Wil-len aufzudringen. Um diesen Zweck ganz allgemein und in allen denkbaren Fällen zu errei-chen, bleibt nur ein Kriegsziel: Das Ziel ist die Wehrlosigkeit des Gegners; ist er zu keinem Widerstand mehr fähig, wird er jede Forderung erfüllen (Clausewitz 1980: 191-192). Das Mittel im Krieg ist die „physische Gewalt“ (Clausewitz 1980: 191). Es fällt auf, dass in dieser Definition über die Größe, Stärke, Bewaffnung und den Aufbau der Gegner keine Aussagen gemacht werden; ebenso erfährt der Leser nichts über die genauen Motive der Kämpfenden. Die Definition erfasst jedoch den Krieg in seiner Grundform: Er ist ein ge-waltsamer Kampf zwischen Kollektiven zur Machtausübung.

a. Modell I: „Reagenzglaskrieg“

Wie würde ein Krieg aussehen, der nur aus diesen wenigen Elementen bestünde? Clause-witz beantwortet diese Frage, in dem er den Krieg in seiner Grundform in Gedanken in einer Art Reagenzglas ablaufen lässt; man könnte auch sagen: es ist das Modell eines Krie-ges (weiter unten Modell I genannt). In diesem Reagenzglas gibt es nur zwei Kriegspartei-en, die als einheitliche Akteure (heute so genannte black boxes) modelliert werden, kein Vorher und kein Nachher des Krieges und auch keinen Raum, auf dem er sich ausdehnen könnte; die gesamte Handlung ist darüber hinaus auf einen kurzen Zeitraum zusammenge-drängt.

Die Gegner beginnen den Kampf und üben gegenseitig Gewalt aus. Schnell wird klar, dass immer derjenige einen Vorteil bekommt, der die Gewalt schonungsloser einsetzt. Da der Krieg in seinen Folgen endgültig ist, steigern sich die Kriegsparteien in die maximale Gewaltanwendung hinein. Dabei spielen Emotionen eine wichtige Rolle. Clausewitz unter-scheidet zwei Gruppen von Gefühlen, die menschliches Handeln ganz allgemein motivieren können: Feindschaft bzw. Hass und Furcht bzw. Schwäche (Kondylis 1988: 20). In der zeit- und raumlosen Situation des „Reagenzglaskrieges“ (Modell I) kommen nur die Gefühle der Feindschaft und des Hasses zur Geltung (Clausewitz 1980: 192ff.).

Ähnliches geschieht mit den Zielen, die sich die Gegner vorsetzen. Eine dosierte Ziel-setzung ist im Reagenzglas sinnlos. Mit Blick auf die Endgültigkeit des Kriegsausgangs wird jede Partei die Kampfhandlungen erst dann einstellen, wenn sie vollkommen wehrlos ist. Beide Parteien müssen hiervon ausgehen – auch die Zielsetzung eskaliert zum maxima-len Ziel, nämlich der Wehrlosigkeit des Gegners (Clausewitz 1980: 194-195).

Dies hat Folgen für die Kraftaufwendung der Kriegsparteien. Jede Partei wird versu-chen, den Gegner knapp in der Kraftanstrengung zu überbieten, um die eigenen Kräfte zu schonen. Dazu muss jedoch die gegnerische Kraftanstrengung bekannt sein. Sie setzt sich zusammen aus den Absichten des Gegners und aus seinen Mitteln. Wiederum mit Blick auf die Endgültigkeit des Ergebnisses werden die Kriegsparteien ihre Kraftanstrengung jedoch

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so lange wechselseitig erhöhen, bis sie jeweils zur maximalen Anstrengung gelangt sind (Clausewitz 1980: 195).

Der Krieg im Reagenzglas endet also in einer Eskalationsspirale. Maximale Gewalt, Ziele und Mittel haben einen Vernichtungskrieg zur Folge. Der Krieg unter kontrollierten Bedingungen endet in der unkontrollierten Gewalteskalation. Der „Reagenzglaskrieg“ kann keine historische oder zukünftige Entsprechung haben. Dennoch stellt er die Tiefenstruktur des Krieges dar. Er identifiziert Tendenzen, die als Potential in jedem wirklichen Krieg vorhanden sind. Clausewitz warnt den Leser davor, zu glauben, dass die Gewalteskalation im Krieg durch die fortgeschrittene Zivilisation verhindert wird. Auch in Kriegen, die aus purer Interessenkalkulation geführt werden, werde allein durch die systematische Anwen-dung physischer Gewalt immer ein Gefühl der Feindschaft eine mehr oder weniger treiben-de Rolle spielen. Außerdem solle der Leser nicht dem Irrtum unterliegen, die Gewalt sei heute vom Krieg wegzudenken, nur weil sie nicht mehr so offensichtlich ist und die Kriege nicht mehr so blutig sind. In den Kriegen der zivilisierten Völker sei die Gewalt lediglich transformiert, also verwandelt, worden und sie wird gewissermaßen auf höherem Niveau fortgesetzt – und zwar lediglich um eine höhere Wirksamkeit zu erreichen (Clausewitz 1980: 192ff.). Dem „Reagenzglaskrieg“ kann man folglich einige wichtige Erkenntnisse über den Krieg im Allgemeinen entnehmen:

Machtinstrument. Der Krieg ist ein Mittel zur Ausübung von Macht. Es geht in ihm entweder darum, ein Kollektiv dazu zu zwingen, etwas zu tun oder etwas zu unterlassen. Die angewandte Gewalt hat damit nur indirekten Wert. Man könnte auch auf sie verzichten, würde der Gegner kampflos das Verlangte tun oder unterlassen.

Zweck – Ziele – Mittel. Clausewitz unterscheidet den politischen Zweck und die mili-tärischen Ziele des Krieges. Allein dadurch wird deutlich, dass militärische Ziele nie selb-ständig gedacht werden dürfen, sondern nur in Beziehung auf übergeordnete politische Machtzwecke (Kondylis 1988: 38). Die Gewaltmittel müssen schließlich so eingesetzt werden, dass die gesteckten Kriegsziele möglichst erreicht werden.

Kompaktheit. Im Reagenzglas besteht der Krieg aus einer einzigen Kampfhandlung. Wie sich zeigen wird, ist dies in wirklichen Kriegen normalerweise nicht der Fall. Es ist jedoch ein Hinweis darauf, dass auch in Kriegen, die in mehrere Kampfhandlungen zerfal-len, zum einen die Ergebnisse dieser Kampfhandlungen in Beziehung zueinander stehen und zum anderen letztendlich alles auf den Zweck des ganzen Krieges bezogen werden muss.

Emotionen. Nicht ohne Grund lässt Clausewitz den Faktor Emotionen bereits im Mo-dell des Krieges auftauchen. Der Hass auf den Feind trägt in entscheidender Weise zur Eskalation der Gewalt im Krieg bei.

Eskalation. Der Krieg im Reagenzglas lässt bereits ahnen, dass der Krieg kein sehr präzises Instrument zur Erreichung von Machtzwecken sein kann. Viel zu sehr birgt seine Tiefenstruktur die Möglichkeit ungewollter Eskalation. Kriege haben also das Potential zum alles umfassenden Vernichtungskrieg zu werden.

Unsicherheit. Unsicherheit ist eine der Triebkräfte der Eskalationsspirale: Man weiß nicht, welche Ziele sich der Gegner setzt und welche Mittel er anzuwenden bereit ist und muss aus diesem Grund selbst seine Anstrengungen erhöhen. Gleichwohl ist das Modell von absoluter Berechenbarkeit gekennzeichnet; denn wenn alles zum Maximum strebt (d.h. etwa, den Gegner zu vernichten oder kampfunfähig zu machen), muss man seine Kräfte nicht dosieren, sondern einfach soviel wie möglich von diesen einsetzen. Spieltheoretisch

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ausgedrückt haben beide Kriegsparteien die dominante Strategie der maximalen Zielset-zung und Kraftanstrengung. Man spricht in der Spieltheorie von einer dominanten Strate-gie, wenn ein Spieler durch die Wahl dieser Strategie, unabhängig von den Zügen der ande-ren Spieler, besser dasteht als durch jede andere Wahl (Morrow 1994: 77).

Nullsummenspiel. In der Spieltheorie werden Nullsummenspiele definiert als Spiele, in denen die Summe der Gewinne und Verluste (Auszahlungen) aller Spieler gleich null ist. Bei nur zwei Spielern (Zwei-Personen-Nullsummenspiel) ist folglich der Verlust des einen der Gewinn des anderen und umgekehrt (Morrow 1994: 74-75). Die abstrakte Situation des Reagenzglaskrieges kann als Nullsummenspiel begriffen werden: Beide Parteien bezwe-cken, dem Gegner ihren Willen aufzuzwängen, und beide Parteien müssen in der isolierten Situation des Reagenzglases den Gegner völlig wehrlos machen, um diesen Zweck sicher zu erreichen. Das militärische Kriegsziel der Wehrlosigkeit „vertritt den Zweck und ver-drängt ihn gewissermaßen als etwas nicht zum Kriege selbst Gehöriges“ (Clausewitz 1980: 192). Die politische Forderung tritt in den Hintergrund und der Krieg wird zur rein militäri-schen Auseinandersetzung. Anders gewendet: Die politische Ebene verschmilzt mit der militärischen und die Auseinandersetzung erfolgt nur noch auf einer Ebene – nämlich der militärischen.3 Folglich ist – analog zum Nullsummenspiel – der Gewinn des einen automa-tisch der Verlust des anderen. Schattierungen bzw. die Möglichkeit, dass beide Kriegspar-teien als Verlierer (oder Gewinner) aus dem Spiel hervorgehen, sind ausgeschlossen.

b. Modell II: „Politischer Krieg“

Doch was geschieht, wenn man den „Reagenzglaskrieg“ (Modell I) Schritt für Schritt um realistischere Voraussetzungen bzw. Annahmen erweitert? Genau so geht Clausewitz vor. Es ist dabei wichtig, sich vor Augen zu führen, dass Clausewitz nun zwar vom „wirklichen Krieg“ spricht, es sich aber vielmehr um ein erweitertes Modell des „Reagenzglaskriegs“ handelt, welches im Folgenden Modell II bzw. „politischer Krieg“ genannt wird. Es ist dabei sinnvoll, sich als empirische Entsprechung zum Modell einen klassischen zwischen-staatlichen Krieg des 19. Jahrhunderts vorzustellen. Zunächst lockert er die Annahme, dass der Krieg kein Vorher, keine (wirksame) Dauer und kein Nachher hat. Damit ändert sich praktisch alles.

Vorher. Der Krieg entsteht nicht aus dem Nichts, sondern er geht aus einem bestimm-ten politischen Zustand hervor. Ganz praktisch bedeutet dies, dass die kriegführenden Par-teien einander kennen und daher bestimmte Vorstellungen darüber haben, wieweit der je-weils andere gehen würde (Clausewitz 1980: 196-197). Nun kommt die oben bereits angedeutete zweite Eigenschaft (neben Hass und Feindschaft) des Menschen hinzu: Er hat eine Tendenz zur Zaghaftigkeit, Schwäche und Furcht, außer-dem sind seine Fähigkeiten zur Wahrnehmung sowie seine Möglichkeiten der Informati-onsverarbeitung (kognitive Fähigkeiten) beschränkt (Kondylis 1988: 20).4 Da dies beide

3 „Wäre [der Krieg] nun ein vollkommener, ungestörter, eine absolute Äußerung der Gewalt, wie wir ihn uns aus seinem bloßen Begriff ableiten mussten, so würde er von dem Augenblicke an, wo er durch die Politik hervorgeru-fen ist, an ihre Stelle treten als etwas von ihr ganz Unabhängiges, sie verdrängen und nur seinen eigenen Gesetzen folgen, so wie eine Mine, die sich entladet, keiner anderen Richtung und Leitung mehr fähig ist, als die man ihr durch vorbereitende Einrichtungen gegeben“ (Clausewitz 1980: 209; eigene Hervorhebung). 4 Clausewitz spricht vom „Mensch mit seiner unvollkommenen Organisation“ (197), vom „menschliche[n] Geist [...] in seiner Scheu vor allzugroßen Anstrengungen“ (199), von der „Unvollkommenheit menschlicher Einsicht

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Parteien voneinander wissen, führt dies bereits eine Mäßigung ihres Handelns in den vorher so dynamischen Krieg ein. Das Bild vom Menschen als einem zwiespältigen Wesen, das durch Gefühle des Hasses und der Feindschaft angetrieben und durch Gefühle der Furcht, Schwäche, Zaghaftigkeit sowie seine begrenzte Fähigkeit zur Wahrnehmung und Informa-tionsverarbeitung gebremst wird, spielt als anthropologische Grundannahme eine zentrale Rolle in der Kriegstheorie von Clausewitz (Kondylis 1988: 19-20).

Dauer. Im Reagenzglas bestand der Krieg eigentlich aus einem einzigen sich steigern-den Schlagabtausch. Die Dimension Zeit war im Modell ausgeblendet, die Kampfhandlung also auf eine kurze Zeitspanne zusammengedrängt. In Wirklichkeit ist dies aus strukturellen Gründen nicht möglich. Selbst wenn man alle Soldaten und Waffen gleichzeitig zum Ein-satz bringen würde, könnte man doch nicht das gesamte Staatsgebiet, das für Clausewitz Teil der Streitkräfte ist, und alle Fähigkeiten der Bündnispartner gleichzeitig wirken lassen. Die damit notwendig entstehenden Unterbrechungen der Kampfhandlungen ermöglichen die Einschätzung des Gegners und lassen wieder Raum und Zeit zur Entfaltung menschli-cher Schwäche und Zaghaftigkeit (Clausewitz 1980: 197ff.).

Nachher. Ein wichtiger Faktor, der die völlige Eskalation im Modellkrieg I verursacht, ist das Fehlen einer Zukunft. In Wirklichkeit ist den Kriegsparteien durchaus bewusst, dass selbst eine vollkommene Niederlage durch künftige Veränderungen wieder aufgehoben werden könnte. Genau wie der Krieg aus einem politischen Zustand heraus entstanden ist, mündet er auch in einen solchen. Diese Aussicht verbindet sich in den Kriegsparteien mit der menschlichen Schwäche und führt eine weitere Mäßigung in das Modell II ein (Clau-sewitz 1980: 199).

Allein indem man den „Reagenzglaskrieg“ in Zeit und Raum verortet, erfährt der Krieg eine entscheidende Verwandlung. Die Eskalationsdynamik des Krieges schwächt sich ab und bietet Raum für menschliche Schwächen. An die Stelle dominanter Strategien der Kriegsparteien tritt die Notwendigkeit, die Strategien des Gegners, d.h. seine Kriegszie-le und -mittel, einzuschätzen: „Wird das Äußerste nicht mehr gefürchtet und nicht mehr gesucht, so bleibt dem Urteil überlassen, statt seiner die Grenzen für die Anstrengung fest-zustellen, und dies kann nur aus den Daten, welche die Erscheinungen der wirklichen Welt darbieten, nach Wahrscheinlichkeitsgesetzen geschehen“ (Clausewitz 1980: 199).

Damit verliert der Krieg aus strukturellen Gründen seinen Charakter als Nullsummen-spiel und damit seine einfache Berechenbarkeit. In der isolierten Situation des Reagenz-glaskrieges hatte das militärische Kriegsziel den politischen Zweck „gewissermaßen ver-schlungen“ (Clausewitz 1980: 200), die politische Ebene ging gewissermaßen in der militä-rischen auf. In der rein militärischen Auseinandersetzung war der Gewinn des einen der Verlust des anderen; diese konnte damit spieltheoretisch als Nullsummenspiel begriffen werden. Im Modell II entfalten sich diese Ebenen wieder zu zwei analytisch getrennten Handlungsebenen. Der politische Zweck wird nun zur zentralen, variablen Bestimmungs-größe für das Handeln der Kriegsparteien. Nun können beispielsweise Gewinne auf der militärischen Ebene durchaus Verluste auf der politischen Ebene nach sich ziehen oder umgekehrt. Damit ist der Verlust des einen nicht mehr zwangsläufig der Gewinn des ande-

und Beurteilung“ (408), der „ganzen Inkonsequenz, Unklarheit und Verzagtheit des menschlichen Geistes“ (954) und von der „natürlichen Beschränktheit und Schwäche des Menschen“ (Clausewitz 1980: 988).

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ren. Durch die Einführung einer weiteren Handlungsebene wird der Krieg des Modells II zu einem wesentlich komplexeren Nicht-Nullsummenspiel (Morrow 1994: 75).5

Politischer Krieg. Der „Reagenzglaskrieg“ des Modells I wird zum „politischen Krieg“ des Modells II. Clausewitz legt jedoch einen speziellen Politikbegriff zugrunde: Politik meint bei ihm zweierlei. Zum einen das Handeln einer politischen Führungsperson oder Führungselite, ähnlich unserem heutigen Alltagsverständnis des Begriffs (subjektiver Politikbegriff). Zum anderen aber viel mehr: Politik ist für ihn gleich dem gesamten „ge-sellschaftlichen Verband“ (Clausewitz 1980: 990) (objektiver Politikbegriff) (Kondylis 1988: 74-75). Der Staat wird als ein organisches Ganzes gesehen (Clausewitz 1980: 993). Die Streitkräfte sind Teil dieses Ganzen, das heißt, sie sind eingebettet in den „gesellschaft-lichen Verband“ und können gar nicht losgelöst von ihm gedacht werden. Die Gesellschaft entspricht den „Wurzeln“, die den „Baum“ der Streitkräfte „ernährt“ (Clausewitz 1980: 595). Aus diesem Grund zählt Clausewitz auch das Territorium und die geografischen Be-dingungen eines Staates zu den Streitkräften hinzu (Clausewitz 1980: 602-610). Staaten sind für ihn mehr oder weniger komplexe Organisationen, die wiederum in das internatio-nale System eingebettet sind, welches den wichtigsten Teil der Politik bzw. des „politischen Verkehrs“ (Clausewitz 1980: 990) ausmacht (Kondylis 1988: 42). Führen zwei Staaten Krieg gegeneinander, geht es eigentlich um die Beeinflussung des gegnerischen Systems mit den Mitteln des eigenen unter den Bedingungen des internationalen Systems, in das beide Staaten wiederum eingebettet gedacht werden müssen (Kaestner 2006: 18-22).

Das berühmte Diktum von Clausewitz, Krieg sei die Fortsetzung der Politik (Clause-witz 1980: 210), kann nur richtig verstanden werden, wenn man sich die doppelte Bedeu-tung des Politikbegriffs vor Augen führt. Der Krieg entsteht aus den gesamtgesellschaftli-chen Verhältnissen zu denen auch die internationale Politik zählt (objektiver Politikbegriff). Das subjektive politische Handeln kann nur in dem durch die objektiven Faktoren vorgege-benen Möglichkeitsraum erfolgen, zumindest wenn es von Erfolg gekrönt sein soll. Durch die organische Verbindung von Gesellschaft und Politik löst sich die Grenze zwischen Kriegführung und Politik auf, aber nur insofern, als der Krieg ganz dem Politischen unter-geordnet wird, einfach nur eine spezielle Äußerung des Politischen ist (Clausewitz 1980: 998).

Unterschiedliche politische Zwecke. Im „Reagenzglaskrieg“ (Modell I) gab es nur ei-nen Kriegszweck, nämlich den Gegner zur vollständigen Erfüllung des eigenen Willens zu zwingen. Im „politischen Krieg“ (Modell II) wird diese Annahme – wie geschildert – nun

5 Für eine ähnliche Verwendung der Begriffe Nullsummenspiel bzw. Nicht-Nullsummenspiel vgl. die ausgezeich-nete Analyse von Stahel (1996: 127-152). Er ordnet den beiden Begriffen zwei „Strategien des wirklichen Kriegs“ zu (eigene Hervorhebung): nämlich die „Vernichtungsstrategie von Napoleon“ (Nullsummenspiel) bzw. die „Ab-nützungsstrategie von Friedrich dem Großen“ (Nicht-Nullsummenspiel) (Stahel 1996: 140). In der vorliegenden Untersuchung werden die Begriffe hingegen auf zwei Formen des Krieges – „Reagenzglaskrieg“ und „politischen Krieg“ – bezogen, die außerdem als gleichberechtigte Elemente der Theorie von Clausewitz verstanden werden. Dies hat zwei Konsequenzen: Erstens kann sich der empirische Krieg hier in seiner Austragung zwar einem Null-summenspiel nähern, dessen Implikationen in der Realität jedoch nie ganz erreichen, so dass der politische Zweck in der Strategieformulierung immer zu berücksichtigen bleibt. Zweitens: Indem der empirische Krieg losgelöst von beiden theoretischen Modellen betrachtet wird, eröffnet sich ein breites Spektrum unterschiedlicher Strategien – und findet eben keine Verengung auf nur zwei Strategien statt. Im Gegenteil kommt Clausewitz nach seiner Ana-lyse der diversen anderen Variablen, die – neben dem politischen Zweck – die Form des Krieges beeinflussen, zu dem Schluss, dass die Komplexität des Umfelds und die resultierende Komplexität der Handlungsmöglichkeiten und -kombinationen so enorm ist, dass es eines strategischen „Genies“ bedarf, um zumindest eine gewisse Aus-sicht auf Erreichung des politischen Zwecks zu haben (Clausewitz 1980: 251).

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gelockert. Der (subjektive!) politische Zweck ist nun variabel. Da Krieg für Clausewitz jedoch ein Machtinstrument ist, ist das Spektrum der politischen Zwecke einigermaßen überschaubar. Es reicht vom positiven Zweck der vollständigen Kontrolle über den Gegner in Abstufungen bis hin zum negativen Zweck der Zurückweisung des Machtsanspruchs des Gegners (Clausewitz 1980: 214-222). Herrscht die Zweckrationalität bei beiden Kriegfüh-renden vor, so ist der politische Zweck die wichtigste Variable, die die Form des Krieges bestimmt – vom „Vernichtungskriege hinab bis zur bloßen bewaffneten Beobachtung“ (Clausewitz 1980: 201).

Der Zusammenhang zwischen politischem Zweck und Kriegsform ist jedoch keines-wegs eine logische Implikation, das heißt, dass man nicht notwendig aus dem politischen Zweck der Parteien auf die Kriegsform schließen kann. Auch dies hat seinen Grund im politischen Charakter des Krieges und zwar politisch im Sinne des objektiven Politikbeg-riffs. Herrschen beispielsweise starke Spannungen bzw. Bedrohungsgefühle zwischen den Mitgliedern der Kollektive kann auch ein kleiner politischer Zweck einen Vernichtungs-krieg hervorrufen. Umgekehrt können große positive Zwecke auch zu wenig intensiven Kampfhandlungen führen (Clausewitz 1980: 200-201). Die Kriegsform ergibt sich also aus dem Zusammenwirken von objektiver und subjektiver Politik!

Zweckrationalität. Aus diesen Gründen lässt sich vor dem Hintergrund der von Natur aus zur Bequemlichkeit neigenden Menschen die ständige maximale Anstrengung nicht mehr durchsetzen. Es entsteht auf beiden Seiten eine gewisse Zweckrationalität. Und zwar positiv, im Anstreben von Teilzielen, wie oben geschildert. Und auch negativ: Der unvoll-kommene Mensch ist nur bis zu einem gewissen Grad bereit, Schaden zu ertragen. Geht der Schaden über diesen Grad hinaus, wird der Mensch lieber den politischen Zweck aufgeben, also der Forderung des Gegners nachgeben, als weiter den Schaden zu ertragen (Kondylis 1988: 24ff.). Die Zweckrationalität wird von Clausewitz nicht einfach angenommen, son-dern ergibt sich aus dem politischen Charakter des Krieges, also daraus, dass er aus einem – wie auch immer organisierten – Kollektiv heraus entsteht und geführt wird. Sie ist damit variabel! In dem Maße wie sich der Krieg dem „Reagenzglaskrieg“ nähert, verliert die Zweckrationalität gegenüber den Gefühlen des Hasses und der Feindschaft wieder an Be-deutung.

Strategie und Taktik. Im „Reagenzglaskrieg“ bestand der Krieg aus einer einzigen großen Kampfhandlung. Zum einen lag dies daran, dass die Zeit auf eine kurze Spanne zusammengedrängt war, also für die fortlaufende Handlung eine vernachlässigbare Rolle spielte. Zum anderen waren die Kriegsparteien als einheitliche Akteure (heute so genannte black boxes) modelliert. Im „politischen Krieg“ (Modell II) werden nun beide Annahmen gelockert: Die einheitlichen Akteure entfalten sich zu politischen Akteuren (objektiver Politikbegriff!), also zu organisierten Kollektivakteuren, die Raum, d.h. Territorium, ein-nehmen. Die Dimension Zeit wird ebenfalls wieder verstärkt in den Krieg eingeführt und es kommt zur beschriebenen Entschleunigung des Krieges. Die Organisation der beiden Par-teien, den Raum und die Zeit zusammen genommen führen dazu, dass die Kampfhandlung in mehrere einzelne Kampfhandlungen zerfällt. Es entstehen Taktik und Strategie (Clause-witz 1966b: 741; Clausewitz 1980: 422; Kondylis 1988: 18). Taktik beschäftigt sich mit der Führung der Einzelkampfhandlungen, die man Gefechte nennt, und Strategie mit der Koor-dination der Gefechte zur Erreichung des endgültigen politischen Zwecks (Clausewitz 1966b: 741-742; Clausewitz 1980: 269-278). In der einzigen großen Schlacht des „Rea-

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genzglaskrieges“ war diese Unterscheidung noch nicht sinnvoll.6 Clausewitz leitet also auch die Begriffe von Strategie und Taktik aus dem politischen Charakter des Krieges ab. Wiederum entstehen variable Begriffe! Je nach zeitlicher Dichte der Kriegshandlung, dem Raum, innerhalb dessen sie stattfindet, und der Organisation der beteiligten Akteure können Strategie und Taktik Unterschiedliches bedeuten. Gleiches gilt dann natürlich auch für den Begriff des Gefechts.

Stillstand. Clausewitz stellt an dieser Stelle des Gedankengangs fest, dass alle zusätzli-chen Annahmen des Modells II gegenüber dem „Reagenzglaskrieg“ noch nicht notwendig Stillstände in den Kriegshandlungen erklären. Denn trotz aller organisatorischen Schwie-rigkeiten müsste doch immer diejenige Kriegspartei den Krieg gewinnen, die möglichst schnell und entschlossen handelt. Wäre dies so, müsste der Krieg wieder in einer Eskalati-onsspirale enden. Stattdessen sind in vielen Kriegen lange Phasen des Stillstands zwischen den Kampfhandlungen beobachtbar (Clausewitz 1980: 201-202). Wie ist dies möglich?

Überlegenheit der Verteidigung. Clausewitz’ Antwort ist eine kriegstheoretische: der Stillstand erklärt sich dadurch, dass es zwei wesentlich unterschiedliche Formen des Kamp-fes gibt, die Verteidigung (Defensive) und den Angriff (Offensive), die unterschiedlich stark sein müssen. Nur die objektive Überlegenheit der Verteidigung, kann eine objektive Erklärung dafür bieten, dass eine Kriegspartei das Abwarten gegenüber dem Handeln vor-zieht. Subjektive Faktoren allein können den Stillstand hingegen nicht erklären, da beide Kriegsparteien ihrer Wirkung ausgesetzt sind (Clausewitz 1980: 204ff.). Die Überlegenheit der Verteidigung ergibt sich schlicht aus den bescheideneren Zielen, die sie sich setzt, näm-lich dem Erhalten bzw. Bewahren; der Angriff hingegen will eine Veränderung des Status Quo erreichen und benötigt daher größere Energie.

Subjektive Faktoren. Für Clausewitz unterscheidet sich der Krieg von allen anderen sozialen Prozessen dadurch, dass er im Medium der Gefahr, und zwar der Todesgefahr, geführt wird (Sofsky 2005). Bereits im „Reagenzglaskrieg“ wurde auf die Wirkung des subjektiven Faktors „Feindschaft“ auf die Kampfhandlung hingewiesen: Sie wirkte als eine Art Brandbeschleuniger für die eskalierende Gewalt. Alle anderen subjektiven Faktoren wurden ausgeblendet. Im „politischen Krieg“ (Modell II) ändert sich dies: Um unter den Bedingungen der Gefahr des Krieges bestehen zu können, müssen die Kriegführenden besondere Eigenschaften ausbilden. Vor allem aber eine: Mut (Clausewitz 1980: 207ff.).

Die Gefahr hat dabei verschiedene „Distanzen“, je nachdem wie nahe man den eigent-lichen Kampfhandlungen kommt. Während die Gefahr mit zunehmender Entfernung vom Kampfgeschehen Handeln und Wahrnehmung des Einzelnen weniger beeinträchtigt, kann sie jedoch, in der indirekten Form der Last der Verantwortung für die Leben anderer, für die militärische Führung auch aus der Entfernung große Wirkung entfalten (Clausewitz

6 Die monolithische Geschlossenheit der „Ringer“ in Modell I trug zur Intensität des Konfliktaustrags bei. Die Vielfalt unterschiedlicher Interessen und Motivationen innerhalb der Akteure in Modell II führt hingegen zu einer potentiellen Mäßigung der Gewaltanwendung (Clausewitz 1980: 960-961). Dennoch ist Clausewitz kein Vertreter der These vom demokratischen Frieden, die auf Kant zurückgeht und einen Zusammenhang zwischen demokrati-schem Herrschaftssystem und friedfertiger Außenpolitik postuliert (Kant [1795]; eine Überblicksdarstellung neuerer Forschungen zu diesem Thema bietet Geis (2006)). Denn seines Erachtens hat die stärkere politische Einbeziehung der Öffentlichkeiten der europäischen Staaten zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Kriegführung näher dem Modell I gerückt (Clausewitz 1980: 970-971); die Kriege wurden fortan „mit der ganzen Schwere der gegenseitigen Nationalkraft“ (Clausewitz 1980: 413) geführt. Die Intensität der Kriegführung hängt für Clausewitz nicht von der Staatsform ab, sondern vom Grad der Mobilisierung der Gesellschaft und der Schaffung eines (ver-meintlichen) kollektiven Interesses – kurz: vom Grad der Angleichung eines Kollektivs an das Bild des monolithi-schen Ringers.

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1980: 253ff.). Aus diesem Grund fordert Clausewitz ganz unterschiedliche Eigenschaften für einfache Soldaten, Offiziere, Generäle und den Feldherrn (Clausewitz 1980: 249). Eine gute Kampfmoral der Armee und eine hervorragende Führung können auch starke Unterle-genheit ausgleichen. Subjektive Faktoren spielen für Clausewitz eine enorm wichtige Rolle – und machen den Krieg noch unberechenbarer.

Zufall. Erweitert man das Modell II nun noch um die Annahme der Rolle des Zufalls im Krieg wächst die Komplexität ins Unermessliche (Clausewitz 1980: 207).

Friktion. Das Denken von Clausewitz ist – ähnlich anderen Denkern seiner Zeit – ohne Zweifel von Vorstellungen der experimentellen Physik beeinflusst. Zwar will er letztlich seine Disziplin der Kriegsforschung als eigenständiges Erkenntnisgebiet von diesen Vor-stellungen emanzipieren, wie zu zeigen sein wird. Doch bedient sich Clausewitz, der ein geübter Didaktiker war, mit Vorliebe Bilder aus der Physik, wie ja bereits durch die gesam-te bisher dargelegte Methodik deutlich wurde.

Der kriegstheoretisch zentrale Begriff der Friktion ist der Mechanik, einem Teilgebiet der Physik, entlehnt. Friktion bedeutet eigentlich Reibung. Wie Strategie und Taktik ent-steht Friktion beim Übergang vom „Reagenzglaskrieg“ zum Modell II und zwar durch die Einführung der objektiven Politik. Die wachsende organisatorische Komplexität der Kriegsparteien, verbunden mit der Vorstellung, dass diese ein organisches Ganzes bilden, führt dazu, dass kleine Schwierigkeiten, die durch Reibungen einzelner Teile entstehen, enorm große Wirkung auf den ganzen Apparat entfalten können (Clausewitz 1980: 261-264). Faktoren, die solche Friktionen auslösen können, sind die körperliche Anstrengung im Krieg (Clausewitz 1980: 256-257), die bereits geschilderte Gefahr und allgemeine Schwierigkeiten der Informationsgewinnung (Clausewitz 1980: 258ff.). Der Informations-gewinnung (Nachrichten) im Krieg stehen nicht nur rein technische Probleme entgegen. Auch die Tatsache, dass die Gegenseite an der Zurückhaltung oder Verfälschung von In-formationen interessiert ist, führt dazu, dass ständig Entscheidungen unter unsicheren Be-dingungen getroffen werden müssen – und dies im Medium der Todesgefahr: für die eigene Person und mit steigendem Rang für eine wachsende Anzahl anvertrauter Personen.

c. Zusammenfassung des Gedankenexperiments

Dreifaltigkeit. Zusammenfassend macht Modell II die im „Reagenzglaskrieg“ identifizier-ten Begriffe und Tendenzen also nicht ungültig. Vielmehr wurde der „Reagenzglaskrieg“ Schritt für Schritt um weitere Annahmen ergänzt und jeweils analysiert, welche Folgen jede Ergänzung haben würde. Clausewitz selbst schließt seine Analyse dementsprechend auch nicht mit einer neuen Kriegsdefinition (Kondylis 1988: 27). Stattdessen fasst er unter dem Begriff der „Dreifaltigkeit“ die Ergebnisse der gesamten Analyse zusammen: Für die Ges-talt eines Krieges spielen drei variable Größen eine wichtige Rolle. Erstens der Grad der Feindschaft zwischen den Kriegsparteien; zweitens die objektiv und subjektiv bedingte Fähigkeit der Einschätzung des gegnerischen Handelns basierend auf Wahrscheinlichkeits-berechnungen. Und schließlich drittens das Maß der Zweckrationalität der Handelnden (Clausewitz 1980: 212-213).

Alle drei identifizierten Größen finden sich auf allen von Clausewitz genannten Ebe-nen der Kriegsparteien (Politische Führung, Streitkräfte, öffentliche Meinung) wieder (Clausewitz 1980: 213). Allerdings in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen. Bei der politischen Führung herrsche die Zweckrationalität stärker vor, bei den Streitkräften die Fähigkeit zur Kalkulation des gegnerischen Handelns; schließlich spiele in der öffentlichen

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Meinung das Maß der Feindschaft eine größere Rolle. Alle drei Größen spielen aber auch auf allen anderen Ebenen der Kriegsparteien (Politik, Streitkräfte, öffentliche Meinung) eine Rolle (Kondylis 1988: 27).

Clausewitz erfasst die starke historische Wandelbarkeit von Kriegen im Bild des „Chamäleons“ (Clausewitz 1980: 212). Die „Farbe“, die das Chamäleon annimmt, hängt jedoch keineswegs nur von der Ausprägung der variablen Größen der „Dreifaltigkeit“ ab. Alle im „Reagenzglaskrieg“ und im Übergang zu Modell II entwickelten Begriffe, Variab-len und Tendenzen müssen im Auge behalten werden, um eine zentrale strategische Aufga-be in Angriff zu nehmen: die Identifikation des Kriegstyps, mit dem man es zu tun hat.

3 Modell strategischen Handelns

„So ist denn in der Strategie alles sehr einfach, aber darum nicht auch alles sehr leicht.“ (Clausewitz 1980: 347)

a. Die Basis

Der Kern von Clausewitz’ Kriegstheorie ist sein Modell strategischen Handelns. Die Eck-pfeiler dieses Modells sind die Begriffe von Zweck, Zielen und Mitteln. Die erste und wichtigste Aufgabe jedes Strategen besteht darin, sich zu überlegen, welcher politische Zweck mit dem bevorstehenden Gewalteinsatz überhaupt erreicht werden soll (Clausewitz 1980: 952). Sollen beispielsweise Veränderungen in der Herrschaftsstruktur eines gegneri-schen Staates erreicht werden? Oder soll das eigene Territorium vor einem Angreifer ge-schützt werden? Die Forderung nach der Definition des politischen Zwecks des Krieges zwingt Politiker und Strategen, sich Gedanken über den politischen Zustand zu machen, der dem Krieg folgen soll. Auf dieser Basis muss überlegt werden, welche konkreten Kriegs-ziele erreicht werden müssen, um den politischen Zweck möglichst sicher zu erreichen: Welche Schäden dürften den Gegner dazu bringen einzulenken? Könnte die Einnahme bestimmter gegnerischer Gebiete genügen, seinen Willen zu beugen? Oder aus der Perspek-tive eines Verteidigers: Welche Schäden und Gebietsverluste müssen vermieden werden, um die Machtausübung des Angreifers abzuwehren? Schließlich sind die Mittel zu bestim-men, die eingesetzt werden müssen, um die Ziele möglichst sicher umzusetzen. Welche und wie viele Streitkräfte müssen beispielsweise mobilisiert werden? Wie stark muss die Be-völkerung von der Notwendigkeit des Krieges überzeugt werden?

Abbildung 1: Basis der Handlungstheorie von Clausewitz Politischer Zweck Kriegs-Ziele Mittel

Das Modell kann also, wie beschrieben, einerseits zur Planung eigenen Handelns, das heißt, für einen strategischen Entwurf benutzt werden. Dazu geht man in Abbildung 1 von links nach rechts vor. Andererseits kann es zur systematischen Analyse und Kritik bzw. Evalua-tion vergangenen strategischen Handelns dienen. Nutzt man es zur Analyse, geht man in genau umgekehrter Reihenfolge (von rechts nach links) vor: waren die Mittel im zu analy-

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sierenden Krieg richtig gewählt, um die Kriegsziele möglichst sicher erreichen zu können? Konnten die verfolgten Kriegsziele überhaupt die Erreichung des politischen Zwecks nach sich ziehen? Aufgabe des Analytikers ist also, die drei Felder mit empirischen Daten zu füllen; die methodischen Schwierigkeiten steigen dabei von der Bestimmung der Mittel, über die Kriegsziele, bis hin zu den politischen Zwecken, die häufig nicht klar ausgespro-chen werden (Clausewitz 1980: 960). Deswegen kann das Modell auch dazu dienen, von konkreten, erfassbaren Mitteln auf Ziele und politische Zwecke zurück zu schließen und die Ergebnisse des Rückschlusses mit den geäußerten Zwecken zu vergleichen (Clausewitz 1980: 312-334).

b. Die Handlungsebenen und die Rahmenbedingungen

Der Kern der Handlungstheorie von Clausewitz war im „Reagenzglaskrieg“ (Modell I) des Gedankenexperiments bereits voll enthalten. Der politische Zweck war jedoch festgelegt und bestand in der Maximalforderung beider Parteien, den gegnerischen Willen vollständig und ohne Kompromisse zu brechen. Daraus folgten das maximale Kriegsziel der Wehrlo-sigkeit und daraus schließlich die maximale Kraftanstrengung, d.h. der maximale Mittelein-satz:

Abbildung 2: Basis der Handlungstheorie mit den festgelegten, oben angegebenen Werten des Gedankenexperiments

Akteur A Akteur B Politischer Zweck

Kriegs-Ziele Mittel

Politischer Zweck

Kriegs-Ziele Mittel

Vollständige Erfüllung des eigenen Wil-lens

Wehr-losig-keit

Maximale Kraftan-strengung

Vollständige Erfüllung des eigenen Wil-lens

Wehr-losig-keit

Maximale Kraftan-strengung

Im theoretischen Zustand des „Reagenzglaskrieges“ (Modell I) war der Zusammenhang zwischen den drei Größen also „berechenbar“, d.h. einigermaßen handhabbar. Sobald man aber vom Modell I zum Modell II übergeht, indem man Modell I durch weitere Annahmen realistischer macht, verschwindet die Einfachheit der Zusammenhänge: Der „Reagenzglas-krieg“ wird zum politischen Krieg. In der folgenden Abbildung stehen sich zwei Kriegspar-teien gegenüber. Die Kästen stellen ihr strategisches Handeln auf den unterschiedlichen, miteinander verbundenen Ebenen der Außenpolitik, Strategie und Taktik dar. Der politische Zweck des Handelns wird auf der Ebene der außenpolitischen Gesamtstrategie (d.h. grand strategy) definiert (in der Tabelle jeweils links oben). Er durchzieht die Handlungsebenen vertikal und muss auf der strategischen und taktischen Ebene – entsprechend der unter-schiedlichen Anforderungen dieser Ebenen – operationalisiert werden (Trichter in Abbil-dung 3). Das konkrete Mittel einer oberen Ebene wird jeweils zum konkreten Ziel der dar-unter liegenden Ebene (Zickzacklinie in Abbildung 3). Die kleinen Ellipsen stellen schema-tisch die Akteurseigenschaften dar (bezogen auf Staaten: Oppermann/Höse 2007). Die große Ellipse stellt die Anreize und Zwänge des internationalen Systems dar, denen beide Akteure ausgesetzt sind (Waltz 1979; Jäger/Beckmann 2007).

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Abbildung 3: Modell strategischen Handelns

Akteur�A

Taktik

Strategie

Auß

enpo

litik

(grandstrategy)

Mittel

Ziele

Zweck

Akteur�B

Taktik

Strategie

Auß

enpo

litik

(grandstrategy)

Mittel

Ziele

Zweck

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Der politische Zweck ist nun nicht mehr festgelegt, sondern variabel und zieht damit eben-falls variable Ziele und Mittel nach sich. Außerdem muss der politische Zweck des Krieges in den größeren Rahmen der Außenpolitik, die ein Akteur verfolgt, eingebettet werden (erste Zeile der Tabellen). Der Nutzen eines Krieges muss also vor dem Hintergrund der übergeordneten außenpolitischen Gesamtstrategie bewertet werden. Damit lässt sich der Begriff der grand strategy (Luttwak 2003) sinnvoll in die Handlungstheorie einfügen.7 Der Krieg ist also nur eines der möglichen außenpolitischen Mittel, die einem Akteur zur Ver-fügung stehen. Durch diese Darstellung wird sehr deutlich, was Clausewitz meint, wenn er sagt, Krieg sei „nichts als eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung ande-rer Mittel“ (Clausewitz 1980: 990)!

Auf der Ebene der Strategie müssen das Kriegsziel und die strategischen Mittel nun dem politischen Zweck angepasst werden (zweite Zeile der Tabelle), der wiederum eine Operationalisierung des übergeordneten Zwecks der außenpolitischen grand strategy dar-stellt. Die Wirksamkeit der Mittel hängt dabei ab vom Handeln des Gegners, den eigenen und seinen Akteurseigenschaften (kleine Ellipsen) sowie dem Einfluss der internationalen Umwelt, innerhalb der beide handeln (große Ellipse).

Schließlich zerfällt der Krieg in mehrere Gefechte und es entstehen die verbundenen Ebenen von Strategie und Taktik (zweite und dritte Zeile der Tabellen). Der Stratege be-stimmt die Koordination der Gefechte, er gibt jedem seinen spezifischen Zweck. Jeder Gefechtszweck ist eine Operationalisierung des politischen Zwecks auf den übergeordneten Ebenen. Denn: „Die Politik also wird den ganzen kriegerischen Akt durchziehen und einen fortwährenden Einfluß auf ihn ausüben, soweit es die Natur der in ihm explodierenden Kräfte zuläßt“ (Clausewitz 1980: 210). Dem taktischen Kommandeur obliegt es schließlich, die vorgegebenen politischen Gefechtszwecke in konkrete taktische Ziele und Mittel um-zuwandeln (dritte Zeile der Tabelle) (Clausewitz 1980: 222-230).

In Abhängigkeit von den inneren und äußeren Rahmenbedingungen hängen die Hand-lungen auf den verschiedenen Ebenen unterschiedlich stark voneinander ab. So kann bei-spielsweise ein taktischer Fehler in einer durch Kommunikationstechnologien zusammen-gerückten Welt strategische Wirkung erzielen oder sogar die außenpolitische Gesamtstrate-gie beeinflussen (Kilcullen 2006: 6).8

Nutzt man das Modell zur Analyse bzw. Evaluation vergangenen strategischen Han-delns, müssen zunächst die inneren und äußeren Rahmenbedingungen des Handelns der Akteure (kleine und große Ellipsen) untersucht werden. Im nächsten Schritt wird ihr eigent-liches Handeln mit Hilfe des Zweck-Ziele-Mittel-Modells (Tabellen in Abbildung 3) unter-sucht. Dabei geht man in umgekehrter Reihenfolge vor (in der Tabelle von unten rechts in umgehrter Richtung der „Zickzacklinie“ nach oben links stufenförmig folgend): Über die konkret beobachtbaren taktischen Mittel versucht man Rückschlüsse auf die Ziele zu zie-hen, die eine Ebene höher die strategischen Mittel bilden usf., um schließlich Aussagen über die mutmaßlich verfolgten politischen Zwecke treffen zu können. Die Genauigkeit der Rückschlüsse erhöht sich durch die Analyse der inneren und äußeren Rahmenbedingungen

7 Die Inspiration zur dreizeiligen Darstellung der Handlungsebenen Außenpolitik, Strategie und Taktik, jeweils unterteilt in Zweck, Ziele und Mittel, verdanke ich Thomas Jäger und Roland Kaestner; gemeinsam mit Thomas Jäger und Mischa Hansel habe ich sie fortentwickelt. 8 Auch die Handlungen einzelner Soldaten können dadurch gewollt oder ungewollt strategische Wirkung erzielen; man spricht daher vom strategic Corporal (Kilcullen 2006: 6). Ein Beispiel waren die Misshandlungen irakischer Gefangener im Gefängnis Abu Ghraib durch einzelne US-Soldaten, die weitreichende negative Folgen für die US-Strategie im Irak hatten.

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des Handelns der Akteure, da diese die Bandbreite der erwartbaren Ziele und Zwecke ein-grenzen. Bei allen erwartbaren methodischen Schwierigkeiten ist durch das Modell zumin-dest ein systematischer Zugang gegeben.

c. Die Strategie

„Die Strategie ist der Gebrauch des Gefechts zum Zweck des Krieges; sie muß also dem ganzen kriegerischen Akt ein Ziel setzen, welches dem Zweck desselben ent-spricht, d.h. sie entwirft den Kriegsplan, und an dieses Ziel knüpft sie die Reihe der Handlungen an, welche zu demselben führen sollen, d.h. sie macht die Entwürfe zu den einzelnen Feldzügen und ordnet in diesen die einzelnen Gefechte an.“ (Clausewitz 1980: 345)9

Zuvor muss dieser „Zweck des Krieges“, mit anderen Worten: müssen die Kriegsziele, definiert werden. Und zwar mit Blick auf den politischen Zweck, der erreicht werden soll: „Man fängt keinen Krieg an, oder man sollte vernünftigerweise keinen anfangen, ohne sich zu sagen, was man mit und was man in demselben erreichen will, das erstere ist der Zweck, das andere das Ziel“ (Clausewitz 1980: 952). Für die Definition der Kriegsziele empfiehlt Clausewitz eine enge und kontinuierliche Zusammenarbeit zwischen politischer und strate-gischer Führung. Grundsätzlich soll die Strategie „mit ins Feld ziehen“ (Clausewitz 1980: 345), in moderner Terminologie: Es muss eine Feedbackschleife zwischen kämpfender Truppe und strategischer Führung eingerichtet werden, um kontinuierlich die Erreichung der Kriegsziele und Gefechtszwecke zu überprüfen und gegebenenfalls die Strategie nach-zujustieren (Kaestner 2006: 21).

Clausewitz bietet eine idealtypische Typologie für die Definition von Kriegszielen in Abhängigkeit vom politischen Zweck an. Der politische Zweck variiert in dieser Typologie zwischen dem „positiven“ Zweck, der Forderung nach der vollständigen Unterwerfung des Gegners (wie im „Reagenzglaskrieg“!), bis zum „negativen“ Zweck des Widerstandes, also der Zurückweisung der gegnerischen Forderungen (Clausewitz 1980: 214-222). Die Kriegsziele müssen so gesetzt werden, dass ihr Erreichen zum Bezwingen des Willens des Gegners führt (Clausewitz 1980: 215). Die Kriegsziele sind entsprechend aufgegliedert: Um die Maximalforderung zu erreichen, sollten die gegnerischen Streitkräfte vernichtet, d.h. „in einen solchen Zustand versetzt werden, daß sie den Kampf nicht mehr fortsetzen“ (Clausewitz 1980: 215) können, und die gegnerischen Territorien eingenommen werden; beides offensive, d.h. Angriffs-Kriegsziele (Clausewitz 1980: 214ff.). Die Streitkraft hat für Clausewitz eine „physische“ und eine „moralische“ (Clausewitz 1980: 226) (d.h. psychische) Komponente. Zur physischen Streitkraft zählen die Armee samt ihrer Bewaffnung, ihre Lager, ihre Operationsbasis, ihre Verbindungslinien und schließlich das staatliche Territorium (Clausewitz 1980: 499-610). Zur „moralischen“ Streitkraft gehören die folgenden „moralischen Hauptpotenzen“: „die Talente des Feldherrn, kriegerische Tugend des Heeres, Volksgeist desselben“ (Clausewitz 1980: 359); oder in moderner Terminologie ausgedrückt: Qualität der Führung, Ausbildung und Kampfmoral des Heeres. Das Kriegsziel der Vernichtung der gegnerischen Streitmacht beschränkt sich nicht auf die Vernichtung der physischen Streitkraft, sondern umfasst auch

9 Daraus ergibt sich eine zweite Bedeutung von Strategie, die in dem Augenblick bedeutsam wird, wenn man den Strategiebegriff über den klassischen Staatenkrieg hinaus verwenden möchte: Handlungen und Wirkungen sind dann als strategisch zu bezeichnen, wenn sie (fast) unmittelbar zum politischen Zweck führen.

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die „moralische“, „weil ja beide sich bis in die kleinsten Teile durchdringen und deshalb gar nicht voneinander zu trennen sind“ (Clausewitz 1980: 226). Die „moralische“ Wirkung ist weit reichender als die physische: sie ist „am flüssigsten“ und „verteilt“ sich „am leich-testen [...] über alle Glieder“ (Clausewitz 1980: 226-227).

Sobald die politische Forderung hinter der Maximalforderung zurückbleibt, wird die Setzung der Kriegsziele kompliziert. Nun geht es darum, dem Gegner zwei Dinge zu kom-munizieren, die Aussichtslosigkeit seines Erfolgs und/oder die unverhältnismäßige Höhe der Kosten bzw. Verluste, die er zu erwarten hat, wenn er siegen will (Clausewitz 1980: 216). Krieg ist demzufolge Kommunikation durch Handeln (Watzlawick et al. 2007).10 Um den gegnerischen Willen zu bezwingen wird ihm die Unwahrscheinlichkeit seines Erfolgs kommuniziert.

Das Spektrum der Kriegsziele erweitert sich: Neben der, nun dosierten, Vernichtung der gegnerischen Streitkraft und der, nun teilweisen, Einnahme seiner Territorien, können darüber hinaus drei weitere Kriegsziele verfolgt werden: erstens Aktionen, die eine „unmit-telbare politische Beziehung haben“, wie z.B. – offensiv, d.h. angriffsweise – die geschick-te Spaltung der gegnerischen Allianz bzw. – defensiv, d.h. abwehrend – die Stärkung der eigenen (Clausewitz 1980: 218-219). Zweitens Aktionen, die den Schaden des Gegners erhöhen (Clausewitz 1980: 219). Schließlich kann drittens das rein defensive Ziel des „Er-müdens“ des Gegners angestrebt werden. Ermüden durch Kampfhandlungen bedeutet: „eine durch die Dauer der Handlung nach und nach hervorgebrachte Erschöpfung der phy-sischen Kräfte und des Willens“ (Clausewitz 1980: 220). Beschränkt sich der politische Zweck auf die Zurückweisung der gegnerischen Forderung, in Clausewitz’ Begriff: auf den „reinen Widerstand“, so ist eine Beschränkung auf das Kriegsziel des Ermüdens denkbar (Clausewitz 1980: 220-221).

10 Für diesen Hinweis danke ich Roland Kaestner.

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Abbildung 4: Typologie politischer Zwecke und der Kriegsziele sowie -mittel, um sie zu erreichen, nach Clausewitz

Politischer Zweck

Kriegs- Ziele Mittel

Positiv maximal: Vollständige Erfüllung des eigenen Willens

- offensiv: Vernichtung der gegnerischen Streitkräfte

- offensiv: Einnahme des gegnerischen Territoriums

- Gefechte

positiv - offensiv: Dosierte Vernichtung der gegnerischen Streitkräfte

- offensiv: Dosierte Einnahme des gegnerischen Territoriums

- offensiv: Schaden beim Gegner anrichten

- offensiv oder defensiv: Unmittelbare politische Ziele (z.B. Schwächung der gegnerischen Allianz bzw. Stärkung der eigenen)

- Gefechte

- Kriegsdiplo-matie

negativ minimal: Widerstand

- defensiv: Ermüden des Gegners

- Gefechte - Ausdauer

Natürlich darf dieses Schema nicht als einfache positive Handlungsanweisung zum Gewin-nen von Kriegen missverstanden werden. Es zeigt zunächst nur, dass man das Spektrum von politischen Zwecken, die mit Kriegen verfolgt werden können, in drei Idealtypen ein-ordnen kann: positiv maximal, positiv und negativ minimal. Es zeigt außerdem, dass Kriegsziele und Kriegsmittel ganz allgemein in offensive und defensive Mittel unterschie-den werden können. Schließlich zeigt es das Spektrum von Kriegszielen, die sich zwischen den idealtypischen Extremen der offensiven Vernichtung der gegnerischen Streitkräfte bzw. der Einnahme seines Territoriums und des defensiven Ermüdens des Gegners einordnen lässt. Das wird erreicht, indem man dieses Spektrum in der mittleren Spalte in 7 Teilgrup-pen zerlegt (von oben nach unten: 2 plus 4 plus1).

Ob die Erreichung eines Kriegsziels auch tatsächlich den gewünschten politischen Zu-stand nach sich zieht, hängt von den Rahmenbedingungen ab. Clausewitz weist darauf hin, dass große politische Spannungen zwischen den Öffentlichkeiten zweier Staaten trotz des Verfolgens geringer politischer Kriegszwecke eine „wahre Explosion“ hinsichtlich der Kriegsziele und Anstrengungen zur Folge haben können (Clausewitz 1980: 201). Aus die-sen Überlegungen folgt, dass unterschiedliche Kombinationen von Zweck, Kriegsziel und Mittel möglich und unter Umständen auch Erfolg versprechend sind:

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Abbildung 5: Kombinationen von politischem Zweck, Zielen und Mitteln

Off. Mittel

Def.Mittel

Off. Mittel

Def. Mittel

Def. Mittel

Def.Mittel

Off. Mittel

Off. Mittel

Def.Ziel

Off. Ziel

Def.Ziel

Off. Ziel

Akteur A

Positiver Zweck

Negativer Zweck

Durch diese Darstellung wird der Strategiebegriff von Clausewitz deutlich: Strategie um-fasst die Definition von Kriegszielen in Abhängigkeit vom politischen Zweck und der Ein-satz der offensiven bzw. defensiven Mittel in Abhängigkeit vom Kriegsziel – die Begriffe stehen in einer hierarchischen Beziehung zueinander, am oberen Ende durch den politi-schen Zweck am unteren durch die taktische Umsetzung umrahmt (wobei die taktische Umsetzung aus Abbildung 5 nicht mehr hervorgeht!). Der Begriff „Mittel“ impliziert, dass eben auch der Einsatz anderer Mittel als des Gefechts denkbar ist.

In Abbildung 5 ist die Gesamtheit der eingesetzten Mittel zusammengefasst unter der Bezeichnung „Off. Mittel“ bzw. „Def. Mittel“. Auch diese Gesamtheiten lassen sich jedoch wieder in konkrete offensive bzw. defensive Mitteleinsätze aufteilen, die in einem ebenso hierarchischen Verhältnis zueinander stehen. Damit sind Teilerfolge im Krieg an sich wert-los; nur wenn sie effektiv zur Erreichung des Endzwecks beitragen, können sie positiv bewertet werden (Clausewitz 1980: 353, 316-317).11 Heute spricht man in diesem Zusam-menhang von Effects-Based Operations (Nógrády 2008).

11 In den Worten von Clausewitz: „Gewöhnt man sich nicht, den Krieg und im Kriege den einzelnen Feldzug als eine Kette zu betrachten, die aus lauter Gefechten zusammengesetzt ist, wo eins immer das andere herbeiführt, gibt man sich der Vorstellung hin, daß die Einnahme gewisser geographischer Punkte, die Besitznahme unvertei-digter Provinzen an sich etwas sei, so ist man auch nahe daran, es als einen Vorteil zu betrachten, den man neben-bei einstecken könnte, und indem man es so, und nicht als ein Glied in der ganzen Reihe der Begebenheiten be-trachtet, fragt man sich nicht, ob dieser Besitz nicht später zu größeren Nachteilen führen wird. Wie oft finden wir diesen Fehler in der Kriegsgeschichte wieder“ (Clausewitz 1980: 353).

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Abbildung 6: Modell strategischen Handelns II

Off. Mittel

Def.Mittel

Off.Mittel

Def. Mittel

Def. Mittel

Def. Mittel

Off. Mittel

Off. Mittel

Def. Ziel

Off. Ziel

Def. Ziel

Off. Ziel

Akteur B

Positiver Zweck

Negativer Zweck

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Auch dieses Handlungsmodell lässt sich als Modell strategischen Handelns darstellen. Ab-bildung 6 zeigt die Handlungsoptionen zweier Akteure A und B die – analog zu Abbildung 3 – jeweils Akteurseigenschaften (kleine Ellipsen) aufweisen und beide den Anreizen und Zwängen des internationalen Systems (große Ellipse) ausgesetzt sind.

d. Strategische Prinzipien

Doch wie lässt sich der Erfolg einzelner Mittel sicherstellen? Er ergibt sich, indem man bestimmte strategische Prinzipien und ihre unterschiedliche Erfolgsquote im Lichte unter-schiedlicher Rahmenbedingungen beachtet:

Überlegenheit der Verteidigung. Eine zentrale Erkenntnis von Clausewitz ist, dass die Verteidigung (Defensive) die stärkere Form des Kampfes darstellt – und zwar auf politi-scher12, strategischer und taktischer Ebene. Im Kern liegt das daran, dass geringere Zielset-zungen mit größerer Sicherheit zum Erfolg geführt werden können. Clausewitz erklärt dies mit einer Analogie aus der Rechtswissenschaft. Dort gilt der Grundsatz „beati sunt possi-dentes“ („Glücklich sind die Besitzenden“) (Clausewitz 1980: 614). Auch im Gerichtspro-zess gilt demnach, dass es einfacher ist, einen Besitz zu verteidigen, als den Anspruch auf fremden Besitz durchzusetzen. Für den Staatenkrieg des 19. Jahrhunderts zählt Clausewitz handfeste Gründe auf: Der Verteidiger hat in der Regel bessere Ortskenntnisse, er kann auf die Unterstützung der Bevölkerung bauen, seine Verbindungslinien führen nicht durch fremdes Gebiet und – auf politischer Ebene – kann der Verteidiger in der Regel auf größere Sympathie und Unterstützung ausländischer Mächte vertrauen (Clausewitz 1980: 614-627, 205-206, 220-221)

Überlegenheit der Zahl. Ein strategisches Grundprinzip ersten Ranges. Geht man von ansonsten identischen Bedingungen aus, gewinnt die zahlenmäßig überlegene Partei den Kampf (Clausewitz 1980: 373-378).

Konzentration der Kräfte in Zeit und Raum. Aufgrund des vorgenannten Prinzips muss der Stratege versuchen, punktuell eine zahlenmäßige Überlegenheit zu erreichen (Clause-witz 1980: 388-396).

Überraschung. Dies gelingt durch Überraschen des Gegners, einem Prinzip, das „mehr oder weniger allen Unternehmungen“ im Krieg zugrunde liegt, „nur in sehr verschiedenen Graden“ (Clausewitz 1980: 379). Taktische Überraschung ist für Clausewitz ein wichtiges Kampfprinzip, die strategische Überraschung (Gray 2005) hingegen, d.h. die Überraschung eines ganzen Landes mit einem Krieg, ist aus der Sicht seiner Zeit beinahe ausgeschlossen, da die Mobilisierung zu schlecht zu verheimlichen war und es keine Waffen gab, die „von einem Kriegstheater zum anderen“ (Clausewitz 1980: 404) schießen konnten: „Auf welcher Seite er [der Feind] unser Reich anfallen werde, das verkünden gewöhnlich schon alle Zei-tungen, ehe noch ein Pistolenschuß fällt“ (Clausewitz 1980: 398).

List. Für Clausewitz von untergeordneter, vor allem taktischer Bedeutung. Es geht da-bei darum, die Wahrnehmung des Gegners zu täuschen und diesen zu falschen Entschei-dungen zu verleiten. Beispielsweise kann man versuchen, dem Gegner zahlenmäßige Über-legenheit vorzutäuschen, in dem man seine Truppen immer wieder über dieselbe Hügel-kuppe marschieren lässt; Ziel dieser Maßnahme ist es, den Gegner vom Angriff zum für ihn günstigen Zeitpunkt abzuhalten (Clausewitz 1980: 385ff.). Clausewitz empfiehlt das – aus

12 Clausewitz spricht vom negativen anstatt vom defensiven politischen Zweck, um die Ebenen analytisch getrennt zu halten (Clausewitz 1980: 217).

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seiner Sicht unsichere und unsolide – Prinzip der List nur schwachen Akteuren, die buch-stäblich nichts mehr zu verlieren haben (Clausewitz 1980: 387).

Bedeutung moralischer Faktoren. Sie sind sogar wichtiger als die physischen, die nämlich „erscheinen nur wie das hölzerne Heft, während die moralischen das edle Metall, die eigentliche, blank geschliffene Waffe sind“ (Clausewitz 1980: 357). Gemeint sind psy-chische Faktoren, wie Motivation, Kampfmoral, Stimmung in der öffentlichen Meinung. Nach Clausewitz ein zentrales strategisches Prinzip. Auf taktischer Ebene kann eine stärker motivierte Truppe ihre zahlenmäßige Unterlegenheit bis zu einem gewissen Grad ausglei-chen; ebenso wirkt eine besondere Qualität der Führung (Clausewitz 1980: 356-360). Auf strategischer Ebene ist die Motivation und Stimmung in der öffentlichen Meinung wichtig, im eigenen Land und bei den Verbündeten, da die Streitkräfte als in die Gesamtgesellschaft eingebettet gedacht werden (Clausewitz 1980: 356).

e. Theoretische Anknüpfungspunkte bei Clausewitz zur Analyse von Strategien nicht-staatlicher Akteure: Volksbewaffnung und Kleiner Krieg

Außer der Bemerkung, dass der „Terrorismus“ nur „revolutionären Regierungen zu Gebote stünde“ (Clausewitz 1980: 996), findet sich keine systematische Behandlung dieses Themas im Werk von Clausewitz, schon gar nicht im Sinne der heute gängigen Vorstellung von Terrorismus als spezifischer Strategie nichtstaatlicher Akteure (Hoffman 2006). Doch es lassen sich zwei sinnvolle Anknüpfungspunkte an die politische Gewaltanwendung nicht-staatlicher Akteure in seinem Werk finden: einerseits Clausewitz’ Schriften zur Volksbe-waffnung in „Vom Kriege“ (Clausewitz 1980: 799-806) sowie in seiner „Bekenntnisdenk-schrift“ (Clausewitz 1966b), andererseits seine Schriften zum Kleinen Krieg, veröffentlicht in Form seiner gleichnamigen Vorlesungsmanuskripte (Clausewitz 1966a).

Sowohl die Volksbewaffnung als auch der Kleine Krieg fügen sich systematisch in das Theoriegebäude von Clausewitz ein (Hahlweg 1966: 213). Die Volksbewaffnung ist „stra-tegische[s] Verteidigungsmittel“ (Clausewitz 1980: 804), der Kleine Krieg taktisches Mit-tel, das in der Peripherie der Gefechte der regulären Armee zum Einsatz kommt. Beide Mittel können zusätzlich zu den Gefechten der Hauptstreitkräfte im Staatenkrieg eingesetzt werden. Über die Möglichkeit, eines dieser Mittel, nämlich die Volksbewaffnung, alleine gegen eine Armee einzusetzen, denkt Clausewitz in der Bekenntnisdenkschrift laut nach (Clausewitz 1966b: 733).

Unter Volksbewaffnung versteht Clausewitz die systematische Mobilisierung der kampffähigen Teile der zivilen Bevölkerung zur Verteidigung eines Landes; das heißt, es kann aus seiner Sicht nur in der politischen Defensive Erfolg versprechend eingesetzt wer-den (Clausewitz 1966b: 720). Ohne Uniform und nur leicht bewaffnet sollte der so genann-te „Landsturm“ (Clausewitz 1966b: 720) im Rücken des Feindes durch punktuelle taktische Angriffe zu dessen Verunsicherung beitragen. Nach den Kampfaktionen konnten die Landsturmtruppen wieder zu ihren zivilen Tätigkeiten zurückkehren und waren für den Feind als Kämpfer nicht mehr erkennbar. Die Volksbewaffnung war unter Umständen au-ßerordentlich wirksam, da die Landsturmtruppen ihre mangelhafte Ausbildung und Be-waffnung einerseits durch Enthusiasmus (es ging ja um die Verteidigung des eigenen Grund und Bodens) und andererseits durch irreguläre Taktiken wie Überfälle, Sabotage etc. ausgleichen konnten (Clausewitz 1980: 799-806). Irregulärer Taktiken bedienten sich ebenfalls die Kämpfer im so genannten Kleinen Krieg. Unter Kleinem Krieg versteht Clausewitz die Kampfhandlungen regulärer – jedoch speziell

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ausgebildeter – Soldaten in der Peripherie der großen Armeen, vor, hinter und neben den Hauptstreitkräften. Er definiert den Kleinen Krieg schlicht als den „Gebrauch kleiner Trup-penabteilungen“ (Clausewitz 1966a: 231). Diese Einheiten konnten zum Beispiel als A-vantgarden eingesetzt werden, die dazu dienten, den Vormarsch des Gegners zu bremsen und seine Strategie frühzeitig zur Entwicklung zu bringen, somit sichtbar zu machen und den Hauptstreitkräften dadurch Vorteile für das eigentliche Gefecht zu verschaffen. Ähnli-che Funktionen übernahmen sie als Arrieregarden beim Rückzug oder zum Schutz der Flanken der Armee (Clausewitz 1980: 532-540).

In seinen „Vorlesungen über den Kleinen Krieg“ (Clausewitz 1966a) lehrte Clausewitz den preußischen Offiziersnachwuchs die Taktiken des Kleinen Krieges bis ins Detail. Für die vorliegende Analyse ist jedoch ein Grundgedanke der Vorlesungen besonders wichtig: Clausewitz stellt fest, dass für die Gefechte kleiner Einheiten andere Prinzipien gelten als für die Gefechte der restlichen Armee (Clausewitz 1966a: 233).

Dies beginnt damit, dass die Soldaten im Kleinen Krieg andere persönliche Eigen-schaften aufweisen sollten, als die restlichen Truppen – vor allem sollten sie eigenständiger denken und handeln können (Clausewitz 1966a: 237-238). Dies hängt mit dem zweiten wichtigen Punkt zusammen: Der Kleine Krieg hat eigentlich keine Strategie. Die kleinen Gefechte müssen zwar auch lose koordiniert werden, doch die „Strategie des kleinen Krie-ges ist ein Gegenstand der Taktik [...]“ (Clausewitz 1966a: 237). Anders gewendet: Die Protagonisten des Kleinen Krieges, räumlich von den Hauptstreitkräften isoliert und nur mit rudimentären Kommunikationsmitteln ausgestattet, waren stark auf Eigeninitiative ange-wiesen. Gleichzeitig erforderte die taktische Strategie des Kleinen Krieges aber auch we-sentlich weniger Virtuosität der Führung, war weniger „wissenschaftlich“ (Clausewitz 1966a: 228). Denn die kleinen, peripheren Gefechte zeigten auf den höheren strategischen Ebenen natürlich nur indirekte Wirkung – nämlich indem sie den Gefechtsausgang der großen Gefechte beeinflussten. Politische Zwecke wurden zu Clausewitz’ Zeiten durch die virtuose Koordination der großen Gefechte erreicht – die Führung im Kleinen Krieg konnte also auch weniger falsch machen.

Drittens zeigt sich im Kleinen Krieg, dass die klassischen strategischen Prinzipien des Großen Kriegs teilweise auf den Kopf gestellt werden: die kleinen Einheiten sind auf den Überraschungseffekt angewiesen, um Wirkung zu erzielen; es gelingt ihnen leichter, den Feind zu überraschen, da sie klein, wendig und weniger auf Nachschub angewiesen sind; dies gleicht ihren Nachteil der Unterlegenheit der Zahl aus (Clausewitz 1966a: 234). Aus diesem Grund lehrt Clausewitz, dass die Truppen des Kleinen Krieges des Vorteils der Verteidigung bedürfen, einem strategischen Prinzip, das auch im Kleinen Krieg seine Gül-tigkeit behält! Der weitaus größte Teil der minutiös beschriebenen Taktiken bezieht sich daher auf defensive Gefechtszwecke (Clausewitz 1966a: 226).

Die wenigen Seiten, die sich mit offensiven Gefechtszwecken beschäftigen sind Ge-genstand des vierten Punkts, der hervorzuheben ist: Um offensiv wirksam sein zu können, bleibt den kleinen Einheiten des Kleinen Krieges nur das Mittel der Demoralisierung des Gegners, der Verbreitung von Furcht und Schrecken – kurz und in heutiger Terminologie: des Terrors: „Fast alle Angriffe im Kleinen Kriege werden überfallsweise ausgeführt [...]“ (Clausewitz 1966a: 397). Ziele sind die „Verwirrung“, die „moralische Wirkung“, die Verbreitung von „Schrecken“ – all dies „fatiguiert“ („ermüdet“) die feindlichen Truppen (Clausewitz 1966a: 398).

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Zusammenfassend unterscheiden sich Kleiner Krieg und Volksbewaffnung hinsichtlich ihrer Einsatzmöglichkeiten und hinsichtlich der Protagonisten. Im Kleinen Krieg kämpfen gut ausgebildete Soldaten, die auch zur Verfolgung positiver politischer Zwecke auf dem Territorium des Gegners eingesetzt werden können. Der „Landsturm“ besteht aus leicht bewaffneten Zivilisten, die ihre schlechte Ausbildung durch den Enthusiasmus der Landes-verteidigung ausgleichen müssen und dadurch nicht zur Verfolgung positiver politischer Zwecke eingesetzt werden können. Beide können prinzipiell offensive oder defensive Tak-tiken verwenden, wobei im Kleinen Krieg die defensiven Taktiken vorherrschen, bei der Volksbewaffnung die offensiven. Die Volksbewaffnung bei Clausewitz gleicht strukturell heutigen Aufstandskriegen (insurgencies) bzw. Guerillakriegen (Paret/Shy 1968); der Klei-ne Krieg weist einige strukturelle Ähnlichkeiten mit heutigen Terrorgruppen auf.

4 Schluss

Die eingangs aufgeworfene Frage lautete: Welchen Beitrag kann Clausewitz zur Analyse der enormen Bandbreite neuer Gewaltformen, die in diesem Band dokumentiert sind, leis-ten? Zur Beantwortung ist es zunächst sinnvoll, die Grundzüge der vorangegangen Analyse noch einmal zusammenzufassen: Clausewitz definiert Krieg als das aufeinander bezogene Handeln mindestens zweier Akteure, die einander ausschließende Machtansprüche gewalt-sam durchsetzen wollen. Indem er den Krieg in Gedanken in einer Art „Reagenzglas“ (ohne Umwelteinflüsse bzw. Einflüsse durch unterschiedliche Akteurseigenschaften) ablaufen lässt, identifiziert er eine „Tiefenstruktur“ des Krieges. Diese ist geprägt von eskalierenden Feindschaftsgefühlen, Zielsetzungen und Mitteleinsätzen der Kriegsparteien. Trotz des hohen Abstraktionsgrads der „Tiefenstruktur“ ist – nach Clausewitz – weder der ihr zugrundeliegende fundamentale Machtkonflikt noch die aus ihm folgenden Eskalationsten-denzen von irgendeinem vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftigen empirischen Krieg wegzudenken. Ihre (potentiellen) Wirkungen sind daher bei der strategischen Analyse und Planung stets zu beachten.

Doch welche Variablen ermöglichen, dass der Krieg in der Wirklichkeit nicht ständig die theoretisch erwartbaren, extremen Eskalationstendenzen aufweist? Dass vielmehr in der Geschichte Kriege unterschiedlicher Intensitätsgrade beobachtbar sind? In anderen Worten: Welche Variablen bedingen eine Hegung des Krieges? Zusammengefasst eigentlich nur drei: (a) Der politische (subjektive) Zweck: Er kann in Abstufungen reichen vom vollen Machtanspruch, über geringere Machtansprüche, bis hin zur Zurückweisung des gegneri-schen Machtanspruchs. (b) Objektive Rahmenbedingungen: Der Krieg findet in einem gegebenen geografischen Raum statt und dehnt sich über eine bestimmte Zeitspanne hin aus. (c) Politische (objektive) Rahmenbedingungen: Gemeint sind die Eigenschaften des politischen Akteurs und die Eigenschaften des internationalen politischen Systems, in dem die Akteure handeln. Aus dem komplexen Zusammenspiel dieser drei Kategorien von Vari-ablen und den Implikationen der „Tiefenstruktur“ des Krieges folgen die enorme Wandel-barkeit seiner äußeren Form und die große Schwierigkeit der Formulierung von erfolgrei-chen Strategien. Clausewitz definiert „Strategie“ schlicht als koordinierten Mitteleinsatz zur Erreichung bestimmter Ziele, die wiederum übergeordneten politischen Zwecken dienen. Entscheidend ist letztlich die Operationalisierung auf der taktischen Ebene: Hier gilt es, den Gegner durch den Mitteleinsatz Schritt für Schritt dazu zu bringen, den an ihn gestellten

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Machtanspruch zu akzeptieren (positiver politischer Zweck) bzw. den von ihm gestellten Machtanspruch aufzugeben (negativer politischer Zweck).

Das entwickelte analytische Modell kann grundsätzlich drei Aufgaben dienen: erstens zur Analyse von politischen Konfliktkonstellationen, zweitens zur kritischen Überprüfung historischer Strategien und drittens zur strategischen Planung. Mit Blick auf die nachfol-genden Beiträge soll es einen gedanklichen Rahmen schaffen, Kriege zwischen Staaten, in Staaten und über Staaten hinaus wissenschaftlich durchdenken zu können. Es kann dabei helfen, die richtigen Fragen zu stellen – einfache Antworten, im Sinne von goldenen Re-geln, kann es dagegen wesensgemäß nicht liefern. Mögliche gedankliche Anregungen kön-nen sein:

(a) Paradoxien im Krieg: Clausewitz’ Analyse der Tiefenstruktur zeigt, dass kriegfüh-rende Parteien gleichzeitig – und in variablem Mischungsverhältnis – rationale und emotio-nal-irrationale Motive verfolgen können. Man darf also eben nicht vom zweckrationalen Handeln des Gegners ausgehen. Ebenso wenig vom quasi-automatischen Einlenken des Gegners durch eine vorher genau bestimmbare Dosis der Gewaltanwendung.

(b) Eskalationspotential von Kriegen: Nach Clausewitz’ Modell wächst das Gewalt- und Eskalationspotential eines Krieges je nach Distanz zu seiner „Tiefenstruktur“. Das heißt: Je größer die machtpolitischen Forderungen werden und je geringer die Wirkung hegender objektiver und politischer (objektiver) Rahmenbedingungen, desto ähnlicher wird der empirische Krieg seiner „Tiefenstruktur“.

(c) Objektive Rahmenbedingungen: Die Beiträge im dritten Kapitel des vorliegenden Bandes zeigen die Folgen einer wichtigen Veränderung der objektiven Rahmenbedingun-gen des Krieges: die Globalisierung, verstanden als Gesamtheit der „Prozesse, die die Fak-toren Raum und Zeit gegen Null komprimieren“ (Jäger 2005: 14). Diese Kompression wirkt der oben beschriebenen Hegung des Krieges durch Ausdehnung der Kriegshandlun-gen in der Zeit und in den Raum entgegen. Digitale Medien beschleunigen die Information der Öffentlichkeiten und erhöhen so den Druck auf politische und militärische Entschei-dungsprozesse (vgl. den Beitrag von Henrike Viehrig); Satelliten werden zu militärisch relevanten Zielen, da sie das technische Rückgrat der so genannten Revolution in Military Affairs bilden, die ihrerseits eine enorme Beschleunigung militärischen Handelns zur Folge hat (vgl. den Beitrag von Mischa Hansel).

(d) Politische (objektive) Rahmenbedingungen: Die Beiträge im ersten und zweiten Kapitel des vorliegenden Bandes zeigen die Abhängigkeit der Form politischer Gewaltaus-übung von den Akteurseigenschaften und den internationalen Rahmenbedingungen. Wäh-rend das erste Kapitel den Wandel der Strategien staatlicher Akteure dokumentiert (bis hin zum Einsatz privater Militärfirmen in der Sicherheitspolitik, vgl. den Beitrag von Carsten Michels/Benjamin Teutmeyer), zeigt das zweite Kapitel, welche Veränderungen Strategien erfahren, wenn sie von nichtsstaatlichen Akteuren formuliert und eingesetzt werden – und dies unter den Bedingungen eines fehlenden staatlichen Ordnungsrahmens.

(e) Weiter Mittelbegriff: Clausewitz benutzt bewusst den weiten Begriff der Mittel, um politische Mittel in seine Kriegstheorie aufnehmen zu können. Dies öffnet die Theorie für die Analyse historisch unterschiedlicher Mittel, wie z.B. diplomatische, geheimdienstli-che, ökonomische, entwicklungspolitische etc.

(f) Flexible strategische Prinzipien: Der vorangegangene Abschnitt hat gezeigt, dass strategische Prinzipien durch unterschiedliche Rahmenbedingungen teilweise völlig andere Geltung bekommen. Genannt seien die strategischen Prinzipien der Überlegenheit der Ver-

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teidigung sowie der Bedeutung moralischer (psychischer) Faktoren. Beispielsweise atta-ckieren Terroristen extrem überraschend und sind so in der Lage, das Prinzip der Überle-genheit der Verteidigung auszuhebeln. Außerdem lässt sich an dieser Gewaltform die Be-deutung des Prinzips der Bedeutung moralischer (psychischer) Faktoren demonstrieren: Die psychische Wirkung von Anschlägen übertrifft oft bei weitem den tatsächlichen Schaden bzw. die Opferzahl.

(g) Politischer Zweck: Die Einengung des Zweckbegriffs auf Variationen von Macht-ausübung bei Clausewitz hilft, klare strategische Zwecke zu formulieren. Ist man sich zum Beispiel darüber bewusst, dass das Ziel einer Aufstandsbekämpfung darin besteht, die nicht am Aufstand beteiligte Zivilbevölkerung dazu zu bringen, eine Zentralregierung anzuer-kennen, so müssen alle Maßnahmen auf der taktischen Ebene diesem Zweck dienen und dürfen ihn nicht konterkarieren.

Der in Clausewitz’ Theorie axiomatische Gedanke, der Krieg sei ein politisches In-strument, hat für ihn die logische Implikation, dass der Zweck jeden Krieges letztlich der Friede ist (Clausewitz 1980: 215) – denn nur nach seiner Verwirklichung kann von einer effektiven Machtausübung gesprochen werden. Verfolgen kollektive Gewaltakteure jedoch überwiegend keine politischen Zwecke, sondern etwa ökonomische (vgl. die Beiträge von Johannes Le Blanc und Lars J. Gerdes), so sind zu ihrer Beeinflussung völlig andere Strate-gien notwendig. Hier liegen zwar die Grenzen des Ansatzes von Clausewitz. Jedoch zeigt es einmal mehr, dass Clausewitz helfen kann, die richtigen Fragen zu stellen.

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Page 36: Die Komplexitat der Kriege

I. Kriege im Zeichen von Ordnung und Sicherheit

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Reflexionen über den Begriff des Weltordnungskonfliktes

Andreas Herberg-Rothe 1 Einleitung

Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts ist unter Stichwörtern wie Risikogesellschaft, refle-xive Modernisierung und Globalisierung nicht nur die wissenschaftliche, sondern auch die gesellschaftliche Diskussion über die Auswirkungen der zunehmenden Transformation sozialer und nationaler Identitäten intensiviert worden. Soziale, politische und ökonomische Entwicklungen entwerteten überkommenes Wissen und tradierte Deutungsmuster erforder-ten neue Orientierungen. Im historischen und gegenwartsbezogenen Kontext wirken kultu-relle und soziale Ordnungskonzepte als Orientierung. Unter dem Eindruck von Wandlungs-prozessen und Veränderungen ihrer Lebenswelt passen Menschen solche Ordnungskonzep-te an und organisieren sie neu, um die Welt fassbar und erklärbar zu machen (Götsch/Köhle-Hezinger 2003).

Mit dem Begriff des Weltordnungskonfliktes soll versucht werden, die verschiedenen post-Bestimmungen wie post-westfälisch (Schneckener 2005) und post-national (Zangl 2005) durch ein einheitliches Konzept zu ersetzen, um die gegenwärtigen Entwicklungen bezüglich Krieg und Gewalt in der Weltgesellschaft besser zu erfassen. Die post-Bestimmungen haben nicht nur das Problem, dass sie einen grundlegenden Trennungsstrich zwischen der vorherigen und der gegenwärtigen Entwicklung ziehen müssen (ähnlich etwa dem Gegensatz von neuen und alten Kriegen (Geis 2006: 12)), sondern auch, dass sie die aktuellen Veränderungen selbst noch in der Negation durch die Brille des alten Paradigmas sehen. Genau die gleiche Problematik betrifft die verschiedenen „Ent-“Bestimmungen: Entstaatlichung, Entpolitisierung, Entmilitarisierung, Entzivilisierung, Entterritorialisie-rung, Entgrenzung (Geis 2006: 19). In gewisser Hinsicht wird in diesen Ansätzen eine vor-herige Entwicklung idealtypisch hypostasiert, die es in dieser Form historisch so nicht ge-geben hat. Insbesondere das „Westfälische System“, das erst nach 1989 zu Ende gegangen sein soll, wurde bereits durch die Revolutions- und Napoleonischen Kriege von 1792-1815 grundlegend erschüttert genauso wie durch die Interventionen in den russischen Bürger-krieg sowie die zahlreichen Interventionskriege an den Peripherien des Ost-West-Konflikts. Genau genommen kann der Großteil der Kriege des gesamten 20. Jahrhunderts und insbe-sondere der Erste und Zweite Weltkrieg bereits nicht mehr in den Kategorien des „Westfä-lischen Systems“ gedacht werden, genauso wenig wie der Kalte Krieg.

Das entscheidende Problem der vielfältigen neuen Bestimmungen scheint weniger in der Auseinandersetzung um die empirischen Befunde, sondern in der idealtypischen Kons-truktion des vorherigen Zustandes zu liegen (Echevarria 2005). Dies kann dazu führen, dass eine begrenzte Entwicklung verabsolutiert und als dominante Tendenz für die Zukunft prognostiziert wird. Zwar dürften Prozesse, die mit den Begriffen von Staatszerfall, failed states und Privatisierung der Gewalt beschrieben werden, unbestritten sein. Fraglich ist

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Reflexionen über den Begriff des Weltordnungskonfliktes 38

jedoch, ob diese Begriffe das Ganze der gegenwärtigen Entwicklung ausdrücken oder aber räumlich und zeitlich begrenzt bleiben. Demgegenüber kann eine Begriffsbildung, die auf das Konzept der Ordnung bezogen ist, die gegenwärtigen Transformationen besser be-schreiben: Auflösung von alten Ordnungen nach dem Ende des weltumspannenden bipola-ren Systems und dem Beginn einer intensivierten Globalisierung, darauf einsetzende Ten-denz zu einer Privatisierung wie nach der Auflösung eines jeden großflächigen Ordnungs-systems, Widerstreit (im Sinne Lyotards) unterschiedlicher Ordnungssysteme und den viel-fältigen Versuchen, diese miteinander kompatibel zu gestalten, bis hin zu gewaltsamen Konflikten um unterschiedliche Konzeptionen der „Ordnung der Welt“.

2 Neue Begriffe

Um die unerwarteten Formen der exzessiven Gewalt nach den Epochenjahren 1989/1991 begreifbar zu machen, wurde von einigen Autoren (Münkler 2002a; Kaldor 1999) der Beg-riff der „neuen Kriege“ eingeführt. Diese seien gekennzeichnet durch den Verfall von Staat-lichkeit und das Überhandnehmen privatisierter Gewalt, der Entwicklung von Bürger-kriegsökonomien, das Auftreten scheinbar längst untergegangener Waffenträger wie Söld-ner, Kindersoldaten und Warlords sowie durch Kämpfe um Identität, Bodenschätze und grundlegende existenzielle Ressourcen wie Wasser. Als ihr äußeres Kennzeichen gilt das vermehrte Auftreten irrational scheinender und exzessiver Gewalt: Selbstmordanschläge, Formen von „Mega-Terrorismus“ wie bei den Anschlägen des 11. September 2001, Massa-ker linker wie rechter, islamistischer oder sonstiger religiöser Bewegungen oder das Um-schlagen von nachbarschaftlichen Beziehungen in den „Kampf aller gegen alle“ in ethnisch überformten Konflikten.

Neben dem Begriff der „neuen Kriege“ fanden außerdem Bezeichnungen wie privati-sierte Gewalt (Eppler 2002), asymmetrische Gewaltstrategien (Münkler 2002b), kleine Kriege (Daase 1999), wilde Kriege (Sofsky 2002), low intensity conflicts (Creveld 1998), postnationale Kriege (Zangl/Zürn 2003), Kriege im Prozess von Globalisierung und der Durchsetzung des Kapitalismus (Jung et al. 2002) sowie Kriege im Rahmen „globaler Frag-mentierung“ (Chojnacki 2004: 419; Senghaas 2003) Eingang in den politischen und wis-senschaftlichen Diskurs. Allerdings wird mit diesen Begriffen jeweils nur ein Ausschnitt der Wirklichkeit in einer äußerst dynamischen und vor allem ungewissen Entwicklung beschrieben (Bredow 1994). Die Vielfalt der Begriffsbildungen deutet auf diese Ungewiss-heit und die ihr zugrunde liegende veränderte Wahrnehmung des Kriegsgeschehens hin. Zum Teil wird allerdings mit jedem neuen Krieg ein neuer Kriegstyp konstruiert.

Ein gemeinsamer Bezugspunkt dieser unterschiedlichen Begriffe scheint jedoch die Annahme zu sein, dass sich das Kriegsgeschehen von der Ebene des Staates auf die des nichtstaatlichen Akteurs verlagert hat. Es handele sich zumeist um Konflikte, in denen zumindest auf einer Seite nichtstaatliche Akteure beteiligt sind. Hieraus wird abgeleitet, dass die Motivation und Zielsetzung dieser nichtstaatlichen Akteure nicht mehr politischen bzw. ideologischen Imperativen folgt, sondern anderen Quellen entspringt, seien es ethni-sche, ökonomische oder auf einer Verselbständigung der Gewalt beruhende. Ihren deut-lichsten Ausdruck fand diese Sichtweise wohl in der Annahme einer kommenden Anarchie (Kaplan 1994). Aus dieser Sichtweise folgen unmittelbar neuere Konzepte wie die eines amerikanischen liberalen Imperiums, weil nur dieses ein Mindestmaß an Ordnung gegen-über der kommenden Anarchie gewährleisten könne (Münkler 2005; Gaddis 2004).

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Anders sähe es jedoch aus, wenn zumindest die Diffusion auf die Konfliktebene „unter-halb“ des Staates lediglich eine Übergangsphase wäre bzw. wenn sich diese an sich unbe-streitbare Entwicklung auf bestimmte Teile der Welt beschränken würde, auf die afrikani-sche Sahara und Afrika südlich der Sahara sowie die traditionellen Konfliktlinien an den Rändern der ehemaligen Imperien. Zudem könnte es sein, dass Teile der zukünftigen Kon-flikte politisch oder ideologisch bestimmt sein werden, obwohl es sich um nichtstaatliche Akteure handelt. Das Paradigma dieser Kriege wäre dann nicht bestimmt durch den Gegen-satz von Ordnung oder Anarchie, sondern durch denjenigen unterschiedlichen Ordnungs-vorstellungen sowohl der Akteure selbst als auch der „interessierten Dritten“, der Öffent-lichkeit, auf die sich die verschiedenen Konfliktparteien beziehen. Das entscheidende Prob-lem in diesem Fall ist nicht die wertende Beurteilung der Ordnungsvorstellungen als solche, sondern dass die Konfliktdynamik anderen Regeln gehorcht als in einem Paradigma, in dem sich Ordnungsvorstellungen und Anarchie gegenüberstehen. Insbesondere Vorstellun-gen eines „liberalen Imperiums“, die bezüglich eines Gegensatzes von Ordnung und Anar-chie noch angemessen sein mögen, würden ordnungspolitische Konflikte eher noch ver-schärfen.

In der Zeit des Kalten Krieges, des Wettrüstens zwischen den Supermächten, stand die Welt zwar mehrmals am Rande des atomaren Abgrundes, die jeweilige Gewalt und die Konflikte schienen jedoch in eindeutigen Erklärungsmustern erfassbar zu sein: Ost gegen West bzw. imperialistische Aggression und ökonomische Interessen des militärisch-industriellen Komplexes aus der Sicht der einen Seite versus Totalitarismus als das Reich des Bösen aus Sicht der anderen. Durch ihre Erklärbarkeit innerhalb von zwar gegensätzli-chen, aber gleichwohl rationalisierbaren Deutungsmustern konnte die Gewalt auch in den Vorstellungen der Menschen eingegrenzt und eingehegt werden. Für diesen Versuch, die potenziell unendliche Gewalt in den zahlreichen overkill-Kapazitäten durch eine geistige Anstrengung einzudämmen und einzugrenzen, steht vielleicht am deutlichsten Raymond Aron mit seinem viel beachteten Buch „Penser la guerre“ (Aron 1976). Krieg zwischen den Supermächten durfte demnach nur noch gedacht, nicht mehr geführt werden. Trotz des Lebens am „Grand Hotel Abgrund“ der nuklearen Zerstörung der Welt hatte der Ost-West-Konflikt eine weltpolitische Ordnungsfunktion sowohl in realpolitischer Hinsicht als auch bezüglich der tatsächlichen oder scheinbaren Erklärbarkeit von Gewalt und Kriegen. Durch die neuen Formen der Gewaltausübung, die nach dem Ost-West-Konflikt massiv auf die Tagesordnung gelangten und zum Teil auch massenmedial inszeniert wurden, haben sich Krieg und Gewalt dem Begreifen entzogen, ohne dass bisher ein neuer übergreifender Ord-nungsrahmen gefunden werden konnte. Vielmehr scheint Gewalt gegenwärtig selbst ord-nungsbildend zu sein und Gemeinschaften zu begründen (Sofsky 1996). Die Ordnungsfunktion des Kalten Krieges betraf nicht nur die unmittelbare Konfrontation der Supermächte bzw. ihrer Bündnissysteme, sondern auch die so genannten Stellvertreter-kriege. Dies wird insbesondere in der Debatte über die Frage deutlich, wie neu die „neuen Kriege“ tatsächlich sind. Kritiker der Annahme eines grundlegenden Gestaltwandels des Krieges argumentieren vor dem Hintergrund langer Zeiträume und ziehen etwa den chinesi-schen Bürgerkrieg Ende der 1940er Jahre, den russischen Bürgerkrieg bis in die 1920er Jahre oder den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts an den Armeniern heran, um nach-zuweisen, dass die „neuen Kriege“ keine neue Qualität aufweisen (Chojnacki 2004; Kahl/Teusch 2004). Demgegenüber betonen die Befürworter des Theorems der „neuen Kriege“ einen grundlegenden Bruch in den Jahren 1989/91. Sie vergleichen die Bürgerkrie-

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ge unmittelbar vor und unmittelbar nach dieser Zäsur und leiten hieraus eine Bestätigung des Gestaltwandels des Krieges ab (Heupel/Zangl 2004). Durch das Ende des weltumspan-nenden Ost-West-Konflikts wurden zahlreiche Bürgerkriegsparteien nicht mehr von den Supermächten mit Waffen beliefert und ökonomisch alimentiert, sondern mussten die not-wendigen Ressourcen des Kampfes zunehmend selbständig beschaffen. Dies führte in zahl-reichen Fällen zu klassischen Bürgerkriegsökonomien (Jean/Rufin 1999), die mit zahlrei-chen kriminellen Aktivitäten einhergingen. Dazu zählte neben dem illegalen Handeln mit Diamanten, Drogen und Menschen auch das Auspressen der Bevölkerung. Ferner wurden Gewaltexzesse begangen, um Hilfslieferungen ins Land zu locken, die dann beraubt werden konnten, und besonders wertvolle Ressourcen wurden gewaltsam angeeignet (Raubkapita-lismus). Dass nach dem Ende des Kalten Krieges zunächst eine Vielzahl von „privaten“ Akteuren und Kämpfern in schwachen Staaten sowie an den traditionellen weltpolitischen Konfliktherden, den Rändern der früheren Imperien, auftraten, ist insofern als eine notwen-dige und historisch oftmals beobachtete Folge des Zusammenbruchs eines großräumigen Ordnungssystems zu sehen.

3 Re-Ideologisierung und Re-Politisierung des Krieges

Die weit über 2007 Kriege, die sich zwischen 1945 und der Jahrtausendwende auf der Welt ereigneten, haben nicht zur völligen Auflösung der staatlichen Ordnung der Weltgesell-schaft geführt (Schlichte 2006: 18), unter Verwendung einer Unterscheidung der folgenden Realtypen: Dekolonisationskriege, sozialrevolutionäre Kriege, Kriege im Entwicklungs-staat, Kriege im neopatrimonialen Staat und Kriege im peripheren Sozialismus (Schlichte 2006: 7). Im eigentlichen Sinne gibt es Prozesse des Staatszerfalls und so genannte failed states nur in neopatrimonialen Kriegen, zumeist in Staaten in und südlich der Sahara. Selbst bezüglich neopatrimonialer Kriege ist argumentiert worden, dass es sich hierbei um im Wesentlichen politische Konflikte handelt. Ausgangspunkt der Untersuchung von Isabelle Duyvesteyn (2005) etwa ist eine sehr weite Definition von Politik in Anlehnung an Robert Dahl: Ein politisches System in diesem Sinne ist definiert als „any persistent pattern of human relationship that involves, to a significant extent, power, rule or authority“ (Dahl 1991: 5). Duyvesteyn verweist insbesondere darauf, dass in den von ihr untersuchten patri-monialen Systemen die Unterschiede von Ökonomie und Politik nicht so eindeutig zu zie-hen sind, wie dies im westlichen Verständnis üblich ist. Scheinbar reine Kämpfe um die Aneignung von Ressourcen können insofern macht-politisch motiviert sein, um die eigene Anhängerschaft zu unterhalten und ihre Gefolgschaft aufrecht zu erhalten. Da die Machtpo-sition in diesen Konflikten sehr häufig durch das jeweilige Ansehen bestimmt ist, durch Autorität und den Anspruch auf Führerschaft, können auch nicht-politische Sachverhalte in einen macht-politischen Kontext eingebunden sein. Ihre Annahme ist somit nicht, dass ökonomisch, religiös oder ethnisch bestimmte Konflikte in allen Fällen politisch sind, son-dern dass diese Konflikte in einen politischen Rahmen innerhalb eines patrimonialen Sys-tems eingebunden bleiben.

Duyvesteyn argumentiert, dass das Nicht-Begreifen von scheinbaren Auseinanderset-zungen um ökonomische Ressourcen als in Wirklichkeit machtpolitisch bestimmte, zum Scheitern der Interventionen in Somalia zur Befriedung des Konflikts mit beigetragen hat. Denn die Wahrnehmung des Konflikts als ökonomisch oder ethnisch bestimmt führte dazu, den Konfliktparteien eine politische Lösung aufzwingen zu wollen, die aber die Eigenhei-

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ten des immer noch existierenden patrimonialen Systems ignorierte. Verkürzt dargestellt, entschärfen Gewaltenteilung und das Austarieren der politischen Macht zwischen politi-schen Gegnern in demokratischen Gesellschaften den Konflikt, während eine solche Per-spektive in patrimonialen Strukturen den Konflikt laut Duyvesteyn im Gegenteil eher ver-schärft. Sie empfiehlt hierauf aufbauend, dass eine Intervention in Bürgerkriegssituationen in Gesellschaften mit einer patrimonialen Struktur die Herrschaft nur einer der beteiligten Parteien favorisieren solle, weil nur auf diese Weise stabile Strukturen geschaffen werden können, relativ unabhängig von der jeweiligen Ideologie, da diese selbst nur machtpoliti-sches Mittel sei. Nur in einem stabilen Ordnungsrahmen eines patrimonialen Systems sei es in diesen Fällen möglich, zivilgesellschaftliche Strukturen aufzubauen (Duyvesteyn 2005). Kriege und Konflikte in patrimonialen Systemen sind demzufolge nur vordergründig um ökonomische oder ethnische Auseinandersetzungen zentriert, im Kern jedoch innerhalb einer bestehenden Ordnung angesiedelt.

An der Entwicklung Afghanistans lässt sich exemplarisch eine Re-Ideologisierung und Re-Politisierung von Kriegen und gewaltsamen Konflikten beobachten: Nach dem Sieg über die sowjetische Armee setzte dort Ende der 1980er Jahre zunächst ein Bürgerkrieg zwischen Warlords und einzelnen Stämmen ein, bis der Konflikt re-ideologisiert wurde und die Taliban die Macht ergriffen. Eine mögliche Verlaufsform von Bürgerkriegen ist damit nicht nur die immer weiter voranschreitende Privatisierung bis hin zu Kalaschnikows schwenkenden Kleinstgemeinschaften, die nur durch die Gewaltanwendung zusammen-gehalten werden. In der historischen Entwicklung hat es zusätzlich eine Reihe von Fällen gegeben, in denen Bürgerkriege durch die Re-Ideologisierung und Re-Politisierung beendet bzw. auf eine neue Stufe gestellt wurden. Afghanistan ist insofern exemplarisch, als an diesem Beispiel einerseits die neue Qualität der Privatisierung des Krieges und der Gewalt dargestellt werden kann (Heupel/Zangl 2004), andererseits die Re-Ideologisierung und Re-Politisierung des Konfliktes mit dem Aufkommen und dem anschließenden Sieg der Tali-ban besonders deutlich wird. Insofern ist es paradox, wenn einerseits betont wird, dass die Privatisierung des Krieges in Afghanistan zwar die neue Qualität der „neuen Kriege“ bele-ge, diese neue Entwicklung jedoch andererseits explizit auf den Zeitraum bis zum Sieg der Taliban (1996) beschränkt werden muss. Aus diesem Fallbeispiel kann somit keineswegs auf eine allgemeine Tendenz zur Privatisierung des Krieges geschlossen werden (Heu-pel/Zangl 2004), sondern nur darauf, dass diese Entwicklung in diesem Fall zeitlich be-grenzt war. Denn mit dem Wendepunkt des Taliban-Sieges wird eine neue Phase eingelei-tet: die des Weltordnungskrieges.

Die vorgenommene zeitliche Differenzierung lässt sich zusätzlich um eine geographi-sche Zuordnung der beiden Phasen ergänzen. Die Privatisierung der Gewalt trifft demnach auf weite Teile Schwarzafrikas zu sowie auf traditionelle Konfliktregionen wie den Balkan und den Kaukasus, die Entwicklung von Weltordnungskriegen auf den Konflikt zwischen dem Westen und dem militanten Islamismus sowie in Zukunft vor allem mit China, aber möglicherweise auch Russland. Daraus folgt, dass die Ebene des Staatenkrieges auf zwei Ebenen gleichzeitig verlassen wurde – einerseits nach unten, als „privatisierter“ Krieg, andererseits nach oben, als supra-staatlicher Krieg.

Diese Unterscheidung ist grundlegender als die Versuche, zwischen privatisierten bzw. „neuen“ Kriegen und solchen im Prozess globaler Fragmentierung nochmals zu differenzie-ren und der ersteren Begriffsbildung ihre Legitimität zu bestreiten (Chojnacki 2004). Krieg-führung um Werte (Joas 2000) und eine – wie auch immer begrenzte oder universal konzi-

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pierte – Ordnung der „Welt“ unterscheiden sich grundsätzlich von privatisierten wie frag-mentierten Kriegen. Beide Ebenen sind zwar in der Praxis miteinander verflochten, trotz-dem analytisch voneinander zu unterscheiden. Zudem werden auch weiterhin Kriege von Staaten geführt, aber zumeist nicht aus dem Grund des partikularen Interesses, sondern aus Gründen der Weltordnung, wie etwa am Begriff des US-Imperiums (Walzer 2003) oder der amerikanischen Hegemonie (Leggewie 2003) zu verdeutlichen ist. Prozesse der technologi-schen, der ökonomisch-kapitalistischen und der kommunikativen Durchdringung der Welt verschärfen die Doppelbewegung von privatisierten Kriegen und globalen bzw. regionalen Weltordnungskriegen dramatisch, indem sie die Handlungsräume oftmals unmittelbar auf-einander beziehen. Während des Bürgerkrieges in Somalia etwa konnten marodierende Banden beobachtet werden, die zugleich per Computer ihre Börsengeschäfte an der Wallstreet abwickelten. Die Globalisierung erzwingt jedoch entgegen dem äußeren Schein einer durchgängigen Privatisierung des Krieges gerade die Re-Politisierung der Weltord-nung (Echevarria 2003).

4 Zusammenbruch von Weltordnungen

Es ist eine historisch zu illustrierende Erfahrung, dass nach umfassenden kriegerischen Katastrophen sowie dem Zusammenbruch von Weltordnungen die Suche nach einer neuen mit einer immanenten Notwendigkeit auf der Tagesordnung stand – und es ist kein Zufalls, dass diese Suche nach der Entdeckung der beiden Amerikas durch Kolumbus von grundle-gender Bedeutung wurde, weil sich hiermit ein neuer Begriff von „Welt“ eröffnete (Voigt 2005: 36). Schon kurz danach (1493) wurde „die Welt“ durch den Schiedsspruch des Paps-tes zwischen Spanien und Portugal aufgeteilt (Voigt 2005). Weitere Eckpunkte waren der Westfälische Frieden, der Wiener Kongress, der Völkerbund nach dem 1. Weltkrieg sowie die Institutionalisierung der Vereinten Nationen nach dem 2. Weltkrieg, denen jeweils machtpolitisch eine Aufteilung der Welt entsprach. Diese Kombination von Weltordnungen aus vertraglichen Vereinbarungen und machtpolitischen Aufteilungen entspringt der be-griffslogischen Unterteilung des Ordnungsbegriffs in Inklusion bzw. Selektion und Exklu-sion (Waldenfels 1987). Der entscheidende Gegensatz in der Herausbildung unterschiedli-cher Weltordnungen ist derjenige von Hegemonie/Macht auf der einen Seite und Selbstbe-stimmung/Emanzipation auf der anderen (Menzel 2004).1

Eine kurze Notiz ist an dieser Stelle nötig, denn beide Begriffsfelder sind keineswegs eindeutig positiv oder negativ zu belegen, der Begriff der Selbstbestimmung hat genauso wie derjenige der Emanzipation (Menzel 2004) seine Schattenseiten. Die entsprechende historische Erfahrung ist in Entwicklungen nach dem Ersten Weltkrieg verkörpert. Hier hat es zunächst in nahezu allen Verliererstaaten Demokratisierungsprozesse, ja demokratische Revolutionen gegeben. Fast alle endeten jedoch in totalitären bzw. faschistischen Herr-schaften oder in Diktaturen. In Ost-Europa und auf dem Balkan wurde das „Selbstbestim-mungsrecht der Völker“, das US-Präsident Wilson verkündete, nicht im demokratischen Sinne, sondern im nationalistischen gedeutet und als Ausschluss ganzer Bevölkerungsgrup-pen praktiziert bis hin zum Völkermord (Diner 1999: 58 ff.). Bezüglich des Begriffs der Emanzipation ist sogar von einer Umkehrung (Herberg-Rothe 2002), einer anderen Dialek-tik der Aufklärung zu sprechen. Denn nicht nur die Emanzipation durch den Einsatz von

1 Menzel spricht von den Paradoxien der Weltordnung.

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Wissenschaft und Technik kann zur Zerstörung der Natur führen, auch ein allgemeiner inflationärer Diskurs von Emanzipation und Selbstbestimmung hat seine eigene Dialektik (Menzel 2004: 16): Die Emanzipation von der Mühsal körperlicher Arbeit für einen Bruch-teil der Weltbevölkerung kann in diesen Fällen zur Massenarbeitslosigkeit führen, die Selbstbestimmung von Gemeinschaften (nicht Individuen) zum Fremdenhass und dem Ausschluss von anderen (Menzel 2004: 17).

Ausgehend von Zygmunt Bauman’s Begriff der „Glokalisierung“ (Bauman 1998; 1996), der eine widerstreitende, aber zugleich zusammengehörige Entwicklung von Globa-lisierung und „Lokalisierung“ anhand von regionalen Kämpfen um Identität konstatiert, werden mit dem Begriff des Weltordnungskonflikts entgegengesetzte Tendenzen zusam-mengefasst, die zugleich aufeinander bezogen bleiben: auf der einen Seite Konflikte und Kriege um großräumige Weltordnungen, auf der anderen solche um lokale und regionale Ordnungen. Obwohl es Weltordnungen im engeren Sinne erst seit der Entdeckung der bei-den Amerikas geben kann (Voigt 2005), ist es möglich, von Weltordnungen in einem um-fassenderen Sinn seit den frühesten menschlichen Gesellschaften zu sprechen. So betonte Eric Voegelin, dass die Ordnung der Geschichte die Geschichte der Ordnungen sei (Voege-lin 2004). In einem allgemeinen Sinne kann Weltordnung als „Ordnung der Ordnungen“ (Kuntz 1967) sowie vor allem als „Ordnung von Ordnungen und Un-Ordnungen“ bestimmt werden.

5 Ordnung und Grenzen

Für die gegenwärtige Entwicklung sind zwei zunächst voneinander unabhängige Entwick-lungen von ausschlaggebender Bedeutung. Einerseits das Ende des Kalten Krieges und – damit zusammenhängend – der weltweit polaren politischen Ordnung, die eine äußerst effektive weltweite Ordnung darstellte, obwohl sie auf einem grundlegenden Gegensatz basierte. Die dem nuklearen Patt eingeschriebenen Ordnungsvorstellungen waren in syste-mischer Hinsicht nicht nur in hohem Maße rational, sondern erfassten aufgrund ihrer eige-nen inneren Dynamik den gesamten Planeten (Diner 1993: 7).

„Die neue Ordnung der Welt ist bislang so unübersichtlich wie konturenlos. Der Über-gang von als gesichert erachteten Begriffen der Bipolarität in ein neues System von Wahrnehmung und Deutung der Wirklichkeit wird offensichtlich noch lange dauern“ (Diner 1993: 11).

Nicht von ungefähr sprach George H. Walker Bush bereits 1991 von der Notwendigkeit einer neuen weltweiten Ordnung, hierbei anknüpfend an die Präsidenten Wilson und Roo-sevelt (Schwabe 2007). Andererseits findet sich eine intensivierte Globalisierung in Gefol-ge der neuen Informationstechnologien, die eine neuartige Vernetzung unterschiedlichster gesellschaftlicher, ökonomischer, wissenschaftlicher und kultureller Bereiche ermöglichte. Grundlegend für den hier verfochtenen Ansatz ist, dass beide Entwicklungen mehr oder weniger unabhängig voneinander erfolgt sind. Ihr Effekt ist jedoch gleichermaßen gewesen, dass sie bestehende Ordnungen in Frage gestellt und aufgehoben haben. Beide an sich sepa-raten, jedoch zusammenwirkenden Entwicklungen führten zu einer intensivierten Suche nach neuen Formen der „Ordnung der Welt“.

Für das jeweilige historisch-soziale Verständnis von Ordnung ist die Grenze der Ord-nung sowie die Bestimmung des Gegensatzes zur Ordnung von fundamentaler Bedeutung (Anter 2007; Richter 2005; Waldenfels 1987). Im Zuge von Diskussionen über die Bedeu-

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tung von räumlichen und sozialen Grenzziehungen in der Neuzeit hat sich ein Diskurs her-ausgebildet, der entweder die Bedeutung von Grenzen relativiert (Waldenfels 1987) oder aber den Ausschluss von Fremden durch Grenzziehungen zwischen Nationen, Völkern und Gemeinschaften als Voraussetzung ihrer Vernichtung begreift (Bauman 1995; 1992). Ob-wohl insbesondere die von Bauman untersuchten Sachverhalte bezüglich des Nationalsozia-lismus eine gewisse Stichhaltigkeit haben, ist ihre Verallgemeinerung schwer zu begrün-den. In begrifflich-systematischer Perspektive ist darauf zu verweisen, dass die für die Iden-titätsbildung konstitutive Innen-Außen-Differenz keinesfalls in jedem Fall mit einer Freund-Feind-Dichotomisierung zusammenfallen muss. Es sind andere Arten der räumli-chen Relationen möglich, die nicht mit so scharfen Grenzziehungen im Sinne des Anderen als dem Fremden, dem Feindlichen arbeiten, sondern eine Einheit in der Verschiedenheit bzw. eine Verschiedenheit in der Gleichheit hervorheben, wie an Hannah Arendts Begriff der Pluralität, aber auch an Hegels Begriff des Besonderen zu verdeutlichen ist (Herberg-Rothe 2005a; Herberg-Rothe 2005b; Herberg-Rothe 2004).

Die negative Aufladung des Außen im Rahmen von Grenzziehungen kann zudem zu-rücktreten. Die Schwerpunkte können sich von der negativen auf die positive Identifikation verschieben. Identifikation bedeutet insofern zwar immer Besonderung, aber nicht notwen-dig Absonderung. Zum Beispiel wäre auch eine Gegenüberstellung im Sinne von Teil und Ganzem oder entsprechend dem Nachbarschaftsmodell möglich (Luutz 2003). Die Konse-quenz hieraus ist, dass bei der Beurteilung der Kategorie der Grenze zwei unterschiedliche Fragen im Zentrum stehen: Wird die Grenze eher unter dem Aspekt des nachbarschaftli-chen Einschlusses oder aber des Ausschlusses betrachtet (Wokart 1997)? Selbst unter dem Gesichtspunkt des Ausschlusses von anderen muss der andere nicht unbedingt und automa-tisch der zu vernichtende Feind sein.

Die Grenze kann selbst wiederum ein ganzes System zum Ausdruck bringen (Luh-mann 2008; Lahrem/Weißbach 2000). Positive Leistungen von Grenzsetzungen als Formen von Inklusion und Exklusion sind etwa die Begründung von Normen im Recht und Autori-tät in der Politik. Darüber hinaus können sie sinnstiftend wirken, indem Sinn- und Erwar-tungsgrenzen festgelegt werden (Leggewie 2003: 22-23). Der Soziologe Georg Simmel betonte, dass die Grenze keine „räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen“ sei, sondern „eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt“ (Simmel 1992: 695-697). Im Grunde genommen spielen Grenzziehungen seit jeher eine zentrale Rolle in der mensch-lichen Gesellschaft, wie zum Beispiel die mosaischen zehn Gebote zeigen: Fast alle haben die Form „Du sollst nicht“. Es wird somit nicht primär ausgesagt, wie man sich „positiv“ zu verhalten hat, sondern wo die Grenze des eigenen Verhaltens liegt. Insofern setzt vor allem das Recht Grenzen menschlichen Verhaltens (Böckenförde 1997: 278), wie umgekehrt Recht Ausdruck menschlicher Grenzsetzungen ist. In einer globalisierten Welt wächst die Bedeutung von Grenzen, die durch Symbole, Normen, Recht und Diskurse gesetzt werden, im Unterschied zu Staatsgrenzen (Bonacker 2004). Entgrenzende Prozesse von Expansion, Universalisierung und Globalisierung haben in der neueren Geschichte immer wieder neue Begrenzungen in Gesellschaften wie Zivilisationen hervorgebracht (Osterhammel 1997: 219). Um sich als zivile Gesellschaften wie als Zivilisationen gegenüber diesen „Entgren-zungen“ selbst erhalten zu können, war eine durch Gesellschaft, Kulturkreis wie Gemein-schaft gesetzte Grenze insbesondere gegenüber Krieg und Gewalt stets unerlässlich, eine Grenzsetzung, die erst Ordnungen ermöglichte.

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6 Thomas Hobbes oder Carl Schmitt

Die gegenwärtige Suche nach und der Konflikt um Weltordnungen ist dadurch gekenn-zeichnet, dass durch den Niedergang der alten bipolaren Weltordnung sowie die Auflösung zahlreicher regionaler/lokaler Ordnungen sich vielfältige Formen der Ordnungen in unter-schiedlichen Bereichen (Politik, Gesellschaft, Ökonomie, Kultur, Diskur-se/Informationsgesellschaft) überschneiden und nicht miteinander kompatibel sind. Im dialektischen Spannungsfeld zwischen Herrschaft/Hegemonie/Macht und Emanzipati-on/Selbstbestimmung/Kooperation werden auf der einen Seite zahlreiche Gemeinschaften gebildet, um der Komplexität der Weltordnungen, ihren Überschneidungen und Unverein-barkeiten durch eine Freund-Feind-Konstruktion, eine neue Eindeutigkeit zu vermitteln. Diese Gemeinschaftsbildungen können auf ethnischer, religiöser, kultureller oder auf natio-naler Ebene erfolgen. Sie können dem Ziel dienen, den auseinanderdriftenden Kräften in-nerhalb eines staatlichen Gebildes zu begegnen. Sie können nur aus kämpfenden Verbän-den bestehen, zeitlich lang oder kurz existieren; entscheidend ist, dass sie nicht dem Hob-bes’schen Paradigma von Staat-Individuum zuzuordnen sind, sondern dem einer intensi-vierten Feindschaft von Gemeinschaften, wie Carl Schmitt das Politische bestimmte. Das Erfassen des „Neuen“ von Krieg und Gewalt in der Weltgesellschaft in Begriffen von Thomas Hobbes (Trotha 1999) ist in dreifacher Hinsicht nicht unproblematisch. Erstens handelt es sich zumeist nicht um den Gegensatz von Ordnung oder Anarchie, der diese Konflikte bestimmt, sondern vielfach um eine Auseinandersetzung um unterschiedliche Ordnungsvorstellungen. Zweitens sind diese Konflikte nicht um den Gegensatz von Staat gegenüber Individuum charakterisiert, sondern um denjenigen unterschiedlicher Gemein-schaften, für die die Einzelnen stellvertretend handeln. Und schließlich führen Furcht und Angst vor dem eigenen Tod in ihnen nicht etwa zu einer Ermäßigung und der Begrenzung des Kampfes auf Leben und Tod, wie in der Konzeption von Hobbes, sondern häufig zu deren Eskalation ohne Grenzen (Herberg-Rothe 2007). Selbstmordattentäter töten andere Menschen nicht aus persönlichem Hass, sondern als Angehörige einer anderen, feindlich wahrgenommenen Gemeinschaft. In vielen Fällen müssen diese noch nicht einmal als wirk-liche Feinde wahrgenommen werden, vielmehr geht es um die Erhaltung der eigenen Ge-meinschaft, ihrer Identität, durch den gewaltsamen Kampf. In allen drei Aspekten kann Carl Schmitt trotz seiner zahlreichen Übereinstimmungen mit Thomas Hobbes als dessen ent-scheidender Gegenpol angesehen werden. Denn Schmitt hatte schon in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts hervorgehoben, es sei gewiss, dass das Ende der Staatlichkeit ge-kommen sei (Schmitt 1996). Dies bedeutete für ihn jedoch nicht das Ende des Politischen. Vielmehr bestimmte er das Politische in Zusammenhang mit der Unterscheidung von Freund und Feind von Gemeinschaften (Schmitt 1996) und warnte später aufs Eindring-lichste vor einer Situation, in der der Gegner als absoluter Feind wahrgenommen wird (Schmitt 1963).

Hobbes Konstruktion ist bestimmt durch die Annahme einer absoluten Freiheit der In-dividuen im Naturzustand, einem Recht auf alles, dem jedoch nur begrenzte Chancen gege-nüberstehen, dieses auch zu verwirklichen. Durch nichts ist in dieser Konstruktion gesi-chert, dass es zu Konflikten kommt und die Menschen die effizientesten Mittel zur Befrie-digung ihrer Bedürfnisse einsetzen: Einer ist des anderen Wolf, so die Konstruktion, aus der sich der „Kampf aller gegen alle“ im Naturzustand ergibt, weil jeder jeden anderen mit Gewalt zu vernichten oder zu unterdrücken versucht, um sein Recht auf alles zu verwirkli-chen oder weil er befürchten muss, dass er selbst dieses Schicksal erleidet. Aber aus Grün-

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den der Selbsterhaltung, aus Angst und Furcht vor dem eigenen Tod, treten die Menschen einem Vertrag bei und übertragen einen Teil ihrer Freiheitsrechte an eine Ordnungsinstanz, die jeden vor dem gewaltsamen Übergriff eines anderen schützt. Auf diese Weise entsteht der moderne Staat mit dem staatlichen Gewaltmonopol. Doch die bloße Monopolisierung der Gewalt reicht nicht aus, weil auch diktatorische und totalitäre Staaten hierüber verfü-gen. Hinzu muss ein zweites Moment kommen, rechtsstaatliche Verfassung und demokrati-sche Kontrolle, um auch die Bürger vor dem Staat zu schützen (Nunner-Winkler 2004: 32-33).

Offensichtlich gibt es äußerst wenige Anknüpfungspunkte an diese Konstruktion von Hobbes in den so genannten Neuen Kriegen, selbst der „Kampf aller gegen alle“ findet sich nur in Teilen Schwarzafrikas – in nahezu allen anderen Fällen stehen Gemeinschaften im Konflikt miteinander. Sogar innergesellschaftliche Formen der Gewalt in den westlichen Industrieländern wie Jugendgewalt und Gewaltformen von Autonomen sowie Fußballan-hängern können als Ausdruck der Erhaltung oder Bildung sowie der „intensivierten Feind-schaft“ von Gemeinschaften erklärt werden. Selbst rein individuell erscheinende Gewalt wie Massaker und Amokläufe sind in mancherlei Hinsicht durch den Ausschluss aus einer Gemeinschaft zu beschreiben. Ausgehend von diesen Überlegungen ist zu problematisieren, ob es eine weltweite Privatisierung von Krieg und Gewalt sowie der Politik gibt, oder aber ganz im Gegenteil eine Tendenz zu ihrer Vergemeinschaftung vorrangig zu beobachten ist.2

7 Widerstreit um Weltordnungsvorstellungen

Bereits unmittelbar nach dem Ende des Ost-West-Konflikts wurde auf Seiten der USA die Notwendigkeit einer neuen Weltordnung betont. Nicht von ungefähr sprach George H. Bush nach dem Niedergang der Sowjetunion von der Notwendigkeit der Etablierung einer neuen Weltordnung, wurde der Begriff der wilden Kriege des Westens zum Symbol der Eindämmung der Gewalt an den frontiers (Kaplan 1994). Spätestens mit der Verkündung der Nationalen Sicherheitsstrategie (NSS) von 2002 wurde deutlich, dass die USA hiermit ein Programm zur Herstellung einer neuen globalen Ordnung vorgestellt haben (The White House 2002). Neben der Betonung der Nutzung amerikanischer Macht und Vorherrschaft wird in der NSS aber hervorgehoben, dass die USA die Durchsetzung zahlreicher „nonne-gotiable demands of human dignity“ verfolgen werde:

„the rule of law; limits on the absolute power of the state; free speech; freedom of worship; equal justice; respect for women; religious and ethnic tolerance; and respect for private property“ (NSS 2002: 3).

Hieraus spricht die Überzeugung, dass in dem Augenblick, in dem Demokratie und Men-schenrechte über die Welt verbreitet werden, die Werte und die Interessen der freien Welt ein und dasselbe seien (Sharansky 2004). Bezüglich dieses Ideals bleibt jedoch die ent-scheidende Frage, wie seine Entwicklung gefördert werden kann: Wird sie weitgehend gewaltsam vorangetrieben und bleibt sie mit partikularen Interessen und Machtansprüchen der USA verbunden, dann wird eher das Gegenteil gefördert und weltweiter Widerstand auf den Plan gerufen. Die von nunmehr drei US-Administrationen seit dem Ende des Kalten

2 Siehe erste Ansätze hierzu in Bezug auf Krieg und Gewalt bei Herberg-Rothe 2006.

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Krieges verfolgte Politik einer „aggressiven Durchsetzung der Offenheit“ für Handel, Kapi-tal und Ideen hat bereits jetzt erheblichen Widerstand hervorgebracht (Bacevich 2002). In Zeiten des Übergangs sowie in Transformationsprozessen hat die Legitimität (nicht nur im klassischen Sinne von „erlaubt“ sein) von politischer Herrschaft wie von gesellschaftli-chen Ordnungssystemen oftmals eine größere Bedeutung als die Bewertung, inwieweit sie einem bestmöglichen, idealen System entsprechen oder nicht. Zwar sind Demokratisie-rungsprozesse auch ein Ausdruck von Widerstand gegen Ordnungen, die als ungerecht empfunden werden. Aber aus ihnen folgen nicht unmittelbar liberal-demokratische Staaten, wie sich insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg zeigte. Denn seine unmittelbare Folge waren zunächst weitreichende Demokratisierungsprozesse, die jedoch letztlich in einigen Fällen in Bürgerkriege und sogar in die Entwicklung der beiden Großtotalitarismen münde-ten. Entgegen der expliziten Intention werden die in der NSS hervorgehobenen Werte nicht nur in weiten Teilen der islamischen Welt, sondern etwa auch in Russland (Tsygankov 2004) und China (Gill 2005) als implizite Legitimation amerikanischer Vorherrschaft beg-riffen, während in den USA oftmals nicht verstanden wird, warum die eigene Politik nicht im Rahmen dieser Intentionen gesehen wird (Jäger 2004). Zum Teil wird das Spannungs-verhältnis zwischen der eigenen Machtausübung und der Verkündung von Freiheit und Menschenrechten sogar als Widerstreit unvereinbarer Gegensätze beschrieben (Daalder et al. 2002). Aus diesem Nicht-Verstehen folgt möglicherweise sogar ein Primat der militäri-schen Erzwingung des Wandels (Bacevich 2004). Eine mögliche Erklärung für dieses bei-derseitige Missverständnis kann darin liegen, dass auf Seiten der USA diese Konzeption im Rahmen der Entgegensetzung von Ordnung oder Anarchie verstanden wird (sodass sich die Frage nach dem Verhältnis zu anderen Ordnungsvorstellungen und Legitimationsmustern gar nicht zu stellen scheint), in Teilen der Welt jedoch als Angriff auf das jeweils eigene Ordnungssystem bzw. die Legitimität der eigenen Ordnung wahrgenommen wird.

Dieses Missverständnis auf Seiten der USA resultiert ideengeschichtlich aus der libe-ralen Reduzierung des Freiheitsbegriffs auf die Befreiung von Herrschaft und der Kant’schen Frage, ob Freiheit mehr ist als die „Unabhängigkeit von eines anderen nötigen-der Willkür“ (zit. nach Bartuschat 1999: 16). Dieses zunächst nur abstrakt erscheinende Problem entfaltet seine Dynamik unter dem Aspekt der „Umkehrung“ der Freiheit, dem Umschlag in „Terror der Freiheit“, wie sich bereits in der Französischen Revolution zeigte. Ähnlich argumentierte Jean-Francois Lyotard, der „Erfinder“ des Konzepts der Post-Moderne: Der enthusiastische Befreiungskampf der kolonialisierten Völker mündete in „junge reaktionäre Staaten“ (Herberg-Rothe 2005b; Lyotard 1987).

Hannah Arendt charakterisiert die Unterschiedlichkeit beider Begriffe von Freiheit vielleicht am deutlichsten mit der Befreiung von Herrschaft einerseits und der Freiheit im eigentlichen Sinne andererseits. In den Revolutionen der Neuzeit sei es immer um beides gegangen, um Befreiung und Freiheit. Dies sei auch notwendig gewesen, da die Befreiung die Voraussetzung der Freiheit sei. Die Schwierigkeit, zwischen beiden zu unterscheiden, bedeute jedoch nicht, dass man beide gleich setzen dürfe (Arendt 1991; 1963: 39). Arendt macht ihren Unterschied an Robbespieres „Despotie der Freiheit“ während der Französi-schen Revolution deutlich, der prinzipiell immer möglichen Umkehrung der Befreiung in eine neue Despotie im Namen der Freiheit. Die Befreiung ist zwar eine notwendige Vor-aussetzung jeder Freiheit, letztere erschöpft sich aber nicht in Befreiung – wird sie jedoch hierauf reduziert, kann sie in neue Formen der Herrschaft umschlagen. Die Verwandlung der Menschenrechte und der Freiheit in die Rechte und Freiheit der Sansculotten sei der

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Wendepunkt der Französischen Revolution gewesen, so Arendt (Arendt 1963: 75-76). Ana-log würde die Umkehrung der menschlichen Freiheit in die Freiheit der USA diese Werte nicht befördern, sondern im Gegenteil ihre Umsetzung nahezu unmöglich machen.

Im Gegensatz zu einem demokratischen Verfassungsstaat, der gleichermaßen auf den Grundrechten und auf dem staatlichen Gewaltmonopol beruht, ist ein liberales Imperium nahezu ein Widerspruch in sich. Denn dieses kann zwar im Idealfall individuelle Men-schenrechte, ökonomische Freiheit und Rechtssicherheit gewährleisten, ist jedoch zugleich mit einem unaufhebbaren Machtanspruch verbunden. Dieser Machtanspruch wird im Ge-gensatz zu einem demokratischen Verfassungsstaat nicht durch die Möglichkeit der Partizi-pation an der politischen Herrschaft sowie der Gestaltung der Ordnung begrenzt, sondern häufig gerade umgekehrt durch gewaltsamen Widerstand. Als historisches Beispiel für diese Problematik kann der gewaltsame Export des code civil durch Napoleon Bonaparte angesehen werden. Es stellt sich damit grundsätzlich die Frage, ob Macht und Freiheit bzw. Ordnung beliebig miteinander kombinierbar sind. Robert Kagan ordnet den Gegensatz von Macht- und Ordnungsdenken dem gegenwärtigen amerikanischen und europäischen Den-ken zu, räumt aber ein, dass dies historisch nicht immer so war (Kagan 2003). Lange Zeit war die Situation gerade umgekehrt, wie er betont. Die Amerikaner bis hin zu Woodrow Wilson Anfang des letzten Jahrhunderts seien einem Ordnungsdenken und einem weltpoli-tischen Idealismus der Verbreitung der Menschenrechte verhaftet gewesen, während die Europäer bis zum Zweiten Weltkrieg reinem Machtdenken verpflichtet blieben. Erstaunlich ist, warum Kagan dann die Frage außer Acht lässt, zu welchem Schluss dieses „reine Machtdenken“ bei den Europäern geführt hat: zu den Katastrophen des Ersten und Zweiten Weltkrieges. Eine rein dichotomische Bestimmung des Verhältnisses von Macht und Ord-nung ist der Komplexität ihres Zusammenhangs nicht angemessen.

8 Die Abfolge von Ordnungssystemen

Die große Bedeutung und unterschiedliche Stabilität von sozialen Ordnungen hob Max Weber hervor: Soziales Handeln und insbesondere eine soziale Beziehung könne an der Vorstellung vom Bestehen einer Ordnung orientiert werden. Eine rein aus zweckrationalen Motiven eingehaltene Ordnung sei im Allgemeinen weit labiler als eine durch „Sitte, infol-ge der Eingelebtheit eines Verhaltens, erfolgende Orientierung an dieser“. Eine solche Ord-nung sei aber noch weit labiler als „eine mit dem Prestige der Vorbildlichkeit oder Verbind-lichkeit, wir wollen sagen: der ‚Legitimität‘, auftretende“ (Weber 1921: 55). Weber unter-schied bezüglich der Ordnung zwischen Konvention und Recht: ‚Konvention‘ liegt dem-nach vor, wenn „ihre Geltung äußerlich garantiert ist durch die Chance, bei Abweichung innerhalb eines angebbaren Menschenkreises auf eine (relativ) allgemeine und praktisch fühlbare Missbilligung zu stoßen“. „Recht“ soll nach Weber eine Ordnung heißen, wenn sie äußerlich garantiert ist durch die „Chance des (physischen oder psychischen) Zwanges durch ein auf Erzwingung der Innehaltung oder Ahndung der Verletzung gerichtetes Han-deln eines eigens darauf eingestellten Stabes von Menschen“ (Weber 1921: 58). Obwohl solche Konventionen ebenso wie das Recht auf globaler Ebene umstritten und teilweise nur in Ansätzen entwickelt sind (Völkerrecht und UN-Konventionen), bilden sie zusammen mit den Ordnungsvorstellungen von Groß- und Regionalmächten sowie dem Handeln von transnationalen zivilgesellschaftlichen Akteuren das Grundgerüst, den Rahmen der meisten Legitimitätsvorstellungen.

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Fast könnte man Webers Zuordnung unterschiedlicher Grade der Stabilität von Ordnungen, die sich auf Interessen, Sitten oder Legitimität stützen, mit der Entwicklung des Kriegsge-schehens in Teilen der Welt synchronisieren. Nach dem Zusammenbruch des weltumspan-nenden Ordnungssystems des Kalten Krieges konzentrierten sich die Konflikte zunächst um den Gegensatz von Ordnung und Nicht-Ordnung (symbolisiert durch Begriffe wie u.a. „privatisierte Gewalt“ und low-intensity-conflicts), spätestens mit dem Sieg der Taliban in Afghanistan jedoch um unterschiedliche Ordnungsvorstellungen. Standen nach dem Zu-sammenbruch der Sowjetunion zunächst Kriege im Vordergrund, die auf private Bereiche-rung und Interessenverfolgung abzielten, so wurden sie danach langsam abgelöst durch solche, in denen es vorwiegend um kleinteilige Staatsbildungen von nationalen Minderhei-ten ging – bis solche Ziele schließlich durch andere Ordnungsvorstellungen, wie etwa „Is-lamismus“, verdrängt wurden. Samuel Huntington hatte mit seiner Hervorhebung von kul-turellen bzw. „zivilisatorischen“ Konflikten letztlich den Widerstreit unterschiedlicher Ordnungsvorstellungen im Blick gehabt und einen wesentlichen Aspekt der gegenwärtigen Entwicklung gekennzeichnet (Huntington 1996). Er hat diese Konflikte jedoch zu mecha-nisch an bestehende „Kulturkreise“ gebunden und dabei ignoriert, dass sich solche Konflik-te auch innerhalb von Kulturen abspielen (Senghaas 1998). Ungeachtet dieser notwendigen Kritik an Huntington darf nicht übersehen werden, dass zahlreiche Konflikte solche um eine Weltordnung sind und nicht unmittelbar ökonomischen Interessen entsprechen müs-sen.

Trotz ihrer häufigen Verwendung sind die Begriffe der Weltordnung bzw. des Welt-ordnungskrieges nahezu Un-Begriffe, weil sie einerseits im öffentlichen und wissenschaft-lichen Diskurs wie selbstverständlich verwendet werden, jedoch andererseits zumeist keine gesonderte inhaltliche oder aber sehr einseitige Bestimmung aufweisen. Insbesondere der Begriff „Weltordnung“ wird gleichermaßen von Kritikern wie Anhängern der USA bzw. der Globalisierung als höchst einseitige Weltordnung der USA, des Kapitalismus und des amerikanischen Empires interpretiert (Kurz 2002; Sauermann 2002; Hardt/Negri 2001). Dabei ist dieser Begriff wie kaum ein anderer dazu geeignet, aufgrund seiner Doppelfunkti-on als deskriptiver wie normativer Begriff zu einer Selbstbindung der jeweiligen Ord-nungsmächte an eine „gerechte Ordnung“ zu führen.

Dieses Spannungsverhältnis ist als semantisch-pragmatische Differenz zu beschreiben. Diese besteht darin, dass die explizite Bedeutung einer Kategorie nicht alles das ausdrückt, was für ihre Bedeutung immer schon präsupponiert, vorausgesetzt wird. Zur Explikation einer Bedeutung muss ein ganzer Apparat logischer Kategorien und Prinzipien vorausge-setzt werden. Diese Spannung zwischen dem expliziten Gehalt und den impliziten Voraus-setzungen nötigt zur Einführung von immer neuen Kategorien, durch die dieser „pragmati-sche Bedeutungsüberhang“ (Wandschneider 1997: 116) sukzessiv weiter expliziert wird. Dieser grundlegende „Trieb“, das Movens der Hegel’schen Dialektik, gilt insbesondere auch für den Begriff der Ordnung. Zwar gibt es zahlreiche Verbindungen von Gewalt und Ordnung, von Macht und Ordnung – zugleich führt der semantische Überhang des Ord-nungsbegriffs zum unaufhebbaren Widerstreit von Ordnung und Gewalt, zum Movens der Entwicklung von neuen Ordnungsmodellen (Lyotard 1987).

Besonders deutlich tritt dieser Wandel in der Entwicklung Russlands und Indiens zu-tage. Wurde nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein allgemeiner Bürgerkrieg be-fürchtet, ist Russland inzwischen auf die Weltbühne zurückgekehrt. Auch Indien schien kurz davor zu stehen, ein failed state zu werden und auseinander zu brechen. Auch hiervon

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kann trotz der Anschläge von Mubai (2008) keine Rede mehr sein und Indien ist inzwi-schen wieder eine Großmacht geworden. Insgesamt fünf Groß- bzw. Weltmächte kämpfen um die „Ordnung der Welt“, um machtpolitischen, ökonomischen Einfluss, verfolgen weltweit ihre eigenen Interessen in der Sicherung von Energiereserven und Absatzmärkten: Die USA, Russland, China, Indien und Europa (dessen Zersplittertheit seinen ökonomi-schen, ordnungs- und machtpolitischen Einfluss nur überdeckt). Hinzu kommen die Bemü-hungen des Iran, Saudi-Arabiens und Ägyptens, den Nahen Osten entsprechend der eigenen Vorstellungen zu ordnen. Die Auseinandersetzungen zwischen diesen Welt- und Groß-mächten sowie ihre gemeinsamen Aktionen zur „Ordnung der Welt“ werden die kommen-den Jahrzehnte dominieren, allerdings begleitet von einer Fortdauer „privatisierter Gewalt“ sowie dem Widerstand zahlreicher kleinerer Gemeinschaften, die um ihre Existenz und Identität kämpfen werden. Zwar hatte Huntington mit seiner These eines Zusammenstoßes der Zivilisationen weit überzogen – aber zumindest die in der europäischen Kolonialisie-rung untergegangenen Großreiche kehren als Welt- oder Großmächte zurück, wie Indien, Russland und China. Selbst im Falle des Iran ist die Anknüpfung an frühere islamische Großreiche offensichtlich. Diese Rückkehr der in der Kolonialisierung untergegangenen Reiche und Weltordnungen auf die Weltbühne in eine „Post-American World“ (Zakaria 2008), die keinen Abstieg der USA, sondern einen Aufstieg der „Anderen“ versinnbildlicht, setzt die Auseinandersetzungen um Ordnungen an die erste Stelle der Weltpolitik. Wenn es Sinn macht, Beispiele aus der Geschichte zu verwenden, um gegenwärtige Entwicklungen besser zu verstehen, dann steht eher ein neues langes 19. Jahrhundert (in das Revolutionen und „privatisierte Gewalt“ eingebunden blieben) bevor, als die Rückkehr des Mittelalters in der Sicherheitspolitik. In nahezu allen diesen Fällen vermengen sich Fragen der politischen und sozialen Ordnung mit der Konkurrenz um Chancen der Akkumulation politischer und ökonomischer Machtmittel.

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Die Bedeutung des Militärs für die Großmächtepolitik1

Matthias Zimmer 1 Einleitung

Das Ende des Ost-West-Konfliktes hatte Hoffnungen genährt, die internationalen Bezie-hungen könnten sich nun von einem konfrontativen zu einem kooperativen System weiter entwickeln, bei dem auch die Rolle des Militärs neu definiert wird und sich Staaten als Handels- oder Marktstaaten verstehen (Staack 2000; Rosecrance 1987). Eng damit verbun-den waren die Vorstellungen eines „demokratischen Friedens“, also einer generellen Zivili-sierung internationaler Beziehungen durch Demokratisierung, weil Demokratien – so zu-mindest der Grundtenor dieser Position – untereinander keinen Krieg führen (Weart 1998). Dabei spielten die traditionellen Szenarien von Machtprojektion weniger eine Rolle als die Neukonzeptionierung der Rolle militärischer Macht zum Zwecke begrenzter Intervention oder internationaler Polizeiaufgaben bis hin zu der Vorstellung, dass sich Militär zum „Po-litär“ umwandeln lasse, also zu einer mit exekutiven Befugnissen versehenen außenpoliti-schen Ordnungspolizei (Vogt 1990). Die „neuen Kriege“ (Münkler 2002), bei denen es in der Tat weniger um Auseinandersetzungen zwischen Staaten als vielmehr um Reaktionen auf eine neue Form der Bedrohung mit zumeist asymmetrischer Struktur ging, haben diese Wahrnehmung eher noch verstärkt. Die Grundstruktur des internationalen Systems, näm-lich der Charakter als anarchisches Selbsthilfesystem und die daraus resultierenden Konse-quenzen für die Staaten, gerieten dabei analytisch (wie auch normativ) eher in den Hinter-grund. Ich dagegen will im Folgenden argumentieren, dass die asymmetrischen Kriege die Bedeutung staatlich verfasster Souveränität und die Bedeutung des Militärs eher gestärkt als geschwächt haben, dass diese zweitens die Struktur des internationalen Systems anfälli-ger für zwischenstaatliche militärische Auseinandersetzungen machen und dass drittens die Bedeutung des Militärs für die Großmächte und ihre das System strukturierende Funktion eher ansteigt als nachlässt.

Ich werde meine Argumente in vier Schritten vortragen. In einem ersten Schritt werde ich einige historische Erfahrungen erörtern, um die gegenwärtige Diskussion einordnen zu können. Ich will dabei zeigen, dass es gute normative und empirische Gründe gibt, nicht voreilig aus den Erfahrungen der vergangenen Jahre zu schließen, dass sich bestimmte Formen der Konfliktaustragung historisch erledigt haben. In einem zweiten Schritt setze ich mich mit der Frage auseinander, ob der (zwischenstaatliche) Krieg bzw. der Krieg der gro-ßen Mächte außer Mode geraten ist und werde Einwände gegen diese Sicht vorbringen. In einem dritten Schritt werden Kriegsszenarien erörtert, die meine Argumentation weiter stützen. In einem vierten Teil geht es um die Konsequenzen für die Rüstung und die Streit-kräftestruktur. Abschließend trage ich einige Folgerungen zu Militär, Großmächtepolitik und der Zukunft des internationalen Systems vor.

1 Ich danke Dr. Thomas Scheben für kritische Lektüre und weiterführende Anregungen.

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Matthias Zimmer 55

2 Zurück in die Zukunft? (Systemische) Lehren der Vergangenheit

2.1

Bürgerkriege, Zerfall von effektiver Herrschaft, Formen nichtstaatlicher Gewalt, religiöse Aufladung von Konflikten: All dies sind keine Phänomene des 21. Jahrhunderts, sondern solche, die dem souveränen Staat am Beginn der Neuzeit zum Durchbruch verholfen haben. Für die Konstituierung des neuzeitlichen Staates waren zwei miteinander verschränkte Entwicklungen maßgeblich. Zum einen wurde die Souveränität nach innen durchgesetzt. Der souveräne Staat entstand aus den Erfahrungen der Bürgerkriege in England und Frank-reich mit dem Anspruch, einzig legitime politische Gewalt ausüben zu können. Intermediä-re Gewalten wurden dabei ausgeschaltet. Damit verbunden war eine Absage an den univer-salen Anspruch der katholischen Kirche. Sie war im Kampf um die Macht im Staat der staatlichen Gewalt nun untergeordnet und konnte ihren Anspruch auf Universalität nur noch im Bereich der Ideen geltend machen. Darüber hinaus war in den Machtkämpfen der Staat als Instanz hervorgegangen, die auch verbindlich über Geltungsansprüche entscheiden konnte. Die Herrschaft des Leviathan ließ um des inneren Friedens willen nicht mehr zu, dass unterschiedliche Wahrheitsansprüche die Gemeinschaft des Zusammenlebens von innen her sprengten (Willms 1987: 180ff.).

Zweitens ging mit dem Monopol der Gewaltausübung im Inneren einher, dass sich die Staaten auch im Äußeren zunehmend als einzig legitime Instanzen der Gewaltausübung empfanden. Die Zurückdrängung privater Formen der Gewalt im internationalen System setzte eine Grundphilosophie um, nach der alle Formen von Gewalt im internationalen System auf staatliches Handeln zurückführbar sein mussten. Dies war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts erfolgt, nachdem Formen privater Gewalt lange Zeit noch im Verhältnis euro-päischer Staaten zu nichteuropäischen Staaten geduldet worden waren (Thomson 1994).

Diese Rückführung von Gewalt im internationalen System auf den Staat machte das System insgesamt kalkulierbarer, weil Staaten mit ähnlichen Handlungsrationalitäten auf-einander trafen. Die Monopolisierung der Gewalt im Staat auch in den äußeren Beziehun-gen war dabei ein Beitrag zur Einhegung des Krieges. Eine effektive Monopolisierung der Gewalt schaffte den Krieg nicht ab, machte aber die systemischen Bedingungen von Krieg und Frieden berechenbarer und staatliche Politik im internationalen System – angesichts einer begrenzten Anzahl legitimer Akteure – überschaubarer. Die heutigen Konfliktforma-tionen durch nichtstaatliche Akteure oder das Zusammenspiel von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren sind also eine Wiederkehr von Konfliktformen, die aus gutem Grund durch den souveränen Staat unterbunden worden waren.2 Vor allem die neuen Kommunika-tionstechnologien machen es ihnen möglich, sich im Windschatten der Globalisierung neue Wirkungsmöglichkeiten zu erschließen. Dadurch wird die Monopolisierung der Gewaltan-wendung durch Staaten im internationalen System unterlaufen. Die Handlungsrationalitäten werden vielfältiger und zum Teil auch weniger transparent. Dadurch steigen die Chancen für Fehlperzeptionen und damit für ungewollte neue Konfliktformationen auch zwischen den Staaten.

2 Das gilt nur dort, wo sich der souveräne Staat auch effektiv durchgesetzt hat. In Afrika und im Nahen Osten ist dies allerdings nur eingeschränkt der Fall gewesen, weshalb nichtstaatliche Akteure dort auch immer eine erhebli-che Rolle gespielt haben.

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2.2

Entscheidend für die Stabilität des internationalen Systems ist zunächst aber die Struktur des Systems, also die Machtverteilung. Das Militär spielt dabei eine wichtige Rolle. Es kann destabilisierend oder stabilisierend wirken. So war der Ausbruch des Ersten Weltkrie-ges weniger Resultat einer gewollten und auf die Kriegsführung abgestellten politischen Strategie, sondern ergab sich systemisch durch den „Kult der Offensive“ (Evera 1984) und die damit einhergehenden Handlungsrationalitäten sowie den vorhergehenden Krisen, die kumulativ eine Politik des Risikos begünstigten (Stevenson 1997). Es bedurfte lediglich eines Auslösers (ironischerweise eines Aktes nichtstaatlicher Gewalt durch einen serbi-schen Terroristen) um die verhängnisvolle „military doomsday machine“ (Kissinger 1994: 201) in Gang zu setzen.

Man mag sich darüber streiten, ob die Rüstungsanstrengungen der einzelnen Staaten oder die der Blöcke ausschlaggebend für die Kulmination der Spannungen im System ge-wesen sind. Wichtig ist aber der Hinweis darauf, dass jedes Mitglied der sich gegenüber stehenden Allianzen nicht nur in der Lage war, einen Krieg zu beginnen, sondern auch, seine Verbündeten mit in den Krieg zu zwingen. Das unterscheidet das multipolare System vor 1914 von dem bipolaren System nach 1945.

Im Krieg von 1914 zeigte sich schnell, dass die Kriegsvorbereitungen und die Szena-rien der tatsächlichen Kriegsführung deutlich voneinander abwichen. Die Kriegsbegeiste-rung war nicht zuletzt der allgemeinen Erwartung eines schnellen Sieges oder doch eines schnellen Endes der Auseinandersetzungen geschuldet; für die tatsächlichen Stellungskrie-ge waren die kriegsführenden Mächte in keiner Weise vorbereitet. Die großen Mächte auf dem Kontinent hatten beträchtliche Mannschaftsstärken aufgebaut, die im Konfliktfall eine schnelle Entscheidung herbeiführen sollten. Allerdings war der Erste Weltkrieg erstmals seit 1815 ein Krieg unter Beteiligung aller europäischen Großmächte. Die militärischen Planungen gingen eher von Kriegsbildern aus, wie sie ihrer eigenen Erfahrung (etwa dem Krieg 1870/71) entsprachen. Es zeigte sich aber schnell, dass sich alle Seiten auf den fal-schen Krieg vorbereitet hatten.

Das betraf vor allem Großbritannien, das für einen kontinentalen Krieg militärisch nicht gerüstet war und auf dem Feld der Heeresstärke sowie der Ausbildung des Heeres aufgrund seiner Sonderinteressen weder Bestandteil des allgemeinen Rüstungswettlaufes war, noch eine offensive Bedrohung für die Mittelmächte darstellte. Die britische Armee war nach den napoleonischen Kriegen bis 1914 im wesentlichen nur in drei zwischenstaat-liche kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt: in den Krimkrieg von 1853 bis 1856, in dem es um strategische Machtinteressen ebenso ging wie um die Integrität des Empires; in die Strafexpedition gegen China 1898-1899, und in die Auseinandersetzung mit der Bu-renrepublik 1899-1902, in der es um strategische und kommerzielle Interessen ging (Holsti 1991: 140ff.). Allerdings hat Großbritannien während dieser Zeit, bedingt auch durch histo-rische Vorbehalte, nur ein kleines professionelles Heer gestellt und bewusst auf die Mög-lichkeit verzichtet, die Truppen durch die Einführung einer Wehrpflicht zu ergänzen. Von der Anlage her war das britische Heer eine „koloniale Gendarmerietruppe“ (Bourne 2004: 886), die in den Kolonialkriegen durch einheimische Truppen ergänzt wurde. Für die Lan-desverteidigung selbst genügte eine kleine Armee mit Wach- und Polizeifunktion, die bei Bedarf weiter ausgebaut werden konnte. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg beteiligte sich Großbritannien zwar am Wettlauf in der Flottenrüstung, um gegenüber Deutschland

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auch weiterhin Überlegenheit demonstrieren zu können, blieb aber im Heereswesen deut-lich in der Gesamtzahl der Soldaten hinter den Kontinentalmächten zurück.

Für die kontinentalen europäischen Staaten ergab sich die militärische Verwicklung aus der Logik von Aufrüstung und offensiven strategischen Überlegungen; für Großbritan-nien stellte sich mit Eintritt in den Krieg hingegen die Frage, wie ein personeller Aufwuchs unter Kriegsbedingungen gewährleistet werden kann. Für einen großen Krieg war die Bri-tish Expeditionary Force weder personell, strategisch oder taktisch gerüstet und hat ihre Lektionen unter großen Verlusten als kriegsführende Armee lernen müssen. Die Struktur des britischen Militärs war einseitig auf die Erfordernisse der Intervention im Empire aus-gerichtet, für die es auch entsprechend ausgerüstet war und Erfahrungen mitbrachte; ein kontinentaler Krieg der großen Armeen lag vor 1914 weitgehend außerhalb der Vorstel-lungskraft.

Multipolarität ist anfällig für Instabilität, wenn die militärischen Strukturen offensiv angelegt sind. Überdies besteht die Gefahr, durch feste Allianzen in militärische Konflikte hineingezogen zu werden. Ein multipolares System kann durch von außen hereingetragene Konflikte gesprengt werden. Auch wenn für Großbritannien die militärischen Strukturen auf eine Machtprojektion in das Empire hinein ausgelegt waren, konnte es doch nicht die Verwicklung in einen Krieg verhindern, für den es nicht gerüstet war. Die anderen europäi-schen Staaten konnten wiederum den Krieg nicht begrenzen, für den sie grundsätzlich ge-rüstet und vorbereitet waren.

2.3

Im Kalten Krieg 1947-1990 ist es zu keiner direkten Auseinandersetzung zwischen den Blöcken gekommen, was vermutlich in der bipolaren Struktur des internationalen Systems stärker begründet war als in der gegenseitigen Abschreckung durch nukleare Waffen (Wag-ner 1993). Die militärischen Strukturen und Strategien waren stärker defensiv ausgerichtet; die „Teilung der Welt“ (Loth 1980) erfolgte unter weitgehendster Anerkennung gegenseiti-ger Einflusssphären und einem Verzicht auf destabilisierende Maßnahmen, die erhebliche nicht intendierte Konsequenzen hätten nach sich ziehen können. Das Militär diente der Aufrechterhaltung der Blockstabilität ebenso wie der Demarkation von Einflusssphären. Dort, wo diese Einflusssphären nicht deutlich abgegrenzt waren, kam es zu militärischen Auseinandersetzungen, die häufig den Charakter von Stellvertreterkriegen trugen (Grei-ner/Müller/Walter 2006). Beide Vormächte waren aber daran interessiert, eine horizontale Eskalation von Konflikten zu vermeiden. Militärische Auseinandersetzungen unter Ein-schluss von Großmächten ergaben sich entweder im Gefolge der Entkolonialisierung, aus Gründen der Blockstabilität (zu der auch die ideologische Homogenität innerhalb eines Blockes und damit die „richtige“ Zusammensetzung einer Regierung gehörte), aber in der Regel nicht, um Menschenrechte zu schützen oder Demokratie zu fördern (Holsti 1991: 274ff.). Im Gegenteil: Die Politik der Vereinigten Staaten legte etwa in Mittel- und Süd-amerika weniger Wert auf die effektive Durchsetzung von Menschenrechten als einer deut-lich antikommunistischen Haltung der Regime und suchte die Durchsetzung dieser Ziele auch mit militärischen Mitteln (Kuba 1961; Dominikanische Republik 1965; Grenada 1983).

Die nuklearen Vormächte beider Blocks, die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion, versuchten eine direkte Konfrontation zu vermeiden. Die großen Krisen unter direkter Be-teiligung beider Vormächte (Berlin 1948/49 und Kuba 1961) konnten ohne militärische

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Auseinandersetzungen zu einem Ende gebracht werden, weil sich beide Seiten weniger offensiv und risikofreudig verhielten als die Großmächte vor dem Ersten Weltkrieg. In den großen militärischen Auseinandersetzungen der Vormächte (Korea 1950-53, Vietnam 1965-1975 und Afghanistan 1979-1989) hat sich die jeweilis andere Vormacht nicht oder allenfalls verdeckt beteiligt. Auch hier war das Bemühen deutlich, eine horizontale Eskala-tion zu vermeiden. Insgesamt war also das bipolare System stabil, weil die beiden Vor-mächte ihre Einflusszonen stabilisierten und gegenseitig anerkannt haben, beide Vormächte an der Eindämmung bestehender Konflikte interessiert waren und eine direkte Konfrontati-on zu vermeiden suchten. Der Preis dafür war allerdings ein hohes Maß an Rüstungskosten und Ausgaben für militärische Infrastruktur, ein systemisch induziertes Wettrüsten zwi-schen den Blöcken, die weitgehende Unterdrückung von Demokratie und Menschenrechten zugunsten systemischer Stabilität und die zusätzliche Teilung der Welt in eine Zone des Friedens einerseits, in der die Bewahrung der systemischen Stabilität eine entscheidende Rolle spielte, und eine Zone der Unsicherheit, Unruhen und der kriegerischen Konflikte andererseits, die für die Stabilität des bipolaren Systems nicht entscheidend war.

Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts bestand die Hoffnung, eine „Friedensdividen-de“ ernten zu können (Braddon 2000); der Optimismus zu Beginn der neunziger Jahre konnte geschichtsphilosophisch begründet werden (Fukuyama 1992), sich in Szenarien der Ausbreitung der Zone des Friedens niederschlagen (Singer/Wildavsky 1996) oder die se-gensreichen Wirkungen internationaler Normen und Institutionen erörtern (Keohane/Martin 1995). Was ist von diesen Hoffnungen übrig geblieben?

3 Enttäuschte Hoffnungen: Die Beständigkeit des Kriegs

Die Vorstellung, dass Krieg in der industriellen und demokratisierten Gesellschaft zu einem Anachronismus geworden ist, hat schon vor dem Ersten Weltkrieg die Hoffnungen beflü-gelt. Krieg sei, so wurde argumentiert, nicht mehr rational und deshalb sei auch die Wahr-scheinlichkeit gering, dass in Europa große zwischenstaatliche militärische Konflikte aus-brechen werden (Angell 1912). Diese Tradition des außenpolitischen Denkens hat durch den Ersten Weltkrieg nur eine vorübergehende Eintrübung erfahren und spielte in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts noch eine prominente Rolle (Carr 1981). Ein zweites Argument weist darauf hin, dass für wirtschaftlich orientier-te Staaten (Handelsstaaten) sich Krieg nicht lohne, da Gewinne über den friedlichen Handel kostengünstiger zu realisieren seien.3 Schließlich wird ein Zusammenhang zwischen der Ordnungsidee von Staaten und ihrem außenpolitischen Verhalten dahingehend behauptet, dass Demokratien untereinander keinen Krieg führen. Dieses unter der Bezeichnung „de-mokratischer Frieden“ bekannt gewordene Theorem genießt in der Politikwissenschaft beinahe den Status eines politikwissenschaftlichen Gesetzes (Teusch/Kahl 2001). Gleich-wohl ist die Welt nicht in Demokratien unterteilt und auch der nahe liegende Gedanke, die Demokratisierung zu befördern, ist problematisch, weil gerade in einer Phase der Transition zu einer Demokratie die Bereitschaft zu steigen scheint, sich auf militärische Konflikte einzulassen (Mansfield/Snyder 1995). Schließlich lassen es die empirischen Befunde seit 1990 erforderlich erscheinen, sich stärker auf das Phänomen demokratischer Kriege zu

3 Eine kritische Betrachtungsweise findet sich bei Liberman 1996.

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konzentrieren, Kriege also, die demokratische Staaten seit dem Ende des Ost-West-Konflikts geführt haben. Welche Konfliktformationen sind nach 1990 möglich geworden?

Ein Krieg zwischen den großen Mächten ähnlich wie der Erste oder Zweite Weltkrieg, also eine militärische Auseinandersetzung, die sich über viele Jahre hinzieht, einen großen Teil der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ressourcen beansprucht und gegebenen-falls zu einer Neuverteilung von Ressourcen, Territorien und Machtanteilen im internatio-nalen System sowie tief greifenden Änderungen in der inneren Ordnungsstruktur der gro-ßen Mächte selbst führt, mag obsolet sein, aber er ist nicht unmöglich (Mandelbaum 1998). Unter den verbliebenen Großmächten (USA, Russland, Japan, China, Europa bzw. inner-halb Europas Deutschland, Großbritannien und Frankreich) zeichnen sich, zumindest au-genblicklich, keine dyadischen Konfliktformationen ab, die eine solche Auseinanderset-zung als möglich erscheinen ließen. Gleichwohl bleiben sie, wie schon argumentiert wor-den ist, natürlich denkbar, etwa im Verhältnis der Vereinigten Staaten zu China (Friedberg 2005) oder selbst im augenblicklich entspannten Verhältnis zwischen Russland und China (Lo 2004). Schließlich können sich auch Konfliktformationen aktualisieren, wenn sich Japan entscheidet, ein eigenes Atomwaffenprogramm aufzulegen – dies ist nach Lage der Dinge aber aus vielerlei Gründen derzeit eher unwahrscheinlich (Hughes 2007).

Ebenso kann man sich, wie es in der neorealistischen Theoriediskussion bisweilen an-geführt wird, durchaus Szenarien vorstellen, die eine Rückkehr von Konfliktformationen selbst nach Europa postulieren – wenn nämlich die Vereinigten Staaten sich aus Europa zurückziehen und Deutschland versuchen sollte, Nuklearmacht zu werden (Mearsheimer 1990). Solche Szenarien mögen zwar angesichts der derzeitigen politischen Diskurslage unwahrscheinlich sein und man mag auch darüber streiten, ob eine solche Entwicklung tatsächlich eine Konfliktintensität nach sich ziehen würde, die bis zum Rand einer militäri-schen Auseinandersetzung geht. Aber Mearsheimers Argument ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass sich selbst für einen europäischen „Musterschüler“ wie Deutschland die syste-mische Bedingtheit außenpolitischen Verhaltens keineswegs erledigt hat.

Die Vereinigten Staaten sind zwar als einzige Großmacht noch in der Lage, Macht global zu projizieren, haben jedoch den „unipolaren Moment“ (Krauthammer 1991) am Ende des Kalten Krieges nicht bewahren können.4 Ohnehin hatte die sich unmittelbar nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ergebende Struktur des internationalen Systems mehr mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu tun als mit amerikanischer Stärke. In diesem Zusammenhang darf sicherlich auch die wenige Jahre vor 1989 noch heftig geführte Dis-kussion über das Schwinden amerikanischer Hegemonie nicht vernachlässigt werden (Schlossstein 1989; Calleo 1987; Keohane 1984). Darüber hinaus mögen gerade die nach den Anschlägen des 11. September vorgenommenen militärischen Maßnahmen eine Rolle gespielt haben, die selbst bei den der Bush-Administration nahe stehenden Analytikern kritisch betrachtet werden (Fukuyama 2006) und zu einer Entfremdung in den transatlanti-schen Beziehungen geführt haben. Die Vereinigten Staaten können also nicht als globale Ordnungsmacht auftreten und sich dabei auf die rückhaltlose Unterstützung ihrer Verbün-deten verlassen, wenn es darum geht, internationale Ordnungspolitik zu betreiben. Mehr noch: Die unilaterale Politik vor allem nach der militärischen Operation gegen den Irak hat Strategien eines „soft balancing“ gegen die Vereinigten Staaten hervorgerufen, die sehr

4 Eine kritische Betrachtungsweise findet sich bei Layne 2006; 1993.

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wohl Ausgangspunkt für eine traditionell verstandene Gegenmachtbildung sein können (Pape 2005).

Die klassischen Themen der realistischen Schule – Machtverteilung im internationalen System, Staaten als zentrale Akteure, der Einfluss des Systems auf das Verhalten der Ak-teure – spielen also subkutan noch eine Rolle in der Analyse internationaler Politik nach 1990, aber Konfliktszenarien aufgrund ungleicher Machtverteilung, Allianzbildung, Hege-monialstreben einzelner Akteure oder ähnlicher klassischer Gründe für Konflikte scheinen eher unwahrscheinlich. Das bedeutet nicht, dass das internationale System stabil ist. Gerade in einem noch offenen Prozess der Machtverteilung, dem Vorhandensein nichtstaatlicher militärisch operierender Akteure und den Bedingungen der Globalisierung scheint das Sys-tem durch eine gewisse Volatilität geprägt. Deshalb erscheint es sinnvoll, einen Blick auf die kriegerischen Auseinandersetzungen nach 1990 zu werfen.

4 Back to the Present: Kriegsszenarien heute

Die bisherigen kriegerischen Auseinandersetzungen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hatten im Wesentlichen fünf Gründe:

a. Auseinanderbrechen der Ordnung des ehemaligen „Ostblocks“ mit den damit ein-hergehenden Sezessionskonflikten und ethnischen Konflikten (Jugoslawien; Zer-fall der Sowjetunion mit nachfolgenden Konflikten in Aserbaidschan, Georgien, Tadschikistan, Tschetschenien u.a.);

b. Zerfall von effektiver Staatlichkeit (z.B. Sudan, Tschad, Somalia, Kongo); c. Klassischer zwischenstaatlicher Konflikt (Irak/Kuwait 1990 mit anschließendem

Koalitionskrieg gegen den Irak; Krieg der NATO gegen Rest-Jugoslawien); d. Eskalation bereits vorhandener ungelöster Konflikte (Israel/Libanon 2006); e. Folge der Anschläge vom 11. September 2001 (Afghanistan, Irak).

An dieser Aufzählung fällt zunächst auf, dass systemische Gründe für das Auftreten militä-rischer Auseinandersetzungen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts keine entscheidende Rolle gespielt haben. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und der Kollaps des War-schauer Pakts haben zwar die Sezessionskonflikte ermöglicht, aber nicht verursacht. Eben-so wenig hat (bislang) die besondere Stellung der Vereinigten Staaten zu militärischen Konflikten geführt. Allerdings hat die Politik der Vereinigten Staaten etwa mit Blick auf die nordkoreanische und iranische Atompolitik zu einer Verschärfung von Konfliktlagen geführt, weil für beide Staaten mangels externer Koalitionsmöglichkeiten die Entwicklung eines Atomwaffenprogramms die einzige Alternative zu sein schien, einer für die innere Stabilität und die äußere Sicherheit als bedrohlich empfundenen Politik der USA entgegen-zuwirken. Dies begründet auch für die Vereinigten Staaten ein Sicherheitsdilemma t (Iken-berry 2002). Chinas Aufstieg zu einer Weltmacht hat bislang weder im Verhältnis zu den USA noch zu Russland zu Konflikten geführt. Die potentiellen Konfliktherde chinesischer Außenpolitik, Taiwan und Tibet, spielen in der internationalen Politik kaum eine Rolle.

Dort, wo die Großmächte nach 1990 in einen Krieg verwickelt waren, handelte es sich weniger um klassische zwischenstaatliche Konflikte, sondern häufiger um militärische Auseinandersetzungen zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren. Die USA haben nach den schnellen militärischen Erfolgen eines Regimewechsels im Irak und Afghanistan

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(ausgetragen als klassischer zwischenstaatlicher militärischer Konflikt) erheblich mehr Energie darauf verwenden müssen, sich mit nichtstaatlichen Akteuren (Clanführer, terroris-tische Netzwerke, organisierte Kriminalität) auseinander setzen zu müssen. Russland hatte weder in Georgien noch in Tschetschenien einen klassischen militärischen Gegner, sondern musste sich ebenfalls mit irregulären bewaffneten Kräften auseinander setzen. Deutschland, Frankreich und Großbritannien haben sich lediglich im Rahmen multilateraler Einsätze an militärischen Konflikten beteiligt, allerdings in erheblich höherem Maß als in den Jahren vor 1990.

Seit 1990 hat das Bewusstsein neuer Bedrohungen zunehmend an Gewicht gewonnen. Dies spiegelt sich etwa in der Tendenz wider, Bürgerkriege als Friedensbedrohungen wahr-zunehmen und durch die Vereinten Nationen auch als solche zu werten (Irak 1991; Somalia und Bosnien 1992; Ruanda und Haiti 1994). Eine zweite Quelle der Bedrohung für den Frieden ist der transnationale Terrorismus. Die Anschläge gegen amerikanische Einrichtun-gen in Riad 1995, Dharan 1996 und Daressalam und Nairobi 1998 haben schon vor dem 11. September 2001 die neue Form der Bedrohung deutlich gemacht. Sowohl für die neuen Bürgerkriege als auch den transnationalen Terrorismus spielt die Globalisierung als ermög-lichende Bedingung eine wichtige Rolle. Münkler spricht von den „Kanälen der Schatten-globalisierung“ (Münkler 2002: 21), die die Finanzierung von Bürgerkriegen und transnati-onalem Terrorismus ermöglichen. Dabei werden die Trennlinien von Bürgerkrieg, Terro-rismus, Staatsterror und Kriminalität zunehmend verwischt. Die Finanzierung von militäri-schen Konflikten nichtstaatlicher Akteure bedient sich selbst dort, wo die Auseinanderset-zungen mit veralteter Technologie geführt werden, der neuesten Möglichkeiten des globa-len Finanzsystems. Der Ort der Schattenökonomie ist dabei von dem Ort der Konfliktaus-tragung entkoppelt. Er bedarf aber gleichwohl eines Ortes, an dem er abgewickelt werden kann – Eigentum existiert nie virtuell, sondern ist immer an konkrete staatliche Rechtsga-rantien gebunden.

Systematisch lassen sich die Bedrohungen, die aus der „postnationalen Konstellation“ (Zangl/Zürn 2003: 149ff.) erwachsen, in zwei Kategorien aufteilen. Erstens: Neue Bürger-kriege, die aus einer Sezession oder einem Staatszerfall entstehen und häufig enge Bindun-gen zur organisierten transnationalen Kriminalität aufweisen, das Potential zu einer regio-nalen Destabilisierung aufweisen und in aller Regel mit erheblichen Menschenrechtsverlet-zungen einhergehen, die wiederum über die neuen Kommunikationstechnologien medial vermittelt werden. Zweitens: Transnationaler Terrorismus, der sich bewusst der neuen Kommunikationstechnologien bedient, enge Verbindungen zur organisierten Kriminalität aufweist und auf eine Änderung sowohl nationaler als auch internationaler Machtvereilung abzielt (Zangl/Zürn 2003: 182ff.). Schließlich werden die Sicherheitsbedrohungen ergänzt durch die Bedrohungen, die aus der Proliferation von Massenvernichtungswaffen entstehen, vor allem dann, wenn isolierte Staaten (Jäger 1996) solche Fähigkeiten anstreben und damit die regionale Stabilität gefährden. Eine solche Gefährdung der regionalen Stabilität kann, wie im Irak geschehen, zu einer militärischen Intervention mit Regimewechsel führen. Dieser erweiterte Sicherheitsbegriff, der aus einer neuartigen Bedrohungsanalyse hervor-geht, tritt neben die traditionell verstandene Sicherheit; das internationale System ist damit komplexer geworden und auch weniger übersichtlich. Damit verändert sich auch die Rolle des Militärs. War diese bis 1990 wesentlich definiert über die Fähigkeit, einen Angriff auf das eigene Territorium abzuhalten, so muss sich die Rolle des Militärs vor allem großer Mächte heute eben auch an der Fähigkeit messen lassen, in verschiedenen geographisch

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entfernten Brennpunkten Stabilität zu wahren bzw. wieder herzustellen und Sicherheit ge-genüber Bedrohungen zu garantieren, die in unterschiedlichen Regionen der Welt entste-hen. Das gilt vor allem dann, wenn sich die Entwicklung fortsetzt, die im Krieg gegen Af-ghanistan deutlich geworden ist. Dort war die Bedrohung durch einen transnational tätigen Terrorismus verstaatlicht worden, d.h. ein Staat wurde als Unterstützer für den Terrorismus in die Verantwortung genommen. Zuvor hatten die Vereinten Nationen mit der Resolution 1368 des Sicherheitsrates erstmals das von der UN-Charta verbürgte Selbstverteidigungs-recht mit dem Terrorismus in Verbindung gebracht und die Terroranschläge als Bedrohung für den internationalen Frieden und die Sicherheit bezeichnet. Die nachfolgende Interventi-on in Afghanistan und der Regimewechsel waren durch die Resolution des Sicherheitsrates gedeckt und damit ein Präzedenzfall geschaffen für das legitime Regieren gegen transnatio-nale Sicherheitsprobleme (Zangl/Zürn 2003: 245). Damit ist aber auch ein Rezept gegen die scheinbare Ortlosigkeit der neuen Sicherheitsbedrohungen gegeben: Sie müssen verstaat-licht werden, also diejenigen Staaten, von denen sie offen oder verdeckt ausgehen, zur Rechenschaft gezogen werden. So können die neuen Bedrohungen der postnationalen Konstellation partiell wieder in das Muster staatlicher Zurechnung von Gewalt im interna-tionalen System integriert werden. Dies gilt bis hin zu der Abwicklung von Finanztransak-tionen, die dem transnationalen Terrorismus zugute kommen. Auch sie haben, wie bereits festgestellt, einen realen Ort und finden eben nicht in der virtuellen Realität statt. Damit können sie im internationalen System als Handeln, dass einem staatlichen Ordnungsrahmen zugeordnet werden kann, auch Verantwortung und Zurechenbarkeit begründen. Die Ver-staatlichung von Sicherheitsbedrohungen begründet Verantwortlichkeiten; die Privatisie-rung von Gewalt hingegen führt zu einer Diffusion von Zurechenbarkeit.

Die Rückkehr privater Gewaltakteure in die internationale Politik ist gegenüber der einmal erreichten Monopolisierung der Gewalt im Staat ein Rückschritt; nur Staaten, die das Monopol legitimer Gewaltausübung auch effektiv durchsetzen, können als anerkannte Akteure in der internationalen Politik gelten. Sicherlich hat es Staatszerfall schon vor dem Ende des Ost-West-Konflikts gegeben, doch mit der Globalisierung erhalten die Folgen von Staatszerfall eine Dynamik, die die regionale Stabilität beeinflussen können. Erschwerend kommt hinzu, dass vor allem religiös-fundamentalistisch motivierte Akteure erheblich schwieriger zu kontrollieren und zu beeinflussen sind als Akteure, die in Kategorien inner-weltlicher Macht- und Ressourcenverteilung denken. Die Grundidee erfolgreicher Abschre-ckung sowohl von innerstaatlicher oder zwischenstaatlicher Gewalt beruht auf einem Rati-onalitätsdenken, das Kosten und Nutzen ohne Bezug zur Transzendenz in Rechnung stellt. Ist aber das eigene Überleben (individuell, aber auch kollektiv) bereits als vernachlässigba-re Größe in die Rechnung einbezogen, verlieren Abhaltungsstrategien innerweltlicher Rati-onalität an Erfolgsaussicht. Deshalb ist im Umgang mit solchen Akteuren weniger ein klas-sischer als ein „kultureller Realismus“ (Corn 2007: 19) gefragt.

Die neue Dimension der Globalisierung ist das Zusammenrücken von Räumen. Des-halb kann ein überzeugender Sicherheitsbegriff heute ebenfalls nur noch global interpretiert werden – sowohl hinsichtlich der globalen Wirkungen von Bedrohungen wie auch von globalen Auswirkungen von nichtmilitärischen Risiken. Das Weißbuch des Bundesministe-riums der Verteidigung von 2006 führt neben den traditionellen Aufgaben deutscher Si-cherheitspolitik, dem Schutz vor Gefährdungen und der Sicherung der Souveränität, als weitere Aufgaben an:

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� Vorbeugung regionaler Krisen, die Deutschlands Sicherheit beeinträchtigen kön-nen, sowie Beitrag zur Konfliktbewältigung;

� Bekämpfung globaler Herausforderungen, vor allem durch den internationalen Terrorismus und die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen;

� Stärkung der Menschenrechte und der internationalen Ordnung auf Basis des Völ-kerrechts;

� Förderung des freien und ungehinderten Welthandels (Bundesministerium der Verteidigung 2006: 9).

Aus all diesen Interessen lassen sich militärische Aufträge ableiten, und zwar ohne geogra-phische Einschränkungen; entscheidend ist die Möglichkeit, dass die Interessen der Bun-desrepublik beeinträchtigt werden können, darunter auch die Handelsmöglichkeiten. Das lässt auch einen militärischen Einsatz zur Sicherung der Rohstoffversorgung oder der Transportwege grundsätzlich in den Bereich des Möglichen rücken. Der Quadrennial De-fense Review 2006 der Vereinigten Staaten sieht als Aufgabe des amerikanischen Militärs neben der Fähigkeit, traditionelle Kriege führen zu können, die Vorbereitung auf nichttradi-tionelle, asymmetrische Bedrohungen, die in drei Kategorien aufgeteilt werden:

� Irreguläre Kriegsführung, in der die gegnerischen Kräfte keine regulären staatli-chen Kombattanten sind;

� katastrophischer Terrorismus unter Benutzung von Massenvernichtungswaffen; � disruptive Bedrohungen („disruptive threats“), die sich gegen die Fähigkeit der

Vereinigten Staaten richten, ihre Macht zu projizieren und ihren qualitativen Machtvorsprung zu bewahren (United States Department of Defense 2006: 3).

Eine solche Grundausrichtung der Sicherheitspolitik lässt für militärische Aufgaben außer-halb der klassischen Landesverteidigung, also eines defensiven Krieges gegen einen ande-ren Staat, vier weitere Szenarien der Kriegsführung möglich werden:

1. Stabilisierende Kriege zur Abstützung von failed states und zur Verhinderung hu-manitärer Katastrophen. Solche Kriege zielen in der Regel auf eine interne Pazifi-zierung von Staaten und darauf, die Voraussetzungen für eine dauerhafte Stabilität des Regierens zu schaffen. Hierzu ist häufig eine Mischung aus Militär- und Poli-zeiaufgaben erforderlich.

2. Interventionistische Kriege zur Behebung einer humanitären Krisensituation oder einer Bedrohung der regionalen Stabilität; diese können den Charakter rein huma-nitärer Intervention tragen (also der Bereitstellung von Nahrungsmitteln, Medika-menten, Infrastruktur), können aber auch militärisch auf einen Regimewechsel o-der eine Änderung der Politik eines Regimes abzielen.

3. Präventive Kriege gegen Staaten, die Massenvernichtungswaffen erwerben, entwi-ckeln oder weiter verbreiten und dadurch die regionale oder systemische Stabilität gefährden.

4. Revozierende Kriege, die auf die Zurücknahme einer die Sicherheitsinteressen ei-nes Staates zielende Maßnahme eines anderen staatlichen oder nichtstaatlichen Akteurs zielen, beispielsweise die Sicherung von Energieversorgung, Transport-wegen und Rohstoffquellen.

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Der Krieg in Afghanistan ist als defensiver Krieg deklariert worden, hat aber durchaus in der öffentlichen Wahrnehmung den Charakter eines stabilisierenden und interventionisti-schen Krieges. Der Krieg im Irak ist als präventiver Krieg geführt worden, bekommt aber immer mehr den Charakter eines stabilisierenden Krieges. Daran wird deutlich, dass die einzelnen Kategorien nicht trennscharf sind, sondern ineinander übergehen. Vom Stand-punkt der Stabilität des internationalen Systems betrachtet sind die stabilisierenden und interventionistischen Kriege weitgehend unproblematisch, da sie zum einen der regionalen oder systemischen Stabilisierung insgesamt dienen und zum anderen in aller Regel entwe-der von internationalen Organisationen mandatiert oder multilateral durchgeführt werden. Schwieriger ist die Frage nach den Folgen präventiver Kriege für die Stabilität des interna-tionalen Systems zu beantworten. Seit die amerikanische Regierung im Frühjahr 2002 die Doktrin der Präemption verkündet hat, haben sich dieser – dem traditionellen völkerrechtli-chen Verständnis entgegen laufenden Doktrin – eine große Reihe von Staaten angeschlos-sen (Dombrowski/Payne 2006). Dies betrifft die so genannte „Koalition der Willigen“, aber auch andere, nicht an der Operation beteiligte Staaten wie Russland. Multinationale Organi-sationen wie die NATO sind, wie Michael Rühle schon 1994 beobachtet hat, aufgrund ihrer eher defensiven Natur und dem demokratischen Charakter ihrer Willensbildung nicht in der Lage, gemeinsam einen offensiven präventiven Schlag gegen eine Bedrohung zu führen (Rühle 1994). Angesichts einer jedoch zunehmenden Akzeptanz präventiver Kriege auch bei den Mitgliedsstaaten der NATO stellt sich deshalb für diese Institution die Frage, in-wieweit sie noch effektiv die Sicherheitspolitik ihrer Mitgliedsstaaten koordinieren kann und welche Folgen unilaterale präventive Aktionen ihrer Mitgliedsstaaten auf das instituti-onelle Gesamtgefüge der NATO haben (Yost 2007).

Die Kategorie revozierender Kriege kann in zwei Gruppen aufgeteilt werden: erstens in Kriege zur Rückgewinnung staatlicher Kontrollen gegenüber nichtstaatlichen Akteuren, die nicht unter die Kategorie der stabilisierenden Kriege fallen, und zweitens in solche zur Wiederherstellung des status quo ante gegenüber Maßnahmen anderer Staaten. Die Rück-gewinnung staatlicher Kontrolle gegenüber nichtstaatlichen Akteuren kann bedeuten, dass sich staatliche Souveränität gegen transnationalen Terrorismus durchsetzt oder gegen ande-re, die Souveränität eines Staates unterlaufende Maßnahmen, sie kann aber auch darauf gerichtet sein, internationale Seewege gegen Piraterie zu schützen oder die Infrastruktur von terroristischen Netzwerken in anderen Staaten (auch gegen deren Willen) oder außer-halb staatlicher Souveränität zu zerschlagen. Die Wiederherstellung des status quo antegegenüber anderen Staaten bezieht sich auf den Einsatz militärischer Mittel zum Schutz des Eigentums in Drittstaaten nach staatlicher Enteignung, zur Sicherheit von Energieversor-gung als Schutz gegen strategische Erpressungen oder zur Abwehr dauerhafter oder massi-ver grenzüberschreitender ökologischer Probleme. Sieht man von den militärischen Aktio-nen gegen Piraterie und dem Schutz des Eigentums gegenüber Enteignung durch Drittstaa-ten einmal ab, sind die aufgezeigten Szenarien bislang nicht aktuell; aber die mit den neuen Formen der Kriege und den neuen Definitionen von Sicherheitsinteressen einhergehenden Aufweichungen des allgemeinen Kriegsverbotes lassen diese Szenarien für die Zukunft plausibel erscheinen (Müller 1992).

Insgesamt also gerät das Kriegsverbot durch die Zunahme von „Kleinen Kriegen“ (Daase 1999) unter Druck. Die internationale Gemeinschaft scheint zudem die Erosion der normativen Grundlagen des Kriegsverbotes dort zu akzeptieren, wo Menschenrechte ge-fährdet sind oder eine nichtstaatliche Bedrohung durch transnationale Terrornetzwerke

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vorliegt. Dass die normative Aufladung der internationalen Politik das Kriegsverbot unter-läuft, mag man als einen ironischen Abgesang auf das Prinzip der Souveränität betrachten, dessen Kehrseite ja ein Interventionsverbot bildete. In jedem Fall scheint aber die Neigung vor allem in den Vereinigten Staaten nach dem 11. September 2001 zugenommen zu haben, internationale Beziehungen als einen Kampf zwischen Gut und Böse zu interpretieren und so internationale Politik geradezu endzeitlich aufzuladen (Devetak 2005). Beides, die Zu-nahme und Legitimierung „kleiner“ Kriege und die normative Aufladung von internationa-ler Politik können erhebliche Konsequenzen für die Stabilität des internationalen Systems insgesamt nach sich ziehen.

5 Rüsten – für welchen Krieg?

Für welchen Krieg müssen Großmächte mithin gerüstet sein? Welche Bedeutung spielt das Militär für die Großmachtpolitik? Zweifellos sind durch die Globalisierung die Räume zusammengerückt. Die Interessen von Großmächten sind global. Das gilt selbst für die Bundesrepublik, die mit dem Wort von Bundesverteidigungsminister Struck deutsche Inte-ressen am Hindukusch verteidigt. So scheint eine sinnvolle Definition von Großmacht die-jenige zu sein, die auf die Fähigkeit zur globalen Machtprojektion abstellt, unabhängig davon, ob diese unilateral oder multilateral erfolgt. Die Vereinigten Staaten besitzen diese Fähigkeit, daneben, wenn auch mit einigem Abstand, Frankreich, Großbritannien und Deutschland. China und die Sowjetunion besitzen diese Fähigkeit ebenso, haben diese aber bislang nur begrenzt und regional eingesetzt.

Es sind weniger die defensiven Kriege, die heute die Bedrohungsszenarien prägen, sondern die kleinen Kriege – und sie erfordern auch eine andere Streitkräftestruktur als zu Zeiten des Kalten Krieges. In den militärischen Strukturen der Großmächte sind die Mann-schaftsstärken nach 1990 deutlich reduziert worden, ebenso die konventionelle und atomare Bewaffnung. Das bedeutet aber nicht notwendigerweise, dass man für den „richtigen“ Krieg gerüstet war, ähnlich der britischen Erfahrung vor dem Ersten Weltkrieg. So urteilt ein amerikanischer Wissenschaftler und Politikberater:

„America was arming itself for the wrong kinds of war. The military bureaucracies were prepared to defend their Cold War-era programs to the last lobbyist, based on speculative peer competitors. (…) This perpetuates Cold War thinking and programs, and blithely assumes that interstate warfare remains conventional in nature, and that ir-regular warfare does not pose high costs or strategic defeat“ (Hoffman 2006: 411).

Der Hinweis auf die hohen Kosten von irregulärer Kriegsführung verweist auf einen weite-ren Punkt. Von Alexis de Tocqueville stammt die Einsicht, dass es Demokratien schwer finden, sowohl einen Krieg zu beginnen als auch zu beenden (Tocqueville 1963: 268). Die erste Aussage entspricht der Theorie des demokratischen Friedens, die zweite macht darauf aufmerksam, dass in Demokratien in besonderer Weise für den Krieg mobilisiert werden muss. Die notwendige innere geistige Mobilmachung erfordert eine Polarisierung, in der ein militärischer Gegner zum Feind erklärt wird; die Auseinandersetzung mit einem solchen Feind kann aber nicht nur rein nach Kriterien der Staatsräson beendet werden. Deshalb ist Kriegen, die unter Beteiligung demokratischer Staaten geführt werden, eine Dynamik der Instabilität eigen, die auf eine Eskalation drängt – die erbrachten Opfer müssen sich „loh-

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nen“. Demokratien führen Kriege selten als instrumentelle, aber häufig als existenzielle Kriege – auch dann, wenn die Existenz im eigentlichen Sinn gar nicht auf dem Spiel steht.

Für demokratische Großmächte bedeutet dies, dass von der Streitkräftestruktur die Fä-higkeit zum Aufwuchs und zur Eskalation gegeben sein muss – eine bloße Eingreiftruppe reicht nicht aus, zumal sie kaum die Fähigkeit hat, defensive Kriege gegen eine andere größere staatliche Macht zu führen. Eine solche Fähigkeit zum Aufwuchs ist darüber hinaus auch deshalb geboten, weil sich kleine Kriege zu zwischenstaatlichen Konflikten ausweiten können. Dies ist dann der Fall, wenn sich aus stabilisierenden, präventiven, interventionisti-schen oder revozierenden Kriegen Konflikte mit Drittstaaten ergeben, weil diese entweder in einem Klientelverhältnis mit einer oder mehreren Konfliktparteien stehen oder aber die strategischen Absichten der militärischen Intervention missdeuten und nun ihrerseits defen-sive oder präventive Maßnahmen ergreifen. Dieses Verhalten wird umso wahrscheinlicher, je mehr sich das internationale System multipolarisiert und je mehr die Großmächte China und Russland sich ihrer globalen Möglichkeiten der Machtprojektion bewusst werden und diese auch nutzen. Hier hat die Erfahrung der Großmächte vor dem Ersten Weltkrieg ge-zeigt, dass Multipolarität dann anfällig für Krisen ist, wenn Militärstrukturen offensiv ange-legt sind; fraglich erscheint hier lediglich, ob schon kleine, offensiv angelegte Interventi-onskräfte eine solche Stabilitätsbedrohung darstellen können.5 Wenn diese Frage bejaht wird, wächst die Möglichkeit einer systemisch induzierten militärischen Auseinanderset-zung, die weit über die kleinen Kriege hinausgeht.

Entscheidend für die Möglichkeit der Machtprojektion sind überdies die technologi-schen Fähigkeiten. Seit dem ersten Golfkrieg hat sich gezeigt, dass die Zukunft der Kriegs-führung darin liegt, kognitive Strukturen vom Menschen auf Maschinen zu übertragen (De Landa 1991). Dies gilt für klassische zwischenstaatliche Kriege und dort, wo es darum geht, präzise Schläge gegen Infrastruktur oder feindliche Truppen zu führen. Das beinhaltet aber auch die Möglichkeit, über neueste und weltraumgestützte Technologien Operationen und Militärschläge koordinieren und gezielt ausführen sowie die notwendigen Informatio-nen dazu sammeln zu können. Nach wie vor wird sich der Großmachtstatus militärisch nach der Möglichkeit definieren, ausreichende technologische Mittel und Infrastruktur im C3I-Bereich (Command, Control, Communication, Intelligence) bereitstellen zu können oder Zugang dazu zu haben. Die Diskussionen in den Vereinigten Staaten über eine „revo-lution in military affairs“ betonen vor allem die Bedeutung technologischer Fortschritte in Zusammenhang mit militärischer Organisation und neuer militärischer Ideen, etwa dem network-centric warfare. Das dadurch Kriege zwischenstaatlicher Art wieder geführt wer-den können, hängt nicht unwesentlich mit einer Erhöhung der Präzision von Waffen bei gleichzeitiger Entleerung des Schlachtfelds zusammen (Bourke 1999: 6). Die Fähigkeit zur Machtprojektion beruht stark auf den technologischen Fähigkeiten der Kriegsführung im weitesten Sinn – und damit auch der Fähigkeit, entscheidende Schläge gegen eine gleichar-tige Infrastruktur eines staatlichen Gegners führen zu können. Gleichwohl ist die Fähigkeit, einen „virtuellen Krieg“ (Ignatieff 2000) führen zu können, kein Garant für einen militäri-schen Erfolg in den kleinen Kriegen. Gerade die Erfahrungen im Irak und Afghanistan zeigen, dass zur erfolgreichen Beendigung einer militärischen Auseinandersetzung ein erhebliches Maß an Bodentruppen notwendig werden kann, die vornehmlich polizeiliche Aufgaben wahrnehmen. Gerade dann, wenn es um die Einhegung der Effekte von Globali-

5 Zumindest wird man davon ausgehen können, dass die Truppenpräsenz der USA im Irak (knapp 150.000 als Höchststand) die Dimension einer Interventionstruppe schon deutlich überstiegen hat.

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sierung – also etwa um die transnationale Vernetzung von Kriegesschauplätzen und organi-sierter Kriminalität – geht, bleibt es von zentraler Bedeutung, militärische Einsätze mit polizeilichen Maßnahmen außerhalb des Kriegsschauplatzes zu koppeln. Nur so lassen sich die Kanäle der Schattenglobalisierung auch wirksam bekämpfen.

6 Folgerungen

Charles Tilly hat einmal formuliert, dass Kriege es gewesen seien, die das System der Staa-ten hervorgebracht haben (Tilly 1992: 76). Dieses System der souveränen Staaten nahm seinen Ausgangspunkt zu Ende des 30jährigen Krieges. Staaten sind heute dort, wo sie demokratisch strukturiert sind, Garanten einer effektiven Menschenrechtsordnung. Sie sind aber auch Garanten einer Friedensordnung, wenn und soweit es um die Abwehr und den Schutz vor nichtstaatlicher Gewalt geht. Deswegen scheint eine Bekämpfung aller Quellen nichtstaatlicher Gewalt eine Voraussetzung für die weitere Effektivität der Staatenordnung insgesamt, sowohl nach innen wie auch gegenüber transnational tätigen Netzwerken (Zim-mer 2008).

Bei der Durchsetzung des Monopolanspruchs des Staates muss allerdings in Rechnung gestellt werden, dass die so genannten kleinen Kriege eben auch Folgewirkungen für das Verhältnis der Staaten untereinander haben können. Anders formuliert: Die kleinen Kriege können selbst dort, wo sie explizit zur Stabilisierung der regionalen oder überregionalen Sicherheit begonnen werden, das Potential haben, Krisen im internationalen System selbst zu induzieren. Wenn sich Großmächte heute mit ihren technologischen Mitteln und ihrer Fähigkeit zur Machtprojektion auf kleine Kriege einlassen, sollten sie das im Wissen dar-über tun, dass reguläre zwischenstaatliche Kriege keineswegs ausgestorben sind und das dies nach wie vor Folgen für die Streitkräftestruktur und die militärische Infrastruktur ha-ben muss. Ob zwischenstaatliche Kriege zwischen Großmächten noch eine Option sind, wird wesentlich davon abhängen, wie die Struktur des internationalen Systems ausgestaltet wird, und nach welchen inneren Ordnungsprinzipien die Großmächte gestaltet sind. Je stärker multipolar das internationale System angelegt ist, desto anfälliger kann es für sys-temische Krisen dann werden, wenn nicht alle Großmächte demokratisch strukturiert sind. Und umgekehrt gilt: Sind die Großmächte demokratisch strukturiert, sinkt die Wahrschein-lichkeit einer militärischen Auseinandersetzung zwischen ihnen nach der Theorie des de-mokratischen Friedens. Dies könnte einen Anreiz bieten, neben der Eindämmung nicht-staatlicher Gewalt dafür Sorge zu tragen, dass Großmächte demokratisch strukturiert sind oder zumindest zu der Kategorie „wohlgeordneter Völker“ (Rawls 2002) gehören und da-mit hinsichtlich der Entscheidung, Krieg zu führen, ähnliche Hürden zu überwinden haben wie demokratische Staaten. Gleichwohl: Eine Garantie auf einen ewigen Frieden wird auch damit nicht gegeben sein.

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Ein wirksames Instrument für die Zukunft? – Die ESVP als europäischer Kriseninterventionsmechanismus Matthias Vogl/Jan-David Blaese 1 Einführung

Die rasante Entwicklung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik in den letzten Jahren erscheint aus heutiger Perspektive erstaunlich, weil sie nur von wenigen Fachleuten so erwartet worden war. Für diese Skepsis im Hinblick auf eine gemeinsame Sicherheitspolitik in Europa gab es zwei maßgebliche Gründe. Zum einen erschien es un-wahrscheinlich, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union den politischen Willen aufbringen würden, in diesem sensiblen Feld Teile ihrer eigenen Souveränität abzugeben oder enger miteinander zu kooperieren. Zum anderen war es lange Zeit undenkbar, neben der NATO eine weitere teilweise unabhängige militärische Organisation zu errichten.1

Angesichts der mittlerweile 20 Einsätze, die im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik durchgeführt wurden und werden, sowie des umfassenden Unter-baus, der in den vergangenen acht Jahren aufgebaut worden ist, ist davon auszugehen, dass sich eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik auch in Zukunft nur in diesem Rahmen weiterentwickeln wird. Diese Feststellung impliziert aber nicht zwangsläufig, dass die Antworten Europas auf die neuen Herausforderungen auch effektiv sind. Vor diesem Hintergrund soll in diesem Artikel geprüft werden, ob die ESVP als Kri-seninterventionsmechanismus für die „Kriege der Zukunft“ gewappnet ist.

Der Charakter der gegenwärtigen und zukünftigen Bedrohungen, an dem sich auch die ESVP orientieren muss, kann vereinfacht unter dem Begriff der Asymmetrie zusammenge-fasst werden. Obwohl der rein territoriale Staatenkonflikt mit der Auseinandersetzung zwi-schen Georgien und Russland kürzlich eine unerwartete Renaissance erlebt hat, hat sich in der EU doch insgesamt ein Sicherheitsbegriff durchgesetzt, der von subtileren Bedrohungs-szenarien ausgeht. Der klassische Krieg zweier regulärer Armeen ist insgesamt unwahr-scheinlicher geworden, was sich auch in der Europäischen Sicherheitsstrategie widerspie-gelt, auf welche später noch eingegangen wird. Dennoch haben die jüngsten Ereignisse gezeigt, dass man solche Szenarien aus europäischer Sicht nicht völlig außer Acht lassen darf (Keohane/Valasek 2008: 2).

Unter dieses rein konfliktbezogene Verständnis von Asymmetrie als einem Gegenüber prinzipiell ungleicher Parteien während einer Auseinandersetzung, auf dem die Mehrzahl der aktuellen Konfliktszenarien beruht, fallen auch die so genannten low-intensity-conflicts (Münkler 2002), welche meist in Folge von zerfallenen oder zerfallenden Staaten oder auch im Rahmen von Regionalkonflikten auftreten. Daneben kann Asymmetrie aber auch als machtpolitisches Ungleichgewicht der EU gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika

1 Neben der NATO existierte zwar schon seit 1954 die WEU als paralleles europäisches Bündnis. Dieses hatte jedoch keine maßgebliche Bedeutung für die Fragen der europäischen Sicherheitspolitik.

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verstanden werden. Diese Asymmetrie ist im Gegensatz zu anderen Konflikten nicht als Bedrohung sondern mehr als Handlungshemmnis für Europa zu verstehen. Solange die amerikanische militärische Stärke und ihr Einfluss Ihresgleichen suchen, so lange ist auch Europas Staatenwelt in diesem Bereich immer zu einem Teil abhängig von seinem engsten Verbündeten. Da auch die Vereinigten Staaten auf Dauer nicht die Fähigkeit besitzen, alle Konflikte auf aus eigener Kraft zu regeln, wäre es für beide Seiten vorteilhafter, würde die EU ihre militärische Asymmetrie gegenüber den Vereinigten Staaten nicht noch weiter verfestigen, sondern im Gegenteil verringern. Gleichzeitig könnten die USA den genuin europäischen Gedanken eines zivil-militärischen Krisenmanagements stärker verinnerli-chen. Nur dann können die Lasten zwischen Amerikanern und Europäern in Zukunft ge-rechter verteilt werden.

Ob die ESVP ein wirksames Instrument europäischer Kriseninterventionspolitik wer-den kann, hängt also davon ab, wie die Union diesen Herausforderungen begegnen will. Dies schließt die Frage nach dem „Wo“, dem „Wie“ und dem „Wann“ europäischer Aus-landseinsätze ein. Auch nach den Lehren, die aus der Handlungsunfähigkeit während der Balkankriege gezogen wurden, treten durch äußere und innere Einflussfaktoren immer wieder Mängel und Fehler auf. Dadurch wird der sicherheitspolitische Entwicklungsprozess Europas verlangsamt. In den vier nachfolgenden Kapiteln sollen daher diese Mängel her-ausgefiltert und mögliche Empfehlungen gegeben werden, um Europa handlungsfähiger zu machen.

Zunächst ist zu klären, auf welches Konfliktmuster die ESVP ursprünglich zugeschnit-ten wurde und ob sich dieses im Laufe der Jahre verändert hat. Was ist für Europa eine Krise, was eine Bedrohung? Ein erster Schritt zur Beantwortung dieser Fragen ist die Euro-päische Sicherheitsstrategie (ESS) aus dem Jahr 2003. Die Autoren gelangen jedoch zu der Erkenntnis, dass die ESS erst den Anfangspunkt einer sich entwickelnden strategischen Kultur Europas bildet und somit nicht ausreichen wird (Rat der Europäischen Union 2003). Des Weiteren ist aber unklar, ob die politischen und die militärischen Erfordernisse im Hinblick auf die neuen Aufgaben überhaupt geschaffen werden können. Dazu ist die Besei-tigung enormer, sowohl struktureller als auch materieller Fähigkeitslücken notwendig. Die Bestandsaufnahme der heutigen ESVP soll Aufschluss darüber geben, wo und wie sich die Europäische Union auch in Zukunft engagieren kann. Die Erfahrungen aus den laufenden Missionen und nicht zuletzt auch das zwiespältige Verhältnis zur NATO müssen in diese Bewertung mit einbezogen werden.

Die Europäische Union formuliert einen globalen Anspruch. Sie wird sich deshalb in Zukunft vor allem an der Qualität ihrer Sicherheits- und Verteidigungspolitik messen lassen müssen. Vielerlei gute Absichten sind dabei jedoch bisher immer noch Lippenbekenntnisse geblieben und wandeln sich nur sehr langsam (Erhart 2005a: 99). Die EU muss aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Wenn Probleme früh genug erkannt und effektiv bear-beitet werden, sinkt die Gefahr, nach schnellen Lösungen suchen zu müssen und eventuell den zweiten Schritt vor dem ersten zu gehen.

2 Praxis statt Theorie: Die Gründungsphase der ESVP

2.1 Anlass und Ursache für eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik

Für die Gründung der ESVP war entscheidend, dass 1998/99 zum ersten Mal zentrale Mit-gliedstaaten der EU bereit waren, die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, welche

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1992 im Vertrag von Maastricht als zweite Säule verankert worden war, um eine sicher-heitspolitische Komponente zu erweitern. Nach dem Ende des Kalten Krieges hatten sich die Sicherheitsinteressen zunächst von der übergeordneten Bündnispolitik innerhalb der NATO entfernt. Stattdessen fokussierten sich die Staaten stärker auf ihre jeweiligen natio-nalstaatlichen Interessen. Die Kriege auf dem Balkan, ab 1992 in Bosnien und dann 1998 im Kosovo, hielten den Europäern jedoch vor Augen, dass sie unfähig waren, die Probleme in geographisch und kulturell nahen Räumen eigenständig zu lösen und schafften damit das Klima für Veränderungen (Haine 2007b).

Das einzige europäische Militärbündnis in diesem Zeitraum war die WEU. Dieses hat jedoch zu keiner Zeit die Fähigkeit und auch nicht die politische Bedeutung bei den Mit-gliedstaaten besessen, um eine aktivere Rolle zu spielen. Im Jahr 1954 entstanden, blieb die WEU Zeit ihrer Existenz ein passives Bündnis, welches sich in keiner Weise einer gemein-samen strategischen Planung widmete. Ihre Bedeutung lag eher in den gegenseitigen Bei-standsverpflichtungen der Mitglieder. Aus diesem Grund ist die WEU auch nicht aufgelöst, sondern durch den Vertrag von Amsterdam 1997 in die EU inkorporiert worden. Dennoch bestehen für die Mitglieder der WEU bis heute grundsätzliche Beistandsverpflichtungen fort, die es so in der EU nicht gibt.

Unter diesen Voraussetzungen einer gleichzeitigen strukturellen und strategischen mi-litärischen Rückständigkeit Europas gegenüber den USA wandelte Großbritannien, das zuvor eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik kontinuierlich abgelehnt hatte, seine Einstellung. Dadurch wurden dringend benötigte politische Spiel-räume geschaffen. Konkret war es das französisch-britische Gipfeltreffen 1998, auf dem die Briten ihre ablehnende Haltung zu Gunsten einer kooperativeren Politik aufgaben. Der Wert dieses Sinneswandels für den anschließenden Etablierungsprozess der ESVP ist als sehr hoch einzuschätzen (Dietl 1999: 79). Staatspräsident Chirac und Premierminister Blair beschlossen beim französisch-britischen Gipfel in St. Malo am 3.-4. Dezember 1998, dass in Europa „militärische Kapazitäten geschaffen werden sollten, um eigenständig auf inter-nationale Krisen reagieren zu können“ (Gemeinsame Erklärung des französisch-britischen Gipfels 1998). Dieser Gedanke wurde im folgenden Jahr in der Abschlusserklärung des Europäischen Rates in Köln von den EU-Mitgliedern mit der Gründung der ESVP aufge-griffen (Europäischer Rat 1999). Zehn Jahre nach St. Malo trafen sich Briten und Franzosen im Jahr 2008 erneut, um ihre zentrale Rolle in der europäischen Sicherheitspolitik zu beto-nen. Die Gipfel sind jedoch aufgrund der mittlerweile etablierten ESVP in ihrer Bedeutung nicht zu vergleichen. Nur vor dem Hintergrund dieser günstigen Interessenkonstellation, einer Überfrachtung der EU mit wirtschaftlichen Themen und einer dringenden politischen Handlungsnotwendigkeit auf dem Balkan konnte der erste Schritt zur ESVP gelingen.

2.2 Erste Mängel

Trotz dieses „Befreiungsschlages“ haftete der Europäischen Sicherheits- und Verteidi-gungspolitik aber ein Geburtsfehler an. Der Aufbau von militärischen und später zivilen Kapazitäten wurde vorangetrieben, bevor es eine Strategie und einen Planungsprozess zum Einsatz dieser Mittel gab. Diese verdrehte Reihenfolge hat dazu geführt, dass die ESVP bis zur Verabschiedung der Europäischen Sicherheitsstrategie 2003 in elementaren Teilen unvollständig blieb. Bereits vier Jahre zuvor, auf dem Europäischen Rat in Helsinki 1999, war die Schaffung einer European Rapid Reaction Force beschlossen und ein militärisches

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Headline Goal vereinbart worden (Meiers 2005: 119-138). Danach sollte die EU bis 2003 in der Lage sein, 60.000 Soldaten innerhalb von 60 Tagen für ein Jahr in einen Einsatz schicken zu können (Loinger 2006: 75). Dabei ist es das Ziel dieser schnellen Eingreiftrup-pe, das gesamte Spektrum der 1992 von den Mitgliedern der WEU formulierten „Peters-berg-Aufgaben“ abzudecken. Darunter fallen humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben und Kampfeinsätze zur Krisenbewältigung. Diese Aufgaben-stellung wurde durch den Vertrag von Amsterdam 1997 vom WEU- in den EU-Kontext überführt und somit auch Bestandteil der ESVP (Gehler 2006: 60). Die Europäische Si-cherheits- und Verteidigungspolitik hatte damit zwar ein grobes Aufgabenspektrum und Fähigkeitsprofil erhalten, eine Analyse der Bedrohungslage und eine daraus folgende kon-krete Ziel-Mittel-Definition blieben jedoch vorerst aus. Während sich die machtpolitische Asymmetrie gegenüber den Vereinigten Staaten weiterhin verstärkte, wurde die Herausfor-derung durch asymmetrische Konfliktfelder zu jener Zeit nur begrenzt als maßgebliche Bedrohung wahrgenommen. Seit dem Balkan-Konflikt befand sich Europa in einem Rei-fungsprozess hinsichtlich seiner offiziellen Bedrohungsperzeption, welche erst mit dem 11. September 2001 und dann mit der Europäischen Sicherheitsstrategie 2003 seinen vorläufi-gen Höhepunkt erreichte. Eine Zielvorstellung der ESVP existierte folglich nur in sehr vager Form. Strategische und konzeptionelle Fragen wurden zunächst zu Gunsten eines pragmatischen Kräfteaufbaus zurückgestellt, obwohl dieser Prozess durchaus hätte parallel ablaufen können (Seidelmann 2002: 113).

3 Die Entwicklung der ESVP als 4-Ebenen-Spiel

3.1 Politisch-institutioneller Rahmen

In der Folgezeit, also von 1999 bis zum Jahr 2002/2003, war man darauf fokussiert, die politisch-institutionellen und militärischen Rahmenbedingungen der ESVP mit Leben zu füllen. Dies war hauptsächlich eine Frage des politischen Willens. Es begann eine Phase der kontinuierlichen und auch weitgehend konstruktiven Zusammenarbeit zwischen den Mit-gliedstaaten. Gleichzeitig traten jedoch immer wieder Probleme auf, die ihren Ursprung in der weiterhin bestehenden Unklarheit über die künftigen Herausforderungen der europäi-schen Sicherheitspolitik fanden. Durch den Vertrag von Nizza erhielt die ESVP 2001 zu-nächst eine vertragliche Basis.2 Auf politischer Ebene implizierte dieser Schritt zwar ein Mehr an Legitimität, nicht jedoch eine sofortige Handlungsfähigkeit der EU. Ganz im Ge-genteil: Alle Entscheidungen von sicherheitspolitischer Wichtigkeit müssen bis heute nach diesem Vertrag einstimmig getroffen werden. Auch die Möglichkeit einer verstärkten fle-xiblen Integration, im zivilen wie auch im militärischen Bereich, wurde noch nicht in Be-tracht gezogen (Jopp et al. 2002: 230-237). Der politische Wille zur Fortentwicklung der ESVP fand also seine Grenze in der Abgabe von nationalstaatlicher Souveränität zu Guns-ten von qualifizierten Mehrheitsentscheidungen oder gar der Kompetenzübertragung auf die supranationale Ebene. Ebenso litt der Kräfteaufbau unter einer Diskrepanz zwischen An-spruch und Wirklichkeit. Die Effektivität der ESVP als Krisenreaktionsmechanismus wurde dadurch behindert. Wenn auch in den letzten Jahren die Operationen im Rahmen der ESVP weitgehend im Konsens beschlossen werden konnten, war doch in politisch kontroversen Situationen, wie dem Irak-Krieg, nichts von einer gemeinsamen europäischen Sicherheits-

2 Der Text des Vertrags von Nizza findet sich bei EUR-LEX 2008.

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politik zu spüren. Obwohl die EU prinzipiell in der Lage wäre, gemeinsame Herausforde-rungen zu meistern, hängt der Erfolg doch letztendlich immer am seidenen Faden der Ein-stimmigkeit, welche seit der Osterweiterung 2004 in Zukunft noch weit schwieriger zu erreichen sein wird. Neben der rein materiellen und strategischen Rückständigkeit wird die machtpolitische Asymmetrie gegenüber den USA durch diese politische Schwäche weiter verstärkt und auch das Abschreckungspotential gegenüber Bedrohungen geschwächt. Die ESVP ist innerhalb der GASP auch und vor allem als Instrument mit einem hohen politi-schen Druckpotential zu sehen, welches allerdings bis heute nicht genügend genutzt wird. Eine Kriseninterventionspolitik von globaler Bedeutung ist unter diesen Bedingungen schwer zu leisten. Sie führt auf Dauer in eine Glaubwürdigkeitsfalle (Giegerich 2005: 102).

3.2 Instrumenteller Rahmen

Anders, aber nicht weniger kompliziert, gestalten sich die Voraussetzungen auf der zweiten Strukturebene, die aus politischen bzw. militärischen strategischen Instrumenten besteht. Zu diesen gehören ein Politisches und Sicherheitspolitisches Komitee (PSK), ein EU-Militärausschuss (EUMC) und ein EU-Militärstab (EUMS). Die Organe wurden durch den Vertrag von Nizza geschaffen und fallen in die Kategorie der so genannten „brüsselisier-ten“ Elemente (Müller-Brandeck-Bocquet 2002: 12 ff.; Stützle 2001: 67-86). Das PSK, bestehend entweder aus den Politischen Direktoren der Außenministerien oder den ständi-gen Vertretern der Mitgliedstaaten, befasst sich mit allen Fragen, die die gemeinsame Au-ßen- und Sicherheitspolitik einschließlich der ESVP betreffen. Außerdem übernimmt es im Krisenfall die politische Kontrolle und Einsatzleitung. Das PSK ist die letzte Ebene unter dem Rat der Außenminister und deshalb von enormer Wichtigkeit und Einfluss. Der EUMC berät das PSK in Fragen des Krisenmanagements und der militärischen Fähigkeiten. Er setzt sich aus den Generalstabschefs oder deren hochrangigen Vertretern zusammen. Der EUMS dagegen ist kein Gremium, sondern eine eigenständige Arbeitseinheit. Er besteht aus etwa 130 ständigen Mitarbeitern, welche die Operations- und Übungsplanung durch-führen (Schmalz 2005: 48).

Die Gesamtheit dieser Instrumente ist für den reibungslosen Ablauf des eigentlichen Krisenreaktionsmechanismus der ESVP verantwortlich. Im Falle einer Konfliktsituation erstellen sie in Zusammenarbeit mit den Referaten 8 und 9 der Generaldirektion des Rats-sekretariats ein Krisenmanagementkonzept, welches Risikoanalysen, Lageberichte sowie eine Interessen- und Zieldefinition für die EU beinhaltet. Auf dieser Basis bilden sich dann die Einsatzoptionen heraus. Als größte Hürde für einen erfolgreichen Verlauf hat sich dabei die Zersplitterung von Kompetenzen herausgestellt. Abstimmungsprobleme bestehen so-wohl zwischen der Europäischen Kommission in der ersten Säule und den oben genannten Elementen der zweiten Säule als auch zwischen der militärischen und der zivilen Kompo-nente innerhalb der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Jede dieser Ebe-nen erhebt für sich einen Führungsanspruch (Erhart 2005c: 217-232). Die zivil-militärische Zelle, eingerichtet als politischer Kompromiss nach dem so genannten Pralinengipfel 2003, war der erste Versuch, die Harmonisierung der beiden Zweige innerhalb der zweiten Säule voranzutreiben. In der Zelle sind zudem auch zwei Beamten der EU-Kommission vertreten, die zur säulenübergreifenden Koordination beitragen (Brauss/Zinzius 2007). Die Zelle bildet eine sinnvolle Ergänzung, da ihr eine wichtige Rolle als Nukleus bei der integrierten Planung für gemischte ESVP-Operationen zukommt.

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Wenn sich Europa in Zukunft einem Krisenszenario stellen muss, wird die Handlungsfä-higkeit der Kräfte vor dem Einsatz, während des Einsatzes und auch in der Nachsorge da-von abhängen, ob der dargestellte Krisenreaktionsmechanismus auf allen Ebenen funktio-niert. Das entscheidende Ziel muss es deshalb sein, aus den bestehenden unterschiedlichen Kulturen eine dauerhafte „Kultur der Koordinierung“ zu entwickeln, bei der alle Kompo-nenten ausgeglichen berücksichtigt werden. Um insbesondere auch für asymmetrische Bedrohungen gewappnet zu sein, ist die gründliche Vorausplanung und Abstimmung zwi-schen politischer Vertretung sowie zivilen und militärischen Kräften für einen Erfolg aus-schlaggebend. Der Prozess einer kohärenteren Gestaltung der ESVP ist bis heute im Gange und gestaltet sich weiterhin schwierig.

Die Verschlankung und verbesserte Koordinierung innerhalb der ESVP kann als pro-bates Mittel angesehen werden, um die heutigen Mängel zu beseitigen. Dies geschieht unter anderem durch die Schaffung direkter Kommunikationswege, der Bündelung von Befug-nissen und der genauen Zuordnung und Abgrenzung von Aufgabenbereichen. Dies kann auch durch den Aufbau neuer Institutionen geschehen, wie jüngst im zivilen Bereich mit der „Civilian Planning and Conduct Capability“, durch die nun alle rein zivilen Einsätze geplant werden. Widerstände liegen hier weniger in den Mitgliedstaaten oder im politischen Bereich, als vielmehr in den einzelnen thematischen Sektoren. Obwohl dieses Problem in allen relevanten Kreisen der EU erkannt ist, muss in Zukunft weiter intensiv daran gearbei-tet werden, dass gewachsene und blockierende Positionen zueinander finden. Eine kohären-te Planung wird allein schon deswegen wichtiger, weil die heutigen Konfliktmuster immer komplizierter werden und einen umfassenden Ansatz (comprehensive approach) unter Einbezug vieler verschiedener Politikfelder und Instrumente, von der Wirtschafts- bis zur Innenpolitik, erfordern. Eine engere Abstimmung oder noch besser, eine Neuordnung der Kooperationsmechanismen wird von daher unumgänglich sein.

3.3 Militärischer Rahmen

Die militärischen und die zivilen Kapazitäten der Europäischen Sicherheits- und Verteidi-gungspolitik bilden die Basis einer erfolgreichen ESVP. Vereinfacht gesagt werden auf dieser Ebene die „Kriege der Zukunft“ ausgefochten. Deshalb ist es notwendig, im Rahmen der ESVP nötige Fähigkeiten zur erfolgreichen Durchführung von Einsätzen bereitzustel-len. Dies hat sich die Union seit 1999 zur langfristigen Aufgabe gemacht. Neben der politi-schen und strukturellen Machbarkeit ist also die militärische Durchführbarkeit als dritte von vier Ebenen der ESVP zu betrachten. Ebenso wie im politischen Bereich besteht auch hier die Gefährdung, in eine Glaubwürdigkeitsfalle zu tappen und den eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden zu können.

Obwohl das oben bereits erwähnte Headline Goal von Helsinki im Mai 2003 offiziell für erfüllt und die European Rapid Reaction Force mit 60.000 Soldaten für das gesamte Spektrum der Petersberg-Aufgaben für einsatzfähig erklärt worden ist, ist bisher nur ein Bruchteil der tatsächlich vorhandenen Defizitbereiche behoben worden (Loinger 2006: 75). Die Vorstellung, dass die Europäische Union tatsächlich wie geplant eine Mission in Korpsstärke, also ungefähr in der Größenordnung der ISAF in Afghanistan, und parallel noch eine kleinere Mission ausüben könnte, erscheint bis heute als sehr unwahrscheinlich (Lindstrom 2006).

Auf dem Europäischen Rat von Laeken 2001 wurde der European Capabilties Action Plan (EACP) verabschiedet, um das Helsinki Headline Goal zu erreichen. Dieser wird von

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der so genannten Headline Goal Task Force koordiniert, unter deren Aufsicht 20 Diskussi-onsforen die bestehenden Fähigkeitslücken, von der Luftbetankung bis hin zu unbemannten Flugkörpern, aufdecken und Handlungsanweisungen zu ihrer Beseitigung geben sollen. Da dieser Plan allerdings auf der freiwilligen Teilnahme der Mitgliedstaaten und einer dezen-tralen Organisation basiert, wurde der Prozess zur Überprüfung der Fähigkeitsanforderun-gen in der Folge weiter intensiviert. Bereits für Nizza vorgesehen, wurde erst im Jahr 2003 vom Europäischen Rat der Capability Development Mechanism eingeleitet. Dieser beinhal-tet einen Requirements Catalogue zur Auflistung der Kapazitätslücken, einen Force Cata-logue3 zur Abbildung der nationalen Beiträge und schließlich einen Progress Catalogue,der diese beiden Komponenten miteinander verbindet und Handlungsanweisungen gibt. Des Weiteren existieren mehrere so genannte Capabilities Improvement Charts, welche den Stand der Fortschritte halbjährlich wiedergeben. Der Prozess der Kräfteentwicklung ist mittlerweile auf die 2004 gegründete Europäische Verteidigungsagentur (EVA) übergegan-gen, die einen umfassenden Capabilities Development Process entworfen hat, der verschie-dene Fähigkeitslücken wie Lufttransport oder Kommunikation anspricht. Trotz all dieser Maßnahmen gibt es heute aber immer noch eine enttäuschende Vielzahl von Mängeln und Rückständen in den einzelnen Sektoren (Deutscher Bundestag 2007; Schmitt 2007). Die EVA leidet auch aktuell noch unter nationalen Sonderwegen im Hinblick auf Beschaffung und Kräfteplanung.

Vor demselben Hintergrund war bereits 2004 ein grundlegender Wandel eingeleitet worden. Hierbei wurde das rein quantitativ ausgerichtete Headline Goal von Helsinki durch das Headline Goal 2010 abgelöst, welches nun qualitative Maßstäbe setzt, die die EU bis zum Jahr 2010 erfüllen soll. Darunter fallen unter anderem die Bereitstellung eines gemein-samen Flugzeugträgers durch Frankreich und Großbritannien, eine generell bessere Kompa-tibilität der Streitkräfte der Mitgliedstaaten, Kriterien für Verlegfähigkeit und Ausbildung sowie die Etablierung eines European Airlift Command. Außerdem sollte ein Teil der EU-Battlegroups bis 2007 einsatzbereit sein (Lindstrom 2006), was auch erreicht werden konn-te. Gerade das letzte Vorhaben ist für die Handlungsfähigkeit der ESVP von großer Wich-tigkeit. Die durch Deutschland, Großbritannien und Frankreich angeregten Battlegroups könnten sich durch ihre Flexibilität zu einer maßgeblichen Einsatzform der ESVP für die Zukunft entwickeln (Schmalz 2005: 52; Zehetner 2007: 4). Dieses momentane Kernmodell einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik besteht aus 13 Kampfeinheiten zu je etwa 1.500 Soldaten. Jede dieser Kampfgruppen soll dabei innerhalb von fünf bis zehn Tagen nach einem vorangegangenen Entscheidungsprozess von maximal weiteren fünf Tagen einsatzbereit sein und Aufträge auf Basis eines UN-Mandats, wie beispielsweise die Trennung von Konfliktparteien, übernehmen können (Mölling 2007: 4-5).

Die Gesamtheit dieser militärischen Rahmenbedingungen weist einen zentralen Schwachpunkt auf. Es klafft eine Lücke zwischen möglichen Bedrohungsszenarien und den Fähigkeiten der EU, um diesen noch effektiver zu begegnen. Immer noch verhaftet in ei-nem nationalstaatlichen Denken, scheinen die Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht in der Lage oder aber nicht willens zu sein, ihre Defizite innerhalb eines überschauba-ren Zeitrahmens zu beheben. An eine völlige Opferung der Souveränität in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu Gunsten supranationaler Strukturen ist momentan erst Recht nicht zu denken. Bis zur Einführung des Headline Goal 2010 fehlten zudem die

3 Vgl. EU Council Secretariat 2006.

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zeitlichen und qualitativen Selbstverpflichtungen, die die EU-Mitglieder bei der Optimie-rung europäischer Streitkräftestrukturen unter Druck gesetzt hätten. Mängel wurden zwar analysiert und aufgelistet, der Grundsatzarbeit folgte die praktische Umsetzung aufgrund mangelnder Verbindlichkeit aber nur in einem sehr langsamen Tempo. Seit 2005 konnte wie bereits erwähnt keiner der 24 signifikanten Defizitbereiche entscheidend behoben wer-den. Als Beispiel sei der Oberbegriff ISTAR genannt, der für die Bereiche Intelligence,Surveillance, Target Acquisation und Reconnaissance steht. Hier konnte keines der gestar-teten Projekte bislang verwirklicht werden (Giegerich 2005: 106). Ohne eine konsequentere Implementierung der Vorgaben, besteht die Gefahr, den aktuellen Bedrohungsentwicklun-gen hinterherlaufen zu müssen.

Ein Erfolg versprechender und im Hinblick auf die finanzielle Situation in den Mit-gliedstaaten realistischer Ansatz zur Beseitigung der bestehenden Fehlentwicklungen kann daher für die Zukunft nur die Methode der partiellen militärischen Integration darstellen (Heise 2005). Die European Rapid Reaction Force des Helsinki Headline Goal war ur-sprünglich als multilateraler Pool mit 100.000 Soldaten, 400 Flugzeugen und 100 Schiffen konzipiert, existierte aber im Grunde nur auf dem Papier (Deutscher Bundestag 2007). Mittlerweile gibt es jedoch eine Anzahl von Initiativen, bei denen zwei oder mehrere Mit-gliedstaaten eine direkte Integration von Ressourcen anstreben. Einige dieser Projekte wer-den im Rahmen des Headline Goal 2010 umgesetzt. Sie zeichnen sich beispielsweise durch die Zusammenlegung von Streitkräften beziehungsweise Ressourcen mehrerer Länder in einem Verband aus. Diese Einsatzkräfte sind untereinander kompatibel und führen gemein-same Übungen und Einsätze durch. Eine andere Form der militärischen Integration ist zum Beispiel der Aufbau von gemeinsamen Planungskapazitäten.

Obwohl diese Methode ebenfalls durch die übergeordnete Zustimmung der nationalen Regierungen eingeschränkt ist, haben die bereits bestehenden Initiativen Beispielcharakter. Militärische Integration in Europa hat drei Vorteile: Sie ist auf Dauer finanziell günstiger für die Mitgliedstaaten, sie fördert den Zusammenhalt und die Vertrauensbildung innerhalb der Union und sie verbindet fähige Elemente der Streitkräftepools der Mitgliedstaaten und macht die ESVP dadurch für schwierigere und asymmetrische Bedrohungsszenarien einsatzfähig. Als Beispiel sind erneut die Battlegroups zu nennen, welche für innerstaatli-che Krisenszenarios, wie das Trennen von zwei Konfliktparteien auf Anforderung durch die Vereinten Nationen, ausgelegt sind. Antriebsmotor für den Aufbau dieser Einheiten waren die Erfahrungen aus der 2003 im Kongo durchgeführten Mission Artemis (European Insti-tute for Security Studies 2004).

Die Möglichkeiten, auf dem Feld der militärischen Integration voranzuschreiten, sind vielfältig. In Tschechien beispielsweise hat man spezielle Einheiten zur Bekämpfung che-mischer, biologischer, radiologischer und nuklearer Bedrohungen (CBRN) aufgebaut. In Deutschland verfügt man über ein spezielles Lazarettflugzeug mit Intensivbetreuung, wel-ches umfassend eingesetzt werden kann. Diese Beispiele fallen unter die Rubrik der so genannte Nischenfähigkeiten (Maulny/Liberti 2008: 9).

Die European Airlift Coordination Cell, welche 2001 in Eindhoven eingerichtet wur-de, trägt seit 2004 den Namen European Airlift Centre. Dieses Zentrum ist der Beginn eines umfassenden Pools zur Koordinierung der Lufttransportstreitkräfte in Europa (EU Council Secretariat 2007b; European Institute for Security Studies 2004). Zudem gibt es auch eine maritime Dimension der ESVP, welche in Zukunft stärker ausgebaut und auch integriert werden soll. Das Headline Goal 2010 und seine Nachfolger werden sich der strategischen

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Analyse und den daraus hervorgehenden Fähigkeitslücken anpassen müssen. Pooling und Rollenspezialisierung sind die Stichworte, welche auch weiterhin eine Vorrangstellung in der Diskussion um europäische Streitkräfte haben sollten. Dabei gibt es verschiedene Kon-zepte, die angewendet werden können (Maulny/Liberti 2008). Zwar werden diese Ansätze bereits ausprobiert (Heise 2005: 16 ff.), wirklich lohnenswert sind solche Maßnahmen je-doch nur dann, wenn dabei überflüssige Kapazitäten abgeschafft werden. Offenbar besteht dafür allerdings heute noch keine Vertrauensbasis zwischen den Mitgliedstaaten.

Der militärische Aspekt der ESVP stellt sich insgesamt zwiespältig dar. Die mittler-weile 27 Mitgliedstaaten sind geprägt von einer jahrzehntelangen eigenständigen und weit-gehend unterschiedlich geführten Verteidigungspolitik. Vor diesem Hintergrund erscheint es nahezu unmöglich, eine einheitliche Politik zu verfolgen. Auch wenn auf praktischer Ebene auf eine solche hingearbeitet wird, besteht sowohl vor einem Einsatz als auch bei einer Entscheidung über materielle Fortschritte immer eine Veto-Möglichkeit der nationa-len Regierungen im Rat. Trotzdem plädiert eine Studie des Centre of European Reform aus dem Jahr 2004 dafür, dass die EU in ihrer Kriseninterventionspolitik auf die eigenen Stär-ken bauen müsse. Sie dürfe sich dabei nicht von der Vorgehensweise der USA leiten lassen, sondern solle sich im praktischen Einsatz an den Erfahrungen der beiden militärisch am weitesten entwickelten Länder, Großbritannien und Frankreich, orientieren. Der ESVP wird ein weitaus höheres Potential für unkonventionelle und asymmetrische Einsätze sowie Fähigkeiten, die dazu notwendig sind, zugesprochen als den Vereinigten Staaten (Freedman 2004: 13-27). Dies gilt besonders auch für das Zusammenspiel von zivilen und militäri-schen Mitteln. Die Unterstützung der Bevölkerung ist bei Kriseneinsätzen von entscheiden-der Bedeutung. Die Europäer haben hier einige Vorteile, welche in dieser Hinsicht weiter-entwickelt werden sollten. Dazu gehören das Training interkultureller Sensibilität, die Fä-higkeit zur Zusammenarbeit mit der einheimischen Bevölkerung und natürlich ihre zivile Komponente. Diese Aspekte sind vor allem für die Phase der Stabilisierung und der Kri-sennachsorge wichtig. Zudem gibt es einige Weltregionen, in denen die EU aufgrund ver-schiedener Vorbelastungen der USA viel wahrscheinlicher zum Einsatz kommen und dort diese Fähigkeiten nutzen könnte.

Gleichzeitig ist aber für die direkte Krisenintervention auch die Weiterentwicklung und Beschaffung moderner Kommunikations-, Aufklärungs-, Waffen- und vor allem Schutzsysteme von Bedeutung. Obwohl ein kleiner Teil der Battlegroups im letzten Jahr seine Full Operational Capability erreicht und auch insgesamt in der ESVP auf mehr Ei-genständigkeit hingearbeitet wird, kann die EU momentan weder eine größere Peacekee-ping- noch eine komplexe Kriseninterventionsoperation ohne die Hilfe der NATO durch-führen. Eine militärisch robuste ESVP erscheint zwar für die Zukunft machbar. Dafür müs-sen allerdings zunächst die Fragen nach dem Umfang der Streitkräfte und nach dem Einsatzspektrum geklärt werden. Dies gestaltet sich jedoch als sehr zeitaufwendig. Der Lern- und Entwicklungsprozess ist davon abhängig, ob ein Großteil der Mitglieder, insbe-sondere der neuen Beitrittsländer, bereit sein wird, sich umfassend politisch und mit seinen jeweiligen Ressourcen zu integrieren.

Im Hinblick auf die militärische Komponente der ESVP wird abzuwarten sein, wie die französische Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2008, welche die ESVP zu einem ihrer Schwerpunkte gemacht hat, die Entwicklung voranbringen kann. Geplant sind unter anderem die stärkere Europäisierung des Rüstungsmarktes und die Verbesserung der Be-ziehungen der EU zur NATO (EurActiv 2008). Das neue White Book on Defense and Nati-

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onal Security vom Juli 2008 gibt ebenfalls einige Hinweise auf die französischen Vorha-ben. Zudem plädiert die sicherheitspolitische Think Tank-Landschaft schon seit längerer Zeit für eine eigenständigere und handlungsfähigere ESVP. Vorschläge beziehen sich dabei unter anderem auf verstärktes Pooling, eine gemeinsam organisierte Kräfteentwicklung sowie eine Modernisierung und Aufstockung der Kapazitäten, wofür wiederum eine Erhö-hung der Verteidigungsetats notwendig wäre.4

3.4 Zivile Komponente

Neben der militärischen ist jedoch auch die gleichrangige zivile Dimension der ESVP, wenn auch mit etwas Verzögerung, immer weiter ausgebaut worden. So gibt es entspre-chend zu dem militärischen auch ein ziviles Headline Goal. Dieses wurde auf den Gipfeln in Feira im Jahr 2000 und Göteborg im Jahr 2001 präzisiert. Die Staats- und Regierungs-chefs einigten sich in Feira darauf, bis 2003 5.000 Polizisten für EU-Einsätze bereitzustel-len. 1.000 von ihnen sollen dabei innerhalb von 30 Tagen in ein Missionsgebiet verlegt werden können. Im Juni 2001 einigten sich die EU-Mitglieder in Göteborg auf weitere zivile Maßnahmen. So sollen Pools von bis zu 200 Richtern, Staatsanwälten und Strafvoll-zugsbeamten, zusätzlichen Zivilverwaltungsexperten und Katastrophenteams bis hin zu einer Größenordnung von 2.000 Personen gebildet werden. Auch diese Kontingente sollen rasch verlegt werden können (Loinger 2006: 76). Diese Pools an zivilen Kräften sind zu-mindest offiziell schnell erreicht worden. Dennoch scheint das zivile Moment sowohl im Einsatz als auch in der Planung, personell und materiell, gegenüber dem militärischen un-terbewertet zu sein, wie in dem Bereich der Polizeikräfte deutlich wird (Rummel 2005: 19). Gleichzeitig aber steigt der Bedarf an zivilen Kräften bei Kriseneinsätzen weiter an. Um die nicht-militärische Dimension zu stärken, ist im Juni 2004 der Action Plan for Civilian Aspects of ESDP5 verabschiedet worden, der diese Seite der ESVP weiter voranbringen soll. Ebenfalls zur Stärkung der zivilen Dimension der ESVP ist auch ein Civilian Headline Goal 2008 aufgestellt worden (Kaim 2006: 20). Dieses soll beispielsweise Anforderungs-grenzen für die benötigte Ausrüstung an die EU-Mitglieder aufstellen. Auf der nachfolgen-den Civilian Capabilities Commitment Conference6 wurde unter anderem die Schaffung einer EU Gendarmerie Force (EGF) zwischen den Verteidigungsministern Frankreichs, Italiens, der Niederlande, Portugals und Spaniens vereinbart, welche ähnlich wie die Batt-legroups bisher noch nicht zum Einsatz kam. Außerdem wurden mittlerweile so genannte Crisis Response Teams und Rapid Deployable Police Units kreiert, die mehr Flexibilität und Kontakt zu den Behörden und Einwohnern im Einsatzland herstellen sollen. Der Ent-wicklungsprozess und die Ausdifferenzierung ist folglich weiter im Gange, es bleibt aber dringend notwendig, auch die zivile Flanke der ESVP zu stärken, da die Mehrzahl der ESVP-Einsätze bisher ziviler Natur waren. Weder die aktuellen Operationen noch die prognostizierten Herausforderungen werden in Zukunft eine grundsätzliche Trennung zwi-schen militärischen und zivilen Einsätzen erlauben, weswegen diese Dimension auf gar keinen Fall vernachlässigt werden darf. Vielmehr muss im Bereich der Planung und auch der Ausbildung eine gleichzeitige Intensivierung des zivilen und des integrierten Trainings

4 Für die einzelnen Vorschläge und ihre Begründungen vgl. Keohane/Valasek 2008, Witney 2008, Die Venusberg-Gruppe 2007 sowie Lindley-French/Franco 2004. 5 Eine Dokumentation des Plans findet sich beim European Council (2004). 6 Die Abschlusserklärungen der Konferenz finden sich bei der Commission of the European Union (2004).

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stattfinden und bis auf die untersten Ebenen getragen werden. Das 2006 auch aus diesem Grund gegründete Europäische Sicherheits- und Verteidigungskolleg hat seinen Fokus bisher zu sehr auf den militärischen Sektor gesetzt (Lieb 2007).

3.5 Die strategische Entwicklung

Mit der Verabschiedung der Europäischen Sicherheitsstrategie im Jahr 2003 haben die Europäische Union und insbesondere die Verantwortlichen für GASP und ESVP den Ver-such unternommen, den zuvor angesprochenen Geburtsfehler der strategischen Rückstän-digkeit zu beheben. Das Dokument „Ein sicheres Europa in einer besseren Welt“ wurde in zahlreichen Veröffentlichungen untersucht. Die Mehrheit der Analysen kommt dabei zu dem Urteil, dass die ESS zwar einen wichtigen Schritt im Selbstverständnis der Europäi-schen Union darstellt, aber in einigen Abschnitten noch zu unkonkret bleibt. Eine der wich-tigsten Passagen ist daher das Eingeständnis, dass die EU eine „Strategiekultur“ entwickeln müsse, um – wenn nötig – „jederzeit auch robust eingreifen zu können“ (Rat der Europäi-schen Union 2003: 11).

Zunächst erläutert die Sicherheitsstrategie die Herausforderungen für Europa in der heutigen Zeit: die Abhängigkeit von vernetzten Infrastrukturen, weltweite Konflikte, Armut und Krankheiten, sich verknappende Ressourcen sowie die Energieabhängigkeit. Es zeigt sich, dass hierbei keine ideologische oder rein militärische Bewertung vorgenommen wird. Stattdessen sind es soziale, ökologische und ökonomische Dimensionen, die in dieser Auf-listung dominieren. Anschließend werden in der ESS erstmals die Hauptbedrohungen Eu-ropas definiert, welche grundsätzlich alle einen asymmetrischen Charakter aufweisen. He-rausgehoben werden die Gefahren des internationalen Terrorismus sowie der Regionalkon-flikte und des Staatszerfalls. Dazu kommen die Bedrohungen durch die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, in dessen Zusammenhang natürlich insbesondere der Iran eine Rolle spielt, und die organisierte Kriminalität. Diese Bedrohungstypen können dabei in einem sich gegenseitig bedingenden Kontext gesehen werden. So kann der Zerfall eines Staates zur Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, zu einem Anstieg des inter-nationalen Terrorismus und einer vermehrten Kriminalität führen. Besonders auf diese Art von Szenarien, die wie in Afghanistan auch zum handfesten Krieg ausarten können, werden die Mechanismen der ESVP in Zukunft Anwendung finden.

In der vom PSK erarbeiteten ESVP-Dimension des Kampfes gegen den Terrorismus wird die Optimierung eines umfassenden Ansatzes zur Bekämpfung des Terrorismus be-tont. Die ESVP soll mit zivilen und militärischen Mitteln sowohl präventiv als auch reaktiv auf den Terrorismus antworten können. Die Betonung von Luft- oder Seeüberwachungs-operationen macht unter anderem deutlich, dass dem präventiven Element dabei die Priori-tät zukommt. Dennoch beinhaltet der Ansatz ebenso die Möglichkeit, schnell und effektiv auf einen Anschlag zu reagieren und, wenn nötig, anderen Mitgliedstaaten im Sinne der nach den Anschlägen von Madrid 2004 vorzeitig in Kraft getretenen „Solidaritätsklausel“ auch mit militärischen Mitteln helfen zu können. Die Weiterentwicklung der angestrebten Kapazitäten soll im Rahmen des Headline Goals 2010 fortgesetzt werden.7 Damit gewinnt

7 Vgl. European Union: Conceptual Framework on the European Security and Defence Policy (ESDP). Dimension of the Fight against Terrorism, online unter: http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cmsUpload/ESDPdimension.pdf (Zugriff 18.03.2007).

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der Kampf gegen den Terrorismus vor allem in seiner externen, aber auch in der internen Dimension, für Europa eine militärische Komponente.

Ähnliches gilt für den Umgang mit den weiteren in der ESS genannten Bedrohungen, nämlich den Regionalkonflikten und dem Zerfall von Staaten, mit denen die ESVP auf dem Balkan und im Kongo bereits Erfahrungen gemacht hat. In dieses Spektrum müssen auch die low-intensity-conflicts einbezogen werden, in denen bewährte Konfliktstrukturen aufge-hoben sind und die im Rahmen von Regionalkonflikten oder als Folge von Staatszerfall eine enorme Zerstörungskraft entfalten können. Diese Konflikte zeichnen sich vor allem durch ihre Unkalkulierbarkeit aus (Meyers 2004: 25-49). Der Bedrohungsbegriff wird in der ESS so ausgelegt, dass eine Antwort Europas nicht nur in der Wiederherstellung von Sicherheit durch den Einsatz militärischer und ziviler Mittel besteht, sondern dass Sicher-heit nachhaltig nur durch die Förderung von Demokratie und Menschenrechten garantiert werden kann. Diese Prinzipien sind auch als generelle Ziele der EU zu verstehen. In ihrer direkten Nachbarschaft soll dies durch den Aufbau eines Rings verantwortungsvoller Staa-ten und weltweit durch einen wirksamen Multilateralismus auf Basis der Vereinten Natio-nen durchgesetzt werden.

Die ESS bildet seit 2003 die theoretische Grundlage und Handlungsanleitung für die ESVP (Bailes 2005: 107 ff.). Die Zielrichtung für die Zukunft lautet mehr Aktivität und mehr eigene Handlungsfähigkeit. Dies zeigt auch das Bekenntnis zu der Dynamik der neu-en Konflikte und dazu, dass „die erste Verteidigungslinie oft im Ausland“ liegt (Rat der Europäischen Union 2003: 6). Ein Schwachpunkt der ESS besteht allerdings darin, dass sie sich gerade in Bezug auf ihre Bedrohungsanalyse im Gegensatz zur National Security Stra-tegy der USA nicht zur Möglichkeit eines preemptive strike äußert (Gareis 2005: 93). Es wird versäumt, die Bedrohungen und auch die Mittel zu deren Bekämpfung näher zu be-schreiben. Die Petersberg-Aufgaben, ob nun in ihrer ursprünglichen Form oder aber inklu-sive der Erweiterung durch den Vertrag von Lissabon8, geben heute zwar den groben Rah-men für Einsätze der ESVP vor. Sie gehören jedoch im Grunde allesamt zu military opera-tions other than war (United States Air Force 2000). Gleichzeitig definiert die ESS weitläu-fige Bedrohungsfelder, die in ihrem Ausmaß durchaus über die Petersberg-Aufgaben hi-nausgehen könnten. Käme es nunmehr zu einer Situation, in der ein robuster Militärschlag in Form eines preemptive strike beispielsweise zur Verhinderung eines Genozids gerecht-fertig erschiene, so fehlt der EU hierfür bis heute eine Handlungsanleitung. Eine solche Situation würde mit Sicherheit zu großen politischen Verwerfungen und Divergenzen unter den Mitgliedstaaten führen. Diese Problematik impliziert zugleich auch die Frage, ob die EU-Staaten gewillt sind, die Fähigkeiten der Union zu einer umfassenden Interventions-truppe, die einen solchen Militärschlag durchführen und sich auch in anderen ähnlichen Situationen behaupten könnte, auszubauen.

Der Handlungsbedarf im strategischen Bereich ist angesichts dieser Schwammigkeit noch lange nicht gedeckt, zumal innerhalb kurzer Zeit neue sicherheitspolitisch relevante Themenfelder wie Klimawandel, Energiepolitik und Rohstoffsicherung als primäre Hand-lungsfelder auf die Agenda getreten sind. Die Sicherheitsbedrohungen, welche durch den Klimawandel entstehen, sind erst kürzlich in einer Analyse vom Außenbeauftragten Solana

8 Unter Artikel 42, Abs. 1 des Vertrages von Lissabon werden die Petersberg-Aufgaben erweitert um: gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, militärische Beratung und Unterstützung von Drittstaaten, Maßnahmen der Konfliktverhütung und Maßnahmen der Konfliktnachsorge. Damit werden die Aufgaben hauptsächlich im soft spectrum ausgebaut.

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offiziell zur Kenntnis genommen worden (European High Representative/European Com-mission 2008). Die Bewältigung dieser Probleme fällt ganz eindeutig auch in das Aufga-benspektrum der ESVP und muss deshalb verstärkt in die Planung einbezogen werden. Ähnliches gilt auch für den Bereich Energieaußenpolitik. Eine mögliche ESVP-Mission im Kaukasus würde zumindest inoffiziell auch den Zweck erfüllen, die sichere Versorgung Europas mit Energie zu garantieren.

Eine Weiterentwicklung der ESS und auch eine Ergänzung durch speziellere, auf be-stimmte Themenbereiche und Regionen ausgelegte Strategien oder Kapitel muss den ESVP-Prozess vor diesem Hintergrund in Zukunft ständig begleiten.9 Während der laufen-den französischen Ratspräsidentschaft wird es gegen Ende 2008 ein Update der ESS geben, welches mit Sicherheit diese neuen Bedrohungen einbeziehen wird. Nicht zuletzt ist es notwendig, ein langfristiges sicherheitspolitisches Leitbild zu ermitteln. Ein Leitbild wäre ein Symbol für die Wirkung der EU nach außen und würde für das Selbstbild der Mitglie-der im Inneren stehen. Unter einem solchen „Motto“ würde die gesamte Außen-, Si-cherheits- und Verteidigungspolitik betrieben werden. Es gab hierfür bereits mehrere Vor-schläge, wovon die Anregung, Europa als Friedensmacht zu verstehen, am sinnvollsten erscheint. Sie resultiert aus der Tatsache, dass die EU nicht singulär als Militär- oder aber Zivilmacht charakterisiert werden kann (Erhart 2005a: 98-99). Leitbilder jedoch werden in Ihrem Wortlaut immer sehr allgemein gehalten. Deshalb muss ein strategischer Unterbau gerade im Hinblick auf seine Bedeutung für die praktische Ausgestaltung der europäischen Sicherheitspolitik bzw. die Ausfüllung eines die logische Konsequenz einer solchen Leit-bilddiskussion sein. Dazu gehört ebenfalls die Frage, welche Art von Sicherheit man garan-tieren möchte. Hier stehen sich vor allem das Konzept der territorialen oder staatlichen Sicherheit und die so genannte human security gegenüber (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung für Globale Umweltfragen 2007) Für eine zentrale Rolle der menschli-chen Sicherheit plädiert eine Studiengruppe aus dem Jahr 2004 (Members of Study Group on Europe´s Security Capabilities 2004). Die Diskussion über die Definition von Sicherheit in Europa ist allerdings damit noch lange nicht abgeschlossen, zumal durch eine Fokussie-rung auf human security der staatliche Souveränitätsbegriff sehr stark verwässert würde. Man müsste hier also nach einem Mittelweg suchen, der keines der beiden Konzepte zur unumstößlichen Doktrin erhebt.

Wenn die Fragen nach Bedrohung, Sicherheitsbegriff, Aufgabenspektrum und Instru-menten der ESVP oder – einfacher gesagt – nach dem „Wo“, dem „Wie“ und dem „Wann“ schon im Vorfeld eines Einsatzes analysiert werden, können schrittweise die Vorgaben für eine europäische Kriseninterventionspolitik sowie den Abwägungsprozess einfacher und damit die Gefahr eines fehlgeleiteten Handelns geringer werden. In diesem Kontext muss die EU ihr Bewusstsein dafür schärfen, dass ein militärischer Konflikt auch erhebliche negative Folgen für die EU, insbesondere für ihre Bevölkerung, hat.10 Gerade angesichts dieser Tatsache werden für die Einsätze der Zukunft erstens auch die Formulierung einer flexiblen, aber konkret abgesteckten Exit-Strategie und zweitens die Anwendung eines glaubhaften Medien- und Kommunikationskonzeptes einen sehr hohen Stellenwert be-kommen. Nur die wenigsten europäischen Bürger werden wissen, was die ESVP ist und

9 Ein Beispiel ist hier die „Strategie zur Terrorismusbekämpfung der Europäischen Union“ aus dem Jahr 2005. 10 Bisher sind noch keine Soldaten während eines EU-Einsatzes ums Leben gekommen.

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welche Operationen sie bisher bewältigt hat. Auch diese Dinge machen die Wirksamkeit eines Krisenreaktionsmechanismus im Ernstfall aus.

Neben der Politik der Mitgliedstaaten auf den vier Ebenen der ESVP hängt ein Gelin-gen des sicherheitspolitischen Entwicklungsprozesses der EU von der Möglichkeit ab, vor dem Hintergrund einer sich weiterentwickelnden ESVP mit dem atlantischen Bündnis der NATO eine strategische und praktische Partnerschaft zu Stande zu bringen.

4 Kernaspekte der heutigen ESVP: Bestandsaufnahme und Probleme

4.1 EU-NATO-Kooperation

Ein eigener „European way of war“ wird oft mit einem parallelen Ende der NATO gleich-gesetzt (Centre for European Reform 2004). Diese Vorstellung erscheint jedoch unter den gegebenen Umständen mehr als unwahrscheinlich. Vielmehr geht es im Verhältnis der beiden Organisationen um die Frage, wie eine konstruktive Zusammenarbeit gelingen kann. Die ehemalige amerikanische Außenministerin Madeleine Albright hat beim 50-jährigen Jubiläum der NATO 1998 die so genannten drei D´s für die Zukunft der NATO festgelegt, „no diminution, no discrimination, no duplication“ (USIS 1998). Diese Vorgabe gilt auch heute noch und verdeutlicht, dass die NATO weiterhin das wichtigste Forum für si-cherheits- und verteidigungspolitische Angelegenheiten bleibt.11 Gleichzeitig drückt die Betonung dieser drei Faktoren aber auch die Befürchtung aus, dass sich diese Tatsache innerhalb relativ kurzer Zeit ändern könnte. Die Beziehungen von NATO und EU spielen sich im Grunde auf drei Stufen ab.12 Unter-schieden wird zwischen einer politischen Ebene, einer strategischen Ebene und einer prak-tischen Ebene. Ähnlich wie innerhalb der EU bergen die politischen Beziehungen das meis-te Konfliktpotential. In diesem Zusammenhang ist zu konstatieren, dass es eine garantierte politische Sicherheit für eine wirkungsvolle Zusammenarbeit im Ernstfall nicht geben kann. Dieses Problem war sowohl in der NATO als auch in der EU im Falle des Irak-Krieges zu beobachten und ist vor allem durch die Überlegenheit amerikanischer Ressourcen sowie die daraus resultierende machtpolitische Asymmetrie bedingt, die den USA große Einfluss-möglichkeiten eröffnet. Bessere Chancen für eine fruchtbare Kooperation bieten sich dage-gen auf strategischer und praktischer Ebene an. Die NATO hat ihr Strategisches Konzept (SK) von 1999 durch das Prague Capabilities Commitment 2002 und nochmals auf dem Gipfel in Istanbul 2004 weiterentwickelt (NATO 1999; NATO 2002; NATO 2004). Die Europäische Sicherheitsdoktrin existiert seit 2003. Beide Dokumente weisen Gemeinsam-keiten insbesondere in der Bedrohungsanalyse und in der Anwendung eines effektiven Multilateralismus auf, auch wenn letzterer in der ESS im Gegensatz zum SK sogar zum zentralen Ziel erhoben wird. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass die für das Jahr 2009 vorgesehene NATO-Strategie und das ESS-Update Ende 2008 noch enger als bisher zu-sammenrücken. Trotzdem bleibt der generelle Unterschied zwischen dem rein sicherheits-politischen Bündnis NATO und der EU mit ihrem umfassenden Gemeinschaftscharakter bestehen.

Die Bewertung der strategischen Brauchbarkeit beider aktueller Strategien fällt dage-gen eher mäßig aus, da sie keine eindeutigen Rahmenvorgaben für kommende Konfliktsitu-

11 Diese Tatsache wird auch in allen wichtigen Dokumenten der EU unterstrichen.

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ationen beinhalten (Heise/Schmidt 2005: 67). Auch die NATO-Strategie äußert sich nicht zur Möglichkeit der Präemption. Unter diesen Voraussetzungen besteht innerhalb der Stra-tegien beider Akteure weiterhin ein hoher Klärungsbedarf, gleichzeitig bietet sich dadurch aber auch die Möglichkeit an, enger als bisher miteinander zu kooperieren. Entwicklungspotentiale liegen insbesondere auf der praktischen Ebene. Es wird dabei zwi-schen den von Ministern und Beamten durchgeführten Konsultationen, der Rüstungspla-nung und der Zusammenarbeit vor Ort im Einsatz unterschieden. Die Ministertreffen von NATO und EU sowie die Gespräche zwischen PSK und Nordatlantikrat haben zwar eine vertrauensbildende Wirkung, ein klarer Nachteil ist allerdings, dass sie keine verbindlichen Beschlüsse treffen können. Außerdem besteht wegen der weitgehenden, aber keineswegs vollständigen Kongruenz der Mitgliedschaften auch immer das formelle Problem, dass die Mitglieder bei bestimmten Punkten erst einmal um die eigene Position ringen müssen, wel-che sie im Hinblick auf beide Bündnisse einnehmen wollen (Heise/Schmidt 2005: 67). Genau aus diesem Grund wäre eine weitere Annäherung der beiden Organisationen auf strategischer Ebene auch für die Praxis von großem Vorteil. Auch im Bereich der Rüs-tungsplanung schöpfen die Mitgliedstaaten der NATO und der EU jeweils nur aus einem „single set of forces“ (Kestermann 2006). Aufgrund der hier bestehenden langjährigen Tradition und Vorarbeit der NATO besteht für die Europäer entweder die Möglichkeit, sich mit der Aufstellung von kleineren Interventionstruppen für begrenzte out of area-Einsätze,wie zum Beispiel den Gefechtsverbänden der EU, zufrieden zu geben. Dann würden die robusteren Operationen der NATO überlassen und damit dem Einfluss der Vereinigten Staaten unterstellt. Die zweite Möglichkeit wäre, die eigenen Kapazitäten im Hinblick auf die Gründung einer Europäischen Armee der EU zu duplizieren bzw. weiter auszubauen. Obwohl der überwiegende Teil der Kommentatoren im Sinne des Zitates von Außenminis-terin Albright eine Duplizierung für ineffektiv hält, gibt es auch einige wenige Stimmen, die einen Aufbau von einem Mehr an Eigenpotential für die EU befürworten. Dadurch, so die Argumentation, würde auch aus Sicht der Vereinigten Staaten die Eigenverantwortung Europas gefördert, was auf Dauer für die USA eine Entbindung von Aufgaben und Kosten und damit eine Entlastung bedeuten könnte (Schake 2001). Bei diesem Argument wird jedoch vernachlässigt, dass einige Staaten wie die USA oder Großbritannien bisher, wie im Fall des Hauptquartiers von Tervuren, immer sehr empfindlich auf solche Bestrebungen reagiert haben und in der Folge versuchten, diese zu verhindern. Angesichts der Vielzahl von denkbaren, auch parallel zu bewältigenden Szenarien in der Zukunft, ist eine weitere Modernisierung und Spezifizierung der Streitkräftestrukturen der EU auch über das Head-line Goal 2010 hinaus dennoch in jedem Fall dringend notwendig. Eine solche tiefer ge-hende Integration ist ohne gewisse Duplizierungen jedoch langfristig kaum umsetzbar.

Solange diese Fähigkeiten aber noch nicht existieren, ist die Berlin-Plus-Vereinbarung aus dem Jahr 2003 das grundlegende Dokument für die Zusammenarbeit von NATO und EU. Sie erlaubt es der EU unter anderem, auf Planungskapazitäten und andere Fähigkeiten des NATO-Reservoirs zurückzugreifen (Haine 2007a). Dabei ist dieser Vertrag durchaus mit immanenten Problemen behaftet. So wird er nach wie vor auf zwei Weisen interpretiert: Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sprechen von einer Berlin-Plus Zusammenar-beit, wenn die EU konkret auf Mittel der NATO zurückgreift. Einige NATO-Staaten, unter anderem die USA, betrachten das Abkommen dagegen auf Basis eines anderen Interpretati-onsansatzes. Für sie ist jedwede Interaktion zwischen der Europäischen Union und der NATO ein agieren innerhalb des Berlin-Plus Abkommens. Diese Oberhoheit der NATO in

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diesem Rahmen äußert sich faktisch darin, dass sich die atlantische Organisation ein Ab-lehnungsrecht gegenüber der Nutzung ihrer Ressourcen durch die EU vorbehält. So ist die NATO nicht zu der – vor allem von Frankreich angestrebten – tool-box13 geworden, aus der sich die Europäische Union beliebig bedienen kann. Das Einspruchsrecht, welches ganz klar auf ein Veto der USA zugeschnitten ist, kann in einer entsprechenden Situation die Kriseninterventionsmöglichkeiten der EU stark schwächen (Hulsman 2003). Vor diesem Hintergrund wäre es deswegen für die ESVP sinnvoll, Einrichtungen und Fähigkeiten der NATO im Sinne der engeren Auslegung von Berlin-Plus lediglich bei länger geplanten, größeren Militäreinsätzen zur Stabilisierung oder zur Nachsorge zu nutzen. Die Durchfüh-rung eines kleineren Kriseninterventionseinsatzes, der auch von der EU alleine zu meistern ist, wie im Kongo 2003, sollte nicht durch die Veto-Möglichkeit im Rahmen von Berlin-Plus gefährdet werden. Daneben muss mittelfristig eine Verständigung beider Akteure über eine einheitliche Auslegung des gegenseitigen Vertragswerkes erfolgen. Möglicherweise bietet hier ebenfalls die angekündigte Überarbeitung des Strategischen Konzeptes der NA-TO 2009 einen Ansatzpunkt. Außerdem könnte mittelfristig die Hauptquartierfrage, wie bereits angedeutet, von der EU selbst geklärt werden, so dass ein Streitpunkt von Berlin-Plus von Grund auf ausgeräumt wäre.

4.2 Einsätze

Unter der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik wurden seit ihrer Begrün-dung und inklusive der laufenden Einsätze insgesamt 20 Missionen durchgeführt. Davon hatten beziehungsweise haben die Operationen Concordia in Mazedonien, Artemis im Kongo, Althea in Bosnien-Herzegowina, Eufor RD wiederum im Kongo und seit 2008 auch Eufor Tchad/RCA im Tschad einen militärischen Charakter. Die drei Missionen in Afrika wurden bzw. werden von der Europäischen Union ohne die Hilfe der NATO durchgeführt. Concordia und Althea werden durch die Berlin-Plus Vereinbarung von der NATO unter-stützt (Grevi et al. 2007; DeWitte/Rademacher 2005: 277-278).

Der Erfolg dieser Einsätze lässt sich nur begrenzt messen. Bei der Operation Concor-dia, welche die erste Militärmission der ESVP überhaupt war, traten noch zahlreiche Män-gel auf. Die Kommunikationssicherheit zwischen den beteiligten NATO und EU-Organen war zu Beginn nicht gegeben. Des Weiteren gab es Probleme in den Führungsstrukturen, so waren insbesondere die Kompetenzen des beim NATO Regional Command in Neapel an-gesiedelten EU-Kommandoelements nicht genau geklärt. Insgesamt ist empfohlen worden, für die kommenden Missionen das Zeitmanagement in der Planung zu verbessern (Erhart 2005b: 169). Ein positiver Aspekt von Concordia war jedoch die Tatsache, dass die Mili-tärmission mittlerweile abgezogen und durch eine Polizeimission ersetzt werden konnte. Sowohl in Mazedonien als auch bei der Operation Althea, die 2004 der SFOR in Bosnien-Herzegowina nachfolgte, stellte sich die Frage, ob die EU in der Lage ist, die NATO auf dem Balkan zu ersetzen (Schwegmann 2002). Mit einem anfänglichen Umfang von etwa 7000 Soldaten ist Althea bisher die umfangreichste Mission der ESVP und soll deshalb auch als Beweis dafür gelten, dass die EU in der Lage ist, auch größere sicherheitspoliti-

13 Vgl. Présidence de la République: „The French White Paper on Defence and National Security“, online unter: http://www.cfr.org/content/publications/attachments/Dossier_de_presse_ LBlanc_DSN_en_anglais.pdf (Zugriff 23.08.2008).

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sche Herausforderungen zu bewältigen. Die Mission hat die Aufgabe, die Erfüllung der Annexe 1-A und 2 des General Framework Agreement for Peace des Dayton-Abkommens14 von 1995 zu überwachen, worin es unter anderem um Waffenstillstandsbe-stimmungen und die Trennung der Konfliktparteien geht.

Außerdem sollen der Hohe Repräsentant der Vereinten Nationen und der für das Land zuständige Sonderbeauftragte der EU in ihrer politischen Arbeit unterstützt werden. Ob-wohl der Übergang von SFOR zu Althea mittlerweile erfolgt ist, gab es dabei insbesondere in der Abstimmung und Vorbereitung noch Probleme. Ein Grund dafür ist, dass die EU eine über viele Jahre von den Vereinigten Staaten kontrollierte NATO-Mission übernahm und sich NATO- sowie US-Truppen auch nach der Etablierung von Althea nicht vollständig aus der Krisenregion zurückgezogen haben (Holländer 2005: 194-195). Ähnlich wie in Maze-donien liegt das Hauptproblem in der Abstimmung zwischen NATO und EU im Vorfeld des Einsatzes sowie in der klaren Abgrenzung von Kompetenzen. Entscheidungsstrukturen zur Aufgabenverteilung wurden nicht rechtzeitig genutzt. Außerdem müssen kürzere und effektivere Wege bei der Koordination gegangen werden. Dies sind Mängel, die in kom-menden Missionen abgestellt werden müssen (Kupferschmidt 2007). Dennoch wird die Mission Althea nicht nur als Mittel zur Demonstration der militärischen Eigenständigkeit Europas betrachtet. Sie wird darüber hinaus als Chance gesehen, die Effektivität des Zu-sammenwirkens militärischer und ziviler Mittel in einem genuin europäischen Ansatz unter Beweis zu stellen und diesen Prozess weiter zu optimieren. Nicht zuletzt ist der Einsatz auch unter dem Vorsatz zu betrachten, dass Bosnien-Herzegowina dauerhaft stabilisiert und somit mittel- bis langfristig für einen Beitritt zur EU vorbereitet werden soll. Vor diesem Hintergrund erlangt das Engagement auf dem Balkan enorme Wichtigkeit für die Zukunft der EU. Aufgrund des bisherigen relativ erfolgreichen Verlaufs der Mission und der damit verbundenen akzeptablen Sicherheitssituation vor Ort wurde beschlossen, dass die Anzahl des Kontingents von Althea auf 2.500 Soldaten reduziert werden kann (EU Council Secre-tariat 2007a).

Anders als die Operationen auf dem Balkan wurden die beiden Missionen im Kongo unabhängig von der NATO und den Vereinigten Staaten durchgeführt. Beide dienten der Unterstützung der UN-Mission Monuc im Kongo. Artemis sollte 2003 die Sicherheitslage in der Provinz Ituri verbessern, wo es zuvor zu größeren Auseinandersetzungen gekommen war. Es war somit ein militärisch relativ robuster Einsatz. Die größtenteils französischen Soldaten konnten nach sechs Monaten wieder aus der Region abziehen. Eufor RD Congo hatte dagegen 2006 die Aufgabe, die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Demo-kratischen Republik Kongo abzusichern (Grevi et al. 2007). Hier konnte eine vorläufig positive Bilanz des Einsatzes gezogen werden (Erhart 2007). Auch die Eufor Tchad/RCA Mission der Europäischen Union wird ohne die Hilfe dritter Organisationen oder Staaten durchgeführt. 3.700 Soldaten aus 14 Europäischen Staaten sollen die Sicherheit, insbeson-dere die der Zivilbevölkerung, gewährleisten. Obwohl die Missionen allesamt Teil der Kriseninterventionspolitik der EU sind und auch keineswegs ein konventionelles Konflikt-feld gegeben war, haben die abgeschlossenen und laufenden EU-Operationen jedoch bisher keine asymmetrische Bedrohung in einer Größenordnung von Afghanistan oder Irak be-kämpfen müssen. Vor diesem Hintergrund wird sich erst in einer Ernstfallsituation, bei-spielsweise durch einen Rückfall auf dem Balkan, oder aber in einem anderen kommenden

14 Vgl. Lillian Goldman Law Library: Dayton Peace Accords, online unter: http://www.yale.edu/lawweb/ ava-lon/intdip/bosnia/day02.htm (Zugriff 18.03.2007).

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Einsatz zeigen, ob die EU in der Lage ist, auch eine solche Herausforderung zu bewältigen. Die Europäische Union wird in diesem Zusammenhang irgendwann entscheiden müssen, welches Einsatzspektrum sie abdecken will. Die meisten Analytiker sind, im Gleichklang mit der oben geschilderten Ablehnung einer Duplizierung, der Meinung, dass die EU zwar in Zukunft in der Lage sein wird, das Spektrum der Petersberg-Plus-Leitlinie zu bewältigen, nicht jedoch größere kriegerische Auseinandersetzungen (Mölling 2007: 9). Hauptsächlich werden die Stärken der ESVP in einem Zusammenwirken von militärischen und zivilen Komponenten gesehen. Diese Meinungsrichtung geht dann jedoch ebenso davon aus, dass Europa keinen Krieg oder keine größere Intervention ohne die Vereinigten Staaten führen wird (Kestermann 2006). Damit einher ginge der europäische Verzicht auf eine dominante-re Position auf der außenpolitischen Weltbühne als sie die Union heute einnimmt und für die die ESVP ein entscheidender Katalysator wäre. Die EU wird deswegen langfristig die Frage beantworten müssen, ob sie Streitkräfte bis hin zu einer eigenen Interventionsfähig-keit, zum Beispiel im Rahmen einer Europaarmee, aufbauen will, um bei einer Ablehnung eines Engagements durch die Vereinigten Staaten innerhalb der NATO unabhängig zu sein.

Die geographische Orientierung des militärischen Einsatzspektrums konzentriert sich momentan noch klar auf den Balkan und Afrika (Scharioth 2005: 246 ff.). Gerade auf dem afrikanischen Kontinent gibt es ein großes Konfliktpotential. Trotz dieser Schwerpunktset-zung sind jedoch bereits auch nicht-militärische Missionen der EU in anderen Regionen aktiv. So gibt es beispielsweise eine europäische Polizeimission in Afghanistan, die vor-nehmlich bei der Beratung und Koordination im Hinblick auf eine Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte mitwirkt.15 Der umfassende europäische Entwurf von Sicherheit unter-streicht einen globalen Anspruch, der eine geographische Begrenzung von Einsätzen auch militärischer Art in Zukunft nicht zulassen wird.

5 Zukunftsperspektiven

Als die ESVP noch in der Anfangsphase steckte, gab es weitgehende Vorschläge von Ana-lysten zu ihren Entwicklungsmöglichkeiten (Andreani et al. 2001). Einige davon, wie die personelle und organisatorische Zusammenfassung und Konzentrierung von Kompetenzen, sind umgesetzt worden. Gleiches gilt für die engere militärische Kooperation im Rahmen des Headline Goal 2010. Diese Maßnahmen veranschaulichen das Potential, welches in-nerhalb dieses Bereiches in kurzen Zeitabständen verwirklicht werden kann. Aufgrund dieser positiven Perspektive ist die ESVP auch in Zukunft der einzige Rahmen für eine europäische Kriseninterventionspolitik. Ob sie jedoch die Quantität und die Qualität er-reicht, um den sicherheitspolitischen Anspruch der EU erfüllen zu können, hängt in hohem Maße einerseits vom Bekenntnis der Mitgliedstaaten und andererseits von internen und externen Reformen der EU ab. Letztere spiegeln sich bereits zum Teil in den Bestimmun-gen des gescheiterten Verfassungsvertrages und des Vertrages von Lissabon wider.

5.1 Entwicklungsmöglichkeiten der ESVP durch den Vertrag von Lissabon

Nach der Zustimmung von Großbritannien in St. Malo 1998 war die ESVP für die Europäi-sche Union der Weg eines begrenzten Widerstandes, der nicht sofort die Schaffung einer

15 Vgl. Council of the European Union: „EU Police Mission in Afghanistan (EUPOL Afghanistan)“, online unter: http://www.consilium.europa.eu/cms3_fo/showPage.asp?id=1268&lang=en&mode=g (Zugriff 25.08.2008).

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Europaarmee vorsah, sondern Schritt für Schritt durch die äußeren Einflüsse, zunächst auf dem Balkan und dann vor allem nach den Anschlägen vom 11. September, an Relevanz gewonnen hat.

Trotz der schwerwiegenden äußeren Faktoren wird die Weiterentwicklung der Mecha-nismen der ESVP, die Schaffung von Kapazitäten und die Bewältigung von Einsätzen hauptsächlich von der politischen Machbarkeit im Inneren abhängen. Der erste Versuch zu einem Durchbruch in diesem Bereich war der Europäische Verfassungsvertrag (VVE). Obwohl die Referenden in Frankreich und den Niederlanden einen negativen Ausgang gefunden haben, waren die außen- und sicherheitspolitischen Aspekte des Vertragswerkes nicht der Kern des Problems, da ein Zusammenwachsen auf diesem Gebiet von einem Großteil der Bürger begrüßt wurde. Die relevanten Artikel des Verfassungsvertrages hätten – zumindest in der Theorie – einen Fortschritt für die ESVP und einen Ansatzpunkt zur Lösung einiger Probleme bedeutet. Der Vertrag von Lissabon inkorporiert einen Großteil der Artikel des VVEs. Darum würde auch dieser Vertrag, sollte er in Kraft treten, ebenso zu einem Fortschreiten auf dem Gebiet der ESVP beitragen. Einige Neuerungen des Lissabo-ner Vertrags sollen hier stellvertretend vorgestellt werden.

Durch den Vertrag von Lissabon würde das Instrument der „Verstärkten Zusammen-arbeit“ auf die Ebene der ESVP ausgeweitet werden. Ein solches Mittel könnte eine Be-schleunigung innerhalb dieses Politikbereichs mit sich bringen. Da im Bereich der ESVP die Dominanz der Einstimmigkeit zur Einleitung einer solchen Zusammenarbeit jedoch ungebrochen bleibt, ist diesem Mittel keine allzu große praktische Bedeutung zuzumes-sen.16 Aus dieser Regelung erklärt sich ihre bisherige praktische Untauglichkeit für die GASP (Regelsberger 2005: 340). Wenn die Hürde der Einstimmigkeit in einem weiteren Schritt beseitigt würde, könnte die „Verstärkte Zusammenarbeit“ in Zukunft sicherlich zu einem auch praktisch relevanten Instrument avancieren. Momentan aber ist sie eher in ih-rem ursprünglichen Sinne als letzter Ausweg aus einer politischen Blockade zu sehen. Mehr Erfolge werden dagegen von der „Ständigen strukturierten Zusammenarbeit“ erwar-tet. Diese sieht den freiwilligen Zusammenschluss von Mitgliedstaaten zur Verstärkung und Integration ihrer militärischen Fähigkeiten und Rüstungsbestrebungen vor. So investieren die EU-Mitgliedstaaten momentan das Geld ihrer Verteidigungsbudgets äußerst ineffizient (Naumann/Klaus 2008). Eine verstärkte Integration im Sinne der „ständigen strukturierten Zusammenarbeit“ könnte dies ändern. Kritisiert wurde diese Form der Zusammenarbeit allerdings bereits im Vorfeld für ihre niedrigen Teilnahmeanforderungen. Dies könnte dazu führen, dass eine relativ große Zahl von Mitgliedern partizipiert und deshalb der Charakter als Qualitätszirkel verloren geht, sich also wieder ein Minimalkompromiss auf breiter Basis herauskristallisiert (Diedrichs/Jopp 2005: 352). Die Bildung einer Avantgarde von Staaten, die in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik voranschreiten, wird unumgänglich sein, wenn die EU ihrem globalen Anspruch gerecht werden will (Erhart 2005a: 97). Mit dem Vertrag von Lissabon bestünde zudem auch die Möglichkeit, die Staaten eines solchen Kerns mit bestimmten, anspruchsvolleren Einsätzen zu beauftragen (Diederichs/Jopp 2005: 349). Die „ständige strukturierte Zusammenarbeit“ kann in diesem Kontext der Anfangs-punkt eines Prozesses sein, der auf eine verstärkte Militärintegration in Europa hinzielt. Die differenzierte Integration bleibt sowohl für die Entscheidungsfindung, als auch für die prak-tische Zusammenarbeit in Zukunft von großer Bedeutung (Roloff 2007). Es ist festzustel-

16 Vgl. Amtsblatt der Europäischen Union 2004: 419 ff.

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len, dass eine europäische Kriseninterventionspolitik ohne diese Mechanismen nur schwer-lich umzusetzen ist (Erhart 2005a: 94 ff.; Deubner 2003: 24-32). Sie ermöglicht es denjeni-gen Staaten, die angesichts der sicherheitspolitischen Herausforderungen bereit sind, mehr Souveränität abzugeben, eine Verbesserung der ESVP zu ihrem Vorteil voranzutreiben, ohne dabei von anderen Staaten behindert zu werden. Wichtig wäre nun, die vorhandenen Möglichkeiten auch praktisch zu nutzen.

Eine weitere Neuerung des Vertrages von Lissabon wäre die Schaffung des neuen Amtes eines „Hohen Vertreters der Union für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspoli-tik“ der Europäischen Union. Dieser Repräsentant besäße weitreichende Kompetenzen und Einflussmöglichkeiten. So würden unter ihm die Kompetenzbereiche des jetzigen „Hohen Vertreters für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ und des „Außenkommis-sars“ der EU-Kommission zusammenfallen, sodass eine kohärente außenpolitische Positio-nierung auf breiter Ebene ermöglicht werden würde. Neben diesem so genannten „Doppel-hut“ erhielte der Hohe Vertreter ein Initiativrecht innerhalb der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, welches er, gestützt auf den zu errichtenden „Europäischen Auswärtigen Dienst“, zur Schaffung einer mehr von der EU-Ebene gespeisten Außenpolitik nutzen könnte.

Zusätzlich zu diesen Neuerungen wurde mittlerweile eine Europäische Verteidigungs-agentur geschaffen. Sie ist explizit im Vertrag von Lissabon genannt, hat aber bereits 2005 durch eine „Gemeinsame Aktion“ der EU ihre Arbeit vollständig aufgenommen (European Defence Agency 2007). Die EDA überwacht die Entwicklung der europäischen militäri-schen Fähigkeiten, die Einhaltung bestimmter Vorgaben und analysiert diesen Prozess auf Fehler und Mängel. Auch von ihrer Effektivität wird es abhängen, ob eine Europäisierung des Rüstungsmarktes und eine militärische Integration in Europa als langfristiges Projekt gelingen kann. Auch die Anpassung der Beschaffungen an neue Herausforderungen asym-metrischer Art, vor allem durch die intensive Förderung der Bereiche Research, Develop-ment and Technology, wird von der EDA betreut. Eine ausreichende finanzielle Unterstüt-zung ist daher für einen gesicherten Planungsprozess der Agentur von höchster Bedeu-tung.17

5.2 Eine strategische Partnerschaft mit der NATO

Dass eine Partnerschaft zwischen der EU und der NATO von Schwierigkeiten und Kompe-tenzstreitigkeiten geprägt ist, sollte keine allzu große Überraschung darstellen. Beide Ak-teure erheben den Anspruch, die jeweils prioritäre Organisation zu sein. Dennoch funktio-niert die Partnerschaft relativ gut. Es wird momentan in der Forschung davon ausgegangen, dass „on current trends NATO and EU will swim together“ (Centre of European Reform 2004: 12). Die Chancen, diesen Trend dauerhaft zu machen, beruhen auf der Hoffnung, dass durch die Anwendung des Prinzips der interlocking institutions18 die Strategieplanung und die Vorbereitung von Einsätzen in Zukunft in enger Absprache zwischen beiden Orga-nisationen verlaufen werden. Ziel ist dabei nicht eine Konkurrenz, sondern eine strategische Partnerschaft und Aufgabenteilung von NATO und EU. Bei der Ausschöpfung der Mög-

17 Ein Überblick über das Aufgabenspektrum der EDA findet sich online unter: http://www.eda.europa.eu/ generi-citem.aspx?area=Background&id=122 (Zugriff 19.03.2007). 18 Unter interlocking institutions wird eine zunehmende Verzahnung internationaler Organisationen, hier beson-ders im sicherheitspolitischen Bereich verstanden.

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lichkeiten einer Sicherheitspolitik aus einem Guss treten aber viele rechtliche und politische Hindernisse auf, die diese oftmals be- und verhindern (Heise/Schmidt 2005: 79-80). So spielen beispielsweise die Türkei und Zypern beide Organisationen in ihrem außenpoliti-schen Streit immer wieder gegeneinander aus. Um ihre Kriseninterventionspolitik eigen-ständig durchführen zu können, wird es für die EU daher unumgänglich sein, zumindest teilweise eigene Strukturen zu schaffen. Dazu gehört zum Beispiel die Luftverlegungskapa-zität oder auch ein eigenes Hauptquartier. Am 1. Januar 2007 hat bereits das EU Operations Centre seine Arbeit aufgenommen, das zusammen mit der zivil-militärischen Zelle inner-halb des EU Militärstabes die Aufgaben eines Operational Headquarters bei kleineren Missionen wie z.B. Einsätzen der Battlegroups erfüllen kann. Allerdings muss wiederum die Voraussetzung erfüllt sein, dass nicht auf NATO-Mittel zurückgegriffen und auch kein nationales Hauptquartier genutzt werden kann (Brauss/Zinzius 2007). Keineswegs will die EU diese Maßnahme als Aufbau einer Konkurrenz zur NATO verstanden wissen. Sie ist vielmehr einer Vielzahl von möglichen Krisenherden geschuldet, welche den Druck zur Aufgabenteilung verstärken. Dies wird auch mehr und mehr von den Vereinigten Staaten erkannt, dessen Widerstand gegen den Aufbau eines eigenen EU-Hauptquartiers, dessen Kern das Ops Centre sein könnte, bröckelt. Ein solcher Schritt ist zudem notwendig, weil die EU durch eine ständige Abhängigkeit von der NATO ihrem eigenen Anspruch nicht gerecht werden kann.

Die Trennlinie der beiden Organisationen kann in Zukunft nicht zwischen einer militä-rischen NATO und einer zivilen EU verlaufen. Stattdessen ist die NATO, wenn auch die militärische Komponente zentral bleibt, schon heute auch auf eine zusätzliche zivile Kom-ponente bedacht, beispielsweise für den Bereich des Katastrophenschutzes. In dieser Ten-denz zu einem comprehensive approach sowohl in der NATO als auch in der EU könnte eine Möglichkeit liegen, gegenseitig von seinen Stärken zu profitieren und mehr Vertrauen aufzubauen. Ein Vorschlag hierzu wäre zum Beispiel ein umgekehrtes Berlin-Plus, wo-durch der NATO, ähnlich wie der EU im militärischen Bereich, zivile Ressourcen aus den Programmen der Union für Einsätze zur Verfügung gestellt werden könnten.

5.3 Das Projekt Europaarmee

Alle diese Vorschläge sind immer auch abhängig von einem kooperativen Verhalten der Vereinigten Staaten. Ist ein optimaler politischer Verlauf im Sinne einer konstruktiven Zusammenarbeit im Vorfeld einer Krise jedoch nicht gegeben, so hätte eine EU mit einer eigenen Streitmacht den Vorteil, dass sie eine Operation auch durchführen könnte, wenn die USA dazu nicht bereit oder aber „regional nicht geeignet“ wären. Ungeklärt bleibt je-doch weiterhin, welche Dimensionen diese Einsätze haben sollen. Auch wenn die Ge-fechtsverbände zukünftig zum Einsatz kommen werden, können sie nur zahlenmäßig be-grenzte Konflikte eindämmen. Es ist dabei ersichtlich, dass die EU auch langfristig nicht mit den USA militärisch auf Augenhöhe agieren wird. Eine europäische Emanzipation kann und darf deswegen auch nicht als Gegenmachtbildung verstanden werden, sondern soll dazu dienen, Europa handlungsfähig zu machen und die militärische Asymmetrie zwischen Europäern und Amerikanern nicht noch zu vergrößern. Ein solcher Prozess ist aber auch von Vorteil für die USA, da diese bei einem weiteren Zurückfallen der EU letztlich verbün-dete Ressourcen verlieren und nicht entlastet würden.

Aus diesem Grund bietet sich für die EU die Möglichkeit, erneut die Grundlage des military rapid reaction concept von Helsinki aufzugreifen und zu einer eigenen Europaar-

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mee weiterzuentwickeln (Mölling 2007: 11-12). Diese könnte als ständige Expeditions-streitmacht, parallel zu stark reduzierten nationalen Armeen konzipiert werden. Eine Euro-paarmee müsste aus Einheiten aller Teilstreitkräfte bestehen und exklusiv sein. Wie die Battlegroups könnte sie dabei aber dezentral bleiben. Gerade bei den Überlegungen zur combinedness von Heer, Luftwaffe und Marine sowie deren potentiellen Umsetzung steht die EU aber noch am Anfang. Zusätzlich müssten Konzeptionen zu einer militärischen Präsenz im Weltraum durchgeführt werden, welche zu einer optimalen Aufklärung für europäische Truppen beitragen soll. Die Aufnahme von „Wissen und Antizipation“ als neuer strategischer Funktion im gerade erschienen französischen Weißbuch macht die Be-deutung dieses Faktors für Europa deutlich.

Angesichts der aktuellen politischen Aussagen scheint die Sensibilisierung für ein sol-ches, auf lange Sicht angelegtes Projekt in letzter Zeit gerade auch unter dem Gesichtspunkt der finanziellen Einsparung einer militärischen Integration ganz langsam aber sicher voran geschritten zu sein (Sturm 2007a; Sturm 2007b). Dennoch ist in diesem Bereich nicht mit einem schnellen Voranschreiten zu rechnen. Sollte der Vertrag von Lissabon in Kraft tre-ten, könnte er womöglich durch die „ständige strukturierte Zusammenarbeit“ eine Entwick-lung auslösen, die nach mehreren Jahren in einem Konstrukt münden würde, das einer „Eu-ropaarmee“ nahe käme.

6 Bewertung

Insgesamt sind die vorangegangenen Ausführungen trotz aller bestehenden Mängel von einem positiven Entwicklungstrend ausgegangen. Diese Tendenz liegt in der zügig fort-schreitenden Optimierung der ESVP in den letzten Jahren begründet. Die Europäer konnten ihre „Unmündigkeit“ durch ihre ersten abgeschlossenen Operationen ablegen. Der Weg der ESVP, aus der beschriebenen Glaubwürdigkeitsfalle heraus, kann aber nur gelingen, wenn die aufgelisteten Mängel beseitigt und der quantitative und qualitative Ausbau vorangetrie-ben wird. Ein wirksamer Krisenreaktionsmechanismus erfordert gemeinschaftliches Han-deln. Erst wenn alle EU-Mitgliedstaaten eine europaweite Zusammenarbeit auf dem Gebiet der ESVP als erste Priorität anerkennen, kann diese erfolgreich gelingen. Dies gilt auch für die neuen osteuropäischen Mitglieder, welche den Möglichkeiten der ESVP skeptisch ge-genüberstehen und sich sicherheitspolitisch stark an die USA anlehnen. Sie verlangen ein stärkeres Engagement und mehr Unterstützung der führenden Mitgliedstaaten im Hinblick auf Russland (DIE ZEIT 2008: 6).

Insgesamt ist momentan vor dem Hintergrund dieser Atmosphäre nicht abzusehen, dass Staaten innerhalb der Europäischen Union ihre Souveränität zu Gunsten von Mehr-heitsentscheidungen aufgeben. Daher erscheint die Anwendung von Flexibilisierungsin-strumenten, wie der „verstärkten“ oder „ständigen strukturierten Zusammenarbeit“, bei denen integrationswillige Staaten in Einsätzen oder beim Kräfteaufbau vorangehen können, am sinnvollsten und effektivsten zu sein.

Von sehr großer Bedeutung ist es zudem auch, den derzeit noch stark fragmentierten europäischen Rüstungsmarkt nach und nach zu einigen. Der Europäischen Verteidigungs-agentur kommt deswegen sowohl eine wichtige als auch eine außerordentlich schwierige Rolle zu, da hier hochsensible nationalstaatliche Bereiche angetastet werden. Gleichwohl wird eine langsame Einigung von Nöten sein, will man die militärische Integration weiter-hin erfolgreich verbessern.

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Europa muss sich auf die asymmetrischen Bedrohungen im Einsatz vorbereiten und sich gleichzeitig von der machtpolitischen Asymmetrie gegenüber den USA zu Gunsten von mehr Eigenverantwortung lösen. Diese beiden Punkte gelten als langfristige Zielvorgaben einer europäischen Kriseninterventionspolitik. An einer oft geforderten kohärenten Grand Strategy, die Ziele und Mittel dynamisch festlegt, wird auch in Zukunft weiter gearbeitet werden (Seidelmann 2002: 111-124). Wirksam kann der Krisenreaktionsmechanismus aber nur dann sein, wenn der „evolutionäre Prozess“ der ESVP von der EU und den Mitglied-staaten gleichermaßen kontinuierlich in Form von Strategieformulierung, finanzieller, ma-terieller und personeller Ressourcenbereitstellung sowie politischem Zusammenhalt in Krisensituationen ausgestaltet wird.

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Private Militärfirmen in der internationalen Sicherheits-politik: Ansätze einer Einordnung

Carsten Michels/Benjamin Teutmeyer 1 Einleitung

Eine der folgenreichsten Entwicklungen der sowohl nationalen als auch internationalen Sicherheitspolitik des 21. Jahrhunderts ist die zunehmende Privatisierung von Sicherheit. Die Frage nach dem Erzeuger und Garanten von Stabilität könnte in Zukunft immer häufi-ger nicht mehr mit dem Verweis auf nationale Regierungen samt ihrer Sicherheitsapparate, sondern mit dem Wirken Privater Militärfirmen (PMF) beantwortet werden. Dieser sich abzeichnende Trend führte bereits in der Vergangenheit zu Konstellationen, welche Anlass zu andauernden und kontroversen Diskussionen über Status, Aufgaben und nicht zuletzt die Legitimation privater Akteure im globalen Sicherheitssektor waren und noch immer sind. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf den elfjährigen Krieg – März 1991 bis Januar 2002 – in Sierra Leone. Im Verlauf des Krieges kämpften unterschiedliche Koalitionen aus Rebellen, Milizen und Regierungsgruppen um die Vorherrschaft in dem an Bodenschätzen (Diamanten) reichen westafrikanischen Staat. Vorläufig kriegsentscheidend dürfte das En-gagement der südafrikanischen PMF Executive Outcomes (EO) gewesen sein, welche im Auftrag der Regierung von Freetown die gegnerischen Truppen erfolgreich zurückdrängte und somit einen Waffenstillstand und demokratische Wahlen ermöglichte. Nach dem Ab-zug von EO flammte der Konflikt jedoch wieder auf (Fuchs 2007). Ist die Faktenlage über den Verlauf des Konfliktes zunächst wenig streitig, so fällt die Bewertung des Eingreifens von EO und dessen Folgen hingegen sehr unterschiedlich aus. EO wird als Kriegsbeender, aber auch als Kriegsprofiteur und Grund für die Fortführung des Konflikts bezeichnet.1

Das empirische Material zur Bewertung der Tätigkeiten von PMF ist bisher recht dürf-tig, was auf absehbare Zeit auch so bleiben wird, wenn die Instabilität in den Wirkungsre-gionen dieser Akteure anhält. Dennoch können auf abstrakter Ebene Aussagen zu den Im-plikationen von PMF auf die internationale Sicherheitspolitik getroffen werden. Mittlerwei-le ist die relativ neue Thematik einigermaßen umfangreich aufgearbeitet. Mithin ist es mög-lich und geboten, den Gegenstand in die grundlegende Diskussion über die internationale

1 Es lässt sich argumentieren, dass erst durch den Einsatz von EO ein Mindestmaß an Stabilität erreicht werden konnte, was im Februar 1996 das Abhalten der ersten demokratischen Wahlen seit 23 Jahren ermöglichte. Weder einzelne Staaten, noch internationalen Organisationen war dies zuvor gelungen. Auf der anderen Seite wird ange-führt, EO habe enge Verbindungen zu Minengesellschaften unterhalten und sich mit Schürfrechten bezahlen lassen, was die Zahlungsfähigkeit von Sierra Leone nachteilig beeinflusst hätte. Kritiker bemängelten die fehlende Transparenz des Vorgehens von EO sowie die Tatsache, dass die Regierung EO mit Geldern des Internationalen Währungsfonds bezahlte. Langfristig hätten die negativen Folgen des Engagements die positiven überwogen. Das Ziel von EO sei nie die Lösung des Konflikts, sondern der Gewinn gewesen (McGhie 2002).

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Private Militärfirmen in der internationalen Sicherheitspolitik 98

Sicherheitspolitik einzuordnen. Der vorliegende Beitrag möchte diesbezüglich Ansätze zu weiteren Überlegungen aufzeigen.

Um später eine abstrakte Diskussion führen zu können, werden in den ersten Abschnit-ten zunächst grundlegende Informationen über PMF dargelegt. Welches sind die sicher-heitspolitischen Entwicklungen, die den rasanten Bedeutungszuwachs von PMF ermöglich-ten? Unterschieden wird an dieser Stelle zwischen umfassenden Phänomenen auf der Mak-roebene und den hieraus resultierenden Entwicklungen auf der Mikroebene. Im darauffol-genden Schritt wird ein Versuch unternommen, das sehr heterogene und kaum überschau-bare Geflecht PMF nach dem Kriterium ihrer Nähe zum Gefechtsfeld zu systematisieren. Idealtypisch können so Aussagen über Leistungsspektrum und Ausrichtung von PMF ge-troffen werden. Darauf aufbauend ergeben sich für den Einsatz von PMF unterschiedliche Konstellationen. Das am häufigsten auftretende Beziehungsmuster ist das Engagement durch eine Staatsregierung. Aber auch internationale Organisationen (IO) wie auch nicht-staatliche Akteure gehören zu den Auftraggebern der privaten Gewaltdienstleister, wodurch sich ihre Bedeutung für die Organisation von Sicherheit erhöhen kann. Ein wesentliches Charakteristikum der PMF ist, dass sie ihre monetären Interessen auch gewaltsam gegen den Widerstand von Akteuren mit entgegengesetzten Interessen durchsetzen können. Ent-sprechende Optionen werden diskutiert.

Im Blickfeld bleiben dabei die aufkommenden Probleme, wenn die Anwendung von Gewalt zunehmend privaten, profitorientierten Unternehmen überlassen wird. Sind die Grundlagen beschrieben, erfolgt der Versuch einer Einordnung des Wirkens von PMF in die Gesetzmäßigkeiten der internationalen Sicherheitspolitik. Abschließend wird die Not-wendigkeit für die Staaten herausgearbeitet, zu einem stärker als bisher regulierten Umgang mit PMF zu gelangen. Eine Schlussbetrachtung fügt die Ergebnisse zusammen.

2 Veränderungen auf der Makroebene der internationalen Sicherheitspolitik

Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts durchläuft die internationale Sicherheitsarchitektur einen grundlegenden Wandel. Die Debatten über diesen, sich auf der Makroebene der in-ternationalen Sicherheitspolitik vollziehenden Wandlungsprozess, sind kontrovers und halten an. Gleichwohl können mittlerweile mehrere seiner Ergebnisse eindeutig festgestellt werden. Nachfolgend sollen hiervon diejenigen benannt werden, die im Zusammenhang mit dem verstärkten Aufkommen und Wirken von PMF stehen.

Militärische Konflikte zwischen hochgerüsteten Staaten oder gar Militärbündnissen stellen auf absehbare Zeit nicht mehr die dominante Konfliktkonstellation dar. Damit tritt der akute Nutzen von Hochtechnologiewaffen in den Hintergrund, deren Erwerb für nicht-staatliche Akteure aus finanziellen und strukturellen Gründen nicht möglich ist.2 Die be-waffneten Konflikte der Gegenwart zeichnen sich durch lokale Begrenzung und die Beteili-gung nichtstaatlicher Akteure aus. Zugleich steigt die Zahl solcher Konflikte seit dem Ende des Kalten Krieges deutlich an. Durch den Ost-West-Konflikt zuvor unterdrückte Konflikt-

2 Angesichts etwa des MEADS (Medium Extended Air Defense System) Programms der Bundesrepublik oder des NMD (National Missile Defense) Programms der USA kann keineswegs von einer Bedeutungslosigkeit langfristig angelegter Rüstungsprogramme auf höchstem technologischen Niveau gesprochen werden. Die Verfügbarkeit über sie stellt jedoch keine zwingende Notwendigkeit dar, um als Akteur militärisch geführter Konflikte der Ge-genwart aufzutreten.

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linien brechen auf und „können“ ausgetragen werden, ohne die Interessen antagonistischer, nuklear hochgerüsteter Militärmächte direkt zu berühren.

Weitere Bewegungsfaktoren im Wandlungsprozess der internationalen Sicherheits-politik seit 1990 sind der internationale Terrorismus, die Proliferation von atomaren, biolo-gischen und chemischen Waffen (ABC-Waffen) sowie die Verletzung elementarer Men-schenrechte. Der internationale Terrorismus hat sich als massive Bedrohung manifestiert. Der Proliferation von ABC-Waffen ist ob der Zerstörungskraft dieser Waffen ein enormes Bedrohungspotential inhärent. Die diesbezügliche Hauptbefürchtung gilt der Gefahr, solche Waffen könnten in die Verfügungsgewalt von Terroristen oder unberechenbaren Staaten geraten. Der globale Schutz grundlegender Menschenrechte ist in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu einem akademisch viel diskutierten und praktisch überaus relevanten Thema avanciert. Diskutiert wird, ob zum Schutz dieser Rechte humanitäre Interventionen völkerrechtskonform sein können. So wurden 1999 die Militärschläge der NATO-Staaten gegen Serbien offiziell mit humanitären Erwägungen, der Beendigung der Vertreibung und Ermordung der Kosovo-Albaner, begründet und gerechtfertigt.

Staaten, die sich durch diese Entwicklungen bedroht fühlen, Opfer terroristischer An-schläge geworden sind oder zur Durchsetzung elementarer Menschenrechte notfalls auch militärische Mittel für angezeigt halten, agieren und reagieren unter anderem auch mit mili-tärischen Interventionen und Stabilisierungsmissionen. Diese Operationen bedürfen des Soldaten vor Ort mit entsprechender Ausrüstung und müssen auf eine lange Dauer hin an-gelegt sein, soll der angestrebte Erfolg (die Stabilisierung einer labilen Staatsmacht, der Schutz einer Zivilbevölkerung, die Zerschlagung terroristischer Strukturen) sich einstellen. Militärische Maßnahmen über weite Strecken hinweg (Luft- und Raketenangriffe) können allenfalls Beiträge liefern, reichen aber nicht aus, um die verfolgten Ziele zu erreichen. Die Ursachen der Bedrohungen bzw. bedrohlichen Entwicklungen der Gegenwart und der ab-sehbaren Zukunft sind tief in lokalen oder regionalen Strukturen verwurzelt. An diesen Wurzeln muss ihnen entgegen gewirkt werden. Punktuelle Ausnahmen könnten in der Nonproliferationspolitik auftreten. Militärschläge gegen Staaten, die den Besitz von ABC-Waffen an(zu)streben (scheinen), sind nicht ausgeschlossen. Hierfür, ebenso wie für Ver-teidigungsmaßnahmen gegen mögliche Angriffe mit solchen Waffen, bleiben Waffensys-teme auf höchstem technologischen Niveau von Bedeutung.

Die hier knapp skizzierten Konflikttypen sind keineswegs in eine stabile Konflikt-struktur eingefügt. Sichere Prognosen über künftige Konfliktausbrüche- und Verläufe sind daher nicht möglich. Zur Beantwortung der Frage etwa, wann die oben angedeuteten Kon-flikte oder bedrohlichen Entwicklungen eine militärische Intervention erfordern und diese auch effektiv sein könnte, existieren keine Kriterien, die von allen (potentiell) betroffenen Staaten geteilt werden. Wenn gewaltsame Konflikte auftreten, werden es Konflikte sein, die – lediglich dies ist verlässlich zu erwarten –den Einsatz von PMF begünstigen, wie nach-folgend dargelegt wird.

3 Veränderungen auf der Mikroebene der internationalen Sicherheitspolitik – Gründe für das Aufkommen der PMF

Insbesondere mit dem dritten Golfkrieg im Frühjahr 2003 sind die Aktivitäten von PMF zum Gegenstand einer bis in die Öffentlichkeit getragenen Diskussion geworden. Die Un-fähigkeit der Besatzungs- wie Regierungstruppen, die Sicherheitslage im Irak zu stabilisie-ren, generiert weiterhin die Nachfrage nach privaten Sicherheitsdienstleistern. PMF fällt

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somit für die Befriedung des Irak eine bedeutende Rolle zu. Das Land ist der wohl derzeit größte Aktionsraum für PMF aller Art.3 Tatsächlich lässt sich die gestiegene Bedeutung von PMF und deren Einfluss auf die internationale Sicherheitspolitik nur durch das Zu-sammenspiel einer Vielzahl von Faktoren erklären. Die bereits beschriebenen wesentlichen politischen Entwicklungen auf der Makroebene bilden die Ausgangspunkte für das Auf-kommen von PMF seit Anfang der 1990er Jahre. Wie sich diese Entwicklungen bis in die Mikroebene fortsetzen und welche Folgen dies für das Wirken der PMF hat, soll Gegens-tand der folgenden Betrachtungen sein.

Eine mittelbare Folge der makropolitischen Entwicklungen ist die Zunahme bewaffne-ter Konflikte in vielen Teilen der Welt.4 Die zumeist innerstaatlichen Konflikte werden, im Gegensatz zu den klassischen Kriegsszenarien zwischen Staaten mit schwerem, komplexem und teurem Kriegsgerät, vornehmlich mit kleinen, leicht zu bedienenden und einfach zu beschaffenden Waffen bestritten. Kriege sind daher schon mit relativ kleinen Budgets und kleinen, schlecht ausgebildeten Truppen zu führen, die dennoch über recht hohe Fähigkei-ten zur Zerstörung verfügen. Zu denken ist hier etwa an portable Raketenwerfer, deren Bedienung in kurzer Zeit zu erlernen ist.

Das Kriegsbild befindet sich im stetigen Wandel. Nicht die große entscheidende Schlacht zwischen verfeindeten Heeren mit anschließendem Waffenstillstand und Frie-densvertrag bringen einen Krieg zum Ende. Vielmehr handelt es sich um ständige Kämpfe relativ geringer Intensität, die abflachen, aber auch schnell wieder auflodern können. Die Gründe für Konflikte dieses Typs können materieller Natur sein, haben ihre Wurzeln aber nicht selten in den komplexen und konfliktgeladenen Beziehungen verschiedener Ethnien und Stämme untereinander. Hinzu kommt die kaum überschaubare Vielzahl weiterer nicht-staatlicher Akteure wie Warlords, Rebellen- oder Guerillatruppen, die um die Vorherrschaft in bestimmten Gebieten kämpfen – sei es aus politischen oder wirtschaftlichen Motiven (Münkler 2002; Kaldor 1999). Die Überschneidungen zur internationalen organisierten Kriminalität sind hier oft fließend.

In diesem labilen Umfeld ist der Nationalstaat nur ein Akteur unter vielen. In vielen Konfliktregionen verfügt er nicht mehr über die Fähigkeiten, auf seinem Staatsterritorium Sicherheit zu implementieren und sich gegen andere Gewaltakteure durchzusetzen. Viel-mehr verliert er zunehmend an Einfluss und gibt wesentliche Teile seiner Souveränität, besonders im Sicherheitssektor, an andere ab. Offenkundig ist dieses Phänomen besonders in Subsahara-Afrika, wo staatliche Sicherheitsinstitutionen nicht nur nicht fähig sind, ihre eigentlichen Aufgaben, wie dem Schutz der Bevölkerung, nachzukommen, sondern auf-grund von Korruption und Verwahrlosung nicht selten zum Teil des Problems und somit zum Unsicherheitsfaktor werden (Meinken 2005: 6). PMF fügen sich in diese Art des kaum überschaubaren Konflikttyps leicht ein. Im Gegensatz zu großen, schwerfälligen und relativ statischen Armeen entsprechen sie der gestiegenen Nachfrage nach kleinen und flexiblen Kampfverbänden, die ohne großen administrativen Aufwand schnell einsatzbereit sind. Die

3 Zur Beschreibung und Bewertung der Arbeit von PMF im Irak vgl. Isenberg 2006. Verlässliche Aussagen über die Anzahl im Irak agierender PMF und ihrer Mitarbeiter lassen sich derzeit kaum treffen. Nach Schätzungen sind derzeit etwa 60 PMF aktiv. Auch die zuständigen Behörden des größten Auftraggeber USA verfügen nicht über vollständige Daten über die budgetären Kosten des Engagements von PMF (Stöber 2007: 127). 4 Ist die Zahl zwischenstaatlicher Kriege seit dem Ende des Ost-West-Konflikts stetig gesunken, so ist doch ein Anstieg sogenannter Konflikte niedriger Intensität zu beobachten. Das Heidelberg Institute for International Conflict Research (HIICR) kommt zu dem Ergebnis, dass die Gesamtzahl an Konflikten seit den frühen 1990er Jahren fast stetig gewachsen ist (HIICR 2006: 1).

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finanziellen Ressourcen vorausgesetzt, kann jede der Konfliktparteien in diesem Klima der Instabilität zum Auftraggeber einer PMF werden, welche ihrerseits wiederum aufgrund ihrer durchweg überdurchschnittlich guten Ausrüstung und ihres erfahrenen Personals zu einem wesentlichen Machtfaktor aufsteigen kann (Singer 2006: 96).

In diesem Umfeld kann eine schlecht ausgeprägte Staatlichkeit, deren Institutionen selbst an Korruption, Klientelsystemen und ungleich verteilten Ressourcen leiden, nur schwerlich ihr Gewaltmonopol aufrechterhalten. Besonders in Teilen Afrikas, Asiens und Südamerikas hat der Niedergang der staatlichen Ordnung zu dem geführt, was als schwa-cher oder gescheiterter Staat bezeichnet wird.5 Kann die Regierung das Grundbedürfnis Sicherheit nicht mehr im ausreichenden Maße zur Verfügung stellen, verliert sie an Autori-tät und Fähigkeit, ihre Politik wenn notwendig auch mit Gewalt durchzusetzen. Das Staats-gebiet degeneriert folglich zum Aktionsraum für eine Vielzahl privater Akteure, welche in diesen neuen Kriegsökonomien ihre Macht, ihren Einfluss und nicht zuletzt ihr Einkommen zu vergrößern suchen. Hierbei verfolgen sie nicht immer ein vorab definiertes Ziel, sondern profitieren oftmals von dem gewaltträchtigen Zustand als solchen (Münkler 2002: 131-174). Gerade das heutige Somalia kann als Beispiel für diesen Sachverhalt angesehen wer-den, denn ohne Gewaltmonopol, d.h. ohne funktionierende Zentralregierung mit einem verlässlichen Sicherheitsapparat, wird das Staatsterritorium zum Gegenstand der Interessen unterschiedlichster Akteure – seien es islamistische Gruppierungen oder äthiopische Streit-kräfte. Unter diesen labilen Umständen wird Sicherheit zu einem handelbaren Gut, welches nicht selten nur noch durch den privaten Dienstleister erbracht werden kann.6 Der schwache Staat hat seine Fähigkeit zur Implementierung von Macht mittels Polizei, Militär oder Jus-tiz verloren. Will er sich gegen die Konkurrenz von Gewaltakteuren durchsetzen, so kann er letztendlich auf die Dienste von PMF angewiesen sein, wie dies im bereits beschriebenen Fall des Bürgerkriegs von Sierra Leone 1995 vorzufinden war. Kritisch angemerkt sei an dieser Stelle, dass in diesem Verhalten die Gefahr der Abhängigkeit zu einer PMF liegt.

Aber nicht nur von Seiten der potentiellen Einsatzgebiete von PMF, Konfliktherde in schwachen oder gescheiterten Staaten, sind seit den 1990er Jahren Entwicklungen auszu-machen, welche dem Aufstieg der PMF dienlich waren. Auch die Regierungen der Indust-riestaaten haben durch ihre Politik die bestehenden Tendenzen begünstigt. Geprägt von dem Glauben an eine weniger konfliktbeladene Weltordnung, an die Erträge der sogenann-ten Friedensdividende und die sinkende Rolle militärischer Macht wurden in vielen Staaten die Verteidigungshaushalte, die zu Zeiten des Kalten Krieges horrende Ausmaße ange-nommenen hatten, wesentlich gekürzt. Vor allem in westlichen Ländern ließen sich nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes große Armeen mit entsprechend schwerer Bewaffnung kaum noch rechtfertigen. Die Folge dieser bewussten Reduzierung der Trup-pen einerseits und dem fast völligen Zusammenbruch ehemaliger sowjetischer Verbände andererseits war die abrupte Freisetzung großer militärischer Expertise in Form gut ausge-bildeter Berufssoldaten.7 Diese gelernten Kämpfer waren nicht mehr an staatliche Instituti-onen oder politische Weisungen gebunden, sondern boten ihre Arbeitskraft auf dem freien

5 Indikatoren solcher schwacher oder gescheiterter Staaten sind neben anderen eine kaum funktionierende, von Korruption durchsetzte und ineffiziente öffentliche Verwaltung sowie schlecht ausgebildete und ausgestattete Polizei und Streitkräfte. Vgl. weiterführend hierzu Holmquist 2005: 11ff. 6 So zumindest die Absicht vieler Auftraggeber von PMF. In der Realität führte das Engagement von PMF kei-neswegs notwendigerweise zu mehr Stabilität und einer raschen Beendigung von Konflikten. Vgl. kritisch hierzu Uesseler 2006: 158ff. 7 Zwischen 1987 und 1996 setzten nationale Armeen etwa sechs Millionen Angestellte frei (Spearin 2001: 27-28).

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Markt an. Viele ehemalige Soldaten bis hin zu Generälen erkannten die hohe und steigende Nachfrage nach Truppen und entschieden sich, wohl nicht selten auch aus finanziellen Gründen, für den Wechsel zu PMF.8 Einige unter ihnen gründeten auch eigene Militär-dienstleistungsunternehmen kleineren Umfangs und konnten somit ihren Beruf weiterfüh-ren. So wird die US-amerikanische PMF Blackwater von ehemaligen Navy-SEALS geleitet (CNN 2004). Aus den Beständen der Nationalarmeen generierte sich auf diese Weise eine Vielzahl privater Gewaltakteure, die ihre Dienste auf dem freien Markt anboten. Waren es ehemals ausschließlich Staatsregierungen, welche über den Einsatz ihrer Armeen entschie-den, so können heute auch private Unternehmen oder Organisationen aufgrund ihrer finan-ziellen Kapazitäten über den Einsatz armeeähnlicher Akteure (PMF) entscheiden.

Neben dieser hohen Anzahl an freigesetztem Personal überflutete eine Welle von mili-tärischem Gerät aus den noch an potentiellen Kriegsszenarien des Kalten Krieges ausge-richteten staatlichen Beständen den Markt. Leichte wie schwere Waffen aus den Beständen von NATO und Warschauer Pakt konnten zu relativ geringen Preisen von privaten wie staatlichen Interessenten leicht erworben werden. Nicht selten kam es zu Schenkungen, wie etwa im Fall der Überlassung von 304.000 Kalaschnikow-Sturmgewehren durch die Bun-desrepublik an die Türkei, da die Kosten der Zerstörung der Waffen eingespart werden sollten (GTZ 2001). Ein Großteil des „entsorgten“ Waffenmaterials fand seinen Weg in weniger industrialisierte Länder und Regionen, die durch Instabilität und Kriegsgefahr gekennzeichnet sind. Demokratische und rechtsstaatliche Kriterien wurden von Käufern nicht immer erfüllt, was für den Waffenhandel aber keine unüberwindbare Hürde darstellen sollte. Die bisweilen laxe Handhabung der Demobilisierungsprozesse in den industrialisier-ten Ländern trug dazu bei, dass sich regionale Konfliktparteien auf relativ einfachem Wege Waffenmaterial aneignen konnten.

Dieser auch aus der veränderten Weltsicherheitslage und nicht zuletzt aus budgetären Bedenken resultierende Trend zur Demobilisierung ging einher und wurde unterstützt von einer besonders in westlichen Industrienationen vorherrschenden Entwicklung hin zum sogenannten schlanken Staat. Im Zuge andauernder Privatisierungen zog sich der Staat bewusst aus vielen bislang von ihm besetzten Räumen zurück. Der Markt, so die hier hinter stehende Überzeugung, würde die bisher staatlich erfüllten Aufgaben effizienter bewältigen können. Diese Entwicklung erstreckte sich auch auf die Bereitstellung von öffentlichen Kerbgütern wie der Sicherheit. Für das Militär sollte das bisweilen drastische Folgen haben, wie es der ehemalige US-amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld ausdrück-te: „Alles, was nicht zum engsten Kernbereich des Militärs gehört, muss ausgelagert wer-den“ (Uesseler 2005: 325). Diese als Outsourcing bezeichneten Vorgänge, in diesem Fall die Auslagerung von sicherheitsrelevanten Aufgabenfeldern und Dienstleistungen an Priva-te, wurden von Regierungen mit den Zielen durchgeführt, die Streitkräfte kostengünstiger und effektiver betreiben zu können. Ehemals hoheitliche Felder wurden nun zum Gegens-tand von Vertragsverhandlungen zwischen öffentlicher Hand und Privaten, zum Gegens-tand von Angebot und Nachfrage.9 Was mit recht peripheren Dienstleistungen wie War-

8 Vgl. weitere Beispiele für diesen Sachverhalt bei Fuchs 2007: 115. 9 Dem beschriebenen Trend weitestgehend entgegen stellt sich bisher die Regierung der Niederlande. Mit der Absicht das Monopol über die Anwendung von Gewalt nahezu uneingeschränkt zu behalten, werden PMF nur in einem sehr geringen Maße engagiert (Gielink/Buitenhuis/Moelker 2007: 163).

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tungsarbeiten an Transportmitteln oder anderem technischen Gerät begann, führte immer weiter in die Kernkompetenzen staatlicher Verteidigung hinein.10

Diese Entwicklung wurde unterstützt von dem, was allgemein als „Revolution in Mili-tary Affairs“11 bezeichnet wird. Ein Aspekt dieser unterschiedliche Merkmale der Kriegs-führung und Streitkräfteorganisation umspannenden Begrifflichkeit ist die Tendenz, dass die Anzahl der in konkreten Kampfhandlungen verwickelter Soldaten ständig abnimmt. Kriege werden nicht mehr wegen der Größe der Heere entschieden. Die rasante technische Entwicklung macht es möglich, Gefechte per Mausklick an vom Schlachtfeld weit entfernt befindlichen Orten zu führen. Kampfsysteme werden immer komplexer und in der Bedie-nung und Wartung anspruchsvoller. Dazu bedarf es hochqualifizierter Spezialisten, welche nationale Armeen in der notwendigen Anzahl nicht aufbringen können.12 Der Rückgriff auf die auf dem freien Markt verfügbare Expertise soll diese Lücken schließen (Singer 2001: 195). Sukzessiv gewinnen PMF auf diese Art immer mehr Einfluss in ehemals relativ au-tark agierenden nationalen Militärapparaten. Heute ist diese Art von Dienstleistung aus vielen westlichen Armeen nicht mehr wegzudenken. Wie an anderer Stelle bereits gezeigt, begeben sich nationale Regierungen nach und nach in die Abhängigkeit privater Firmen, welche nach ihren eigenen Interessen, nämlich der Steigerung ihres Gewinns, handeln.

Ein weiterer Grund für die zunehmende Bedeutung von PMF für die internationale Si-cherheit liegt in der geringen Bereitschaft vor allem westlicher Staaten, ihre Truppen in bewaffneten Konflikten und Krisenregionen weltweit einzusetzen. Wie bereits angedeutet, hängt dies auch mit dem Wegfall der strategischen Notwendigkeiten des Kalten Krieges zusammen. Ein ausbleibendes politisches oder militärisches Engagement in einem Land bedeutet heute eben nicht mehr automatisch den Verlust dieser Region an die Einflusssphä-re des Klassenfeindes. Ob es zu einer Intervention welcher Art auch immer kommt, ist vielmehr Gegenstand langwieriger Abwägungen von Kosten und Nutzen sowie in den meisten Fällen einer ausgeprägten innenpolitischen Debatte. Westliche Gesellschaften im 21. Jahrhundert sind in der Regel nur schwer davon zu überzeugen, dass kostspielige, lang-fristige und gefährliche Einsätze mit möglichen Todesopfern notwendig sind, um nationale Interessen offensiv zu vertreten. Dieser Unwille bzw. diese Zögerlichkeit westlicher Demo-kratien stellt somit ein wesentliches politisches Hindernis für Interventionen ihrer politi-schen Führungen dar. Hierdurch gekennzeichnete Gesellschaften wurden als postheroische Gesellschaften bezeichnet.13 Innenpolitische Zustimmung zu militärischen Auslandseinsät-zen solcher Gesellschaften sind am ehesten zu erwarten, wenn mit ihnen (auch) humanitäre und moralische Ziele verfolgt werden.14

10 Von US-amerikanischer Seite wurde argumentiert, durch den Einsatz von PMF die Fähigkeiten der regulären Armee ergänzen und entlasten zu können (Petersohn 2006: 25). Diese Überlegungen greifen besonders, wenn zunehmend große Teile der Streitkräfte über einen längeren Zeitraum im Ausland stationiert werden und somit personelle Engpässe entstehen (Smith 2002: 115). Kritisch zur Umstrukturierung des US-Militärs Kagan 2006. 11 Zu den unterschiedlichen Aspekten dieser Entwicklung vgl. insbesondere Cohen 1996. 12 Weiter wird argumentiert, sinkende Geburtenraten würden Armeen westlicher Industrienationen vor ernsthafte Rekrutierungsprobleme stellen und ihre Einsatzfähigkeit schwächen (Maninger 2007: 70). 13 Ein Merkmal dieser Gesellschaften ist die mangelnde Bereitschaft, materielle und menschliche Opfer zur Durch-setzung vermeintlich nationaler Interessen in auswärtigen Krisen- und Kriegsgebieten zu erbringen. Daraus kann eine allgemeine Zögerlichkeit zur Intervention resultieren (Luttwak 2003: 101-116; Münkler 2003: 238-242). 14 Exemplarisch für diesen Sachverhalt sei an dieser Stelle daran erinnert, dass die deutsche Bundesregierung mit besonderer Intensität die moralische und humanitäre Begründung für den Einsatz deutscher Kampfjets im Kosovo-Krieg 1999 hervorhob.

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Des Weiteren ist es vor allem die Struktur vieler Streitkräfte, welche dem schnellen und effektiven Einsatz im Rahmen der beschriebenen Konfliktszenarien ein Hindernis ist. Über Jahrzehnte orientierte sich die Ausbildung und Ausrüstung nationaler Armeen an den im Rahmen des Kalten Krieges zu erwartenden großen zwischenstaatlichen Konflikten mit dem massiven Einsatz von schwerem Gerät und Truppen. Eine Neuausrichtung und Um-strukturierung der Streitkräfte an die neuen Erfordernisse kommt in vielen Ländern nur schleppend voran.15 Die Folge ist, dass ein Großteil der Soldaten nicht einsatzfähig ist und Regierungen, den politischen Willen vorausgesetzt, nur selten die militärischen Fähigkeiten besitzen, ihre Truppen in den jeweiligen Konfliktregionen einzusetzen. Fehlender politi-scher Wille wie militärische Kapazitäten schlagen sich ebenfalls in der mangelnden Inter-ventionsbereitschaft der Vereinten Nationen nieder. Die in sie gesetzten Hoffnungen einer starken Weltordnungsmacht mit internationaler Legitimation wurden nicht zuletzt aufgrund organisationsinterner Probleme, wie der chronischen Unterfinanzierung, oder politischer Streitigkeiten im Weltsicherheitsrat enttäuscht. Trotz eines Anstiegs von Missionen der Vereinten Nationen (VN) seit dem Ende des Kalten Krieges ist die Anzahl der operierenden Truppen in Relation zu dem Ausmaß weltweiter Konflikte gering.16 Wenn Staaten und internationale Organisationen nicht fähig oder willens sind, militärisch zu intervenieren, stellen PMF eine zumindest kurzfristig adäquate Option zur Einflussnahme in gewaltsamen Konflikten dar, bei der vor allem die politischen Kosten auf der Seite der Auftraggeber kaum ins Gewicht fallen. Wird dieses Verhalten zur gängigen Praxis, stellt sich die Frage danach, wer Sicherheit in Zukunft organisieren soll oder wird, neu.

4 Ein Modell der Typologisierung

In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit PMF wurden bereits mehrere Versuche unternommen, die kaum überschaubare Anzahl im Sicherheitssektor agierender privater Firmen zu klassifizieren.17 Dies gestaltet sich schon deshalb schwierig, weil PMF in Orga-nisationsform, Größe, Ausrichtung und Aufgabenspektrum sehr variieren. Einige unter ihnen erledigen eher klassisch zivile Versorgungsleistungen, wohingegen andere sich auf den militärischen Kampf spezialisiert haben und im Kriegsgeschehen an vorderster Front stehen. Der am ehesten anzutreffende Fall ist eine Private Militärfirma mit einem sich über eine Vielzahl von Leistungen erstreckenden Angebotsspektrum. Eine eindeutige Zuordnung wird somit a priori nicht möglich. Auch die Benennungen im deutschen wie im angloame-rikanischen Sprachraum sind uneinheitlich, und nicht selten findet man für die prinzipiell

15 In Deutschland ist von den insgesamt etwa 250.000 Bundeswehrsoldaten nur ein geringer Teil im Ausland einsatzfähig. Mancherorts wird argumentiert, die Bundeswehr sei wegen ständig steigender Anforderungen bei relativ gleichbleibendem Wehretat und den daraus resultierenden Mängeln bei der Ausrüstung nur bedingt einsatzbereit (Lange 2005). Die Bundeswehr leide an chronischer Unterfinanzierung, was insbesondere im Falle des Kongo-Einsatzes zu katastrophalen Mängeln bei der Ausstattung geführt habe (Meiers 2006: 348-350). Derzeit beteiligen sich rund 7.500 Soldaten an Einsätzen der VN, EU und NATO (Bundeswehr 2007). 16 Derzeit befinden sich etwa 70.000 Soldaten im Rahmen von VN-Missionen im Einsatz. Zu beachten ist hierbei die unterschiedliche Qualität der Einsätze in Bezug auf den jeweiligen Auftrag (Mandat) und die jeweilige Fähig-keit (Vereinte Nationen 2007). 17 Versuche, PMF nach aktiven und passiven Tätigkeiten, der (Nicht-)Bewaffnung ihrer Mitarbeiter, ihrer Interna-tionalität und offensiver oder defensiver Ausrichtung einzuteilen, waren bisher wenig schlüssig und somit un-brauchbar (Singer 2006: 153-156).

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gleiche Firma verschiedene Bezeichnungen.18 Das bisher schlüssigste Konzept ist das soge-nannte Speerspitzenmodell von Peter Singer, da es eine relativ widerspruchsfreie Klassifi-zierung und Aussagen über alle Typen von PMF zulässt. Die dahinter stehende Idee ist die Einteilung der PMF nach ihrer Fähigkeit Gewalt anzuwenden, welche im Wesentlichen von ihrer Entfernung zum Gefechtsfeld abhängt. Überträgt man dieses bereits aus militärischen Organisationen bekannte Modell auf die Branche der privaten Militärdienstleister, so erhält man eine Gliederung in drei Grundtypen: Erstens Militärdienstleister mit direktem Enga-gement im Kampfgeschehen, zweitens militärische Beraterfirmen, die sich im Besonderen mit der Ausbildung des Personals beschäftigen, und drittens Anbieter peripherer Dienstleis-tungen wie der technischen Unterstützung oder Versorgung der Truppen.19 Auf diese Typen soll folgend eingegangen werden.

Die Kategorie der Militärdienstleister umfasst PMF, die ihre Leistungen an vorderster Front erbringen. Ihre Mitarbeiter sind demnach als Bodentruppen, Kampfpiloten oder an-derweitige Spezialisten direkt in Kämpfe innerhalb bewaffneter Konflikte involviert, wie dies in Angola, Sierra Leone, Papua-Neuguinea und Indonesien der Fall war. Ihre Auftrag-geber können sowohl Staatsregierungen als auch private Firmen sein, die sich in einer be-drohlichen Sicherheitslage befinden – sei es aufgrund eines Bürgerkriegs oder aufgrund von Anschlägen mit terroristischem Hintergrund. Die PMF können ihr Leistungsspektrum in verschiedenem Umfang, den Anforderungen der Lage und des Auftraggebers entsprechend, zur Verfügung stellen. Denkbar ist zunächst die Abstellung vollständiger Kampf- und Ver-sorgungseinheiten, die relativ unabhängig operieren können. So geschehen ist dies im Fall der mittlerweile aufgelösten südafrikanischen PMF EO in Sierra Leone.20 Die Anzahl die-ser kriegserfahrenen Spezialisten ist für ihren Erfolg weniger entscheidend als die Fähigkeit zu schnellen und gut koordinierten Bewegungen, mit denen sie die an reiner Mannkraft oftmals überlegenen, aber militärisch nur defizitär geschulten gegnerischen Truppen besie-gen können.

Möglich ist aber auch die Eingliederung von Spezialisten in die bestehenden Truppen des Auftraggebers. Die in der Regel besser ausgebildeten und ausgestatteten PMF-Spezialisten, die nicht selten jahrelang in regulären Armeen gedient haben und Erfahrungen im Kampfgeschehen besitzen, geben als Befehlshaber ihre Kenntnisse und Führungsquali-täten an die Kämpfer weiter und erhöhen somit die Schlagkraft des gesamten Verbandes. Einige Firmen bringen neben dem Personal auch modernes technisches Gerät und komple-xe Waffensysteme ins Kampfgeschehen ein, welche für den Auftraggeber nicht zu unterhal-ten waren und denen des Gegners weit überlegen sind. Neben dem unmittelbaren Engage-ment auf dem Gefechtsfeld, werden PMF auch bei der Organisation bestehender und der Rekrutierung neuer Truppen tätig. Vor dem Hintergrund einer oftmals kaum vorhandenen Disziplinierung und Qualifikation der Truppen ihrer Auftraggeber (Regierungen mit schwach ausgebildeten oder unzureichend organisierten Streitkräften), kann die Expertise schon weniger Spezialisten einen großen Einfluss auf den Erfolg haben. Das Beispiel der

18 Relativ undifferenziert werden Bezeichnungen wie „Private Military Firms“, „Private Military Companies“, „Private Security Firms“, „Private Security Companies“, „Private Söldnerfirmen“, „Private Militärfirmen“, „Priva-te Militärdienstleister“ oder „Private Sicherheitsfirmen“ verwendet. 19 Wie bei jeder Typologisierung gilt es auch hier zu beachten, dass einige der zu untersuchenden PMF nicht eindeutig zuzuordnen sind bzw. ihr Dienstleistungsspektrum über einen Typ hinausgeht (Singer 2001: 200). 20 Hier wurden der Regierung Bodentruppen in Bataillonsgröße, unterstützt von Artillerie, Transport- und Kampf-hubschraubern, Jagd- und Transportflugzeugen, einem Transportschiff sowie einer Unterstützungstruppe von Spezialisten aller Art, angeboten (Singer 2006: 160).

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afghanischen Nordallianz und deren Unterstützung durch Spezialisten der US-Armee ver-deutlicht diesen Effekt. Peter Singer merkt in diesem Zusammenhang kritisch an, dass sich Firmen der Kategorie Militärdienstleister nur schwer identifizieren lassen. Die aufgrund ihres aktiven militärischen Engagements häufig kritisierten PMF spielen ihren tatsächlichen Einfluss auf das Kriegsgeschehen oftmals herunter und geben an, lediglich beratend oder als Ausbilder tätig zu sein, auch um nahender Kritik auszuweichen. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass solange eine Nachfrage nach dieser Art von Dienstleistungen besteht, diese auch von PMF erbracht werden (Singer 2006: 162).

Von der Kritik blutiger Dienstleistungen weniger betroffen sind militärische Bera-tungsfirmen. Dies ist insofern inkonsequent, als ein hoher Wissens- und Ausbildungsstand mindestens genauso wichtig sein kann, wie die eigentliche Feuerkraft auf dem Gefechts-feld. Firmen dieses zweiten Typs wie MPRI (Military Professional Resources Incorporated) oder DynCorp haben sich vor allem auf Beratungs- und Schulungsleistungen spezialisiert. Über strategische, operative und Organisationsanalysen soll die Arbeitsweise und Struktur der Verbände des Auftraggebers verbessert werden. Hier sind Überschneidungen mit dem Aufgabenspektrum des vorherigen Typus erkennbar. Der idealtypische Unterschied liegt jedoch darin, dass nicht die Mitarbeiter der Beratungsfirmen, sondern ausschließlich die Truppen des Auftraggebers aktiv ins Kriegsgeschehen eingreifen (Singer 2006: 163). Dem-entsprechend und der Logik der Typologisierung folgend, sind auch die klassischen Tätig-keiten der Beratungsfirma relativ weit vom Kriegsschauplatz entfernt und ähneln in vielen Punkten zivilen Beratungsfirmen. Der Auftraggeber, der sich mit seinen Truppen zumeist in einer längerfristigen Phase der Umstrukturierung oder Erweiterung befindet, verlangt eine professionelle Einschätzung der Gesamtlage und Empfehlungen für nächste Hand-lungsschritte, um der Problemlösung möglichst schnell näher zu kommen. Die PMF wie-derum kann durch ihren großen Kreis an kriegserfahrenen, bisweilen hochdekorierten Mili-tärs die dazu notwendige Expertise zur Verfügung stellen. Eine Trennlinie innerhalb dieses Typus kann dort gezogen werden, wo Firmen von der reinen Lage- und Handlungsanalyse zu umfassenden Schulungen mit dem Ziel der Umsetzung ihrer Empfehlungen übergehen. Dabei zielt die Formulierung der Empfehlungen oftmals darauf ab, den Auftraggeber in Form weiterer Verträge an die PMF zu binden und somit den Profit zu erhöhen. Das inten-sive Engagement der PMF kann auch dazu führen, dass die eigentliche Absicht des Auf-traggebers, nämlich der Aufbau einer eigenständigen modernen Armee unter autonomem Kommando, ins Gegenteil umschlägt. Denn gibt der Auftraggeber nach und nach Kompe-tenzen und Bereiche seiner Streitkräfte an PMF ab, kann seine Armee in eine Abhängigkeit an externe Fachkompetenzen geraten, aus der sie sich nur schwer wieder lösen kann. Die Dienste der PMF werden somit für die Funktionsfähigkeit der Streitkräfte unverzichtbar und eine langfristige Bindung des Kunden ist die Folge.

Vom Gefechtsfeld am weitesten entfernt und somit am Ende der Speerspitze angesie-delt, ist der Sektor der militärnahen Dienstleister. Hier kommen die Mechanismen und Überlegungen der als Outsourcing bekannten Prozesse aus der Privatwirtschaft besonders zum Tragen. In diesem Kontext sind es jedoch überwiegend staatliche Armeen, die zivile, sich außerhalb ihrer Kernkompetenzen befindende, Dienste aus den Bereichen Logistik, Aufklärung, Technik, Nachschub und Transport an private Firmen auslagern, um deren Expertise zur Erhöhung der Effizienz der Streitkräfte zu nutzen oder lediglich Kosten ein-zusparen (Singer 2006: 165). Besonders Armeen im Einsatz nutzen diese Optionen, denn sie erhoffen sich dadurch eine verbesserte Fokussierung ihrer Kräfte auf das operative Ge-

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schehen in den Konfliktregionen. Deutlich zum Tragen kommt diese Logik bei den US-amerikanischen Streitkräften, die sich seit dem Einmarsch in den Irak im März 2003 per-manent am oberen Einsatzlimit befinden und im zunehmenden Maße Versorgungsleistun-gen ausgliedern. Im Fall erhöhter Nachfrage, wenn also die Armee im Einsatz ist, können die speziell benötigten Leistungen auf dem freien Markt kurzfristig eingekauft werden. Sinkt hingegen der Bedarf oder fällt er sogar gänzlich weg, können die Geschäftsbeziehun-gen zu den PMF relativ schnell beendet werden und die Kosten für die Aufrechterhaltungen nicht benötigter Leistungen entfallen.21

In Deutschland sind die von der Bundeswehr vorgenommenen Ausgliederungsmaß-nahmen durch das Grundgesetz auf diesen Bereich der militärnahen Dienstleister be-schränkt. Zur Umsetzung und Koordinierung der Privatisierungsprozesse wurde im Jahr 2000 die Gesellschaft für Entwicklung, Beschaffung und Betrieb (g.e.b.b.) gegründet. Diese privatrechtliche und gewinnorientierte Gesellschaft versteht sich als „betriebswirtschaftli-cher Berater“ und „Bindeglied zwischen Bundeswehr und Privatwirtschaft“. Ziel ist es, die nicht dem Kernbereich zugehörigen Aufgaben der Bundeswehr auszulagern und somit den Verteidigungshaushalt langfristig zu entlasten (g.e.b.b. 2007). Gemessen an den Vorgaben, wurde die Arbeit der g.e.b.b. bisweilen als ineffizient und wenig erfolgreich bewertet. Langfristige Kosteneinsparungen, welche über die Effekte einmaliger Veräußerungen hi-nausgingen, hätten nicht bewiesen werden können.22

Diese Mechanismen sind in alltäglichen zivilen Geschäftsbeziehungen gängige Praxis, und auch die oft multinational aufgestellten PMF selbst erinnern in Struktur und Verhalten an die Spieler im globalisierten Weltwirtschaftssystem. Firmen streben nach Profit, stoßen unrentable Zweige ab und versuchen sich durch Einkauf in andere Firmen neue Märkte zu erschließen. Viele der großen PMF sind börsennotiert und orientieren sich an den Erwar-tungen der Aktionäre, die ihrerseits wiederum auf eine möglichst hohe Rendite in diesem umsatzstärksten Sektor der militärnahen Dienstleistungen hoffen. Diese Nähe zur zivilen Wirtschaft darf jedoch nicht dazu führen, die Aktivitäten der jeweiligen PMF ebenfalls unter der Kategorie „zivil“ einzuordnen und sie lediglich als Lieferanten oder ähnliches zu bezeichnen. Vielmehr erfüllen sie für die Aufrechterhaltung der Versorgungskette vitale Aufgaben wie Truppentransporte, die Verlagerung militärischen Geräts oder die Versor-gung der Soldaten, ohne die eine Fortführung der Kampfhandlung kaum möglich wäre. An dieser Stelle verdeutlicht sich der Trend zur Auslagerung auch solcher staatlichen Aufga-ben, deren Erfüllung für die grundlegende Gestaltungskraft des Staates zwingend notwen-dig sind.

21 Die Gründe, weshalb PMF im Vergleich zu staatlichen Armeen vermeintlich billiger arbeiten können, sind nach Uesseler vor allem der Wegfall der Kosten für Rekrutierung, Ausbildung und Evaluation des Personals, die Mög-lichkeit, Mitarbeiter kurzfristig zu entlassen, sowie die kaum vorhandenen Fixkosten in Form von Maschinenparks und teuren Waffensystemen. PMF ist es somit im Vergleich zu nationalen Armeen möglich, ihren Angestellten überdurchschnittlich höhere Löhne zu zahlen (Uesseler 2005: 330). 22 Weiterführend zur Frage der Privatisierung der deutschen Streitkräfte vgl. Richter 2007.

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5 Auswirkungen der PMF auf die internationale Sicherheit

5.1 Grundlegende Veränderungsprozesse

Die Öffnung des Staates in zweifacher Hinsicht ist kein neues Phänomen. Das 20. Jahrhun-dert hat grundlegende Veränderungen der innerstaatlichen und internationalen Politik mit sich gebracht. Wird unter Politik die Verfolgung bestimmter Interessen mit den Mitteln der Macht23 verstanden, haben im vergangenen Säkulum zahlreiche neue „politische“ Akteure die Bühne betreten.24 In der internationalen Politik sind dies in erster Linie IO, international tätige bzw. multinationale Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen (NRO), internatio-nal agierende Terroristenverbände sowie paramilitärische und semi-staatliche Organisatio-nen.25 Das Interessens- und Beziehungsgeflecht zwischen diesen Akteuren und den Staaten ist idealtypisch in vier Kategorien zu unterteilen: Erstens können die neuen Akteure isolier-te Interessen verfolgen, die neben die staatliche Politik treten (z.B. das Interesse eines Un-ternehmens, seinen Gewinn zu steigern), zweitens können sie sich bestimmte Interessen mit den Staaten teilen (z.B. das Interesse einschlägiger NROs, humanitäre – damit auch stabili-sierende – Hilfe in ehemaligen Konfliktregionen zu leisten), drittens staatliche Interessen in deren Auftrag verfolgen (teilweise die Aufgabe der IO, die von den Staaten für eine konkre-te Aufgabe gegründet wurden) und schließlich Interessen verfolgen, die den staatlichen entgegen stehen (z.B. die Konkurrenz mit einem völkerrechtlich anerkannten Staat um ein Herrschaftsgebiet). Welche Interessen diese Akteure auch immer verfolgen, in jedem Fall treten sie hierdurch in Interaktion mit den Staaten, da diese, als nach wie vor zentrale Ak-teure der internationalen Politik, mindestens indirekt durch die „Politik“ der neuen Akteure berührt werden. Der Staat ist so vom einzigen zu einem, wenngleich dominierenden, Akteur unter vielen in der internationalen Politik geworden. Er teilt „seine“ Handlungsfelder nun-mehr mit weiteren Akteuren.

Die zweite Form der Öffnung des Staates meint, dass dieser nichtstaatliche Akteure an der Verfolgung seiner eigenen Interessen teilhaben lässt bzw. sich dieser bedient, um seine Interessen effizienter verfolgen zu können. In der Außenpolitik geschieht dies jedoch bis heute nur sehr eingeschränkt. Es handelt sich um ein Politikfeld, in dem hauptsächlich staatliche Kernaufgaben zu erfüllen sind, worunter demokratische Rechtsstaaten die Wah-rung von Sicherheit, Wohlstand und Freiheit der eigenen Bevölkerung verstehen. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Staaten die Wahrnehmung bzw. Vertretung dieser Kerninte-ressen so weit wie möglich bei sich selber zu monopolisieren suchen (Singer 2006: 28-29). Die internationale Sicherheitspolitik ist mithin qua natura nur sehr eingeschränkt dazu ge-eignet, Gegenstand staatlich-privater Arbeitsteilung zu werden.

Dennoch geschieht dies, wenn Staaten die Dienstleistungen von PMF in Anspruch nehmen. Zugleich werden die PMF hierdurch selber zu einem Akteur in der internationalen Politik – mit dem Interesse, Gewinn zu erzielen und zu steigern. Beides, die Partizipation der PMF an staatlicher Sicherheitspolitik und ihr Aufkommen als eigenständiger Akteur,

23 Im Sinne Max Webers: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstand durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“ (Weber 1976: 28). 24 Für die idealistische Schule der Internationalen Beziehungen hat diese Entwicklung bereits zu einer „Gesell-schaftswelt“ geführt, deren Mechanismen sich grundlegend von denen der früheren „Staatenwelt“ unterscheiden (Czempiel 1999). 25 Solche Organisationen, die de facto Herrschaft über einen Personenkreis auf einem bestimmten Territorium ausüben.

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übt Einfluss auf die praktische Politik aus, der bei der theoretischen Reflexion zu berück-sichtigen ist. Es wurde dargelegt, dass die Zeit, in der Sicherheitspolitik ausschließlich zwischen Staaten angesiedelt war, (wieder) vorüber ist. „The twenty-first century is witnessing the gradual breakdown of the Weberian monopoly over the forms of violence“ (Singer 2001: 187). Diese Zeit brachte der Praxis den Vorteil, die militärische Gewaltausübung bei identifizier-baren Akteuren (den souveränen Staaten) angesiedelt zu wissen, die formelle und informel-le Regeln des Umgangs miteinander vereinbarten und hierdurch den Krieg wenigstens ein-hegen konnten. Der Theorie ermöglichte diese Entwicklung, sich auf das Innenleben und Außenverhalten der Staaten zu konzentrieren, wenn sie Gesetzmäßigkeiten für die Ursa-chen und Verläufe militärischer Konflikte identifizieren und Strategien entwickeln wollte, um diese zu vermeiden. Die Privatisierungselemente in der internationalen Sicherheitspoli-tik insgesamt schränken den Wert solcher staatszentrierter Theoriebildungen und die Mög-lichkeiten der Kriegseinhegung ein (Wulf 2005; Daase: 2003; Daase 1999). In diesem Rahmen sind auch die Auswirkungen zu verorten, die PMF durch ihre Existenz und ihr Handeln auf die internationale Sicherheitspolitik insgesamt ausüben.

5.2 Die Implikationen der Nutzungvon PMF durch Staaten

Mit dem Wandel der internationalen Sicherheitsarchitektur seit 1990 haben sich auch die Ziele gewandelt, die von den Staaten mit den Mitteln des Militärs verfolgt werden. Die abstrakte Ebene bleibt hiervon jedoch unberührt: Staaten verfolgen weiterhin politische Ziele, wenn sie das Politikmittel Militär einsetzen.26

Die Wahl militärischer Mittel ist nur notwendig, wenn ein politisches Ziel gegen den Widerstand von Akteuren mit entgegen stehenden Willen durchgesetzt oder abgesichert werden muss.27 Unabhängig davon bleibt die Angemessenheit der dann notwendigen mili-tärischen Mittel im Verhältnis zum Ziel zu prüfen. Letzten Endes ist dies die Aufgabe des Soldaten vor Ort, der somit auch den Bedrohungen durch die Akteure mit den jeweils ent-gegenstehenden Willen ausgesetzt wird. Lebensgefahr ist der Aufgabe eines zu Recht ein-gesetzten Soldaten (in unterschiedlicher Intensität) inhärent. Hierdurch begründet sich ein besonderes Verhältnis zwischen dem Staat, der den politischen Willen formuliert und den militärischen Kräften, die den Willen unter Lebensgefahr umsetzen. Für den Staat ist es zum einen von grundlegender Notwendigkeit, die Bindung seiner militärischen Kräfte an ihn so eng wie möglich zu gestalten, damit diese sich ihrer lebensgefährlichen Aufträge nicht entziehen. Demokratische Rechtsstaaten tragen zudem eine besondere Verantwortung dafür, die Gefahr für ihre Soldaten nach Kräften zu minimieren. Umgekehrt bedürfen die Militärkräfte hinreichender Anreize, um im Auftrag des Staates lebensgefährliche Aufga-ben auszuführen. Diese Einsichten haben in der Geschichte mit dazu geführt, den Krieg zu verstaatlichen.

In Gliederungspunkt vier dieses Beitrages wurden die verschiedenen Dienstleistungen der PMF aufgeführt und typologisiert. Je nach Angebotstyp stehen diese Dienstleistungen in unterschiedlicher Nähe zum eigentlichen Umsetzungsmoment des verfolgten politischen

26 In Gliederungspunkt zwei und drei wurden Beispiele dieser neuen Ziele genannt und zugleich darauf hingewie-sen, dass manche nichtstaatlichen Akteure der Gegenwart militärische Mittel nicht verwenden, um ein definiertes Ziel zu erreichen, sondern um des Willens des bewaffneten Konflikts. 27 Worunter auch heute noch das Ziel von „Krieg“ zu verstehen ist: „Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen“ (Clausewitz 2003: 27).

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Zieles (von mittelbarer Unterstützung in den Heimatstaaten bis hin zu unmittelbarer Unter-stützung vor Ort). Je näher die kommerzielle Dienstleistung dem entscheidenden Moment der militärischen Umsetzung des politischen Willens kommt, desto stärker wird sie zur lebensgefährlichen Kernaufgabe. Hierin liegt ein gravierendes Problem der Nutzung von PMF durch Staaten. Eine Bindung besonderer Qualität zwischen ihnen und den kommer-ziell eingesetzten Kräften ist, im Gegensatz zu militärisch eingesetzten Staatsbürgern, nicht gegeben. Das Bindeglied zwischen beiden ist ein Vertrag, der eine marktwirtschaftliche Austauschbeziehung festschreibt. Damit steigt die Gefahr, dass die eingekauften Kräfte sich ihren Aufgaben entziehen, wenn sie die Lebensgefahr als zu hoch wahrnehmen und die marktwirtschaftlichen Anreize als Motivation nicht mehr ausreichen, sich dieser Gefahr auszusetzen. Die verschiedenen Typen militärischer Dienstleistungsangebote bringen diese Gefahr dementsprechend in abgestufter Intensität mit sich (Petersohn 2006: 9-11; Singer 2001: 200-202). Diese Schlüsse entspringen konsequenter Logik. Beobachtungen bisheriger Einsätze von PMF kommen allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen: Es existieren Beispiele für Zuverlässigkeit ebenso wie für Unzuverlässigkeit des eingesetzten Personals unter lebensgefährlichen Bedingungen (Petersohn 2006: 10; Greenfield/Camm 2005: 136).

Über diesen Aspekt hinaus, ist die Teilnahme markwirtschaftlicher Akteure an staatli-cher Sicherheitspolitik mit einer strukturellen Gefahr für den Staat versehen. Die Ziele der Staaten im Politikfeld Sicherheitspolitik sind (ebenso wie grundsätzlich in jedem Politik-feld) nicht marktwirtschaftlich, im Sinne einer monetären Kosten-Nutzen-Kalkulation, ausgerichtet. Zudem wird hier die Produktion des öffentlichen Kerngutes Sicherheit ange-strebt. Ein Ziel, dem demokratische Rechtsstaaten jegliche andere Ziele unterordnen (müs-sen). Damit existiert ein grundsätzlicher Zielkonflikt zwischen dem auftraggebenden Staat und dem ausführenden marktwirtschaftlichen Akteur. Der Staat verfolgt sein Ziel am effi-zientesten, wenn er die entsprechende Handlungskette vom politischen Entschluss bis zur Umsetzung des Entschlusses auf eine optimale Verwirklichung des gesetzten Zieles hin ausrichtet.28 PMF bedienen ihre marktwirtschaftlichen Interessen am besten, wenn ihr Han-deln zu jedem Zeitpunkt von Kostenminimierung und Gewinnmaximierung geleitet ist. „Clear tensions exist between a PMF client’s security objectives and a firm’s desire to maximize profit“ (Singer 2001: 203). Dieser Interessenskonflikt zwischen Staaten und PMF kulminiert in der jeweiligen Perspektive auf das Ende eines militärischen Engagements. Für rational agierende Staaten ist dies der anzustrebende Zielpunkt, der mit der Verwirklichung des politischen Zieles einhergeht, für rational agierende PMF das zu vermeidende Ende einer Umsatzmöglichkeit. Vertreter von PMF weisen die Schlüsse zurück, indem sie ihre Rationalität nicht gelten lassen: Ein Verhalten, das dem Willen des Auftraggebers zuwider liefe, führe zu einem massiven Reputationsschaden, der langfristig viel kostspieliger sei (so etwa Christopher Beese im Interview mit einem der Autoren (Beese 2006)). Dieses Argu-ment muss allerdings im Lichte der unten erörterten Diskussion darüber betrachtet und bewertet werden, inwieweit den Staaten entsprechende, umfassende und effektive Vorge-hens- und Ergebniskontrollen möglich sind.

28 Das marktwirtschaftliche Verhalten der PMF sollte der Theorie nach auch für den einkaufenden Staat Kostenef-fizienz herbeiführen (Schreier/Caparini 2005: 80). Diese hat der Staat jedoch der Effektivität in der Verfolgung seines politischen Zieles unterzuordnen. Zudem wird bestritten, dass für militärische Dienstleistungen eine wirkli-che Marktstruktur existiert. Vielmehr wird ein Oligopol identifiziert, weswegen auch der vermeintliche Vorteil der Kosteneffizienz kritisch zu hinterfragen sei (Makinson 2004; Markusen 2001).

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Das marktwirtschaftliche Glied in der Kette politischer Entscheidungen und deren Umset-zungen birgt weitere, jenseits der Effektivität liegende Probleme. Für Demokratien ist die Wahl militärischer Mittel grundsätzlich unerwünscht. Sie kommen als sogenannte ultima ratio in Betracht, d.h. nur dann, falls – um sich einer Anleihe aus der Rechtswissenschaft zu bedienen – keine gleichermaßen geeigneten, sanfteren Mittel zur Verfügung stehen, um das gesetzte Ziel zu erreichen, und wenn dieses Ziel in einem angemessenen Verhältnis zu den Folgen der Mittelwahl steht. Anders formuliert: Ein politisches Ziel muss von elementarer Wichtigkeit sein, damit eine Demokratie die mit Krieg einhergehenden Folgen von Tod und Zerstörung verantworten kann. Ist das Mittel Militär gewählt, verlangen die normativen Ansprüche einer Demokratie nach Kontrolle der kriegerischen Vorgänge durch den Souve-rän bzw. dessen Repräsentationsorgan. Die Einhaltung des Kriegsvölkerrechts, des humani-tären Völkerrechts und die strikte Begrenzung und Ausrichtung der militärischen Mittel auf das politische Ziel sind zu überwachen. Dieser Anspruch ist in der Sicherheitspolitik einer Demokratie mit dem konkurrierenden Effektivitätserfordernis autonomer, militärischer Entscheidungen nach Möglichkeit auszugleichen, letztlich aber überzuordnen (Schrei-er/Caparini 2005: 61). Die Kontrolle wiederum erfordert eine strikte Subordination des Militärs unter die politischen Organe und einen hinreichenden Zugang der Repräsentations-organe zu den Entscheidungsfindungen der Exekutive und ihren Vorgaben an die militäri-sche Führung. In unterschiedlicher Form haben demokratische Rechtsstaaten Mechanismen entwickelt, die diese Kontrolle gewährleisten sollen und die militärische Führung der politi-schen strikt unterordnet.29 Die Vorgabe der strikten Begrenzung der Ausübung militärischer Gewalt auf die Erreichung des politischen Zieles erreicht den Soldaten vor Ort durch die Mittel militärischer Disziplin und des Gehorsams.

Die Auslagerung militärischer Aufgaben an PMF löst die Erfüllung dieser Aufgaben aus der unmittelbaren Eingliederung in die staatlichen Strukturen und Mechanismen der Kontrolle. Die Weisungs- und Berichtskette (von der Politik an das Militär und umgekehrt) wird unterbrochen. Die Anwendung der Mittel zur Durchsetzung der Kontrollansprüche im innerstaatlichen (disziplinar- und strafrechtliche Normen) wie im zwischenstaatlichen Ver-kehr (völkerrechtliche Normen) wird erschwert. Zwar existieren Möglichkeiten der rechtli-chen Handhabe, doch bleiben diese deutlich hinter denjenigen für Angehörige staatlicher Streitkräfte zurück (Schaller 2005).30 Den Staaten verbleibt, wie jedem Auftraggeber, eine abschließende Erfolgskontrolle. Zwar wäre es darüber hinaus denkbar, umfassende Er-folgskontrollen durch staatliche Stellen einzuführen. Doch würde ein so intensives Enga-gement der Staaten in den ausgelagerten Aufgabengebieten die Auslagerung weitestgehend ad absurdum führen (Singer 2006: 248). Dies führt zu einem Kernproblem bei der Übertra-gung gerade sicherheitspolitischer Aufgaben an private Akteure: Wird eine Aufgabe ausge-lagert, möchte der Staat hierdurch ein Ziel erreichen, ohne den Weg dorthin selber beschrei-

29 Der stärkste Ausdruck dieser Demokratisierung von Sicherheitspolitik ist die sogenannte Parlamentsarmee. Die Entsendung und (eingeschränkt) auch der Rückruf einer solchen Armee ist dem Parlament vorbehalten. Unterhalb dieser Schwelle existieren weitere Kontroll- und Zugriffsrechte, in erster Linie über das Haushaltsrecht. 30 Als Reaktion auf die Tötung von Zivilisten durch die PMF „Blackwater“, hat die US-amerikanische Regierung im Dezember 2007 Richtlinien für den Einsatz von PMF im Irak erlassen, um nach eigenen Angaben deren Kon-trolle und Koordinierung zu verbessern. Von Experten werden diese jedoch als weitestgehend unzureichend ange-sehen, da sie Fragen der juristischen Verantwortung von PMF sowie deren Überwachung nicht behandelten.

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ten zu müssen.31 Doch in der internationalen Sicherheitspolitik ist eben nicht nur das Ziel, sondern in besonderem Maße auch der Weg von Bedeutung.

Ein weiteres Defizit in der Umsetzung der Ansprüche von Demokratien an ihre inter-nationale Sicherheitspolitik durch den Einkauf privater Militärdienstleistungen ist der feh-lende Bezug des Staates zu möglichen Opfern. Es handelt sich nicht um Staatsbürger, was die Identifikation des jeweiligen Souveräns und seiner Repräsentationsorgane mit ihnen massiv verringert. Damit ist es strukturell nicht gesichert, dass der Verlust von Menschen-leben in gleicher Weise in der Entscheidungsfindung von Öffentlichkeit und politischer Elite berücksichtigt wird, wie es beim Einsatz ausschließlich staatlichen Militärs der Fall wäre. Konsequent weiter gedacht, kann dies in der Perspektive der Idealistischen Schule der Internationalen Beziehungen zu einer Gefährdung der Idee des demokratischen Frie-dens führen. 32

Der durch den Einsatz von PMF gefährdete Selbstanspruch demokratischer Rechts-staaten ist nicht nur für sich genommen von Bedeutung. Über ihre internationale Sicher-heitspolitik erwirken die Staaten Ergebnisse und zeitigen (auch ungewollte) Folgen, die ihnen durch andere Staaten und IO zugerechnet werden. Den Zugriff auf Teile ihrer interna-tionalen Sicherheitspolitik auf andere Akteure zu übertragen, für ihre Ergebnisse und Fol-gen aber – jedenfalls nach den Regeln der internationalen Politik – verantwortlich zu blei-ben, ist für die Staaten naturgemäß prekär.

Die Möglichkeit, militärische Dienstleistungen auf dem freien, internationalen Markt einzukaufen, bringt einen weiteren Aspekt mit sich, der große Bedeutung gewinnen könnte. Sie erleichtert staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren den Eintritt in Konflikte niedriger Intensität und erhöht ihre Fähigkeit, diese über längere Zeit zu führen. Was bisher im Kon-text der Ansprüche demokratischer Rechtsstaaten an ihre internationale Sicherheitspolitik diskutiert wurde, stellt sich ohne diese Ansprüche vollkommen anders dar. Staaten, die einen militärischen Konflikt anstreben, unterliegen durch den Einkauf militärischer Leis-tungen weniger dem Erfordernis, eigene Staatsbürger (durch Anreize oder Zwang) als Sol-daten zu rekrutieren und deren Leben zu riskieren. Damit sinkt ihr Risiko, wegen innenpoli-tischen Drucks oder gar Unruhen, Konfliktführungen modifizieren oder beenden zu müs-sen. Auch können die Einschränkungen der Transparenz und die Schwierigkeit, Verant-wortlichkeiten zuzuordnen, gezielt fokussiert und genutzt werden, um Ziele zu erreichen, ohne sich die entsprechenden Mittel zurechnen lassen zu müssen. Einzuschränken ist, dass es sich hierbei um deklaratorische Politik handelt. Ihre Reaktionen adressieren die (jeden-falls derzeit noch) zentralen Akteure der internationalen Politik, die Staaten, an ihresglei-chen. Die fehlenden Druck- und Sanktionsmöglichkeiten gegenüber dem eingekauften Personal bedeuten jedoch auch für solche Staaten Effektivitätseinbußen.

31 Die Gründe hierfür können verschiedener Natur sein. Auf die Diskussion darüber, ob der Grund der Kosteneffi-zienz im Fall des Einkaufs militärischer Dienstleistungen einschlägig ist, wurde bereits hingewiesen.32 Ausgehend von Immanuel Kants Traktat „Zum ewigen Frieden“ besagt das Theorem des demokratischen Frie-dens, grob zusammengefasst, dass Bevölkerungen, welche die Folgen eines Krieges zu tragen haben, sich nicht zu einem Angriffskrieg entschließen werden. Je größer die Betroffenheit einer Bevölkerung und je höher ihre Ent-scheidungsmacht über einen Kriegseintritt, desto unwahrscheinlicher wird dieser demnach. Wie dargelegt, verrin-gern sich durch die Inanspruchnahme von PMF durch demokratische Staaten beide Bedingungsfaktoren dieser Kriegsunwahrscheinlichkeit.

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5.3 Die Implikationen der Nutzung von PMF durch nichtstaatliche Akteure in der internationalen Politik

Nehmen IO, NRO, transnationale Unternehmen und sogar Einzelpersonen die Dienste pri-vater MF in Anspruch, ist dies in erster Linie Ausdruck der zunehmenden Relevanz nicht-staatlicher Akteure in der internationalen Politik bzw. des relativen Dominanzverlustes der Staaten, die etwa keinen ausreichenden Schutz in gefährlichen Regionen gewährleisten können. Der in diesem Beitrag verwendeten Speerspitzentypologie folgend, erwerben die bisher genannten, nichtstaatlichen Akteure Militärdienstleistungen der unteren Kategorien, also solche mit relativ großer Distanz zum Gefechtsfeld. Primär sind Leistungen militäri-schen Schutzes zu nennen. IO haben jedoch auch schon Leistungen der obersten Kategorie in Anspruch genommen (Singer 2001: 213). Die grundsätzliche Diskussion darüber, in-wieweit IO eigenständige Akteure der internationalen Politik oder institutionalisierte Staa-tenkooperationen darstellen, ist hier nicht zu führen. Setzen IO Interessen gegen den physi-schen Widerstand von Staaten oder anderer bewaffneter Akteure durch, d.h. führen sie „Krieg“33 (und benötigen entsprechende Dienstleistungen), so sind es letztlich ihre Mit-gliedstaaten, die diese Kriege führen. Auch ist der durchzusetzende Wille letztlich immer einer Staatengruppe zuzurechnen. Die vorangegangenen Ausführungen zur Inanspruch-nahme von PMF durch Staaten können dementsprechend weitestgehend auf diejenige durch IO übertragen werden.

Anders verhält es sich mit nichtstaatlichen Akteuren, die Interessen gegen staatlichen Widerstand oder gegen den Widerstand anderer bewaffneter Akteure durchsetzen wollen. Gegenwärtig sind dies Gruppierungen, die sich des Mittels Terrorismus34 bedienen sowie solche, die die physische Kontrolle über bestimmte Territorien anstreben oder sichern (Warlords und Bürgerkriegsparteien).

Die meisten PMF versichern, dass sie ihre Dienste ausschließlich Staaten anbieten, mehr noch, ausschließlich solchen Staaten, die hohe Reputation in der sogenannten Staa-tengemeinschaft genießen. Wieder wird angeführt, anderweitiges Verhalten würde das Ansehen der Firmen schädigen, mit der Konsequenz ausbleibender Aufträge durch die Staaten (Beese 2006). Hiergegen wird argumentativ eingewandt, dass der Anreiz eines unmittelbaren Gewinns die Bedenken bezüglich mittelbarer, in der Zukunft liegender Um-satzeinbußen durchaus überwiegen könnte (Singer 2006: 293; 2001: 213). Dies führt in eine (vornehmlich wirtschaftswissenschaftliche) Theoriediskussion, die sich nicht entscheiden lässt, da beide Argumente innere Logik aufweisen. Die Fakten sprechen allerdings für sich: Es gab bereits mehrfach eine Zusammenarbeit zwischen PMF und bewaffneten, nichtstaat-lichen Akteuren. Bürgerkriegsparteien in Sierra Leone, Angola und Kongo kauften bei-spielsweise solche Leistungen ein. Ebenso existieren Meldungen über den Einkauf militäri-scher Dienstleistungen durch international agierende, kriminelle Gruppierungen (Singer 2001: 213).

Somit ist die Gefahr nicht zu ignorieren, dass sich solchen nichtstaatlichen Akteuren durch das Angebot von PMF eine strukturelle Möglichkeit eröffnet, militärische Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen zu erwerben. Besonders brisant ist in diesem Kontext die

33 Hier wird der in Fußnote 27 zitierten Definition von Clausewitz gefolgt. 34 In der Definition von Clausewitz ist auch hierunter „Krieg“ zu verstehen. Während das Mittel Terrorismus eindeutig als „physische Gewalt“ einzuordnen ist, verhält es sich jedoch schwieriger mit der Identifizierung des „Willens“ dieser Akteure.

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mindestens theoretisch gegebene Interessenkonvergenz mancher Warlords und der PMF an der Perpetuierung gewaltsamer Konflikte. Der wohl beste Kenner der Materie formuliert diese Befürchtungen in sehr drastischer Weise: „Das Bedenkliche an der gegenwärtigen Verfassung dieses Marktsektors (der militärischen Dienstleistungen) besteht darin, dass solche „Schurkenfirmen“ ihre Macht mit der von Waffenschmugglern, Drogenhändlern und terroristischen Gruppen zusammenspannen und so eine unheilige Allianz nichtstaatlicher Akteure errichten könnten, die über die wirtschaftliche, militärische und politische Macht verfügen würde, Staaten und das Staatensystem im Allgemeinen in die Knie zu zwingen“ (Singer 2006: 293). Dies führt zu der Frage, wie PMF als eigenständige neue Akteure der internationalen Politik einzuordnen sind.

6 PMF als eigenständige Akteure der internationalen Politik?

Das Interesse der PMF ist zunächst Gewinnerzielung. Hierin unterscheiden sie sich nicht von jedem anderen, international tätigen oder multinationalen Unternehmen. Der gravie-rende Unterschied liegt in der Tatsache, dass sie diesen Gewinn mit einer Dienstleistung anstreben, die das stärkste (aber nicht immer effektivste) Instrument zur Interessendurch-setzung darstellt. Daher kommt den PMF, wie oben dargelegt, schon große Bedeutung als Instrument politischer Akteure zu.

PMF verfügen über das intensivste und folgenschwerste Instrument zur Durchsetzung von Interessen (Militär). Sollte sich dies mit einem eigenständigen Interesse verbinden, entstünde ein, in der Definition Max Webers enorm „mächtiger“, politischer Akteur. Das wirtschaftliche Interesse der PMF lässt sich nicht unmittelbar mit dem Mittel Militär durch-setzen, es bedarf der Verknüpfung mit einem hierfür „geeigneten“ Interesse. Wirklichkeits-nah nicht abzusehen ist, dass PMF solche Interessen (die Beherrschung eines Territoriums, die Verdrängung von Staaten oder IO aus bestimmten Regionen etc.) selber generieren könnten. In diesem umfassenden Sinne werden PMF auf absehbare Zeit nicht zu eigenstän-digen politischen Akteuren avancieren.

Denkbar allerdings ist, dass PMF monetäre Interessen verfolgen, die politischen Inte-ressen anderer Akteure entgegenstehen. Kann dies zunächst auf jeden Akteur mit monetä-ren Ambitionen zutreffen, so verfügen PMF über die Machtmittel, ihre Interessen ggf. auch gegen Widerstand durchzusetzen.35

Theoretisch denkbar wären aufgrund ihrer Interessenkonvergenzen zudem Fusionen von solchen Gruppierungen, die von der Perpetuierung gewaltsamer Konflikte profitieren, etwa Warlords und PMF. Aus der Sicht jener Akteure mit entgegenstehenden Willen, jenen nämlich, gewaltsame Konflikte zu beenden, entstünden hierdurch sehr „mächtige“, gegneri-sche Akteure mit der Zielsetzung, Gewalt permanent im Einsatz zu haben, und den notwen-digen Mitteln zu deren Umsetzung. Das dem entgegenstehende Interesse der Beendigung gewaltsamer Konflikte liegt zunächst bei den Staaten, in deren Territorien diese Gewalt-

35 In Sierra Leone übte EO kurzzeitig die Kontrolle über die Diamantenminen in der Region Kono aus, die sie im Auftrag von Freetown von Rebellen zurück erobert hatte. In diesem Moment übte ein bewaffneter Akteur die Herrschaft über eine gewinnbringende Ressourcenquelle aus. Anreize für die Perpetuierung eines solchen Zustan-des liegen auf der Hand. Ein solcher Fall ist nach Kenntnis der Autoren bisher allerdings nicht eingetreten. Neben dem Risiko, dass sich hiergegen massiver Widerstand – etwa mehrerer Staaten – mobilisieren könnte, spricht dagegen, dass die PMF hiermit ihre bisherige Existenz als marktfähiger Dienstleister für Staaten zugunsten einer gewaltsam abgesicherten, unsicheren Ausbeutung einer Rohstoffquelle aufgäbe.

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ausübung strukturell „eingerichtet“ ist oder „eingerichtet“ werden soll. Hinzu kommen mindestens angrenzende Staaten, die von hiermit verknüpften, grenzübergreifenden Vor-gängen wie Waffenschmuggel oder Flüchtlingsströmen betroffen sind. Darüber hinaus können jedoch auch weitere Staaten und IO dieses Befriedungsinteresse als i hre eigenenIn-teressen auffassen und wahrnehmen, wenn sie auf massive Menschenrechtsverletzungen reagieren oder die Destabilisierung einer Region zu verhindern suchen. Die mögliche Tragweite einer Fusion aus bestimmten Akteuren der internationalen Sicherheitspolitik (Warlords) und einem Mittel derselben (PMF) zu einem sehr mächtigen, neuen Akteur wird damit sehr deutlich.

7 Mögliche Auswirkungen auf die Gesetzmäßigkeiten der internationalen (Sicherheits-) Beziehungen und die Notwendigkeit der theoretischen Reflexion

Die hier erörterten Implikationen des Aufkommens von PMF sollten stärker als bisher im Lichte möglicher Auswirkungen auf die Gesetzmäßigkeiten der internationalen Sicher-heitspolitik untersucht werden.

Die wichtigste Neuerung dürfte sein: Der Eintritt in militärische Handlungen wird er-leichtert. Welche Akteure auch immer sich des Mittels Militär bedienen möchten, der Zu-gang zu ihm wird durch die PMF erleichtert. Dies gilt aus den beschriebenen Gründen in eingeschränkter Form für Staaten, deutlich stärker noch für nichtstaatliche Akteure, denen die, mindestens noch obwaltende Vorherrschaft der Staaten in der internationalen Politik die Generierung militärischer Mittel erschwert.

Damit verändern sich auch die Parameter, die bei der Einschätzung von Kriegswahr-scheinlichkeiten berücksichtigt werden müssen. Der Rüstungs- und Ausbildungsstand staat-licher Streitkräfte (soweit bekannt) sowie innenpolitischer Druck auf Regierungen, Opfer zu vermeiden, könnten an Bedeutung verlieren. Bei Versuchen, zu antizipieren, wann Staa-ten zur Aufnahme militärischer Aktivitäten bereit und fähig sind, sollte dies einfließen. Auch könnte das permanente Angebot der PMF zu einer Art neuem Sicherheitsdilemma führen. Sind bei klassischen Sicherheitsdilemmata die Faktoren Angriffswille und An-griffsmittel entscheidend gewesen, so könnte sich dies teilweise auf den schwieriger einzu-schätzenden Willen reduzieren – die Mittel können jederzeit kurzfristig eingekauft werden.

Zudem könnte die theoretisch mögliche Kooperation nichtstaatlicher Akteure und PMF zu einer weiteren Verstetigung gewaltsamer Konflikte führen und mithin auch zu einer Verfestigung des Instruments militärischer Auslandseinsätze in der internationalen Sicherheitspolitik. Evident ist, dass die grundsätzliche Tendenz zunehmender Interaktionen zwischen Staaten und nichtstaatlichen Akteuren hierdurch ebenfalls verstärkt würde. Die theoretisch verfügbaren Machtmittel könnten nichtstaatlichen Akteuren nicht nur verbesser-te Möglichkeiten der Interessendurchsetzung verschaffen. Hiermit einher ginge eine deut-lich aufgewertete Wahrnehmung dieser Akteure durch Staaten und IO. Mit zunehmender „Macht“ steigt der Grad der Berücksichtigung, die Akteure in der internationalen Politik erfahren. Mechanismen und Prozesse des Interessenausgleichs zwischen Staaten oder IO und den Akteuren einer solchen „unheiligen Allianz“ erscheinen unmöglich, da die jeweili-gen Interessen sich diametral gegenüber stehen. Mindestens bei demokratischen Rechts-staaten kommt das normative Hindernis hinzu, mit Niemandem verhandeln zu können, der grundsätzlich nicht die humanitären Standards respektiert, die Staaten für den militärischen Umgang miteinander vereinbart haben (Kriegsvölkerrecht; humanitäres Völkerrecht). Zu

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erwarten wäre im Falle einer Akteursfusion bestimmter nichtstaatlicher Akteure und PMF daher eine Zunahme konfrontativer Interaktionen zwischen nichtstaatlichen Akteuren und Staaten.

Die Forschung über internationale Sicherheitspolitik ist gehalten, sich diesen mögli-chen Entwicklungen zu widmen. Die wichtigste Notwendigkeit liegt in der längst begonne-nen Öffnung der Theorien über staatliches Außenverhalten und das internationale System für nichtsstaatliche Akteure. Die Öffnung erhält jedoch eine zusätzliche Motivation. Nicht-staatliche Akteure werden bisher primär in Zugriffe der idealistischen Schule integriert sowie als Erklärungsfaktoren herangezogen, wenn die black box Staat geöffnet wird, um in ihrem inneren nach Gründen für ihr Außenverhalten zu suchen. Weniger relevant sind sie dem Realismus und Neorealismus, der die Staaten als weiterhin zentrale Größen der inter-nationalen Politik identifiziert, ihr Verhalten aus ihren „Interessen“ herleitet bzw. voraus-sagt und als entscheidendes Mittel der Interessendurchsetzung „Macht“ im Sinne Max We-bers benennt. Vornehmlich der Neorealismus untersucht auf der Grundlage dieser Prämis-sen das internationale System sowie dessen Rückwirkungen auf die staatliche Außenpolitik.

Die mögliche Ausstattung mancher nichtstaatlicher Akteure mit „Macht“ im Sinne Max Webers durch PMF, berührt mithin die Grundannahmen dieser Schulen. Solche Ak-teure sind auch in einem weitgehend anarchischen internationalen System, in dem machtba-sierte Selbstsicherung und Interessenverfolgung bestimmend sind, zu beachten. Das Ge-walt- besser das Machtmonopol der Staaten begründet deren einzigartige Stellung in der Perspektive des Realismus und des Neorealismus. Akteure die über Machtmittel verfügen, stellen sich mithin auch ohne Staatsmerkmale als entscheidende Größen dar. Dass sie kei-nen Zugang zu IO haben, keine völkerrechtlichen Verträge abschließen können, nicht an staatlich tolerierten Wirtschaftsbeziehungen partizipieren können u.ä. ist nicht unbedeutend, aber sekundär.

Zu fragen ist auch, ob die Reichweite kooperationsbezogener Ansätze – primär Ansät-ze des Institutionalismus – neu eingeschätzt werden muss. Mit zunehmender Quantität und Qualität des Sektors der internationalen Sicherheitspolitik, in dem „unheilige Allianzen“ aus nichtstaatlichen Akteuren und PMF wirken, reduziert sich die Materie, die sich durch Forschungen über institutionalisierte Kooperationsbeziehungen erschließen lässt.

Schließlich müssen die politikwissenschaftlichen Erklärungen für Akteursverhalten in der internationalen Politik um wirtschaftswissenschaftliche ergänzt werden, wenn gewinn-orientierte PMF an Bedeutung gewinnen. Ob sie im Auftrag von Staaten, IO und NGOs agieren, oder sich mit entsprechenden, nichtstaatlichen Akteuren (Warlords) zu einer „un-heiligen Allianz“ zusammenschließen, macht einen strukturellen Unterschied. In beiden Fällen aber ist es notwendig, ihr Verhalten einschätzen zu können.

8 Notwendigkeit der Regulierung

Aus den in diesem Beitrag erörterten Entwicklungen ergibt sich ein Dilemma für die Staa-ten: Einerseits erweitert das Angebot der PMF ihren Handlungsspielraum in der internatio-nalen Sicherheitspolitik im Sinne leichterer Zugänge zu dem Politikmittel Militär und er-öffnet vermeintlich neue Wege zu mehr Kosteneffizienz in der internationalen, militäri-schen Sicherheitspolitik. Andererseits geht die Inanspruchnahme der PMF mit der Gefahr einher, massive Defizite in der Kontrolle und Umsetzung normativer wie nichtnormativer Ansprüche an diese Sicherheitspolitik hervorzubringen. Ob der Natur des Militärs als

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stärksten Machtmittels zur Durchsetzung politischer Willen, können diese Defizite einen bedeutenden Gestaltungsverlust für die Staaten in der internationalen Politik bedeuten. Überdies birgt die Existenz PMF einen Bedrohungszuwachs für die Staaten, indem sich die Verfügbarkeit militärischer Machtmittel eben auch für solche nichtstaatlichen Akteure erhöht, deren politische Zielsetzungen den staatlichen entgegenstehen.36

Das für die Staaten Negative bis Bedrohliche an der Existenz PMF liegt in der durch sie verstärkten Loslösung des machtvollen Politikmittels Militär von ihren politischen Willen. Notwendig liegt es im Interesse der Staaten, diese Verknüpfung wieder herzustellen. Grundsätzlich existieren zwei Möglichkeiten hierzu: Erstens könnten sie versuchen, die legale Akkumulation militärischer Machtmittel wieder vollkommen bei ihnen selber zu monopolisieren. Marktwirtschaftliche Aktivitäten im militärischen Sektor müssten gesetz-lich untersagt und das Verbot strikt durchgesetzt werden. Hiermit würden die Staaten je-doch die Vorteile aufgeben, die viele unter ihnen in der Nutzung der Angebote der PMF sehen. Da insbesondere die weltweit führende Militärmacht USA diese Vorteile als sehr hoch einschätzt, liegt hierin derzeit keine realistische Option (Schaller 2005: 19). Die zweite Möglichkeit besteht darin, dass die Staaten die Anbindung des Politikmittels Militär an ihre politischen Willen so fest wie möglich gestalten, ohne die privatwirtschaftli-che Verfügbarkeit über dieses Mittel zu unterbinden. PMF müssten durch staatliche Regu-lierung so weit wie möglich zu reinen Ausführungsorganen staatlicher Aufträge reduziert werden. Es wurde bereits angeführt, dass hierin ein Dilemma liegt: Eine vollständige staat-liche Kontrolle der PMF würde die Auslagerung der militärischen Aufgaben ad absurdum führen. Wollen die Staaten die Vorteile des Einkaufs privater Militärdienstleistungen wei-terhin nutzen, müssen sie die immanenten Nachteile bis zu einem gewissen Grad in Kauf nehmen. Der derzeitige Stand staatlicher Kontrolle und Regulierung der PMF liegt jedoch weit unterhalb dieser Schwelle. So haben die USA zwar nach der wiederholten Tötung von Zivilisten durch die US-amerikanische PMF Blackwater im Irak im Dezember 2007 Richt-linien erlassen. Diese berücksichtigen jedoch wichtige Bereiche nicht und lassen PMF wei-terhin sehr große Freiräume.37 Hier kann es zu einer deutlichen Intensivierung kommen, ohne den Sinn der Nutzung PMF zu konterkarieren.

Zwei Ebenen sind dabei zu unterscheiden: Der internationale Markt für private Mili-tärdienstleistungen als Ganzes und die jeweilige Beziehung zwischen einem Auftraggeber und einem Auftragnehmer. Die erste Ebene stellt eine Materie des Völkerrechts, die zweite eine der nationalen Rechtsordnungen dar, welche durch einschlägige völkerrechtliche Nor-men beeinflusst werden kann.38 Ohne an dieser Stelle auf die Diskussion über die Grundla-gen (modernen) Völkerrechts eingehen zu können, kann festgehalten werden, dass dieses nach wie vor in erster Linie ein Instrument der Staaten für den geregelten Umgang mitein-ander darstellt. Mithin wäre die Erstreckung dieses Regelungsinstruments auf einen neuen Bestandteil der Interaktion eine logische Konsequenz.

36 In Kenia ist der private Sicherheitsmarkt, aufgrund mangelhaft ausgeprägter Staatlichkeit, in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen. Wegen der Vielzahl an Akteuren und fehlender Regulierungen, stellt er nun eher ein Risiko, als ein Gewinn für die innerstaatliche Sicherheit, und somit auch für den Staat selbst, dar (Mkutu 2007: 199). 37 Entgegen den Forderungen nach einer strikteren Regulierung der Aktivitäten von PMF, erließ der ehemalige US-Verwalter im Irak, Paul Bremer, 2007 eine Order, die Vertragspartner der USA im Irak, also auch den Ange-stellten der PMF Blackwater, Immunität zusichert (Brinkbäumer 2007: 104).38 Die Diskussion über das Verhältnis zwischen nationalem Recht und Völkerrecht, insbesondere über die Vor-rangfrage, kann hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden.

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Gleichwohl eine Konsequenz, die bisher nicht gezogen wurde. Ansätze existieren aus-schließlich bezüglich der völkerrechtlichen Ächtung des „Söldnerwesens“ (mercenary), die zudem als „spärlich und unzureichend“ (Schaller 2005: 19) eingeschätzt werden. Diese sind jedoch von dem Umgang mit dem Phänomen moderner PMF zu trennen, wie sie hier in Rede stehen. Angestellte PMF sind in nur wenigen Einzelfällen als „Söldner“ einzustufen. Für eine umfassende, regulative Einordnung PMF eignen sich die entsprechenden Normen nicht (Drews 2007; Singer 2006: 83–88; Schreier/Caparini 2005: 15-17.) Völkerrechtliche Untersuchungen kommen hingegen zu dem Ergebnis, dass Angestellte PMF in der Regel als „Zivilisten“ im Sinne des humanitären Völkerrechts zu gelten haben, d.h. sie haben keinen Kombattanten-Status (Schaller 2007). Damit genießen sie besonderen Schutz (pri-mär dürfen sich militärische Angriffe nicht gezielt gegen sie richten) und die „direkte Teil-nahme“ (Voyame 2007) an bewaffneten Konflikten ist ihnen untersagt. Aus der Perspektive des Völkerrechts muss ein Staat, der PMF beauftragt, daher sicherstellen, dass diese keine Funktionen übernehmen, die einen Kombattantenstatus erfordern. (Voyame 2007: 376; Schaller 2005: 9). Angesichts der Existenz und der Nachfrage nach PMF des obersten Typs der in diesem Beitrag verwendeten Speerspitzentypologie, werden an dieser Stelle die Grenzen des Völ-kerrechts in der Erfassung der internationalen Sicherheitspolitik deutlich. Dass die Staaten über das Völkerrecht39 vereinbart haben, ausschließlich solche Personen direkt an Kampf-handlungen teilhaben zu lassen, die einer „organschaftlichen Zugehörigkeit zu einem Völ-kerrechtssubjekt“ (Schaller 2005: 9) unterstehen, ist Ausdruck ihres Willens, ein Monopol über die Anwendung von Gewalt durchzusetzen. Ein solches Monopol ist jedoch nicht mehr gegeben und die Wahrscheinlichkeit, dass es lückenlos rekonstituiert wird ist, dies wurde dargelegt, nicht sehr hoch. Ansätze auf der Grundlage dieses Monopolanspruches (innerhalb des geltenden Völkerrechtes) können sich daher nur auf die idealtypisch der zweiten und dritten Kategorie der Speerspitzentypologie zugeordneten PMF beziehen – wenngleich angesichts moderner Waffentechnologien auch die Aussage glaubhaft bezwei-felt werden kann, PMF dieses Typs würden sich nicht direkt an Kampfhandlungen beteili-gen (Schaller 2007: 360). Solange bestehende und möglicherweise in der Zukunft neu ver-einbarte Völkerrechtsnormen von einem lückenlosen Gewaltmonopol der Staaten ausgehen, werden sie u.a. die Sachverhalte im Zusammenhang mit PMF nicht gänzlich erfassen.

Für die Regulierung der Aktivitäten PMF sind mehrere Vorschläge gemacht worden (Schneiker 2007; Singer 2006: 372-387; Schaller 2005; Schreier/Caparini 2005: 116-117): Im Kern ist die Notwendigkeit für die Staaten evident, über das Völkervertragsrecht zu vereinbaren, unter welchen Bedingungen und in welcher Form sie (die entsprechenden Signatarstaaten) die Dienstleistungen PMF in Anspruch nehmen dürfen. So könnte die Erwartungssicherheit über das Wirken dieses Phänomens in der internationalen Sicher-heitspolitik erhöht werden. Des Weiteren könnte festgeschrieben werden, welche Aktivitä-ten PMF die Staaten dulden bzw. welche sie unterbinden. Insbesondere die Frage, ob und wenn unter welchen Bedingungen die direkte Teilnahme PMF an Kampfhandlungen für völkerrechtskonform erklärt wird, wäre in diesem Kontext festzuschreiben. Schließlich ist, hiermit zusammenhängend, an die völkervertragsrechtliche Normierung von Verantwort-lichkeiten und die Verpflichtung, über das jeweilige nationale Recht für die Einhaltung des

39 Einschlägig sind die Haager Landkriegsordnung von 1907 sowie das Genfer Abkommen von 1949 mit seinen zwei Zusatzprotokollen aus dem Jahre 1977.

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humanitären Völkerrechts und des Kriegsvölkerrechts zu sorgen, zu denken.40 Zur Erhö-hung der Transparenz könnte eine Registrierung solcher PMF bei den Vereinten Nationen beitragen, die von den Staaten offiziell genutzt werden. Die Einhaltung international zu vereinbarender Regeln müsste durch IO überwacht werden. Kurz: die Instrumente, die von den Staaten für eine Verregelung der internationalen Politik (hier der internationalen Si-cherheitspolitik) entwickelt wurden, müssen auch das neuartige Phänomen der PMF erfas-sen, wollen die Staaten es so weit wie möglich ihrem Gestaltungswillen unterwerfen.

Möglichkeiten und Grenzen dieses Verregelungsansatzes generell sind einer andau-ernden Diskussion unterworfen, die hier nicht nachgezeichnet werden kann. Die Grenzen sind jedenfalls dann erreicht, wenn entscheidende Akteure sich der Verregelung (aus wel-chen Gründen auch immer) bewusst entziehen und nicht durch machtgestützte Sanktions-möglichkeiten hiervon abgehalten werden können. Innerhalb dieser Grenzen wirkt interna-tionale Kooperation und Verregelung gleichwohl. Nehmen Staaten private Militärdienst-leistungen in Anspruch, gerade weil sie sich jenseits internationaler Vereinbarungen sowie Kontroll- und Transparenzmechanismen bewegen wollen, die eben auf Kriegsführungen ohne PMF zugeschnitten sind, greift der Ansatz nicht. Ebenso wenig kann auf diesem Weg eine Kooperation zwischen einschlägigen nichtstaatlichen Akteuren und PMF unterbunden werden (Jäger/Kümmel 2007: 462). Ein international regulierter Umgang mit PMF durch die Staaten, die den Ansatz der Kooperation und Verregelung in der internationalen Sicher-heitspolitik verfolgen, würde jedoch mindestens einige der negativen Implikationen redu-zieren, die mit der Inanspruchnahme privater Militärdienstleistungen durch eben diese Staa-ten einhergehen (Erhöhte Erwartungssicherheit über das Wirken PMF; Transparenz des Angebots der PMF, deren Dienste völkerrechtskonform in Anspruch genommen werden können; Zuordnung von Verantwortlichkeiten – etwa bezüglich der Verletzung von huma-nitärem und Kriegsvölkerrecht). Zudem würden die von der Regulierung ausgegrenzten Aktivitäten PMF schärfer als jenseits eines (möglichst breit zu erreichenden) internationa-len Staatenkonsenses liegend identifiziert werden. Hierdurch könnten diese Staaten ihren Anspruch auf Dominanz in der internationalen Politik innerhalb bisheriger Gesetzmäßig-keiten – die z. T. in entsprechender Verregelung manifestiert sind – herausstellen. Nicht zu unterschätzen ist, dass viele der PMF selber ihre internationale Regulierung anstreben (Ga-lustian 2006). Das in diesem Zusammenhang offenbar verfolgte Interesse der PMF, als Instrument der sogenannten Staatengemeinschaft zu fungieren, kann entsprechend genutzt werden.

Vereinbarungen auf der völkerrechtlichen Ebene könnten auch einen sachgerechten Umgang mit PMF auf der Ebene der nationalen Rechtsordnungen vereinheitlichen und verstärken. Die bisherigen Ansätze verschiedener Staaten weichen voneinander ab und sind rudimentär ausgeprägt (Schreier/Caparini 2005: 105-115). Für die von den USA im Irak beschäftigten PMF urteilt Peter Singer: „PMFs comprise the one remaining industry whose behaviour is dictated not by the rule of law, but by simple economics“ (Singer 2004: 14).

40 In den USA etwa gibt es eine Rechtsentwicklung, die zivilrechtliche Klagen von Ausländern vor US-amerikanischen Gerichten wegen Verletzungen von Menschenrechten durch PMF zulassen möchte, wenn diese Firmen im Rahmen eines Vertrages mit den USA agieren (Schaller 2005: 28). Die völkerrechtlichen Ansätze der Staatenverantwortlichkeit und des Völkerstrafrechts sind weitere Instrumente, die zur Regulierung PMF in der internationalen Politik dienstbar gemacht werden können. Über die Staatenverantwortlichkeit kann im Staatenver-kehr grundsätzlich auf die Staaten durchgegriffen werden, wenn private Akteure gegen Völkerrecht verstoßen. Dies betrifft jedoch nur die Schädigung von Staaten, nicht von Einzelpersonen. Das Völkerstrafrecht soll Verstöße Einzelner gegen elementare Grundsätze des Völkerrechts einer Strafe zuführen.

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Die in der Sicherheitspolitik zwischen Politik und Politikmittel (Staat und Militär) beson-ders enge Verbindung muss die Auslagerung des Politikmittels so weit wie möglich überle-ben. Strafrechtliche Sanktionen und zivilrechtliche Haftbarkeit für Verstöße gegen völker-rechtliche Vorschriften durch PMF und deren Angestellte müssen sichergestellt werden – dies gilt jedenfalls für demokratische Rechtsstaaten (Schaller 2005: 28-30). Effektivität in der Umsetzung politischer Willen durch PMF und normative Ansprüche an internationale Sicherheitspolitik lassen es zudem angezeigt erscheinen, dass Staaten sich in Verträgen mit PMF möglichst weitgehende Kontroll- und Weisungsbefugnisse sichern. Ist ein Staat auf die Dienste PMF angewiesen, ist seine Verhandlungsmacht in der Vertragsgestaltung aller-dings notwendig begrenzt. Zuletzt sind wie auf der internationalen Ebene auch national die gesetzten und zu setzenden Standards für die Aktivitäten PMF durch geeignete staatliche Einrichtungen mit Regulierungsbefugnis zu überwachen.

9 Schlussbetrachtung

Existenz und Wirkung PMF sind Tatsachen zu Beginn unseres Jahrhunderts, die im Zu-sammenhang mit Fragen der internationalen Sicherheitspolitik angemessen berücksichtigt werden müssen. Veränderungen auf der Makroebene der internationalen Politik seit dem Ende des Ost-West-Konflikts haben zu neuen Entwicklungen der internationalen Sicher-heitspolitik auf der Mikroebene geführt, die das Aufkommen PMF ermöglicht und begüns-tigt haben.

Seit Beginn der neunziger Jahre ist die Zahl solcher Firmen drastisch angestiegen. Zugleich ist ein Prozess der Ausdifferenzierung eingetreten: PMF bieten sehr unterschiedli-che Dienstleistungen an, die entsprechend unterschiedliche Wirkungen auf die internationa-le Sicherheitspolitik ausüben können. Uns erscheint es am sinnvollsten, diese verschiede-nen Dienstleistungen entlang ihrer Nähe zum eigentlichen Moment der militärischen Um-setzung bzw. Durchsetzung des politischen Willens zu typologisieren. Je näher sie diesem Moment kommen, desto gravierender wird ihre (positive wie negative) Wirkung ausfallen.

Anhand dieser Typologie lassen sich auch die Implikationen für die internationale Si-cherheitspolitik einordnen, die mit der Nutzung PMF durch Staaten und IO einhergehen. Die Inanspruchnahme militärischer Dienstleistungen der obersten Kategorie ist naturgemäß mit den stärksten Entlastungen und Risiken für den Auftraggeber verbunden: Die Lebens-gefahr für staatliche Streitkräfte (Staatsbürger) sinkt und der Eintritt in sowie die Aufrecht-erhaltung von Kampfhandlungen kann stärker auf ausschließlich finanzielle Ressourcen gestützt werden. Zugleich ist bei diesem Typ der eingekauften Dienstleistung das Risiko am höchsten, dass sie dem Auftraggeber wieder entzogen wird, da es sich notwendig um lebensgefährliche Aufgaben handelt. Zudem existiert ein grundsätzlicher Konflikt zwischen der Verfolgung eines politischen Zieles durch den Auftraggeber und der Ausrichtung PMF auf Gewinnmaximierung und Kostenminimierung. Demokratischen Rechtsstaaten entsteht überdies ein Defizit in der Möglichkeit, normative Ansprüche an ihre Sicherheitspolitik umzusetzen bzw. ihre Umsetzung zu kontrollieren.

Für die derzeit bestehenden Grundmuster der internationalen (Sicherheits-) Beziehun-gen stellt die Möglichkeit „unheiliger Allianzen“ aus bestimmten nichtstaatlichen Akteuren und PMF eine besonders große Herausforderung dar. Mit politischem Willen versehen, die denjenigen von Staaten (und IO) entgegenstehen, sind diese nichtstaatlichen Akteure für sich genommen schon von Bedeutung. Durch die Verschmelzung mit PMF erhöht sich

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zudem ihr Machtpotential deutlich. Besonders enge Verbindungen zwischen beiden können durch ihr gemeinsames Interesse an militärischen Konfliktsituationen als solchen entstehen. Insgesamt werden die Hürden für Kriegseintritte durch die Existenz PMF herabgesetzt. Dies gilt für Staaten, mehr noch für nichtstaatliche Akteure. Die Gesamtwahrscheinlichkeit für solche bewaffneten Konflikte, die mit den Mitteln geführt werden können, die PMF anbieten, steigt.

Die Zukunft des globalen Marktes für PMF mithin die Zukunft des Faktors PMF in der internationalen Politik hängt von der Entwicklung der Bedingungen ab, die dieses Phäno-men hervorgerufen und begünstigten. Es ist derzeit nicht abzusehen, dass sich Makro- und Mikroebene der internationalen Sicherheitspolitik dahingehend (zurück-) entwickeln wer-den, dass sie keinen Raum für PMF lassen. Hierzu müssten die Staaten (ohne oder über IO) die internationale Nachfrage nach Sicherheit soweit aus eigenen Kräften bedienen, dass kein nennbares Defizit mehr verbliebe. Angesichts der Tatsache, dass die Makroebene der internationalen Sicherheitspolitik keine hinreichenden Anreize für die Staaten beinhaltet, die eigene sicherheitspolitische Ausdehnung auf möglichst jedes Vakuum zu erstrecken (wie dies im Kalten Krieg der Fall war), ist eine solche Entwicklung kaum zu erwarten. Humanitäre Interventionen und die Perzeption regionaler Konflikte als interventionswürdi-ge Sicherheitsrisiken bergen nicht das Potential, sich zu Ordnung stiftenden Strukturmus-tern zu entwickeln. Sie stellen vielmehr hoch umstrittene Phänomene dar, deren Zukunft noch nicht abzuschätzen ist.

Es bleibt daher genügend Bewegungsspielraum in der internationalen Sicherheitspoli-tik für lokale und regionale Konflikte. Und entschließen sich Staaten zu einem Eingreifen (mit oder ohne VN-Sicherheitsratsmandat), so stehen sie oft nicht mit letzter Konsequenz hinter diesen Eingriffen. Ob der Umstrittenheit solcher Einsätze, stehen sie unter besonders massivem innenpolitischen Druck, eigene Opfer zu vermeiden und das Engagement so schnell wie möglich wieder zu beenden. Dies betrifft die militärischen Interventionen und das ihnen zumeist folgende sogenannte post conflict management. Da somit keine Bereit-schaft der eingreifenden Staaten zu erwarten ist, eigene Kräfte (Stabilisierungsmissionen) solange vor Ort zu belassen, bis kein Sicherheitsvakuum mehr existiert, verbleibt Bedarf für PMF während der Konflikte, während der nachfolgenden Stabilisierung und auch hiernach (Donald 2006). Notwendig für ihren Einsatz bleiben allerdings Akteure mit dem Willen, diese Sicherheitsvakuen zu füllen und den finanziellen Mitteln, hierfür PMF zu engagie-ren.41

So existiert ein Aktionsfeld für PMF sowohl in solchen bewaffneten Konflikten, welche nicht zu einer Intervention von Staaten führen (hier im Auftrag der Akteure solcher Kon-flikte) als auch in jenen, die zu einem Eingreifen einer Staatengruppe führen. Hier im Auf-trag der eingreifenden Staaten, die hierdurch nicht zuletzt eigene Opfer vermeiden können, ggf. involvierter IO und NRO sowie – im schlimmsten Fall – auf Seiten der eingreifenden Akteure und auf Seiten der Akteure, die durch den Eingriff bezwungen werden sollen.

PMF sind als Faktor der internationalen Sicherheitspolitik auch in Zukunft in Rech-nung zu stellen. Es gilt daher, einen adäquaten Umgang mit ihnen zu finden. Im Interesse der Staaten liegt es, PMF soweit wie möglich einer Regulierung zu unterwerfen, damit sich diese nicht zu einem unkontrollierten Faktor entwickeln, der die staatliche Dominanz in der

41 Von den USA und Großbritannien im Irak engagierte PMF befürchten, dass mit dem Ende des Engagements ihrer Auftraggeber auch ihre dortigen Geschäftsmöglichkeiten enden (Hodge 2007). Zu fragen ist, ob der Irak selber die Dienste PMF in Anspruch nehmen wird, wenn die USA und Großbritannien sich aus ihm zurückziehen.

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internationalen Sicherheitspolitik weiter schwächt. Für die Wissenschaft besteht die Not-wendigkeit, die Rolle PMF genau zu beobachten und sie in ihre Forschung zu integrieren.

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II. Kriege im Zeichen schwacher Staatlichkeit

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Daniel Lambach 1 Einleitung

Dass fragile und zerfallene Staaten eine Sicherheitsbedrohung darstellen, ist inzwischen weitgehend Konsens in Wissenschaft und Politik (Lambach/Debiel i.E.; Lambach 2006).2 Die Frage, für wessen Sicherheit sie welche Bedrohung darstellen, ist jedoch bisher nur in Teilen beantwortet worden. In der einschlägigen Literatur stehen implizit oder explizit zumeist die Sicherheitsinteressen westlicher Länder bzw. der „internationalen Gemein-schaft“ im Vordergrund. Viel wurde daher über die mögliche Verbindung von fragiler Staatlichkeit und transnationalem Terrorismus geschrieben, ohne dass dabei bislang ein eindeutiges Ergebnis zustande gekommen wäre (Piazza 2007; Simons/Tucker 2007). Wei-terhin wurde ausgiebig darüber diskutiert, wie die internationale Politik mit fragilen Staaten umgehen sollte (z.B. Caplan 2007, Krasner/Pascual 2005).

Während diese Beiträge die Sicherheitsproblematik staatlicher Fragilität durch die Brille des Nordens betrachten, wurde die Perspektive des Südens auf dieses Thema bislang nur selten berücksichtigt.3 Aus dieser Sichtweise schließt das Konzept des fragilen Staates an bereits vorhandene Konzepte des „schwachen Staates“ (Migdal 1988), des „weichen Staates“ (Myrdal 1968), des „lahmen Leviathan“ (Callaghy 1987) sowie von klientelisti-schen und neopatrimonialen Systemen (Clapham 1982) an. Diese Ansätze bezogen sich in erster Linie auf Fragen von Herrschaft und Entwicklung und besaßen keine sicherheitstheo-retische Dimension. Umso befremdlicher wirkt es im Süden, dass Probleme, die dort seit langem bestehen, nun als Sicherheitsproblem dargestellt werden. Kritikern zufolge, dient dieser Staatszerfalldiskurs lediglich zur Legitimation eines neuen Interventionismus, der sich hinter einer humanitären Maske verbirgt (Hill 2005; Bilgin/Morton 2002).

Dieser Diskurs kann, mit einer gewissen Berechtigung, als hegemonial kritisiert wer-den. Gleichwohl kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass der Zerfall eines Staates nicht tatsächlich ein Sicherheitsrisiko für dessen Nachbarländer darstellt. Ziel der vorliegenden Studie ist die Entwicklung forschungsleitender Hypothesen zur Beantwortung

1 Dieser Beitrag erscheint ebenso in der Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik (2009), 2, 193-211. 2 Fragile Staatlichkeit bedeutet im Kontext dieses Artikels, dass der Staat deutliche Defizite (a) in der internen Gewaltkontrolle, (b) in der Setzung und Durchsetzung von Recht, sowie (c) in der Erhebung von Abgaben auf-weist. Staatszerfall ist dabei ein Spezialfall von Fragilität, in dem der Staat keine oder nur noch sehr geringe Kapazitäten in diesen drei Bereichen aufweist (Lambach 2008). 3 Dass die Unterteilung der Welt in „Nord“ und „Süd“ vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung der letzten zwei Jahrzehnte viel von seiner ohnehin nur geringen Trennschärfe verloren hat, ist mir durchaus bewusst. Angesichts der noch größeren Undeutlichkeiten alternativer Begriffe wie „Erste“ bzw. „Dritte Welt“ (Menzel 2003) verwende ich dennoch den Begriff des Südens, um damit Entwicklungs- und Schwellenlän-der in Asien, Afrika und Lateinamerika zu bezeichnen.

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dieser Fragen. Dazu werden zunächst zwei gegensätzliche Positionen gegenübergestellt. Die erste ist an die Sicherheitstheorie von Kenneth Waltz angelehnt und sieht in den „Da-vids“, also den schwachen Mitgliedern des internationalen Systems, eher Vorteile für deren stärkere Nachbarländer, da diese nichts von dem zerfallenden Staat in ihrer Mitte zu be-fürchten hätten. Die zweite Position hebt dagegen hervor, dass Bürgerkriege innerhalb der „Davids“ oft auf Nachbarländer übergreifen und dass dort wirtschaftliche und soziale Fol-geschäden entstehen. Aus diesen beiden Perspektiven werden abschließend vier Hypothe-sen darüber entwickelt, wie sich Staaten angesichts des Zerfalls eines Nachbarstaats verhal-ten. Damit soll ein Beitrag zur mittelfristigen Entwicklung einer Forschungsagenda geleis-tet werden.

Das schlussendliche Ziel ist dabei nicht die Formulierung eines neuen, allumfassenden Sicherheitsbegriffs. Vielmehr folge ich einer Anregung Daases, dass sich die Staaten in den verschiedenen Gebieten der Welt ganz unterschiedlichen Gefährdungen gegenübersehen und verschiedene Funktionen als sicherheitsrelevant bestimmen (Daase 1993: 82).

Dieser Aufsatz soll zur Differenzierung und Kontextualisierung des Sicherheitskon-zepts in den Internationalen Beziehungen beitragen. Dies ist in Bezug auf staatliche Fragili-tät besonders wichtig, da es sich dabei um ein empirisches Phänomen handelt, das in unter-schiedlicher Intensität einen Großteil der momentan international anerkannten Staaten be-trifft (Debiel et al. 2005). Insofern muss fragile Staatlichkeit nicht als Ausnahme-, sondern in weiten Teilen des Südens als Regelfall angesehen werden.

2 Traditionelle Sicherheitstheorien

Die Antwort auf die Frage, welche Auswirkungen Staatszerfall auf die Sicherheit von Nachbarstaaten hat, hängt auch davon ab, welches Verständnis von Sicherheit zugrunde gelegt wird. Allerdings ist Sicherheit in den Internationalen Beziehungen ein umstrittener Begriff: Wessen Sicherheit ist damit gemeint? Wie wird diese Sicherheit bedroht? Und mit welchen Mitteln kann sie verteidigt werden? Auf diese Fragen geben verschiedene Theorie-schulen unterschiedliche Antworten.

Nach Buzan (1997) lassen sich drei größere Theorieschulen unterscheiden. Die erste davon ist die traditionelle Sicherheitstheorie, die unangefochten den disziplinären Mainstream von den 1950ern bis in die 1980er Jahre darstellte. Zu dieser Zeit entstand eine weitere theoretische Strömung, die den Ansatz der traditionellen Schule als zu sehr auf militärische Fragen fixiert kritisierte und eine Ausweitung auf andere Bedrohungen forder-te. Zuletzt hat sich mit den Critical Security Studies eine dritte Schule entwickelt, die den gesamten Bezugsrahmen der Sicherheitsforschung hinterfragt. Hinzu kommen weitere Ansätze außerhalb dieser Schulen wie z.B. das Konzept der Versicherheitlichung (Buzan et al. 1998) oder poststrukturalistische Ansätze (Hansen 2006).

Dieser Artikel setzt sich im Folgenden mit der traditionellen Sicherheitstheorie ausein-ander, da diese erstens die deutlichsten Aussagen über Sicherheitsbedrohungen und Staa-tenverhalten trifft und zweitens noch immer in weiten Teilen der policy community einen gewissen Einfluss besitzt. Die unterschiedlichen Ansätze, die sich unter dem Schirm der Ausweitungsschule versammeln, sind zu heterogen und lassen sich nicht leicht auf klare Aussagen vereinigen. Drittens kann die kritische Sicherheitsforschung zurzeit lediglich Fragen stellen (wenn auch sehr sinnvolle), bietet jedoch noch keine kohärente theoretische Alternative an.

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Traditionelle Sicherheitstheorie ist ein von Wyn Jones (1999: 94) geprägter Sammelbegriff für eine relativ homogene Theoriesammlung, die vor dem Hintergrund der nuklearen Blockkonfrontation entstand. Aufgrund ihrer langen intellektuellen Hegemonie besaß diese Strömung lange kein klares Selbstkonzept und sah sich auch nicht als eine „Schule“. Viel-mehr bezeichneten sich die Anhänger dieser Theorie als Vertreter einer Subdisziplin der Internationalen Beziehungen, für die Begriffe wie Security Studies oder Strategic Studiesverwendet wurden.

Die traditionelle Sicherheitstheorie ist eng mit der Realistischen Theorie der Internati-onalen Beziehungen verbunden, wobei einige Gemeinsamkeiten über die verschiedenen Spielarten des Realismus hinweg bestehen. Eine zentrale Annahme des Realismus ist, dass die internationale Ebene durch Anarchie geprägt ist, d.h. dass eine übergeordnete Autorität fehlt, die die Beziehungen zwischen Staaten regulieren könnte. Die Logik der Anarchie wird oft mit einer Analogie zum Hobbes’schen Naturzustand erläutert: Darin ist jeder Ak-teur vorrangig auf sein Überleben bedacht und muss sich gegen feindliche Angriffe vertei-digen können. Daraus entsteht ein fundamentales Misstrauen zwischen den Akteuren (in diesem Fall den Staaten), was die Möglichkeiten zur Kooperation begrenzt. Laut Mears-heimer (1990) versuchen Staaten ständig, ihre relative Machtposition auf Kosten anderer Staaten zu verbessern, weswegen Zusammenarbeit höchstens kurzfristig entstehen könnte. Andere Realisten, speziell balance of power-Theoretiker, sind in diesem Punkt weniger pessimistisch und sehen auch Chancen für längerfristige Kooperation, speziell im Ange-sicht einer Bedrohung durch eine überlegene dritte Macht (Wohlforth et al. 2007; Levy 2004).

Wie bereits angedeutet gibt es verschiedene Ausprägungen des Realismus, die in ein-zelnen Aspekten voneinander abweichen. Beispielsweise nimmt der klassische Realismus an, dass staatliches Handeln durch innerstaatliche Eigenschaften determiniert wird, wäh-rend der Neorealismus die Ursachen in der anarchischen Struktur des internationalen Sys-tems verortet. Der offensive Realismus sieht bei Konflikten den Vorteil beim Angreifer und vermutet daher, dass Staaten zu Präventivangriffen neigen. Der defensive Realismus be-hauptet das Gegenteil und erwartet eine geringere Konfliktbereitschaft unter den Akteuren.

All diese Varianten teilen jedoch ein gemeinsames Verständnis von Sicherheit. Diese wird verstanden als die Abwesenheit externer militärischer Bedrohungen, die in ihrer Qua-lität die eigenen Fähigkeiten zur Abwehr übersteigen. Lippmann brachte dies auf die For-mel:

„A nation is secure to the extent to which it is not in danger of having to sacrifice core values if it wishes to avoid war, and is able, if challenged, to maintain them by victory in such a war“ (Lippmann 1943: 51).

Um seine Sicherheit zu verbessern, streben Staaten also danach, ihre Möglichkeiten zur Selbsthilfe zu verbessern. Dies geschieht zum Beispiel durch eine Ausweitung der militäri-schen Kapazitäten, um dadurch mögliche Angriffe abzuschrecken oder im Ernstfall auch abwehren zu können. Aus genau diesem Versuch, seine Sicherheit zu erhöhen, entsteht jedoch das Sicherheitsdilemma (Herz 1950): Jeder Staat versucht, seine Macht zur Beruhi-gung des eigenen Sicherheitsbedürfnisses zu erweitern. Dadurch wird dieser Staat für ande-re Staaten jedoch zu einer immer größeren potenziellen Gefahr. Aus diesem Grund werden diese Staaten versuchen, ihre Macht ebenfalls zu erhöhen, wodurch eine Rüstungsspirale in Gang kommt. Zwar unterscheiden sich die Erklärungen des Sicherheitsdilemmas ebenfalls

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von einem Theoriestrang zum anderen, die Schlussfolgerung bleibt jedoch die gleiche: Ein starker Staat stellt ceteris paribus eine größere Bedrohung dar als ein schwacher Staat.

Der Staat als solcher bleibt jedoch in den traditionellen Sicherheitstheorien stark un-terbelichtet. Waltz, der einen defensiven Neorealismus vertritt, ist nicht unbedingt repräsen-tativ für die Schule als Ganze, er ist jedoch einer der wenigen Autoren, der sich explizit zur Rolle und zur Identität des Staates äußert. Waltz (1959) versteht den Staat als rational han-delnden, homogenen Akteur. Diese Homogenität beruht auf einer inneren Einheit, die ent-weder durch eine nationale Ideologie oder durch die schiere Autorität der Regierung herge-stellt werden kann. Staaten, die nicht fähig sind, diese Einheit herzustellen, würden über kurz oder lang von der Landkarte verschwinden – und mit ihnen auch das Problem der internen Spaltung. Daher könne man die innere Einheit von Staaten a priori als gegeben voraussetzen.

Staaten sind in Waltz’ Verständnis grundsätzlich gleichartig, sie unterscheiden sich je-doch in ihren Fähigkeiten: „The functions of states are similar, and distinctions among them arise principally from the varied capabilities“ (Waltz 1979: 97). Welche Fähigkeiten (capa-bilities) nun den entscheidenden Unterschied zwischen Staaten ausmachen, bleibt etwas unscharf. An einer Stelle (1979: 131) nennt er verschiedene Aspekte, die alle in diese Frage einbezogen werden müssen: Größe der Bevölkerung und des Staatsgebietes, vorhandene Ressourcen, ökonomische Kapazitäten, militärische Stärke sowie politische Stabilität. Die-ses umfassende Verständnis staatlicher Fähigkeiten wird jedoch nicht konsequent ange-wandt – vielmehr verwendet Waltz den Begriff der Fähigkeiten eines Staates zumeist syn-onym mit dessen militärischen Kapazitäten. Hier übersieht Waltz jedoch, dass militärische Kapazitäten nicht der einzige Faktor sind, der über den Erfolg in einem Konflikt entschei-det, sondern dass auch andere Aspekte wie z.B. die administrative Kapazität und die Legi-timität der Regierung den Ausgang eines Krieges beeinflussen (Organski/Kugler 1978, Azar/Moon 1988).

Wie würde ein solches Konzept Staatszerfall verstehen? Zunächst stellt dies ein logi-sches Problem dar, da es sich hierbei um Staaten handelt, die über keine innere Einheit verfügen, aber dennoch nicht von der internationalen Landkarte getilgt werden. Allerdings muss man Waltz in diesem Punkt zugute halten, dass die ursprüngliche Formulierung seiner Theorie aus dem Jahr 1959 stammt und es zu dieser Zeit noch nicht offensichtlich war, dass sich eine internationale Norm gegen territoriale Annexion herausgebildet hat (Fazal 2004; Jackson 1990). Es scheint angemessen anzunehmen, dass diese Staaten dann einfach als handlungsunfähig anzusehen sind. Posen (1993) und Kasfir (2004) unternehmen eine ande-re Interpretation von Staatszerfall, indem sie das Konzept des Sicherheitsdilemmas auf die innerstaatliche Ebene transportieren, da sie davon ausgehen, dass in zerfallenen Staaten dieselben anarchischen Grundbedingungen herrschen wie im internationalen System. Damit wird deutlich, dass traditionelle Sicherheitstheorien durchaus fähig sind, das Thema Staats-zerfall aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Auf internationaler Ebene ist die Schlussfolgerung klar: Zerfallene Staaten stellen für andere Länder keine Bedrohung dar.

3 Die regionalen Auswirkungen von Staatszerfall

Es gibt jedoch Zweifel daran, welche Relevanz die Vorhersagen der traditionellen Sicher-heitstheorie für die Länder des Südens haben. Seit den 1990er Jahren haben eine Reihe von Autoren Zweifel an der Anwendbarkeit Realistischer Theorien und damit auch des traditio-

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nellen Sicherheitskonzepts auf die „Dritte Welt“, insbesondere auf Afrika geäußert (Neu-man 1998; Ayoob 1995; Job 1992). Die Kritik richtet sich dabei auf die folgenden Punkte: Erstens könne keine innere Einheit der Staaten angenommen werden, vielmehr seien viele Staaten des Südens innerlich zerrissen. Dadurch blende die Theorie Konflikte aus, die für die Sicherheit dieser Länder höchst relevant seien (Sørensen 2000; Job 1992). Zweitens sei das internationale System für diese Staaten keine Anarchie, sondern eine Hierarchie (Ay-oob 1998). Daher könne z.B. zwischen Staaten, die sich auf unterschiedlichen Ebenen die-ser Hierarchie befinden, auch kein Sicherheitsdilemma entstehen. Und drittens werde Si-cherheit und das Überleben des Staates in den Ländern des Südens nicht verabsolutiert, sondern im Kontext mit anderen Zielen wie wirtschaftlicher Entwicklung gesehen, was nicht zuletzt auf die internationale Bestandsgarantie selbst für die schwächsten Staaten zurückzuführen ist (Smith 2000).

Diese Kritik, die unter dem Namen Third World Security Studies firmiert, kommt zu gegensätzlichen Aussagen über Sicherheitsbedrohungen und Akteursverhalten. Smith fasst dies wie folgt zusammen:

„[W]hereas for Western states threats to security are mainly external, for states in the Third World/South threats are mainly internal, and to the extent that they are external they are more economic and enviromental than military in nature“ (Smith 2000: 82).

Regierungen in diesen Ländern werden ihre Sicherheit daher stärker nach innen als nach außen zu verteidigen haben. Wenn die Sicherheitspolitik nach innen orientiert ist, welche Ereignisse in Nachbarländern können dann zu einer Bedrohung werden? Hier ist vor allen Dingen die regionale Ausbreitung von Bürgerkriegen und anderen innerstaatlichen Konflik-ten zu nennen.4 Dazu soll zunächst die Verbindung von Staatszerfall und Bürgerkrieg ver-deutlicht werden. In einem zweiten Abschnitt werden die transnationalen Auswirkungen dieser Kriege und das ihnen innewohnende Eskalationsrisiko diskutiert. Damit soll gezeigt werden, wie gerade die schwachen „Davids“ eine größere Bedrohung als die stärkeren „Goliaths“ darstellen können. Während die Goliaths des Südens mit internen Problemen beschäftigt sind und daher ihre überlegene Macht nicht zielgerichtet gegen andere Staaten einsetzen können, entsteht gerade aus der Schwäche der Davids ungewollt eine Gefahr für andere Länder in der Region.

3.1 Fragile Staatlichkeit, innere Sicherheit und Gewaltkonflikte

Eine Vielzahl postkolonialer Staaten in Afrika, Asien, Lateinamerika, Ozeanien und in Osteuropa weist mehr oder weniger starke Defizite in der Ausübung zentraler Staatsfunkti-onen auf (Sørensen 2001). Die Wurzel dieser Defizite liegt in der mangelnden Institutiona-lisierung des Staatswesens, das oft durch Korruption und Neopatrimonialismus geschwächt ist.

Welche Zusammenhänge bestehen zwischen fragiler Staatlichkeit und der Sicherheit des davon betroffenen Staates? Auf diese Frage gibt es vielfältige Antworten. Für Rotberg ist die Gewährung von Sicherheit die raison d’être des modernen Staates: „The state’s prime function is to provide that political good of security“ (2004: 3). Tatsächlich sind viele Staaten, die an der Spitze aktueller Rankings wie dem Failed States Index (Fund for Peace

4 Darüber hinaus gibt es Anzeichen, dass Staaten, die sich in einem Bürgerkrieg befinden, besonders häufig in zwischenstaatliche Konflikte verwickelt sind (Gleditsch et al. 2008).

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2008) stehen, sehr häufig von teils extrem brutalen innerstaatlichen Konflikten betroffen. Ist aber fragile Staatlichkeit die Ursache dieser Gewalt, oder führen die Bürgerkriege zur Schwächung des Staates?

Verschiedene Theorien kommen hier zu unterschiedlichen Antworten. So geht die Forschung zu „neuen Kriegen“ (Münkler 2002) und „Gewaltmärkten“ (Elwert 1997) davon aus, dass diese Konflikte erst durch den Rückzug des Staates aus öffentlichen Räumen möglich wurden. In ähnlicher Weise argumentiert Mehler (2003), dass sich in Gewaltoligo-polen die Unsicherheit der Bevölkerung erhöht, je mehr Akteure dort auftreten. Diese Posi-tion ist anschlussfähig an das Argument des innerstaatlichen Sicherheitsdilemmas, das von dem Fehlen eines internen Souveräns auf ein erhöhtes Gewaltrisiko schließt.5

Genauer ausgeführt wird dieser Zusammenhang von Jackson (2001), der Konflikteska-lationen auf das Handeln politischer Eliten unter Bedingungen fragiler Staatlichkeit zurück-führt. Danach versuchen autoritäre und semi-autoritäre Regime, ihre Herrschaft durch Iden-titätspolitik, durch die Exklusion gesellschaftlicher Gruppen sowie durch die Konzentration der Macht auf einen „engsten Kreis“ zu stabilisieren. Die daraus resultierenden politischen Konflikte seien die Ausgangspunkte für gewaltsame Auseinandersetzungen, die teils von den staatlichen Eliten noch zusätzlich angeheizt würden. In Jacksons Modell stellt fragile Staatlichkeit eine notwendige Hintergrundbedingung für den Ausbruch dieser Konflikte dar:

„The important point is that the structural features of weak states are the context or underlying causes of internal conflicts, and the strategies of elites are the proximate or immediate cause or trigger“ (Jackson 2001: 76).

Herbst bietet eine andere Erklärung, wie fragile Staatlichkeit zum Ausbruch von Konflikten führen kann. Dazu betrachtet er Bürgerkriege im subsaharischen Afrika, die teilweise durch Rebellen gewonnen wurden und zu Beginn des Konflikts über weniger als hundert Kämpfer verfügten. Er stellt fest, dass staatliche Akteure trotz einer großen militärischen Überlegen-heit in der Anfangsphase des Konflikts an einem eklatanten Mangel an Informationen lit-ten:

„Most African governments lack systems to collect intelligence about what is actually happening on the ground, especially in rural areas distant from the capital“ (Herbst 2004: 361).

Oft sei das Hinterland ein nahezu staatsfreier Raum, von dem man weder Landkarten noch Ortskenntnis besitze. Daher griffen viele Armeen in der Aufstandsbekämpfung zu äußerst groben Mitteln wie Massenverhaftungen, Flächenbombardements oder Artilleriebeschuss. Diese sehr stumpfen Waffen sorgten jedoch oft für eine zusätzliche Entfremdung zwischen Staat und betroffener Zivilbevölkerung, die dem Militär meist ohnehin neutral bis feindse-lig gegenüberstehe. Anfang 1990 in Liberia verschafften beispielsweise massive Übergriffe der Armee gegen ethnische Gios, die man für Unterstützer der rebellischen National Patrio-tic Front of Liberia (NPFL) hielt, den Rebellen unter den Opfern dieser Kampagne massi-ven Zulauf (Ellis 1999).

5 Neuere Konzepte argumentieren dagegen, dass „staatsfreie Räume“ alles andere als gewaltoffen sind, sondern durch ein Vielzahl von Governance-Akteuren strukturiert werden (Clements et al. 2007; Risse/Lehmkuhl 2006).

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Bei weiter fortgeschrittenen Aufständen seien counterinsurgency-Maßnahmen erforderlich, die aufgrund ihrer hohen Anforderungen an die Logistik und die Beweglichkeit der Trup-pen sowie die Disziplin und die Moral der Soldaten selbst für Armeen aus Industriestaaten eine große Herausforderung darstellen würden (Collier et al. 2003: 72). Die geringe Mobili-sierungskapazität schwacher Staaten, die bei internen Konflikten weiter sinke, sowie knap-pe finanzielle Ressourcen führten zu einer unzureichenden personellen und materiellen Ausstattung der Armee. Hinzu komme das Fehlen einer politischen Strategie, die für eine erfolgreiche Aufstandsbekämpfung unerlässlich sei.

Eine andere Position sieht stattdessen in den Konflikten die Ursache für fragile Staat-lichkeit. Ein gutes Beispiel dafür ist die Arbeit von Salomon, die angelehnt an das Konzept des „kleinen Krieges“ (Daase 1999) die Hypothese untersucht, dass Staatlichkeit durch unkonventionelle Kriegführung geschwächt wird:

„Indem sich Staaten auf militärische Konflikte mit nichtstaatlichen Akteuren einlassen und damit eine irreguläre Kriegstaktik akzeptieren, wird ein Prozess initiiert, in dem Staatlichkeit latent unterminiert wird“ (Salomon 2005: 14).

Diese Unterminierung von Staatlichkeit finde auf mehreren Ebenen statt: Erstens werde durch die militärische Herausforderung der Rebellen die Territorialität des Staates über Teile seines Staatsgebiets in Frage gestellt. Zweitens werde die Staatsgewalt sowohl in ihrer Effektivität als auch in ihrer Legitimität angegriffen, wenn der Staat nicht mehr für ausreichende Sicherheit sorgen könne. Und drittens werde auch die Idee der politischen Gemeinschaft bzw. der Konsens über deren exakten Zuschnitt erschüttert. In ihrer Untersu-chung des Casamance-Konflikts resümiert Salomon, dass insbesondere die territoriale Ein-heit aber auch die Effektivität und Legitimität der Staatsgewalt des Senegal durch den langwierigen Konflikt untergraben wurden.

Damit kommt sie zu dem gleichen Ergebnis wie Daase (1999: 264), dass Staaten in der Bekämpfung von Aufständen unkonventionelle Strategien vermeiden sollten, da sie sonst ihre eigene Legitimationsbasis untergraben. Dieser Maßgabe widerspricht jedoch Arreguín-Toft (2005), der feststellt, dass die Siegchancen des Staates höher sind, wenn staatliche Akteure ihre Strategie den Rebellen anpassen: Wo eine Guerilla unkonventionell agiert, sollte die Regierung dies ebenfalls tun. Agieren Rebellen dagegen regulär, sollte die Regie-rung ebenfalls die konventionelle Konfrontation suchen. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Rothstein (2007) in seiner Untersuchung US-amerikanischer Interventionen, die militärisch besonders dann erfolgreich waren, wenn gegen unkonventionell agierende Gegner auch unkonventionelle Strategien verwendet wurden. Damit entsteht jedoch ein Dilemma für staatliche Akteure: Gehen sie mit unkonventionellen Maßnahmen gegen Rebellionen vor, erhöhen sie ihre Siegchancen, untergraben jedoch gleichzeitig ihre eigene Legitimität; ver-wenden sie dagegen konventionelle Maßnahmen, stabilisieren sie den Staat, gehen jedoch ein höheres Risiko ein, den Rebellen militärisch zu unterliegen.

Letztlich ist die Richtung der Kausalität zwischen Bürgerkriegen und fragiler Staat-lichkeit nicht eindeutig zu identifizieren. Dies liegt jedoch nicht an Versäumnissen der Forschung, sondern ist bereits in der Definition von Staatszerfall angelegt. Die gängigen Definitionen (z.B. bei Schneckener 2006, Rotberg 2004, Zartman 1995) verwenden ein institutionalistisches Staatsverständnis, das explizit oder implizit auf Max Weber rekurriert. Dessen idealtypischer Staatsbegriff hatte mehrere Merkmale, darunter auch „das Monopol legitimen physischen Zwanges“ (Weber 1972: 29). Dieses legitime Gewaltmonopol ist

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damit ein konstitutives Element von Staatlichkeit: In dem Maße, in dem dieses Monopol durchgesetzt werden kann, ist der Staat überhaupt erst ein Staat (Anter 1996: 107). Unter diesen Umständen sind jedoch Explanans und Explanandum untrennbar vermischt. Ich kann die Frage, ob ein innerstaatlicher Konflikt Staatlichkeit schwächt, nicht untersuchen, wenn sich die Antwort darauf bereits in der Definition von Staatlichkeit befindet. So bleibt nur die Schlussfolgerung, dass Staatszerfall und interne Gewaltkonflikte eng miteinander verbunden sind.

3.2 Staatszerfall und die Sicherheit von Nachbarstaaten

An diesem Punkt wird Staatszerfall auch zum Sicherheitsproblem für Nachbarstaaten, denn interne Gewaltkonflikte haben eine Tendenz zur räumlichen Ausbreitung. Die State Failure Task Force hat in ihrer Untersuchung innerstaatlicher Konflikte ermittelt, dass in Ländern, die an mindestens zwei von Bürgerkriegen betroffene Staaten grenzen, ein doppelt so hohes Konfliktrisiko besteht (Goldstone et al. 2000: 18; ähnlich Fearon/Laitin 2003). De Waal (2000: 5) hat bei seiner Untersuchung von 16 afrikanischen Kriegen festgestellt, dass ledig-lich zwei in Ländern stattfanden, die nicht an ein anderes Land angrenzen, in dem zeit-gleich ein anderer Krieg geführt wurde. Diese Beobachtung wird durch Carey bestätigt, die nach einer statistischen Analyse von Guerillakriegen in Afrika zu folgendem Schluss kommt:

„[A] country with guerilla warfare in a neighboring country appears to be roughly twice as likely to experience guerilla activities than a country surrounded by stable countries, not facing such violent forms of dissent, all else being equal“ (Carey 2003: 17; ähnlich Sambanis 2001).

Es besteht also eine Übereinstimmung in der Literatur, dass Bürgerkriege die Konfliktrisi-ken in Nachbarländern signifikant erhöhen.

Diese Untersuchungen sagen über die kausalen Mechanismen, die diesen Effekt her-vorrufen, zunächst nichts aus. Mit der Ansteckungs- und der Diffusionstheorie stehen zwei kausale Modelle zur Verfügung, die unterschiedliche Transmissionswege beschreiben (Gurr 2000: 55). Dabei beschreibt Ansteckung (contagion) Prozesse der Nachahmung und des sozialen Lernens: Neue Konflikte brechen in einem Land aus, weil sich Gewaltakteure den Konflikt eines Nachbarlandes gewissermaßen zum Vorbild nehmen (Demonstrationsef-fekt). Diffusion beschreibt dagegen die räumliche Ausweitung eines bereits vorhandenen Konflikts durch die Einbeziehung neuer Akteure (auch aus anderen Ländern).

Hill und Rothchild (1993; 1987) haben verschiedene Studien unternommen, die die Anwendbarkeit der Ansteckungstheorie auf verschiedene politische Konflikte zeigen. Sie konnten beispielsweise nachweisen, dass sich politische Proteste durch die Nachahmung erfolgreicher Bewegungen verbreiten, indem Aktivisten Informationen über deren Strate-gien erhalten. Ähnliche Mechanismen konnten auch bei ethnischen Konflikten (La-ke/Rothchild 1998) und bei Putschen (Li/Thompson 1975) nachgewiesen werden. Ein Bei-spiel für einen derartigen Ansteckungsprozess liefert Huxley in einer Studie über Indone-sien. Er berichtet, dass die Regierungen der Philippinen und Thailands besorgt darüber gewesen seien, dass sich die muslimischen Minderheiten in den Provinzen Mindanao (Phi-lippinen) und Pattani (Thailand) die verschiedenen separatistischen Bewegungen in Indone-sien zum Vorbild nehmen könnten:

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„The Moro Islamic Liberation Front (MILF) in Mindanao explicitly identified East Timor’s independence referendum as a precedent, and in November 1999 the Philip-pines’ foreign secretary expressed fears of ‚a disease of separatist turmoil‘ sweeping the region if Aceh won independence“ (Huxley 2002: 75).

Gurr warnt jedoch vor zu weitreichenden Schlussfolgerungen über die Gültigkeit der An-steckungstheorie. Nach seinen Erkenntnissen sind Ansteckungseffekte keine automatischen Phänomene, sondern treten vorwiegend dann auf, wenn starke Verbindungen zwischen den jeweiligen Gruppen bestehen:

„Contagion effects are strongest among similar groups (e.g., ethnonationalists) in the same country, weaker in adjoining countries, and weakest for more distant kindred. Contagion is enhanced by the existence of transnational networks linking similar groups“ (Gurr 2000: 92).

Generell hält Gurr (2000: 90) direkte Diffusionseffekte, d.h. die Ausweitung eines laufen-den Konflikts durch Einbeziehung neuer Akteure, für empirisch stärker verbreitet als die indirekt wirkenden Ansteckungsprozesse. Die Gefahr einer Regionalisierung steige zusätz-lich, wenn eine Gruppe, die im einen Land unterdrückt werde, in einem anderen die Kon-trolle über den Staat innehabe (vgl. Davis/Moore 1997). Ein Beispiel für eine solche Situa-tion ist die der Armenier in Aserbaidschan bzw. der Aserbaidschaner in Armenien. Genau wie die Ansteckungstheorie konnte die Gültigkeit der Diffusionstheorie für verschiedene Konflikttypen bestätigt werden. Beispielsweise haben Vasquez (1993) und Braithwaite (2006) die Eskalation zwischenstaatlicher Kriege untersucht und dabei signifikante regiona-le Diffusionseffekte festgestellt. Demgegenüber ist die Diffusion interner Konflikte im Allgemeinen (nicht nur ethnischer Konflikte) bislang kaum empirisch untersucht worden. Erst kürzlich hat Gleditsch mit einer systematischen Untersuchung von Konfliktdiffusion begonnen, die diese Theorie zu bestätigen scheint (Gleditsch 2007; Salehyan/Gleditsch 2006). Insgesamt ist zu dieser Frage allerdings noch weitere Forschung notwendig, um die Diffusionstendenz innerstaatlicher Konflikte abschließend zu beweisen.

Ferner haben sowohl die Ansteckungs- als auch die Diffusionstheorie verschiedene Schwachpunkte, die in den jeweiligen quantitativen Studien jedoch nicht angesprochen werden. Diese Defizite werden besonders von Brown (1996) hervorgehoben, dessen Kritik, man wisse zu wenig über die kausalen Mechanismen derartiger Prozesse, in ähnlicher Form noch heute von Gleditsch (2007: 295-296) formuliert wird. Dieses Unwissen lade ein zur Verwendung vereinfachender oder sogar irreführender Analogien:

„Many policymakers and journalists [...] have simplistic and mechanistic views of how this can come about: they frequently rely on crude analogies to diseases, fires, floods, and other forms of nature“ (Brown 1996: 23).

Diese mechanistische Sichtweise enthalte die implizite kausale Annahme, dass sich ein Konflikt aus einem gegebenen Land ausbreite, und versteht daher die darin einbezogenen Nachbarländer als passive Opfer eines ungesteuerten Prozesses. Dies blende jedoch die Möglichkeit aus, dass andere Staaten diesen Konflikt gezielt herbeigeführt oder geschürt haben bzw. dass die Ausweitung des Konflikts aus einer Intervention externer Akteure herrührt. Daher unterscheidet Brown die Auswirkungen eines Konflikts auf einen Nachbar-staat von den Handlungen, die dieser Staat in Bezug auf den Konflikt unternimmt:

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„My main argument with respect to the regional dimensions of internal conflict is that, although neighboring states can be the passive victims of turmoil in their regions, they are often active contributors to military escalation and regional instability: opportunis-tic interventions are quite common. It is therefore a mistake to think of internal con-flicts ‚spilling over‘ from one place to another through a process that is always beyond human control“ (Brown 1996: 26).

Diese zentrale Rolle konkreten Akteurshandelns fehlt in den vorgestellten quantitativen Untersuchungen, die bevorzugt systemische Erklärungen für die Ausbreitung von Konflik-ten suchen. Es zeigt sich jedoch, dass die Ausbreitung oft durch Interventionen von Staaten aus der Region geschieht: Wie Khosla (1999) gezeigt hat, intervenieren regionale Staaten wesentlich häufiger in interne Konflikte als Großmächte oder andere extra-regionale Akteu-re. Dabei bevorzugen Großmächte und nicht angrenzende Staaten diplomatische und öko-nomische Mittel, um in einen Konflikt einzugreifen, während 60 Prozent aller Interventio-nen durch Nachbarstaaten oder regionale Großmächte militärischer Art sind. Derartige Interventionen geschehen keineswegs willkürlich, sondern dienen der Verfolgung politi-scher Interessen. Mit anderen Worten: Konfliktdiffusion ist kein Naturgesetz, sondern das Produkt strategischer Entscheidungen der in der Region ansässigen Gewaltakteure. Die Ausbreitung von Konflikten muss daher als ein komplexes Interaktionssystem verstanden werden, in dem die beteiligten Akteure im Kontext von Anreizen und Opportunitätsüberle-gungen agieren und dabei die Handlungen anderer Akteure berücksichtigen.

Damit sind bereits die grundsätzlichen Wege angesprochen, über die es zu einer Diffu-sion von Konflikten kommt, wobei man grob zwei Typen unterscheiden kann: von innen nach außen sowie von außen nach innen. Die Ausbreitung von innen nach außen kann auf verschiedene Weisen passieren. Einerseits können Kämpfe „in der Hitze des Gefechts“ Staatsgrenzen überschreiten oder Rebelleneinheiten auf eigene Faust Ortschaften im Nach-barland überfallen. Andererseits können Gewaltakteure aus einem Konfliktland Basen und Rückzugsgebiete in einem Nachbarland errichten. Dies geschieht meist mit der Einladung, Duldung, Billigung oder in Unwissenheit der Regierung dieses Nachbarlandes bzw. desje-nigen Akteurs, der in der entsprechenden Grenzregion die Autorität besitzt. Derartige Basen dienen dem Schutz, dem Nachschub, dem Handel mit Konfliktgütern, der Ausbildung und weiteren Zwecken. Die Unterstützung der afghanischen Taliban-Bewegung nach deren Vertreibung aus Kabul Ende 2001 durch die paschtunischen Stammesfürsten in Pakistan ist ein gutes Beispiel für derartige Arrangements. An diesem Beispiel wird außerdem deutlich, dass die „Basen“ auch komplexe soziale Gebilde sein können, zu denen in diesem Fall die Unterbringung von Taliban-Kämpfern in paschtunischen Dörfern ebenso wie in der pasch-tunischen Diaspora in Großstädten wie Quetta oder Karachi gehören (Schmeidl 2002). In seltenen Fällen gelingt es einer Guerilla auch gegen den Widerstand einer Regierung des Nachbarstaates, auf dessen Territorium eine Basis zu errichten, wie es z.B. die ugandische Lord’s Resistance Army (LRA) im Osten Kongos geschafft hat.

Die Ausweitung von außen nach innen unterscheidet sich von der ersten Variante durch die Richtung ihrer Wirkung, geschieht jedoch oft mit denselben Mitteln. Diese Form der Ausweitung besteht oft in der Intervention eines Nachbarlandes (oder anderer, nicht-staatlicher Akteure aus diesem Land). Diese kann wiederum mit der Billigung lokaler Au-toritäten im Konfliktland geschehen (z.B. auf Einladung der Regierung) oder gegen deren Willen. Eine Intervention kann entweder direkt (durch die Entsendung von Streitkräften) oder indirekt, also durch die (finanzielle, logistische oder politische) Unterstützung verbün-

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deter Milizen, Warlords und Parteien erfolgen. Die indirekte Intervention ist dabei die gän-gigere Praxis: Erstens kann man auf diese Weise militärische Kräfte durch ökonomische Ressourcen substituieren, und zweitens kann man sich leichter von derartigen Handlungen distanzieren, wenn sie zu einer diplomatischen Last werden.

Bei der räumlichen Ausweitung eines Konflikts ist in der Praxis allerdings nur selten genau zu trennen, ob diese von außen nach innen oder von innen nach außen stattgefunden hat – im Regelfall treten diese Formen gemeinsam auf: Beispielsweise kann die Regierung eines Nachbarlandes eine Rebellengruppe im Konfliktland gleichzeitig finanziell unterstüt-zen und ihr eine Rückzugsbasis auf ihrem Territorium gewähren. Das Phänomen der „ver-schränkten Unterstützung“ von Rebellenbewegungen in benachbarten Ländern durch die Regierungen dieser Länder war im subsaharischen Afrika, aber auch anderswo, lange Zeit keine Seltenheit, wie z.B. Cliffe (1999) in seiner Studie des Horns von Afrika feststellt (auch Waal 2000: 17).

Es gibt also eine Vielzahl von Wegen, auf denen sich ein Konflikt in Nachbarländer ausbreiten kann. Dabei ist davon auszugehen, dass fragile Staatlichkeit ein Land besonders empfänglich für eine derartige Ausbreitung macht (Ayoob 1998: 42; Deng et al. 1996: 145-146). Dies geschieht aufgrund von zwei miteinander verbundenen Faktoren: die geringe Präsenz vieler schwacher Staaten in ihren Hinterländern sowie die durchlässigen Grenzen dieser Staaten. Tatsächlich kontrollieren postkoloniale Staaten oft nur einen Teil ihres Ter-ritoriums. Gerade afrikanische Staaten sind oft sehr stark zentralisiert und auf die Herr-schaft über wenige wirtschaftlich relevante Regionen ausgerichtet, weshalb diese auch historisch kaum in ihren Peripherien präsent gewesen sind. Das Resultat ist, dass die staat-liche Autorität oft nicht bis an die eigenen Staatsgrenzen heranreicht, sondern vielmehr graduell nachlässt, so dass sich zwischen zwei Staaten ein unscharfer territorialer Bereich herausbildet, dessen exakte Herrschaftsverhältnisse oft nicht klar zu bestimmen sind – mehr frontier als border (Herbst 2000; Hentz 2004). Eine effektive Kontrolle der Grenze ist unter diesen Umständen kaum möglich. Angesichts äußerst knapper Staatsfinanzen, schwieriger geographischer Gegebenheiten und gesellschaftlichen Akteuren, die oft nur geringen Re-spekt für die offizielle Grenzziehung zeigen, sind Grenzen zwischen fragilen Staaten äu-ßerst durchlässig oder existieren faktisch gar nicht mehr. Dass dies die Ausbreitung von Konflikten erleichtert (insbesondere aus dem Konfliktland in das Nachbarland), liegt unter diesen Umständen nahe.

Insgesamt stellt ein interner Konflikt ein ernst zu nehmendes Sicherheitsrisiko für die Nachbarstaaten des betroffenen Landes dar, die ihrerseits zumeist auch unter verschiedenen Graden von staatlicher Fragilität leiden. Somit wären – aus Sicht der traditionellen Sicher-heitstheorie paradoxerweise – die Davids gerade durch ihre Schwäche zu einer Bedrohung für ihre Nachbarn geworden. Im Extremfall könnte dies sogar zu einer regionalen Kettenre-aktion führen: Treffen die transnationalen Auswirkungen eines internen Konflikts auf einen sehr fragilen Nachbarstaat, kann dieser Staat ebenfalls zerfallen und das Land in einen Bürgerkrieg abrutschen. Auf diese Weise kann ein einzelner Konflikt auch mehrere andere Länder einbeziehen und sich dadurch über längere Zeit festsetzen, wie z.B. in der Nachbar-schaft Liberias zwischen 1991 und 2003 (Lambach 2008).

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4 Eine Forschungsagenda

Dieser Artikel hat sich mit der Frage befasst, welche Auswirkungen Staatszerfall auf die Sicherheit von Nachbarländern hat. Dazu wurden zwei theoretische Positionen dargestellt, die zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Während traditionelle Sicherheitstheorien kein Risiko in zerfallenen Staaten sehen, betont die im zweiten Abschnitt entwickelte Ge-genposition die Gefahren, die durch die transnationale Ausbreitung von Gewaltkonflikten entstehen.

Dieser Widerspruch ist theoretisch nicht aufzulösen, da kein gemeinsamer Maßstab von Sicherheit vorhanden ist, dem sich beide Perspektiven anschließen könnten. Dieser Mangel eines Maßstabs macht auch eine direkte Überprüfung der Thesen unmöglich. Als Alternative bietet sich jedoch mit dem Staatenverhalten ein anderer Indikator an. Wenn man Nachbarstaaten unterstellt, dass sie homogen sind, als rationale Nutzenmaximierer agieren und über vollständige Information verfügen, kann man davon ausgehen, dass sie auf Bedrohungen ihrer Sicherheit angemessen reagieren. Mit anderen Worten ist davon auszugehen, dass sich Nachbarstaaten anders verhalten, wenn sie zerfallene Staaten als Risiko ansehen, als wenn sie diese für ungefährlich halten.

Aus der oben aufgeführten Literatur lassen sich dieser Annahme folgend vier Hypo-thesen über das zu erwartende Verhalten von Staaten gewinnen:

H1: Staaten werden versuchen, ihre eigene Macht auf Kosten ihrer zerfallenen Nachbarn zu vergrößern (die Mearsheimer-Hypothese).

H2: Wenn sich durch Staatszerfall die regionale Machtverteilung ändert, werden Staaten versuchen, die Machtbalance anzupassen oder nach einer Hegemonialstellung streben (die balance of power-Hypothese).

H3: Staaten werden ihre zerfallenen Nachbarn ignorieren, da sie zu sehr mit internen Kon-flikten beschäftigt sind (die Third World Security Studies-Hypothese).

H4: Staaten werden versuchen, ihre zerfallenen Nachbarn zu stabilisieren und ihre fragilen Nachbarn vor dem Zerfall zu bewahren (die Kooperations-Hypothese).

In Subsahara-Afrika lassen sich Beispiele für jede dieser Hypothesen finden. Für H1 spricht zum Beispiel die beständige Einmischung Ruandas im Osten der Demokratischen Republik Kongo (früher Zaire), um dort eine Pufferzone zu schaffen und von der Ausbeutung natür-licher Ressourcen zu profitieren. Ein Beispiel für H2 ist die Entsendung der Eingreiftruppe ECOMOG nach Liberia und Sierra Leone, die vor dem Hintergrund eines Konflikts zwi-schen Nigeria und der Elfenbeinküste um die regionale Vormachtstellung in Westafrika zustande kam. Für H3 spricht, dass die Republik Kongo wenig Interesse am Zerfall ihres Nachbarlands, der DR Kongo, zeigte, da sie aufgrund interner Machtkämpfe zu dieser Zeit weitgehend handlungsunfähig war. Ein Beispiel für H4 ist das Verhalten Guineas, das die Regierungen Liberias und Sierra Leones konsequent in ihrem Kampf gegen Aufständische unterstützte.

Für eine empirische Untersuchung wäre dies ein interessanter Ausgangspunkt, wobei dafür natürlich eine deutlichere Operationalisierung von komplexen Begriffen wie stabili-sierendes Verhalten (H4) oder Macht (H1) notwendig wäre. Die Hypothesen ließen sich zusätzlich dadurch verfeinern, dass man die Annahme von Staaten als homogenen Akteuren aufgibt, denn dann ließe sich differenzieren, wem welches Verhalten eigentlich nützt: Ver-bessert die ruandische Intervention im Ostkongo die Sicherheit Ruandas? Oder dient sie

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lediglich der Bereicherung einer kleinen Elite im Staat und im Militär? Dass die grenzüber-schreitende Unterstützung von Warlords auch zu Problemen für den Unterstützer führen kann, hat die Elfenbeinküste erlebt, als die liberianische NPFL in ihren ivorischen Rück-zugsgebieten begann, Raubzüge unter der Zivilbevölkerung vorzunehmen (Ellis 1999: 179).

Die Einmischung in benachbarte Bürgerkriege kann also nicht a priori als stabilisie-rendes oder schädigendes Verhalten bewertet werden; eine derartige Einstufung könnte nur unter Berücksichtigung des Kontextes geschehen. Dennoch lassen sich auch hier einige Vermutungen anstellen: Erstens wären durch regionale Organisationen mandatierte Inter-ventionen vermutlich eher als stabilisierend zu bezeichnen als unilaterale Eingriffe. Außer-dem dürfte eine Einmischung durch autoritäre Regime eher den engen Regimeinteressen folgen als Interventionen demokratischer Staaten.

Auch eine zeitliche Veränderung müsste berücksichtigt werden. Lange Zeit war im sub-saharischen Afrika das Phänomen der „verschränkten Unterstützung“ von Rebellen in Nachbarländern weit verbreitet, z.B. zwischen Uganda (das die sudanesische SPLA unter-stützte) und dem Sudan (der die ugandische LRA förderte) oder zwischen Liberia (RUF) und Sierra Leone (ULIMO). Eindeutige Daten liegen nicht vor, es gibt jedoch Anzeichen, dass derartige Maßnahmen in den letzten Jahren seltener geworden sind. Jackson (2002: 32) bietet eine Übersicht der 14 blutigsten Bürgerkriege im subsaharischen Afrika nach 1960. Acht dieser Konflikte (Uganda, Süd-Sudan, Somalia, Burundi, Liberia, Ruanda, Sierra Leone und die DR Kongo) dauerten Ende der 1990er Jahre noch an; inzwischen sind vier beendet (Süd-Sudan, Liberia, Ruanda, Sierra Leone), drei abgeflaut (Uganda, Burundi, DR Kongo), während der somalische Bürgerkrieg weiter andauert. Jackson gibt für jeden Krieg die Staaten an, die in dem Konflikt interveniert hatten; dazu gehörten neben verschiedenen Staaten des West- und Ostblocks in vielen Fällen auch andere afrikanische Staaten (sowohl benachbarte als auch weiter entfernte wie z.B. Libyen). In sechs der acht Fällen gibt es heute keine nennenswerte regionale Einmischung mehr, in deutlichem Unterschied zur Situation der 1990er Jahre. Lediglich in Somalia (Äthiopien) und der DR Kongo (Ruanda) findet noch eine nennenswerte Einmischung von Nachbarstaaten statt.

Insofern lässt sich durchaus begründet argumentieren, dass Staaten heute weniger be-reit sind, Nachbarstaaten indirekt militärisch zu destabilisieren, auch wenn Ausnahmen (Schmidinger 2006) weiterhin auftreten. Ob dies das Resultat eines nachhaltigen Lernpro-zesses oder eine Begleiterscheinung der teilweisen Demokratisierung des Kontinents ist, kann hier nicht geklärt werden; diese Frage sollte jedoch genauer untersucht werden. In jedem Fall hat das Ende regionaler Einmischungen die Chancen zur Beendigung interner Konflikte merklich verbessert.

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Pulverfass Andenregion? – Der kolumbianische Konflikt und seine Auswirkung auf die Stabilität der Region

Eika Auschner/Corinna Walter 1 Einleitung

Kolumbien, dessen langjähriger und äußerst brutaler Bürgerkrieg von der internationalen Politik weitestgehend unbeachtet blieb, ist durch Ereignisse im Verlauf diesen Jahres wie-der stärker in das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit gerückt: Die Regierung ist gegen bestehendes Völkerrecht in ecuadorianisches Hoheitsgebiet eingedrungen und tötete dort Raúl Reyes, den zweitwichtigsten Führer der FARC und deren politisches Sprachrohr. Die dadurch verhinderte Fortsetzung internationaler Verhandlungen über die Freilassung von Geiseln sowie die heftigen Reaktionen Ecuadors und Venezuelas auf die kolumbianische Militäraktion werfen die Frage auf, inwiefern der komplexe und andauernde Konflikt in Kolumbien eine Gefahr für die Stabilität der gesamten Region darstellt und wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass der Konflikt auf die Nachbarstaaten übergreift.

Um auf diese Frage eine Antwort zu finden, sollen zunächst der Konflikt in seiner Ge-nese und seinen Dimensionen sowie seine wesentlichen Akteure dargestellt werden. Im Anschluss wird dann untersucht, welche regionalen und internationalen Auswirkungen bemerkbar sind und welche Rolle die USA als nördlicher Hegemon sowie Brasilien als Regionalmacht in Lateinamerika spielen. 2 Analyse des kolumbianischen Konflikts

2.1 Genese des Konflikts

Der innere Konflikt in Kolumbien, der in seinen Grundzügen seit der Unabhängigkeit des Landes besteht, lässt sich in vier Phasen unterteilen (Zinecker 2002: 7). Die erste Phase beginnt mit der Unabhängigkeit Kolumbiens im Jahr 1819. Kriegerische Auseinanderset-zungen und innere Konflikte zwischen Anhängern der Liberalen und der Konservativen Partei stürzten das Land schon ab seiner Geburtsstunde in diverse Bürgerkriege, von denen der bedeutendste der „Krieg der tausend Tage“ in den Jahren 1899-1902 war. Man stritt sich regelmäßig um die Struktur des Staates (zentralistisch oder föderalistisch) und seine Wirtschaftsordnung (Protektionismus oder Freihandel). Die eher schwache Struktur der Verwaltung und Regierung förderte die Autonomie der Provinzen, was wiederum zu einer Verstärkung des Konfliktes beitrug, da neben den beiden Parteien auch die verschiedenen Provinzen ihre Interessen durchsetzen wollten. Den amtierenden Regierungen gelang es nicht, die Staatsstrukturen zu stärken und den Konflikt so beizulegen (Gärtner 2008: 2-4). Die zweite Phase umfasst die extreme Gewaltwelle im Zeitraum 1949-58, die als La Vio-lencia in die kolumbianische Geschichte eingegangen ist. Durch die Ermordung des libera-

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len Präsidentschaftskandidaten Jorge Eliécer Gaitán, der Landreformen und Arbeitsschutz-gesetze durchsetzen wollte, wurde ein Bürgerkrieg ausgelöst, der sich durch eine sehr große Grausamkeit und Unkontrollierbarkeit auszeichnete. Nach dem Ende dieser Auseinander-setzungen, die etwa 200.000 Menschenleben kosteten, folgte eine fünfjährige Militärregie-rung unter Gustavo Rojas Pinilla, der durch eine Landreform hunderttausende Bauern zur Landflucht zwang und dem es nicht gelang, der Konflikte Herr zu werden. Erst 1958 konn-te ein Friedensabkommen zwischen den beiden konkurrierenden Parteien geschlossen wer-den, die sich zur Frente Popular vereinigten. Während dieser Zeit wurden die Guerillas als dritter Pol im bestehenden Konflikt immer bedeutsamer (Rötters 2008: 4).

Aufgrund der zunehmenden Stärke der Guerillas entwickelte sich in den 60er Jahren in der dritten Phase des Konflikts die neue Hauptkonfliktlinie, die zwischen den Guerillas und dem Staat verlief. Obwohl das Friedensabkommen zwischen den beiden Parteien zur Been-digung des Bürgerkrieges geführt hatte, kam es nicht zu den erhofften Verbesserungen der Lebenssituation breiter Bevölkerungsschichten. Dies hatte zur Folge, dass die verschiede-nen Guerillagruppierungen immer mehr Zulauf fanden. Sie setzten sich zum Ziel, die sozia-le Ungerechtigkeit zu bekämpfen und kommunistische Ideologien zu verbreiten. Ursprüng-lich existierten sieben große Guerillagruppen, von denen zwei noch heute aktiv sind (die FARC, die Fuerzas Armadas Revolucionárias de Colombia, und der ELN, der Ejército de Liberación Nacional). Die amtierenden Präsidenten versuchten mehr oder weniger intensiv, das Problem abwechselnd durch hartes Durchgreifen und durch Versöhnungsangebote zu kontrollieren.

In der vierten Phase, die in den 80er Jahren begann, dehnte sich dieser Konflikt zwi-schen Staat und Guerilla immer weiter aus und zu den bestehenden Akteuren kamen weite-re Gewaltakteure hinzu. Da die Guerillas zu Beginn dieser Phase durch spektakuläre Ent-führungen und große Expansion in Territorien von Großgrundbesitzern Aufmerksamkeit auf sich und ihre Ziele lenken konnten, bildeten potenzielle Entführungsopfer der politi-schen und wirtschaftlichen Elite des Landes zusammen mit Großgrundbesitzern und der Drogenmafia paramilitärische Gruppierungen, um die Guerillas stärker zu bekämpfen. So kamen zu der Auseinandersetzung zwischen Regierung/Militär und Guerillagruppen die AUC, die Autodefensas Unidas de Colombia, als dritter großer Akteur hinzu. Aufgrund der Finanzierung der Paramilitärs durch die Drogenmafia, multinationale Konzerne und finan-ziell gut gestellte Privatpersonen nahm das Gewaltpotenzial durch den Einsatz von immer neueren und besseren Waffen drastisch zu.

Mord und Totschlag, Entführungen und Menschenrechtsverletzungen sind heute in Kolumbien allgegenwärtig und werden von allen Akteuren im Konflikt ausgeübt (Amnesty International 2007: 1). Im internationalen Vergleich befindet sich Kolumbien in Gewaltsta-tistiken sehr weit vorne: Bei Mord durch Schusswaffen liegt das Land nach Südafrika auf Platz zwei und bei Morden, die durch Jugendliche verübt werden, sogar auf Platz eins (World Health Organization 2002: 53).

Auch wenn Kolumbien als „ein Land in der Aufarbeitung eines komplexen Konflikts, nicht ausschließlich ein Land im Konflikt“ (Wieland 2008b: 1) bezeichnet werden kann, und die Entwicklungen zu Beginn diesen Jahres, insbesondere die Tötung von Raul Reyes, einer der Hauptanführer der FARC, durch das Militär1 sowie die medienwirksame Befrei-

1 Am ersten Märzwochenende 2008 waren kolumbianische Soldaten auf ecuadorianisches Gebiet vorgedrungen und hatten dort Raúl Reyes, den zweitwichtigsten Anführer der Guerrilla-Organisation „Revolutionäre Streitkräfte

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ung der Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt2, die Position der Guerilla ge-schwächt haben, scheint ein Ende der Auseinandersetzungen nicht in Sicht.

2.2 Die Dimensionen des Konflikts

Um den kolumbianischen Konflikt in seiner Gänze zu verstehen, ist es wichtig, sich mit den verschiedenen Dimensionen von Sicherheit und deren Gefährdung zu beschäftigen. Analy-segrundlage für das mulitdimensionale Sicherheitsverständnis sind die Bücher „Regions and Powers. The Structure of International Security“ von Buzan und Wæver aus dem Jahr 2003 sowie das 1998 veröffentlichte Buch „Security. A New Framework for Analysis“ von Buzan, Wæver und Wilde. Buzan und Wæver unterscheiden fünf verschiedene Sektoren, die für die Sicherheit eines Staats relevant sind: einen militärischen, politischen, ökonomi-schen, gesellschaftlichen und ökologischen Sektor. Sie führen weiterhin aus:

„Generally speaking, the military security concerns the two-level interplay of the armed offensive and defensive capabilities of states, and states´ perception of each other’s intentions. Political security concerns the organizational stability of states, systems of gov-ernment and the ideologies that give them legitimacy. Economic security concerns access to the resources, finance and markets necessary to sustain acceptable levels of welfare and state power. Societal security concerns the sustainability, within acceptable conditions for evolution, of traditional patterns of language, culture and religious and national identity and custom. Environmental security concerns the maintenance of the local and the planetary biosphere as the essential support system on which all other human enterprises depend“ (Buzan/Wæver/Wilde 1998: 8).

Im kolumbianischen Konflikt kommen alle fünf Dimensionen in unterschiedlicher Ausprägung zum Tragen. Im Folgenden sollen diese fünf Sektoren anhand des Konfliktes in Kolumbien kurz skizziert werden. Im politischen Sektor kommt den nicht-militärischen Bedrohungen die entscheidende Rolle zu. Als typische Bedrohung wird die Einschränkung der Souveränität oder der Verlust der Legitimität gesehen. Es handelt sich hierbei um die Anerkennung der politischen Einheit von außen oder von innen (Buzan/Wæver/Wilde 1998: 141-142). Die Stabilität der jeweiligen sozialen und politischen Ordnung ist also das zentrale Thema der politischen Sicherheitsagenda. Der Staat ist das klassische Referenzob-jekt und die Akteure sind die staatlichen Machtträger (Buzan/Wæver/Wilde 1998: 146). Durch den jetzt seit mehreren Jahrzehnten andauernden internen Konflikt wurde die politi-sche Stabilität nachhaltig geschwächt. Der Staat hat nicht mehr die uneingeschränkte Ge-bietshoheit und kann nicht in allen Teilen für Rechtssicherheit sorgen. Die starken Gewalt-märkte sowie der sichtbare Staatszerfall, der zu Demokratiedefiziten führt, haben direkte Auswirkungen auf die staatliche Legitimität (Jäger et al. 2007: 168).

Die militärische Dimension der Sicherheit betrachtet generell den Staat als Hauptak-teur, da dieser in einer demokratischen Konstitution das legitimierte Machtmonopol besitzt (Buzan/Wæver/Wilde 1998: 49-52). Bedrohung wird in dieser Dimension am gravierends-ten wahrgenommen, da es sich um eine potentielle Bedrohung der staatlichen Existenz als Hauptbezugspunkt handelt und somit von elementarer Relevanz für den Staat ist. In Ko-

Kolumbiens“ (Farc) getötet. Venezuela und Ecuador ließen daraufhin Truppen an der Grenze aufmarschieren (FAZ 2008). 2 Die frühere kolumbianische Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt konnte nach sechs Jahren Geiselhaft Anfang Juli 2008 durch das kolumbianische Militär befreit werden (Spiegel Online 2008).

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lumbien verstärkt sich die Unsicherheit im Bereich der militärischen Dimension dadurch, dass man von einer multipolaren Akteursstruktur ausgehen kann, in dem verschiedene Kon-fliktakteure auf asymmetrische Weise ein Gewaltmonopol für sich beanspruchen bzw. die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung ihrer Interessen als legitimes Mittel ansehen. Die militärische Dimension hat aber neben der internen auch eine regionale Komponente. Eine Regionalisierung in diesem Zusammenhang entsteht durch grenzüberschreitende Ope-rationen der verschiedenen Akteure. Damit ist speziell im kolumbianischen Fall weniger die Zusammenarbeit staatlicher Militärs gemeint, sondern vielmehr die Grenzüberschrei-tung zum Zwecke des Rückzugs, der Rekrutierung oder der Versorgung mit notwendigen Ressourcen (Jäger et al. 2007: 176). Gerade die gezielte Militäroperation im März 2008, die zur Ermordung von Raúl Reyes führte, ist ein aktuelles Bespiel für die Regionalisierung der militärischen Dimension im kolumbianischen Konflikt.

Im ökonomischen Sektor ist Sicherheit wesentlich schwerer zu definieren als im mili-tärischen oder politischen Sektor (Buzan/Wæver/Wilde 1998: 95-96). Ein potentielles Si-cherheitsrisiko im ökonomischen Sektor besteht aufgrund der Abhängigkeit der Wirtschaft von bestimmten Ressourcen, die zur Verfügung stehen müssen (Eder 2004: 6). Die Be-zugsobjekte der ökonomischen Sicherheitsdimension können vielfältiger Art sein. Ein her-ausragendes Referenzobjekt ist auch der Staat, da man davon ausgehen kann, dass die poli-tische Sicherheit eines Staates auch auf wirtschaftlichem Wohlstand bzw. einer ökonomi-schen Stabilität beruht (Buzan/Wæver/Wilde 1998: 100). Bedroht ist die ökonomische Sicherheit also dann, wenn die sozio-ökonomischen Bedürfnisse der Gesellschaft nicht mehr befriedigt werden können und der Aspekt Wirtschaft somit negativen Einfluss auf andere Sicherheitssektoren nimmt (Eder 2004: 6). Im Falle Kolumbiens kommt dem Wirt-schaftssektor eine herausragende Bedeutung zu. Dadurch, dass sich der interne bewaffnete Konflikt, die Drogenökonomie und der Versuch der Kontrolle über die vorhandenen Res-sourcen des Landes durch die verschiedenen Konfliktparteien nicht voneinander trennen lassen, können die wirtschaftliche Sicherheit und Stabilität des Landes durchaus gefährdet werden. Sich wiederholende Anschläge auf Erdölfirmen, Entführungen, oder auch Schutz-gelderpressung erhöhen die Kosten für die Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Stabili-tät. Die Dimension der wirtschaftlichen Sicherheit beinhaltet zusätzlich eine regionale Komponente. Auch wenn die wirtschaftliche Sicherheit mit Hinblick auf die Region nur indirekt beeinflusst wird, weil die gezielte Plünderung von Wirtschaftgüter in Nachbarlän-der die Ausnahme bleibt, kann sich der Konflikt in Kolumbien durch die Notwendigkeit einer Erhöhung der Militärausgaben, Erhöhung der Transaktionskosten oder auch sinkende Auslandsinvestitionen wirtschaftlich negativ auf die angrenzenden Staaten auswirken (Jä-ger et al. 2007: 177). Die gesellschaftliche Dimension von Sicherheit bezieht sich auf die Gesellschaft eines Staats selbst (Buzan/Wæver/Wilde 1998: 119-120). Im Vordergrund steht dabei eine Ge-meinschaft und ihre Identität. Im speziellen Fall des kolumbianischen Konflikts ist die Sicherheit der Gesellschaft durch verschiedene Faktoren gefährdet. Durch Migration, Ein-fluss einer dominierenden Kultur oder Integration bzw. Segregation kann eine bestimmte Identität bedroht werden (Buzan/Wæver/Wilde 1998: 125). Von besonderer Bedeutung für die gesellschaftliche Sicherheit innerhalb des kolumbianischen Konflikts ist der Aspekt der Migration. Gerade in der Peripherie des Landes sind immer wieder Menschen zur Flucht gezwungen, falls sie nicht in die Schusslinien der verfeindeten Akteure geraten wollen. Kolumbien ist heute mit über drei Millionen Binnenflüchtlingen nach dem Sudan das Land

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mit den größten innerstaatlichen Flüchtlingsströmen (Hörtner 2008: 4). Diese Migrati-onsströme bewegen sich meist aus der Peripherie des Landes in Richtung des Zentrums und haben oftmals eine negative Auswirkung auf die Großstädte, da die unkontrollierte Zuwan-derung der überwiegend extrem armen Landbevölkerung zur „Verslumung“ und Zuspit-zung der innerstädtischen sozialen Lage führt (Roetters 2008: 3). Auch die erzwungene Positionierung zu einem der Akteure stellt ein hohes Maß an Unsicherheit für die Bevölke-rung dar. Ebenso wie die Sektoren Militär und Wirtschaft weist auch die Dimension der gesellschaftlichen Sicherheit eine regionale Komponente auf. Neben der teils durch Zwang herbeigeführten Migration ins Nachbarland, wodurch typische Sicherheitsrisiken von Flüchtlingsströmen entstehen, ist der Aspekt der grenzüberschreitenden Netzwerkbildung von zentraler Bedeutung. Die Flucht aus den Kampfzonen, die meist in der Illegalität endet, entfacht somit ein Konfliktpotenzial im Aufnahmeland (Jäger et al. 2007: 177). Auch die ideologische Hinwendung zu den Konfliktparteien in Kolumbien von Seiten verschiedener Gruppierungen in den Nachbarländern kann in diesen zu politischen und gesellschaftlichen Spannung führen und somit zu einer allgemeinen regionalen Destabilisierung beitragen. Zuletzt soll der ökologische Sektor betrachtet werden (Buzan/Wæver/Wilde 1998: 71-72). Referenzobjekt ist in diesem Zusammenhang die Umwelt und deren Erhaltung. Beachtens-wert ist in diesem Sektor, dass es nicht nur Akteure gibt, die die Umwelt als einen Sicher-heitssektor gesehen haben wollen, sondern auch solche, die dieses explizit zu verhindern versuchen (Eder 2004: 7). Die Bedrohung im ökologischen Sektor kann von zwei Seiten ausgehen: von der Umwelt selbst, nämlich in Form von Naturkatastrophen, die Auswirkun-gen auf die ökologische ebenso wie auf die gesellschaftliche Sicherheit haben können, und vom Menschen, d.h. in Form von Umweltzerstörung und deren tiefgreifenden ökologischen Folgen (Buzan/Wæver/Wilde 1998: 79-80). Von besonderer Bedeutung für Kolumbien bzw. für die Dimensionen des kolumbianischen Konflikts ist die Zerstörung der Umwelt durch den Menschen, die zu einer wirtschaftlichen Bedrohung und dadurch wiederum zu einer politischen Destabilisierung führen kann. Durch die Vernichtung der Kokaplantagen im Auftrag der kolumbianischen Regierung und mit großer Unterstützung durch die US-Administration kommt es zu einer weitreichenden Umweltverschmutzung. Da eine gezielte chemische Vernichtung ausschließlich der Anbaufläche für Koka logistisch nicht möglich ist, werden bei den großflächigen Sprühaktionen aus Flugzeugen angrenzende landwirt-schaftlich genutzte Flächen nachhaltig geschädigt. Trotz der nachgewiesenen negativen Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung, der Zerstörung der Nutzpflanzen sowie der Umweltzerstörung hält die Regierung an der Politik der Eradikation zur Bekämpfung der Drogenproduktion fest (Jäger et al. 2007: 268). Gerade diese chemischen Besprühungen haben aufgrund der Eigenschaft, dass sie nicht hinreichend präzise einsetzbar sind, regiona-le Auswirkungen. So kam es immer wieder zu Spannungen mit Ecuador, welches forderte, grenznahe Besprühungen einzustellen, da diese auch Schäden auf ecuadorianischem Staats-gebiet anrichteten (Jäger et al. 2007: 270-271). Ecuador reichte im März 2008 sogar eine Klage vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag gegen Kolumbien wegen des Ein-satzes des chemischen Vernichtungsmittels Glyphosat ein (El Pais 2008). Unter Verwen-dung des multidimensionalen Sicherheitsverständnis von Buzan und Wæver wird deutlich, wie vielschichtig der kolumbianische Konflikt ist. Er beinhaltet interne sowie regionale Dimensionen und hat transnationalen Auswirkungen.

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3 Die Akteure des Konflikts

3.1 Die Regierung

Die Regierung ist der erfahrenste und derzeit mächtigste Akteur im Konflikt. Die Regie-rung, die in Kolumbien demokratisch gewählt wird, ist gleichzeitig der einzige Akteur, der gesetzlich legitimiert ist (Kurtenbach 2004: 13). Sie beansprucht somit für sich das Recht, die Guerilla zur Kapitulation aufzufordern.

Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte hat die Haltung des Staates stets zwischen Frie-densverhandlungen und einer unnachgiebigen Politik geschwankt. Seit dem Zusammen-schluss der Liberalen und Konservativen Partei zur Frente Nacional, die in den Jahren 1958-1974 existierte, wechselten sich die beiden Parteien alle vier Jahre an der Regierung ab. Vertreter anderer Parteien und mögliche Präsidentschaftskandidaten wurden systema-tisch verfolgt und ermordet, weshalb bis heute, auch nach dem Ende der Frente Nacional,ein Zwei-Parteien-System existiert (Brües 2003: 2). Der Ausschluss weiter Bevölkerungs-teile von der Politik hat wesentlich zur Instabilität des Landes beigetragen. „In den Schwä-chen des inflexiblen und geschlossenen Systems der Nationalen Front liegen die Ursprünge für die Bildung radikaler oppositioneller Gruppen, die in den Folgeperioden unter Einfluss der Auswirkungen des illegalen Drogenhandels zu autonomen, den Staat bedrohenden Ak-teuren wurden. Besonders die Ausschaltung des Wettbewerbs im politischen System Ko-lumbiens hatte letztlich schädliche Folgen für die Stabilität des Staates“ (Jäger et al. 2007: 150).

In die Amtszeit von Belisario Betancur, der in den Jahren 1982-86 Präsident von Ko-lumbien war, fallen wahrscheinlich die größten Bemühungen des Staates, den Konflikt friedlich zu beenden. Er nahm direkte Verhandlungen mit den Guerilla-Führern auf, schloss mit ihnen ein Waffenstillstandsabkommen und begann, im Rahmen des „Großen Nationa-len Dialogs“ über Verfassungs- und Landreformen sowie über ein neues Wahlsystem zu diskutieren. Im Jahre 1985 gründeten die FARC sogar eine eigene Partei, die Unión Patrio-ta (UP), um auf legalem Weg die Politik Kolumbiens mitbestimmen zu können. Dieses Vorhaben kostete viele Parteianhänger, Präsidentschaftskandidaten und Abgeordnete das Leben und die Auseinandersetzung zwischen Staat und Guerilla kulminierte in einem Blut-bad im Justizpalast in Bogotá im November 1985.3

In dieser Zeit entstanden die Paramilitärs als dritter Akteur im Konflikt. Zwischen 1985 und 1995, dem „blutigen Jahrzehnt“, fielen viele Menschen diesen Gruppen zum Opfer, die von verschiedenen wirtschaftlichen Interessengruppen mit dem Ziel gegründet worden waren, die Sicherheit des Landes zu erhöhen. Vor allem Angehörige oppositioneller Parteien, Gewerkschafter und Vertreter verschiedener sozialer und politischer Organisatio-nen wurden exzessiv verfolgt und getötet.

Andrés Pastrana, der 1998 zum Präsidenten gewählt wurde und laut seinem Wahlver-sprechen „dem Land den ersehnten Frieden bringen wollte“, nahm unmittelbar nach seinem Sieg Verhandlungen mit den FARC auf. Zunächst zeichneten sich Erfolge ab, doch das Vorhaben scheiterte, was vor allem auf die fehlende Kompromissbereitschaft beider Seiten zurückzuführen ist. Seit dem Wahlsieg von Álvaro Uribe im Jahr 2002 fährt die Regierung

3 Ein Kommando der Guerilla-Organisation M-19 hatte aus Protest gegen den nur langsam voranschreitenden Friedensprozess den Justizpalast besetzt. Bei der Stürmung durch Polizei und Militär verloren über 100 Menschen ihr Leben, u.a. elf Mitglieder des Obersten Gerichtshofes (Hörtner 2008: 2).

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die Strategie der „harten Hand“ und versucht, die staatliche Präsenz in allen Teilen des Landes weiter auszubauen. Mit den Paramilitärs wurden Verhandlungen aufgenommen und die Guerillas, die zu keinen Gesprächen bereit sind, werden militärisch unter Druck gesetzt. Die Bevölkerung ist zutiefst gespalten: Insbesondere regionale Eliten und Angehörige der Mittelschicht unterstützen die Regierung, während andere Teile der Bevölkerung ihr ge-genüber sehr kritisch eingestellt sind.

Das Militär in Kolumbien ist außergewöhnlich autonom und begeht viele Verstöße ge-gen die Menschenrechte. Menschenverachtendes Verhalten, Verstrickungen in Drogenhan-del, Erpressungen und Entführungen sowie das Ausbleiben eines Sieges über die Guerilla haben das Ansehen des Militärs in der Öffentlichkeit stark beschädigt.

Die Regierung Pastrana hatte umfangreiche „Säuberungsaktionen“ innerhalb des Mili-tärs vorgenommen und zahlreiche Offiziere und Soldaten wegen Menschenrechtsverletzun-gen oder Verbindungen zu Paramilitärs vor Gericht gestellt. Die Militärs verhalten sich gegenüber der Regierung loyal und unterstützen diese im Kampf gegen die Guerillas. Technisch gesehen weist das Militär große Defizite auf, vor allem in Bezug auf Mobilität, Intelligence, Kommunikation und Training (Blumenthal 2001: 10). Seit dem Wahlsieg Uribes erlebt das Land, vor allem durch die finanzielle, personelle und technische Unter-stützung der USA, eine stärkere Militarisierung. Die Fronten zwischen der Regierung und den Guerillas haben sich zunehmend verhärtet, d.h. es gibt keine Verhandlungen, und der Staat setzt auf militärische Angriffe, wie zuletzt im März 2008 geschehen (Röttgers 2008: 2).

3.2 Die Guerilla

Das große soziale Gefälle in Kolumbien, der andauernde Konflikt zwischen der Liberalen und Konservativen Partei sowie die fehlende Möglichkeit zur Bildung einer legalen politi-schen Opposition haben in den 50er und 60er Jahren für die Entstehung einer Guerillabe-wegung gesorgt. Von den ursprünglich neun Gruppierungen existieren heute noch zwei.

Die Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) sind mit etwa 12.000 bis 18.000 Mitgliedern eine der weltweit größten und mächtigsten Guerilla-Organisation. Sie entstand als Reaktion auf die große Gewaltwelle in Kolumbien 1948/49. Im Jahre 1949 schloss sich die Kommunistische Partei mit liberalen und radikalen Bauern zusammen und gründete die Repúblicas Indepenientes („unabhängige Republiken“). Als bewaffnete Ver-teidigungsgruppe der Bauern gegen Großgrundbesitzer strebten sie eine Landreform nach marxistisch-leninistischem Vorbild an. Bei ihrer Gründung waren ein starker ideologischer Hintergrund sowie ein klarer Machtanspruch erkennbar (Zinecker 2002: 10-11). Sie übten eine Schutzfunktion für die Bauern gegen die vom Staat ausgeübte Gewalt aus. Bis in die 90er-Jahre hinein galt die FARC als der bewaffnete Arm der Kommunistischen Partei. Heutzutage sind einerseits eine zunehmende Entideologisierung und andererseits eine an-steigende Militarisierung festzustellen. Die FARC agieren in weiten Teilen des Landes. Ihr geografischer Schwerpunkt liegt mit den Provinzen Guainía im Osten, Meta und Guaviare im Südosten sowie Putumayo und Caquetá im Süden des Landes, also an der Grenze zu Venezuela, Ecuador und Brasilien. Der undurchdringliche und nur schlecht erschlossene Regenwald sowie zahlreiche Flüsse erleichtern der FARC den Rückzug. Des Weiteren beherbergen diese Regionen einige der größten Koka-Anbaugebiete in Kolumbien. Die FARC finanzieren sich durch die Erpressung von Lösegeldern sowie durch die „Besteue-rung“ der Koka-Produktion. Das Einkommen durch den Koka- bzw. Kokainhandel und der

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rege Schmuggel in der Grenzregion befreit die Guerilla immer mehr von der Notwendigkeit der lokalen Unterstützung durch die ansässige Bevölkerung. Dennoch verweigern die Gue-rillas ebenso wie das Militär eine neutrale Haltung der Bevölkerung und zwingen sie zur Kollaboration.

Der Ejercito de Liberación Nacional (ELN) ist mit ca. 4.000 Kombattanten im Ver-gleich zur FARC deutlich kleiner. Gegründet wurde er 1963 aufgrund politischer Inspirati-on der kubanischen Revolution unter Fidel Castro. Der ELN hatte in seiner Anfangsphase mit Studenten, linken Intellektuellen und Anhängern der Befreiungstheologie ein eher ur-banes Umfeld. Dies ist auch der Grund dafür, warum die Ideologie des ELN als wesentlich moderner und wissenschaftlicher zu betrachten ist. Hauptsächlich agiert der ELN heute im Nordwesten des Landes, in den Provinzen Santander und Boyacá sowie in der westlichen Provinz Antioquia.

Obwohl beide Guerillagruppen in Konkurrenz zueinander stehen, sind ihre Programme doch recht ähnlich. So sehen sich beide als Verteidiger der armen kolumbianischen Unter-schicht gegen die Oberschicht und die Regierung. Jedoch muss man konstatieren, dass es gerade in den letzten Jahrzehnten zu einer immer größeren Entideologisierung gekommen ist. Seit Anfang der 80er Jahre sind ein deutliches Zurücktreten inhaltlicher Ziele hinter wirtschaftliche Interessen sowie ein genereller Machtanspruch auf die besetzten Gebiete auszumachen. Politische Interessen scheinen gerade bei den nichtstaatlichen Akteuren des Konflikts deutlich hinter die wirtschaftlichen Interessen getreten zu sein. Die Beteiligung an der Drogenwirtschaft stellt sich durchaus als lukrativ dar, was dazu führt, dass Friedens-initiativen, die immer auch mit dem Abbau eben dieser Drogenwirtschaft einhergehen, bislang nur wenig Erfolg gehabt haben (Maihold 2004: 7). Obwohl beide Gruppierungen strategisch die Guerillataktik im Kampf anwenden, kann man sie nicht mehr eindeutig als Guerilla charakterisieren. Einerseits ist bei einem typischen Guerillero gerade der ideologi-sche Hintergrund entscheidend, andererseits ist auch die Abgrenzung zum Terroristen oder auch zum gewöhnlichen Verbrecher nicht mehr deutlich genug vorhanden.4 Beobachtet werden kann eine immer stärker werdende Hinwendung zu warlords, die mit dem einstigen Vorbild Che Guevara kaum noch etwas gemeinsam haben (Drekonja-Kornat 2004: 152).

Obgleich die Guerilla nach wie vor soziale Leistungen, wie z.B. Geld für die Hinter-bliebenen von Gefallenen, anbietet, geht die Unterstützung von Seiten der Bevölkerung immer weiter zurück. Mittlerweile sind in beiden Guerillaorganisationen mafiaähnliche Strukturen erkennbar. Ehre und Druck scheinen die beiden Faktoren zu sein, mit denen FARC und ELN ihre Anhängerschaft an sich binden. Die Ziele, die ehemals auf einem festen ideologischen Fundament gebaut waren, erscheinen immer diffuser und sind bei beiden Gruppierungen nicht mehr deutlich zu erkennen. Zur Durchsetzung der Interessen vertrauen sie inzwischen nicht mehr auf eine breite Unterstützung in der Anhängerschaft, sondern setzen stattdessen Gewalt ein. Diese Gewalt hat unterschiedliche Dimensionen: Werden bei der traditionellen Anhängerschaft, der verarmten Landbevölkerung, Schutzgeld und so genannte „Steuern“ erpresst, so versucht man, die traditionellen Gegner, u.a. die Paramilitärs, Großgrundbesitzer oder auch die Regierung, durch Entführungen oder gezielte Attentate einzuschüchtern.

Obwohl die eingetriebenen „Steuern“ sowie Gelder aus Schutzgelderpressung und Lö-segeldforderungen eine wichtige Einnahmequelle darstellen, bleibt gerade für die FARC

4 Zur genaueren Erläuterung der Charakteristika eines Guerilla-Kämpfers s. Anhang 1.

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der Drogenhandel das lukrativste Geschäft. Somit ist der florierende Handel mit Kokain eine der Ursachen und einer der Katalysatoren dieses Konfliktes. Alle Konfliktparteien profitieren demnach vom Drogenhandel. Dieser Umstand erhöht wiederum die Notwendig-keit, aber auch die Schwierigkeit, diesen Handel zu unterbinden. Versuche in diese Rich-tung zielten in der Vergangenheit stets auf die Koka-Bauern ab, die häufig in extremer Armut leben und sich unfreiwillig im Zentrum des Konflikts befinden. Sie werden von allen Seiten bedroht: von der Guerilla durch einzutreibende Schutzgelder und Steuern, von den Paramilitärs wegen der unterstellten Kollaboration mit der Guerilla und von der Regie-rung und in diesem Zusammenhang auch seitens der USA durch die Vernichtung der An-baugebiete durch Chemikalien.

In Kolumbien agieren mehrere Guerillabewegungen, von denen die FARC – wie be-reits erwähnt – die größte und einflussreichste ist. Sie unterhält gute Beziehungen zur Kommunistischen Partei des Landes, sodass sie auch in der Regierung – zumindest am Rande – Einfluss nehmen können. Die FARC haben im Laufe der 90er Jahre ihren Ein-flussbereich auf den Süden und Südosten des Landes ausgedehnt. Zuvor waren sie schwer-punktmäßig in Zentralkolumbien und an der Grenze zu Venezuela im Nordosten tätig (Mer-tins 2001: 38-41).

Diese zunehmende Ausbreitung in die Grenzregionen führt unweigerlich zu einer Re-gionalisierung des Konflikts, welche die ohnehin fragilen Staaten Peru, Venezuela und Ecuador destabilisieren könnte. In abgeschwächter Form sind die Auswirkungen des Kon-flikts auch in Brasilien spürbar. Besonders an der langen und schwer kontrollierbaren Gren-ze zwischen diesen beiden Staaten spielen Drogen- und Waffenhandel eine große Rolle.

3.3 Die Paramilitärs

Als Reaktion auf die Guerilla-Organisationen gründeten sich Anfang der 80er Jahre be-waffnete Gruppen, die dem Schutz der wirtschaftlichen und politischen Elite dienen und die Rebellen bekämpfen sollten.

Ursprünglich handelte es sich dabei um zivile Selbstverteidigungstruppen, die in den Regionen zum Einsatz kommen sollten, in denen die Staatsgewalt nur sehr eingeschränkt präsent war. Unterstützt wurden sie zunächst von vermögenden Privatpersonen, die sich so vor Entführungen durch die Guerilla schützen wollten, und zunehmend auch von der Dro-genmafia sowie multinationalen Konzernen. Bis Ende der 80er Jahre erhielten die Paramili-tärs auch eine offizielle Unterstützung der Regierung. Obwohl diese Unterstützung 1989 verboten wurde, erklärte die Autodefensas Unidas de Colombia („Vereinigte Selbstvertei-digungsgruppe Kolumbiens“) (AUC) 2005, dass ein Drittel aller Abgeordneten des Reprä-sentantenhauses sowie des Senats Verbindungen zu den Paramilitärs hätten (Gärtner 2008: 5). Durch die enge Zusammenarbeit zwischen Militär und den Paramilitärs avancierten letztere innerhalb kurzer Zeit zu einem wichtigen Element im Kampf gegen die Guerilla und Regimekritiker (Hörtner 2008: 3).

Als 1997 unter Carlos Castaño die AUC gegründet wurde, entwickelten sich die Para-militärs neben dem militärischen zu einem politischen Akteur. Die AUC, der heute über 11.500 Mitglieder angehören, bezeichnet sich als „bewaffnete, antisubversive, politische Organisation mit zivilem Charakter“ (Blumenthal 2001: 8) und bekämpft mit drastischen Mitteln den Teil der Bevölkerung, in dem sie Anhänger und Unterstützer der Guerilla ver-mutet. Über 70 Prozent der Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien werden den Parami-litärs zugeschrieben (Deutscher Bundestag 2007: 1).

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Die Regierung unter Uribe verfolgt eine Demobilisierung der paramilitärischen Gruppen. Sie versprach den Kämpfern Amnestie und Hilfe bei der Rückkehr in die zivile Gesellschaft und verlangte im Gegenzug die Niederlegung ihrer Waffen. Zwar gaben seither etwa 40.000 Paramilitärs ihre Waffen ab (Rötters 2008: 3), von einer verbesserten Sicherheitsla-ge kann dennoch nicht die Rede sein. Ehemalige Paramilitärs müssen kaum befürchten, auf Grund ihrer Taten vor ein Gericht gestellt zu werden, und häufig werden sie als Sicher-heitskräfte oder Beobachter von Guerillas durch die Regierung „recycelt“ (Derkonja-Kornat 2004: 156). Häufig treten alte Gruppen unter neuen Namen, wie z.B. Águila Negras oder Nueva Generación, in Erscheinung und nutzen bestehende paramilitärische Strukturen, was dem Demobilisierungsprozess entgegen wirkt (Rötters 2008: 2).

International wurde der Demobilisierungsprozess häufig kritisiert, da ein großer Teil der Paramilitärs zwar entwaffnet wurde, die Opfer jedoch nicht angemessen entschädigt bzw. in den Prozess mit einbezogen wurden und keine wirkliche Zerstörung der paramilitä-rischen Strukturen statt gefunden hat. Auch die „Drahtzieher“ hinter den Ausführenden der Gewalt, meist vermögende Privatpersonen oder internationale Konzerne, werden in keiner Weise belangt und müssen nicht mit wirtschaftlichen oder sozialen Folgen rechnen (Lee 2007: 2-3).

3.4 Weitere Akteure

In dem komplexen Konflikt zwischen Regierung, Guerilla und den Paramilitärs spielen noch weitere Akteure eine wichtige Rolle.

Sehr nennenswert ist in diesem Zusammenhang die Drogenmafia. Durch die weltweit steigende Nachfrage nach Kokain entwickelte sich Kolumbien zu einem der größten Koka-Produzenten der Welt. In den 1980er Jahren entstanden zwei große Drogenkartelle, das Cali- und das Medellín-Kartell. Mit Unterstützung der USA und durch die Ermordung von Pablo Escobar, dem wahrscheinlich bekanntesten Anführer des Medellín-Kartells, wurden die Kartelle in den 90er Jahren aufgelöst. Das Problem des Drogenhandels wurde dadurch verstärkt statt geschwächt, da es die Regierung nun nicht mehr mit wenigen Personen in überschaubaren Zellen zu tun hatte, sondern einer unkontrollierbaren Zahl an Drogenhänd-lern gegenüber stand (Kurz/Muno 2005: 26).

Auch heute noch bietet die Drogenmafia eine Zufluchtsstätte für viele mittel- und per-spektivlose Jugendliche, die als Auftragskiller, so genannte sicarios, und Drogenkuriere arbeiten (Brües 2003: 2).

Da das Geschäft mit Drogen eine große Menge an Schwarzgeld mit sich bringt, von dem alle beteiligten Akteure profitieren, wurde der Kampf um den Drogenhandel, die An-baugebiete und die Transportwege ein weiteres Zentrum des Konflikts (Rötters 2008: 3). Erst auf Druck der USA begann die Regierung, den Drogenanbau systematisch zu unter-binden (Jäger et al. 2007: 153). Im Rahmen des Plan Colombia, der 1999 gemeinsam von der Regierung Pastrana und der USA entworfen wurde, sollten die Koka-Anbauflächen im Süden des Landes und damit auch die rebellischen Gruppen vernichtet werden (Quitzsch 2008: 1). Nach der veränderten Sicherheitsstrategie der USA nach dem 11. September 2001 wurde aus dem war on drugs ein war on terror, der sich in erster Linie gegen die Guerillas wendete, die als von nun an als „Narco-Guerilla“ bezeichnet wurden (Drekonja-Kornat 2004: 151).

Ein weiterer Akteur, der im Zuge des Plan Colombia in den kolumbianischen Konflikt eingetreten ist, sind die Private Military Companies (PMC), von denen die Firma DynCorp

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besonders erwähnenswert ist. Die USA ist dazu übergangen, reguläre Soldaten zunehmend durch private Söldner zu ersetzen. DynCorp-Mitarbeitern ist es offiziell verboten, in Ko-lumbien Waffen zu tragen, was de facto nicht ausreichend kontrolliert und sanktioniert wird. Der Vorteil eines Outsourcings der Streitkräfte liegt auf der Hand: Würde man regu-läre Soldaten nach Kolumbien schicken, würde das öffentliche Diskussionen auslösen (My-sorekar 2004: 1). Folglich existiert ein weiterer nicht-staatlicher Akteur in dem asymmetri-schen Konflikt.

Eine wichtige Rolle spielt auch die wirtschaftliche Elite des Landes, die zwar die Si-cherheitspolitik Uribes unterstützen, sich jedoch gegen eine Verstärkung der Präsenz und materiellen Basis des Staates aussprechen. Sie agieren in erster Linie in Regionen, in denen der Staat nicht oder wenig einflussreich ist. Die Uneinigkeit dieser einflussreichen Personen darüber, ob die Politik Uribes unterstützenswert ist oder nicht, trägt zu einer starken Frag-mentierung und Polarisierung bei (Kurtenbach 2005: 33). Die Rolle der Medien in dem Konflikt wurde bis jetzt kaum untersucht, es ist nichtsdesto-trotz unumstritten, dass sie genutzt werden, um das Bild der Guerilla, die von der Regie-rung für den Terror verantwortlich gemacht wird, in der Bevölkerung negativ zu beeinflus-sen (Hörtner 2008: 4). Zudem ist Kolumbien weltweit eines der gefährlichsten Länder für Journalisten, weshalb gewisse Vorgänge insbesondere außerhalb der von der Regierung überwachten Regionen nur unzureichend aufgeklärt werden.

4 Regionale und internationale Dimension des Konflikts

4.1 Die regionale Dimension

Obwohl der fortdauernde Konflikt zwischen Staat, Guerilla und Paramilitärs primär als ein innenpolitischer Konflikt Kolumbiens angesehen werden kann, sind in den letzten Jahren auch zunehmend die Nachbarstaaten von den Auseinandersetzungen betroffen. Es kommt zu einer verstärkten Regionalisierung und Transnationalisierung5 des kolumbianischen Konflikts. Wichtige Faktoren, die eine generelle Regionalisierung von internen Konflikten begünstigen, sind eine schwache institutionelle Struktur und eine politische Instabilität (Jäger et. al. 2007: 179). Betrachtet man im Falle Kolumbiens seine beiden direkten Nach-barn, treffen beide Faktoren zu. Die Ausbreitung in die Grenzregionen könnte neben der Regionalisierung des Konflikts auch dazu führen, dass die ohnehin fragilen Staaten Vene-zuela und Ecuador weiter destabilisiert werden. Somit entsteht eine Spirale, welche die Eindämmung des Konflikts weiter erschwert.

In Kolumbien wie auch in den Nachbarstaaten steigt die soziale und ökonomische In-stabilität in den Grenzregionen immer weiter an. Diese Gebiete sind isoliert und rückstän-diger als die übrigen Teile des jeweiligen Landes. Das hat u.a. auch die Abwesenheit einer Entwicklungsvision der Zentralregierung in Kolumbien zu verantworten (International Crisis Group 2004: 11). Diese Vernachlässigung hat die Randgebiete zu natürlichen Rück-zugsräumen der bewaffneten Gruppen gemacht. Daraus ergibt sich eine hochexplosive Mischung: einerseits aufgrund der räumlichen Nähe der Konfliktparteien, andererseits auf-

5 Die Regionalisierung eines Konflikts ist von der Transnationalisierung zu unterscheiden. Eine Regionalisierung beinhaltet immer eine starke geographische Komponente und bedeutet, dass Auswirkungen eines Konflikts in besonderer Weise auf die Nachbarländer wirken. Transnationalisierung dahingegen beschreibt meist abstraktere überregionale Auswirkungen wie z.B. auf internationale Finanzmärkte oder die Drogenökonomie (Jä-ger/Daun/Lambach/Lopera/Maas/Margraf 2007: 176).

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grund des immer weiter vorschreitenden Militärs, das die illegalen Gruppen noch näher zusammentreibt. Für die ansässige Bevölkerung bleibt oft nur die Betätigung an illegalen Geschäften, zum Teil aufgrund des Drucks der Konfliktparteien, mit diesen zu kollaborie-ren, zum Teil auch deshalb, weil dies oft die einzige Möglichkeit ist, der extremen Armut und Unterentwicklung zu begegnen. Durch das verstärkte Vorgehen der Militärs gegen die aufständischen Gruppen werden sie immer mehr in Richtung der sehr fragilen Grenzen des Landes zurückgedrängt. Diese Grenzgebiete sind das schwache Bindeglied in der Politik der so genannten demokratischen Sicherheit (Seguridad Democrática) von Präsident Uribe. Traditionell wurden die Grenzgebiete Kolumbiens von der Zentralregierung in Bogotá immer vernachlässigt. Im Gegensatz zum Rest des Landes herrscht dort ein sehr hoher Grad an Armut und struktureller Unterentwicklung, was eine ideale Plattform für illegale Aktivi-täten wie das Handeln von Waffen- und Drogen sowie das Schmuggeln darstellt. Daraus erklärt sich auch, dass ein Großteil der Koka-Anbaugebiete in den Grenzregionen liegt. Die geografische Isolation sowie das Fehlen staatlicher Autoritäten wirken sich unterstützend auf den illegalen Anbau aus (International Crisis Group 2004: 2-4). Kolumbien grenzt mit einer Gesamtlänge von ca. 6.000 Kilometern an fünf Staaten (Pana-ma, Venezuela, Ecuador, Peru und Brasilien). Der Grenze mit Brasilien wird im Allgemei-nen weniger Aufmerksamkeit zuteil. Obwohl diese mit 1.643 Kilometern sehr lang und nur schwer zugänglich ist, hat Brasilien ein ausgebautes Verteidigungssystem, das die zahlrei-chen Flüsse im Amazonasgebiet mit rund 200.000 Soldaten trotzdem effektiv schützt. Auch Panama, Peru und der zwar nicht anrainende, aber durch den Koka-Anbau ebenso invol-vierte Andenstaat Bolivien sind wesentlich weniger stark in den kolumbianischen Konflikt verwickelt. Zwar haben sich die Koka-Anbaugebiete mittlerweile zu einem wesentlichen Teil nach Bolivien und Peru verlagert, trotzdem ist die Infiltration durch illegale und be-waffnete Gruppen nicht so stark wie im Falle Ecuadors oder Venezuelas. Trotzdem sehen sich auch Panama, Peru und Bolivien genötigt, ihre Polizei- und Militärkontrollpunkte an der Grenze zu verstärken, um so die Ausbreitung des Handels von Drogen-, Waffen- und anderen Schmuggelwaren in ihren Ländern zu unterbinden.

Im Zusammenhang mit der Regionalisierung des Kolumbienkonflikts soll ein besonde-res Augenmerk auf Ecuador und Venezuela gelegt werden. Einerseits scheinen diese beiden Länder von den grenzüberschreitenden Auswirkungen am stärksten betroffen zu sein, ande-rerseits ist von Seiten der beiden Nachbarregierungen mit dem Aufbau von Spannungen zu rechnen. Die Grenzregionen zu Venezuela und Ecuador sind als sehr fragil und durchlässig zu betrachten. Keines der angrenzenden Länder scheint in der Lage zu sein, die Grenzregi-on effizient zu kontrollieren und die lokalen Autoritäten zu unterstützen. Der Drogen- und Schmuggelhandel sowie andere kriminelle Aktivitäten stellen auch für Ecuador und Vene-zuela immer mehr ein innenpolitisches Problem dar und destabilisieren beide Länder zuse-hends. Durch verstärkte Grenzkontrollen und regionale Lösungsansätze versuchen die Staa-ten, die Verlagerung der Drogengeschäfte in die Nachbarländer zu verhindern (Maihold 2004: 2). Staatliche Stellen scheinen trotzdem in keinem der Länder in der Lage zu sein, den florierenden Schmuggelhandel oder die Verlagerung der Drogenanbaugebiete zu unter-binden. Dennoch wird die instabile und konfliktanfällige Region nicht als ein eigenes Prob-lem, das nach eigenen Lösungsansätzen verlangt, sondern als ein „ausgeweitetes“ kolumbi-anisches Problem angesehen. Dies erhöht das Misstrauen in den ohnehin nicht gerade un-problematischen Beziehungen zu Kolumbien und verhindert eine notwendige effiziente Kooperation der Nachbarstaaten. Gerade die Beziehungen zu Kolumbiens östlichem Nach-

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barn Venezuela sind schwierig und konfliktbeladen (Jäger et al. 2007: 246). Ein nicht zu unterschätzendes Konfliktpotenzial bringt die Tatsache mit sich, dass die Präsidenten Uribe und Chavéz sehr konträre politische Ansichten vertreten. Innen- und Außenpolitik sind eng miteinander verbunden und jegliches politisches Agieren wird stets auf beiden Seiten von einer populistischen Rhetorik begleitet (Wieland 2008a: 2). Die Spannungen scheinen durch die Einmischung des externen Akteurs USA sogar noch stärker gefördert zu werden (Gärtner 2008: 22). Während Kolumbien für die USA der engs-te Verbündete in Lateinamerika ist, wird Venezuela als Unruhestifter und größte Gefahr für die inneramerikanische Sicherheitsarchitektur gesehen. Diese Polarisierung durch den nörd-lichen Hegemon macht die Beziehungen zwischen beiden Andenstaaten schwierig und bringt ein gewisses Risiko für die gesamte Region mit sich. Neben der ideologischen Kom-ponente spielen Venezuela und Ecuador eine entscheidende Rolle für die Versorgungspoli-tik der Konfliktparteien, in erster Linie der FARC. Der grenzüberschreitende Waffenhan-del, dessen Empfänger die bewaffneten Konfliktparteien in Kolumbien sind, bindet die Nachbarstaaten direkt in den Konflikt ein. Nicht nur die Kämpfe zwischen den bewaffneten Akteuren beeinträchtigen die innere Sicherheit der beiden angrenzenden Staaten, auch die Flüchtlingsströme und die große Anzahl an illegalen kolumbianischen Einwanderern sor-gen für Unruhe in den Grenzgebieten. Schätzungsweise leben 130.000 Kolumbianer ohne Papiere im venezolanischen Grenzgebiet (International Crisis Group 2004: 17).

Es scheint mehr als deutlich zu sein, dass eine effiziente und kontinuierliche Koopera-tion zwischen Kolumbien und seinen Nachbarstaaten notwendig wäre, um das Problem der Ausweitung dieses Konflikts zu lösen. Zwar gibt es Bemühungen der verschiedenen An-denstaaten, die Probleme regional und bilateral anzugehen, jedoch waren diese bislang nur wenig erfolgreich.

Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten die zwischenstaatlichen Spannungen im März 2008 als das kolumbianische Militär in einer lang geplanten Aktion den Guerillero Raúl Reyes, Nr. 2 in der Hierarchie der FARC, auf ecuadorianischem Territorium töteten (Wie-land 2008a: 1). Die Verletzung der Souveränität des Nachbarlandes wurde international stark kritisiert und heizte die ohnehin angespannten Beziehungen zwischen dem konserva-tiv regiertem Kolumbien auf der einen Seite und den links bis links-populistisch regierten Ländern Ecuador und Venezuela weiter an. Nachdem beide Nachbarn Kolumbiens Truppen in ihre östlichen Grenzgebiete abkommandierten und die regionale Eskalation rhetorisch vorangetrieben wurde, schien Lateinamerika, welches im Allgemeinen als weltweit fried-lichste Region bezüglich zwischenstaatlicher Beziehungen gilt, an den Rand eines bewaff-neten Konflikts gedrängt zu werden. Nur durch die Intervention führender lateinamerikani-scher Politiker während des Gipfeltreffens der Rio-Gruppe in Santo Domingo konnte die endgültige Eskalation verhindert und eine Aussprache der drei Konfliktparteien erreicht werden (Wieland 2008a: 9).

Deutlich an diesem Vorfall wird, dass der kolumbianische Konflikt mittlerweile weit davon entfernt ist, ein rein innenpolitischer zu sein. Es wurde einmal mehr deutlich, dass wirkungsvolle Mechanismen und Institutionen zur friedlichen Streitschlichtung fehlen oder nur begrenzt wirksam zu sein scheinen. Auch die OAS (Organisation Amerikanischer Staa-ten) scheint nicht in der Lage zu sein, in diesem Konflikt wirkungsvoll zu vermitteln. Wäh-rend die OAS bei der Demobilisierung der Contras in Nicaragua Ende der 90er Jahre effek-tiv agieren konnte, fehlen ihr in Bezug auf die aktuelle Situation wirksame Konfliktlö-sungsstrukturen (Kurtenbach 2005: 38). Vielmehr hängt es von dem Engagement einzelner

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Politiker ab, ob ein Konflikt auf friedlichem und diplomatischem Wege gelöst werden kann oder zu einer bewaffneten Eskalation mit unabsehbaren Konsequenzen für die gesamte Region führt.

4.2 Die Rolle Brasiliens

Brasilien ist heute die unumstrittene Regionalmacht Südamerikas. Trotz großer innenpoliti-scher, sozialer und auch wirtschaftlicher Probleme konnte sich das Land politisch weitge-hend stabilisieren und gewinnt immer mehr an Einfluss auf der regionalen und internationa-len Ebene. Gerade der Anspruch, als Sprachrohr der „südlichen Hemisphäre“ zu gelten, verdeutlicht die Rolle, die Brasilien im internationalen System einnehmen will. Um dies zu erreichen, ist es für den größten Flächenstaat Lateinamerikas wichtig, zuverlässige sowie stabile Nachbarn und Partner in der Region zu haben. Brasilien erkennt an, dass die Region zwar durch eine geringe Intensität an traditionellen Sicherheitsbedrohungen gekennzeichnet ist, transnationale Bedrohungen jedoch zugenommen haben und zu einem Sicherheitsprob-lem für die ganze Region geworden sind (Ministerio da Defesa 2004: 41; Radseck 2004: 8). Dadurch, dass alte Rivalitäten und territoriale Streitigkeiten zwischen Argentinien und Brasilien beendet werden konnten, hat Brasilien auch seine Ausrichtung bezüglich mögli-cher Bedrohungsszenarien geändert (Calle 2005: 8). Die Bedrohungsperzeption des brasili-anischen Militärs geht immer stärker weg von der Grenzregion mit Argentinien hin zum Amazonasgebiet (Ministerio da Defesa 2004: 14), wo aufgrund der internen Probleme im Nachbarland Kolumbien eher mit einer Destabilisierung der Region und einer regionalen Ausweitung des Konfliktes zu rechnen ist als in der südlichen Grenzregion Brasiliens. Die angespannten Beziehungen zwischen den Staaten im Andenraum und Amazonasbecken bieten also ein nicht zu unterschätzendes Konfliktpotenzial und verlaufen konträr zu den Bemühungen Brasiliens, in einem stabilen und ruhigen Umfeld sein Gewicht als Regional-macht zu etablieren und weiter auszubauen. Als zentrale Bedrohung für die nationale und ebenso die regionale Stabilität werden zum einen die transnationalen Bedrohungen wie Drogenhandel und das organisierte Verbrechen gesehen, zum anderen das Fehlen starker nationaler Institutionen und die verbreitete Korruption innerhalb der staatlichen Strukturen (Calle 2005: 9). Die lange gemeinsame Grenze zu Kolumbien könnte sich trotz einer ver-stärkten Militärpräsenz zu einem Problem entwickeln. Das nördliche Grenzgebiet zu Ko-lumbien erweist sich zwar aufgrund der herrschenden klimatischen Bedingungen als unge-eignet für den Anbau der Kokapflanze, dennoch bedienen sich die Drogenproduzenten der Infrastruktur auf dem brasilianischen Territorium. Flugpisten (die teils illegal und daher nur schwer zu kontrollieren sind), das Straßennetz sowie die natürlichen Wasserwege ermögli-chen einen leichten Transport der produzierten Drogen in ihre Bestimmungsländer. Auch die Guerillaorganisationen nutzen das nur schwer zugängliche nördliche Amazonasgebiet als Rückzugsraum, zur Versorgung mit Nahrungsmittel, Waffen und Medikamenten sowie zur Rekrutierung neuer Kämpfer (Adam 2006: 7-8). Die brasilianische Regierung befasst sich mit dem kolumbianische Konflikt nicht nur auf-grund der Guerillaaktivitäten oder des Drogenhandels, sondern auch wegen der Möglichkeit einer weiteren Destabilisierung der gesamten Region. Die daraus hervorgehende Gefahr, dass sich die Konfliktzonen in das Amazonasgebiet verlagern könnten, geht einher mit der Gefahr von Flüchtlingsströmen, die sich negativ auf das ohnehin angespannte soziale Netz Brasiliens auswirken könnten. Schon aus den genannten Gründen ist ein herausragendes

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sicherheitspolitisches Interesse Brasiliens, den Konflikt nicht weiter eskalieren zu lassen und eine regionale Destabilisierung zu verhindern. Brasiliens Haltung und Engagement stehen immer auch in Verbindung zu den Beziehungen zum nördlichen Hegemon USA. Die brasilianische Regierung steht der Einmischung der USA, im Falle Kolumbiens durch den Plan Colombia, skeptisch gegenüber und versucht durch einen Ausbau seiner Stellung als Regionalmacht, diesen Einfluss einzudämmen (A-dam 2006: 10). Brasilien sieht in dem kolumbianischen Konflikt und der scheinbaren Un-fähigkeit aller beteiligten Akteure die Gefahr eines militärischen Engagements der USA und somit einer direkten Intervention in Südamerika. Die Ausweitung der militärischen Präsenz der USA wird von Brasilien als Versuch angesehen, den regionalen Einfluss aus-zuweiten und stößt bei der Regionalmacht auf starke Ablehnung

4.3 Die internationale Dimension

Der Konflikt in Kolumbien hat mittlerweile neben der nationalen und regionalen auch eine internationale Dimension erreicht (Hirst 2006: 58). Neben den im vorherigen Kapitel dar-gestellten Problemen der regionalen Sicherheit, die der kolumbianische Konflikt beinhaltet, wird auch die internationale Gemeinschaft immer stärker involviert. Der wichtigste interna-tionale Akteur sind nach wie vor die USA. Sie wirken als intervenierender äußerer Faktor des Gesamtkonflikts und verleihen diesem somit eine zusätzliche Dimension, die sich ver-ändernd auf den Charakter des Konflikts auswirkt (Gärtner 2008: 11). Kolumbien kann als der engste Verbündete der USA in Lateinamerika bezeichnet werden, insbesondere nach-dem in den letzten Jahren immer mehr linksgerichtete und US-kritische Präsidenten die Macht in einem Großteil der Länder Südamerikas errungen haben.

Kolumbien ist aus dreierlei Hinsicht wichtig für die USA. Erstens hat die globale und regionale Hegemonialmacht vitale Sicherheitsinteressen in der Region. Die größte Bedro-hung aus Sicht der USA ist in diesem Zusammenhang die Verbindung von Drogenökono-mie und Guerilla. Zweitens haben die USA ein geopolitisches Interesse an der Region. So fungiert Kolumbien als Brückenkopf zur Einflussnahme auf die Andenregion sowie auf Brasilien (Gärtner 2008: 11). Gerade die Tatsache, dass Kolumbien der einzig verbliebene enge Partner der USA im nördlichen Südamerika ist, verdeutlicht die geostrategische Rele-vanz des Landes. Ein dritter Aspekt sind die ökonomischen Interesse der USA in Kolum-bien. Durch seine Erdölreserven ist das Land gerade auch aufgrund der andauernden Kon-flikte und Krisen im Persische Golf und den schwierigen Beziehungen zu Venezuela als fünftgrößte Bezugsquelle ein wichtiger Energielieferant für die USA (Gärtner 2008: 12).

Die konkrete Kolumbienpolitik der US-Administration hat einen tiefgreifenden Wan-del durch die Anschläge vom 11. September 2001 erfahren. Danach wurde der kolumbiani-sche Konflikt umgehend der neuen Sicherheitspolitik angepasst. Sowohl FARC und ELN als auch AUC gelten nunmehr als terroristische Gruppierungen, die bekämpft werden müs-sen (Kurz/Muno 2005: 31). Die Ausrichtung der US-Politik auf den Kampf gegen den in-ternationalen Terrorismus führte somit zu einer Veränderung der amerikanischen Kolum-bienpolitik. Von besonderer Bedeutung wurden die Verbindungen, welche die USA nun zwischen dem langjährigen kolumbianischen Konflikt und dem „war on terror“ ziehen. Diese ermöglichten große finanzielle und militärische Hilfen für die Regierung Kolumbiens durch das US State Department sowie das US Defense Department. Der kolumbianischen Regierung eröffnete sich aufgrund der Neuklassifizierung der Guerilla als Terroristen eben-falls die Möglichkeit, einen Großteil der Kritik an der Zweckmäßigkeit ihrer Politik zu

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entkräften, da sie die Aktionen gegen die Guerilla und im Zuge dessen auch das Vorgehen gegen die Drogenproduzenten und -händler fortan mit dem Kampf gegen den Terror be-gründen konnte (Buzan/Wæver 2003: 328).

5 Schlussbemerkung

Aufgrund der Komplexität, Dauer sowie sich wandelnden Akteurs- und Konfliktlinien fällt eine eindeutige Kategorisierung des Konfliktes in Kolumbien schwer. Auswirkungen auf die Region lassen sich unabhängig davon unschwer erkennen. „Auch wenn Vergleiche ungenau bleiben: Die Anden-Region ist wie der Nahe Osten zu einer Zone geworden, in der asymmetrische Konflikte mit staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren internationale Grenzen überschreiten und in der terroristische Praktiken durch zwischenstaatliche Feind-schaften florieren“ (Wieland 2008a: 7). Obwohl der Konflikt durchaus große destabilisie-rende Auswirkungen auf eine ohnehin fragile Region hat, konnten bisher die zwischenstaat-lichen Spannungen durch das Engagement regionaler Führungskräfte entschärft werden. Solange es jedoch keine effizienten Konfliktschlichtungsmenchanismen der regionalen Organisationen wie z.B. der OAS oder der Andengemeinschaft CAN gibt, bleibt es abzu-warten, ob die zwischenstaatlichen Beziehungen auch zukünftig friedlich bleiben. Eine Region, die schon aufgrund ihrer inneren sozialen und historisch bedingten Spannungen ein permanentes Konfliktpotenzial birgt, wird sich nur nachhaltig entwickeln und stabilisieren können, wenn Krisensituationen emotionsfrei und auf diplomatische Weise gelöst werden. Ebenso wichtig wie die nachbarstaatlichen Beziehungen wird in Zukunft auch die Haltung der USA sein, deren bisherige Rolle im kolumbianischen Konflikt kontrovers diskutiert wird. Die USA haben die Spannung in der Region durch ihren Anti-Drogen- bzw. Anti-Terror-Kampf in der Vergangenheit zusätzlich gefördert. Inwieweit die Regionalmacht Brasilien eine schlichtende und stabilisierende Rolle spielen kann und wird, bleibt abzuwar-ten.

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Gewaltökonomien und ihre externe Eindämmung

Johannes Le Blanc 1 Einleitung

Ab den späten 80er Jahren wurden innerstaatliche Konfliktparteien mit der Herausforde-rung konfrontiert, ihre Finanzierungsgrundlage vollständig autark sichern zu müssen. Das Wegbrechen der ohnehin schrumpfenden materiellen und politischen Unterstützung von Seiten der Blockmächte zwang bewaffnete Bewegungen dazu, sich alternative Einkom-mensquellen zu erschließen, wollten sie ihren Kampf fortführen. Zur Finanzierung ihres Kampfes griffen Aufständische neben dem Verkauf von Rohstoffen zunehmend auf krimi-nelle Mittel zurück. Die sich verstärkende Beteiligung privater Akteure, eine erstaunliche Persistenz der Konfliktstrukturen und die Anbindung an internationale Finanz- und Waren-ströme ließ einige Wissenschaftler selbst an den Motiven der Konflikte zweifeln. Ansätze, die die Einkommensgenerierung durch systematisch angewandte Gewalt in den Mittelpunkt ihrer Analyse stellten, versuchten neue Erklärungsmuster zu finden, da die klassische Kon-fliktforschung scheinbar keine Erkenntnisse in diesem Bereich generierte. Der von Georg Elwert geprägte Begriff des „Gewaltmarktes“ oder der „Gewaltökonomie“1, beschreibt demgemäß einen Wirtschaftsraum, in dem Einkommen durch die Anwendung oder Andro-hung von Gewalt erzielt wird. Diese Gewaltökonomien stellen laut Elwert oder Heupel aufgrund ihrer Eigendynamik ein wesentliches Hindernis in der Beendigung von Konflikten dar (Heupel 2005; Elwert 2003). Aus diesem Grund ist die Ermittlung effektiver Strategien zu ihrer Eindämmung von entscheidender Wichtigkeit. Nur wenn es gelingt, Gewaltöko-nomien zu beenden, ist eine nachhaltige Friedenskonsolidierung aussichtsreich (Heupel 2005). Auf welche Weise dieses Ziel jedoch erreicht werden kann und ob hiermit wirklich die Komplexität gegenwärtiger Konflikte erklärt werden kann, ist nach wie vor höchst um-stritten. Dennoch bietet die Theorie der Gewaltökonomie wichtige Anhaltspunkte für die Untersuchung des Finanzierungsaspektes bewaffneter Gruppen.

Der vorliegende Artikel bietet einen Überblick über die zentralen Eigenschaften von Gewaltökonomien im Kontext innerer Konflikte und geht gleichzeitig auf die Möglichkei-ten und Probleme der Eindämmung dieser Finanzierungsquellen von bewaffneten Bewe-gungen ein. Im ersten Abschnitt wird eine Charakterisierung und Begriffsbestimmung von Gewaltökonomien vorgenommen. Ziel ist es, die theoretische Grundlage des Phänomens der gewaltbasierten Konfliktfinanzierung aufzuzeigen. Dies ist für eine effektive Bearbei-tung der Problematik und eine Beurteilung der bereits eingesetzten Maßnahmen unerläss-lich. Neben einer Beschreibung sollen hier auch kritische Anmerkungen zu einzelnen Ele-menten der gewaltökonomischen Theorie ihren Platz finden. Im zweiten Teil wird auf kon-krete Instrumente eingegangen werden, die auf eine Eindämmung der wirtschaftlichen 1 Gewaltökonomie und Gewaltmarkt können als Synonyme verstanden werden (Spelten 2004: 5). Im Weiteren wird der Begriff der Gewaltökonomie verwandt.

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Basis der Konfliktparteien abzielen. Diese sollen einer kritischen Betrachtung unterzogen werden. Auf die inhärenten Lücken für eine effektive Eindämmung wird zudem eingegan-gen werden.

2 Analyse von gewaltökonomischen Strukturen

2.1 Charakteristika von Gewaltökonomien

Der Begriff der Gewaltökonomien beschreibt im Grunde ein lokal begrenztes Phänomen, in dem einzelne, private „Gewaltunternehmer“ tätig werden. Eine Kriegsökonomie umfasst darüber hinaus die politischen Möglichkeiten eines Staates, wirtschaftliche Ressourcen und Unterstützung zu mobilisieren. Diese Mobilisierung erfolgt in schwachen Staaten aufgrund der nicht vorhandenen Möglichkeiten zur internen Wertschöpfung und geringen Steuerauf-kommens in erster Linie im Ausland durch Ressourcenverkauf, Kreditaufnahme oder im Rahmen von Entwicklungshilfemaßnahmen. Erschöpfen sich diese Quellen, bedienen sich staatliche Organe ebenfalls gewaltökonomischer Strategien, womit eine klare Trennung von privaten Gewaltunternehmern und dem Staat nicht mehr vorzunehmen ist. In Bürgerkriegs-ökonomien sind ein Nebeneinander und eine Vermischung von Gewaltökonomie und Kriegswirtschaft sowie ein fließender Übergang von Kriegsbeteiligten und Kriegsunter-nehmern zu beobachten (Brzoska/Paes 2007: 14-15).

Innere Merkmale von Gewaltökonomien sind die ihnen inhärente auto-stabilisierende Struktur und ihre Reproduktionsfähigkeit, die auf einem profitorientierten Wirtschaftssys-tem beruht. Hierin wird eine Kombination von Gewalt und Handel genutzt, um Zugriff auf Waren zu bekommen (Elwert 1999: 85). Gewaltökonomien oder -märkte sind Beziehungs-geflechte oder soziale Räume, in denen die Androhung oder Anwendung von Gewalt zur Aneignung von Einkommen kausalen und systemischen Charakter hat (Spelten 2004: 5). Laut Elwert schaffen es einzelne charismatische Führungspersönlichkeiten sich in diesen Räumen zu lokalen Machthabern, bzw. Warlords aufzuschwingen und weite Teile von Staatsterritorien zu kontrollieren. Die mit marktwirtschaftlichen Regeln vertraute Warlords führen nicht nur ihre Gefolgsleute, sondern zeichnen sich zudem durch exakt kalkuliertes Planen des Einsatzes von Ressourcen aus. Diese Gewaltmanager setzen in den Wirren des Konfliktes ökonomische Ziele mit Gewalt durch. Sie können aber auch friedvoll ihre Ge-schäfte weiter führen, sobald der Konflikt abflaut (Elwert 1999: 85-87, 97). Hohe Flexibili-tät und schnelle Anpassung an sich verändernde Umstände sind wichtige Merkmale der Akteure in Gewaltökonomien.

Um profitabel zu sein, müssen Gewaltökonomien mit den legalen Märkten verbunden sein (Spelten 2004: 8; Elwert 1999: 91). Eine solche Anbindung verläuft über informelle Kanäle der sog. Schattenglobalisierung. Peter Lock unterscheidet bei der Globalisierung drei verschiedene Sektoren: den regulären, den informellen und den kriminellen Sektor, wobei die letzteren beiden die Schattenglobalisierung darstellen. Der informelle Sektor umfasst die vom Staat abgekoppelte Wirtschaft, die sich zu einem dichten weltumspannen-den Netzwerk ausgebildet hat. In diesem Wirtschaftsraum werden keine Steuern entrichtet. Es gibt weder rechtliche, noch physische Sicherheit, Gewalt und Kriminalität dominieren diesen Sektor. Der illegale Sektor ist die kriminelle Ökonomie. Gewalt reguliert die wirt-schaftlichen Vorgänge in diesem globalen Netzwerk, das „parasitär“ an die reguläre Öko-nomie angeschlossen ist. Drogen- und Waffenhandel, Schutzgelderpressung und Geldwä-sche sind die Einkommensquellen dieses Sektors. Die Gewalt der ablaufenden Konflikte

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wird zur regulativen Gewalt in schattenökonomischen Netzwerken, was eine klare Tren-nung von Kriegs- und Friedensökonomie unmöglich macht (Lock 2003: 95, 108-114). Die-se ausgedehnten Netzwerke bilden die Ökonomie bewaffneter Konflikte. In die Auseinan-dersetzungen sind ebenfalls private Gruppen, eine Diaspora oder kriminelle Banden einge-bunden. Ferner gehören auch Staatsregierungen, besonders der Nachbarländer und ehema-liger Kolonialherren sowie die Konsumenten der Abnehmerstaaten hierzu (Le Billon 2001: 569-570).

Das Modell der Gewaltökonomien nach Elwert stößt da an seine Grenzen, wo es die Motive der Kampfhandlungen einzig auf die Ökonomie beschränkt (Elwert 1999). Ob aus den geschilderten Mechanismen eine generelle Negierung politischer und religiöser Hand-lungskonzepte abzuleiten ist, bleibt fraglich. Laut Kalyvas und Duyvesteyn ist eine Reduk-tion der Konflikte auf ihren ökonomischen Nutzen eine grobe Vereinfachung der komple-xen soziopolitischen und kulturellen Zusammenhänge (Duyvesteyn 2005; Kalyvas 2001). Dies gilt insbesondere für afrikanische Konflikte.

Wichtige Grundlagen für die Entstehung und den Erhalt von Gewaltökonomien sind der Zusammenbruch des staatlichen Gewaltmonopols sowie ferner der leichte Zugang zu Waffen und Treibstoff. Das erklärt, warum derartige Systeme sich besonders häufig in Konfliktregionen entwickeln. Weiter ist das Vorhandensein von wirtschaftlich verwertbaren Gütern bzw. die Gelegenheit, sich durch kriminelle Machenschaften zu bereichern, Vor-raussetzung für die Entstehung von Gewaltökonomien (Spelten 2004: 5; Elwert 2003a: 268; 1999: 97). Die beiden grundlegenden Faktoren für die Entstehungen von Gewaltökono-mien, Staatszerfall und die Gelegenheit zur Bereicherung sowie die Anwendung von Ge-walt, das Produktionsmittel der Gewaltmanager selber, werden im Folgenden einer detail-lierten Betrachtung unterzogen.

2.2 Schwache Staatlichkeit als Grundlage von Gewaltökonomien

Die grundlegende Bedingung für die Entstehung von Gewaltökonomien ist die Auflösung eines Gewaltmonopols, der Zerfall des Staates und die Entstehung von gewaltoffenen Räumen. Erstaunlicherweise geht die Erosion des Gewaltmonopols in nahezu allen Fällen von Staatsbediensteten selber aus, die ihre Position missbrauchen, um sich zu bereichern (Büttner 2004: 4; Elwert 2003a: 268-269; 1999: 85-86). Die Vorstellung vom Zerfall intak-ter Staaten ist hierbei in der Regel irreführend. Besonders in den afrikanischen Beispielen muss die Frage gestellt werden, inwieweit denn die grundlegenden Merkmale von Staat-lichkeit überhaupt je vorhanden waren (Lock 2000: 63).

Reno nennt eine personengebundene Herrschaft, die hinter einer Fassade von de jure Souveränität aufgebaut, wird einen Shadow State. Hierin wird politische Kontrolle statt durch effiziente Institutionen über wirtschaftliche Kanäle ausgeübt. Der Machthaber des Shadow State macht sich unabhängig von der Wirtschaftsentwicklung des eigenen Landes, indem er sich auf Ressourcen stützt, die er durch Geberstaaten oder Investoren bekommt. Außerdem profitiert er von den Einnahmen aus dem Rohstoffverkauf statt von dem Steuer-aufkommen des eigenen Landes. Die Strategie des Machthabers nach Innen beruht darauf, keine öffentlichen Güter bereit zu stellen und somit einen Zustand kollektiven Mangels zu schaffen. Diesem Mangel kann alleine er selbst durch Zuwendungen an getreue Gefolgsleu-te abhelfen. Damit die Strategie aufgeht, muss jeglicher unkontrollierter Marktzugang und der Aufbau funktionierender Institutionen verhindert werden. Anderenfalls würde die Loya-lität der Bittsteller durch Selbstversorgung erodieren. Trittbrettfahrer stellen eine ernste

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Bedrohung für eine solche Machtstruktur dar. Institutionen bergen zudem die Gefahr, dass diese von potentiellen Rivalen genutzt werden können, um den Machthaber herauszufor-dern. Dienste, von der Bereitstellung eines Postsystems bis zum Einzug von Steuern, die traditionell der Staat übernimmt, werden an private Unternehmen übertragen. Diese stellen keine Gefahr der Bildung einer autonomen Machtbasis innerhalb des Staates dar. Auch der Schutz der Bürger wird wie ein privates Gut behandelt und nur nach Gunst des Machtha-bers gewährt. Der Staat wird infolgedessen zu einem privaten kommerziellen Syndikat (Reno 2000: 45-54; 1998: 18-24), das Volk zur Geisel der Machthaber.

Als Reaktion auf den Rückzug des Staates bilden sich informelle Institutionen heraus, die notwendige, ursprünglich staatliche Aufgaben leisten. Damit einher geht die Bildung von Widerstandsgruppen gegen den Staat, die ihre Legitimität aus der Erbringung fehlender staatlicher Leistung ziehen (Büttner 2004: 4). In den entstehenden gewaltfreien Räumen sind Rebellen, Warlords oder Kriminelle in der Lage, dauerhaft Teile des Staatsterritoriums zu kontrollieren, den Staat herauszufordern und sogar zu ersetzen. Die Unkontrollierbarkeit der Grenzen erlaubt es den Akteuren, das Staatsgebiet zu einem Handels- und Umschlags-platz für illegale Waren aller Art umzufunktionieren und die lokalen Kriegsökonomien mit globalen Absatzmärkten über die Schattenglobalisierung zu vernetzen (Schneckener 2004: 7). Bricht das staatliche Gewalt- und Steuerungsmonopol gänzlich zusammen, zerfällt der Staat. Gewalt wird zum wirtschaftlichen und politischen Regulativ aller Parteien (Büttner 2004: 5). An Stelle des Gewaltmonopols entsteht ein Gewaltoligopol, in dem verschiedene Gewaltakteure über ein begrenztes Gebiet ihre Kontrolle ausüben (Mehler 2004: 540). Diese fragilen, institutionell schwachen Staaten, geplagt von ausufernder Korruption und gekennzeichnet von eingeschränkter Kontrolle über das eigene Staatsgebiet, sind sehr anfäl-lig für die Entstehung von Gewaltkonflikten (Fearon/Laitin 2002: 31). Bricht ein solcher aus, müssen die Parteien die Finanzierung ihres Kampfes sicherstellen. Gewalt ist unter solchen Bedingungen ein nahe liegendes Mittel um die finanzielle und materielle Versor-gung sicherzustellen.

2.3 Rohstoffe, Drogen und Humanitäre Hilfe als Treibstoff der Gewaltökonomien

Für die Entstehung von Gewaltmärkten müssen wirtschaftlich verwertbarer Ressourcen vorhanden sein. Waren, die in diesen Gewaltökonomien eine besondere Stellung einneh-men, haben in der Regel einen nicht-industriellen Charakter. Natürliche Ressourcen oder illegale Güter, Diasporazuwendungen und humanitäre Hilfe, die Gelegenheit zu Kidnap-ping und Menschenhandel, kurz, das Vorhandensein von Gelegenheiten durch Handel oder kriminelle Aktivitäten, unter der Anwendung oder Androhung von Gewalt, Gewinn zu erzielen, ist der Treibstoff für die Fortsetzung von ökonomisch motivierten Konflikten (Jean/Rufin: 1999; Elwert 2003a: 269; 1999: 91-93).

Seit den späten 90er Jahren widmete sich eine Vielzahl von Studien den spezifischen Wirkungen von unterschiedlichen Finanzierungsquellen auf gewaltökonomische Struktu-ren. Natürliche Ressourcen, so das Ergebnis, haben einen entscheidenden Stellenwert für den Beginn, den Verlauf und somit auch für die Beendigung von Konflikten. Einzig agrari-sche Produkte, ausgenommen Drogen, haben einen sehr geringen bis keinen Einfluss auf Konflikte (Paes 2003: 169; Ross 2002: 4). Nach dem Modell von Paul Collier und Anke Hoeffler beruhen Bürgerkriege weniger auf dem Leid von Teilen der Bevölkerung aus Unterdrückung oder schlechten Lebensbedingungen, als auf der Gelegenheit zur Bildung von Rebellengruppen und ihrer wirtschaftlichen Überlebensfähigkeit. Neben Diasporazu-

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wendungen hat eine hohe Exportabhängigkeit von Rohstoffen, so das Ergebnis des heftig kritisierten Modells (Ballentine/Nitzschke 2005: 14-15; Keen 2002), einen wesentlichen Einfluss auf den Ausbruch von Konflikten (Collier/Hoeffler/Sambanis 2005: 2; Col-lier/Hoeffler 2001). Dass reiche Rohstoffvorkommen eine wichtige Rolle für den Ausbruch und die Verlängerung von Konflikten spielen, wird trotz vielfältig abweichender Messun-gen und Interpretationen auch von weiteren Untersuchungen untermauert (Fearon/Laitin 2002: 29; Ross 2002: 4; Jean/Rufin: 1999; Elbadawi/Sambanis 2000: 20).

Die verschiedenen Ressourcen, die in Verbindung mit inneren Konflikten gebracht werden, die Art und die geografische Lage ihres Vorkommens führen zu grundlegend un-terschiedlichen Konfliktmustern. Eine erste Trennlinie verläuft zwischen den von ungelern-ten Arbeitern abbaubaren, „plünderbaren“ (Drogen, Flussdiamanten, Edelmetall, landwirt-schaftliche Produkte und Holz) und den nur mit großem Arbeits- und Kapitalaufwand ab-baubaren, „nicht-plünderbaren“ Rohstoffen (Diamanten und andere Edelsteine, die im Un-tertagebau gewonnen werden, Öl, Gas und Erze). Das Vorkommen an plünderbaren Res-sourcen begünstigt Rebellenbewegungen, da diese ohne großen technischen Aufwand auf lukrative Ressourcen im Tagebau oder in Pflanzungen zugreifen können. Der Abbau von nicht-plünderbaren Ressourcen ist in der Regel mit hohen Investitionen verbunden, welche ohne staatliche Sicherheitsgarantien kaum getätigt werden (Ross 2002: 10-18; Le Billon 2001: 569-572; Collier 1999: 4). Bodenschätze müssen weiter unterschieden werden in solche, die in der Nähe der Hauptstadt abgebaut werden und jene, die in entlegenen Grenz-regionen vorkommen (Le Billon 2003b: 151; 2001: 570) und in örtlich begrenzte und ge-streute Ressourcen (Auty 2001: 6). Hierbei gilt, dass je begrenzter eine Ressource vor-kommt und je näher das Abbaugebiet an der Hauptstadt liegt, desto besser ist diese durch die Zentralregierung zu kontrollieren, was einen Staatsstreich zu einer lohnenden Hand-lungsoption macht. Gestreute Ressourcen in Hauptstadtnähe erzeugen Aufstände und Re-bellenbewegungen, die sich gegen die Regierung wenden. Hingegen führen begrenzt vor-kommende Bodenschätze in entlegenen Regionen und in Grenznähe zu Sezessionsbestre-bungen; gestreut vorkommende Ressourcen in dieser Lage begünstigen Kriegsherrentum und einen Zustand von de facto Souveränität (Le Billon 2001: 572-575).

Nach Ross sind weiter die Art des Transports und der legale Status von Ressourcen ausschlaggebend dafür, welchen Einfluss diese in einer Kriegsökonomie haben. Ist der Transport von Ressourcen aufgrund ihres Formats oder des Aggregatzustands auf aufwen-dige Transportmittel oder spezielle Behältnisse angewiesen, wie im Falle von Tropenholz, Öl oder Gas, bietet dieser Umstand Rebellengruppen eine lukrative Einkommensquelle. Durch Wegezoll und Erpressung können diese Transportwege ausgebeutet werden, was sich verlängernd auf Konflikte auswirkt (Ross 2002: 19-21). Der rechtliche Status von Ressourcen ist zudem ausschlaggebend. Drogen beispielsweise, aufgrund internationalen Handelsverbots hoch im Wert, sind nur über kriminelle, schattenglobalistische Netzwerke zu vermarkten (Lock 2003: 112-113). Staaten, die den Handel mit solchen Waren betreiben oder unterstützen, setzen sich dem Risiko internationaler Sanktion aus. Ausnahmen hierfür sind Burma und Afghanistan. Die beiden Staaten waren bereit Sanktionen zu erdulden, um sich weiter an den lukrativen Einkünften aus dem Drogenhandel zu bedienen (Ross 2002: 21-22). Rebellengruppen sind insgesamt wesentlich schwerer durch internationale Sanktio-nen zu treffen. Hierdurch lohnt sich für diese der Handel mit solchen Gütern.

Entwicklungshilfe kann auch eine wichtige Quelle der Versorgung von Rebellengrup-pen werden, Konflikte auslösen oder bestehende Konflikte verlängern. Kämpfende Fraktio-

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nen können sich durch direkten Diebstahl von Entwicklungshilfelieferungen versorgen. Zudem werden durch die Störung lokaler Märkte, als ungerecht wahrgenommene Vertei-lung der Güter, die Entlastung von Warlords und ihre Legitimierung durch Kooperation mit einzelnen Fraktionen, Konflikte weiter angeheizt (Anderson 1999: 37-53). Auch Flücht-lingsströme werden gezielt von den kämpfenden Fraktionen missbraucht und werden Teil einer Strategie. Flüchtlingslager können genutzt werden, um die Bevölkerung aus bestimm-ten Landstrichen abzuziehen oder um neue Kämpfer zu rekrutieren (Münkler 2002: 153-159; Shearer 2000: 190-193). Das Leid der Zivilbevölkerung kann von Gewaltmanagern systematisch zur Verfolgung ihrer Profitinteressen eingesetzt werden.

2.4 Interne Akteure, externe Akteure und die Funktion von Gewalt

Innere Konflikte und in ihnen entstehende Gewaltökonomien verändern auf dramatische Weise die sozialen und ökonomischen Zustände der betroffenen Region. Gewalt wird das Instrument zur Akquirierung von Gütern und der Generierung von Einkommen (Elwert 1999: 85-86, 91; Keen 1998). Ballentine und Nitzschke wiesen darauf hin, dass erst eine detaillierte Untersuchung der Nutznießer von Konfliktzuständen und den damit einher ge-henden Gelegenheiten der Bereicherung durch Gewaltanwendung ein umfassendes Ver-ständnis von Konflikten ermöglicht (Ballentine/Nitzschke 2005: 17).

Als Gewinner gewaltökonomischer Strukturen gehen diejenigen Akteure hervor, die in der Lage sind, sich durch die direkte Androhung oder Anwendung von Gewalt, aber auch von dem Verfall staatlicher Institutionen oder der unbedingten Dringlichkeit der Kapitalge-nerierung der Konfliktparteien zu bereichern. Auch aus einer medialen Propagierung der Not der betroffenen Zivilbevölkerung und den Konfliktlösungsansätzen selber wird Profit geschlagen. Sowohl irreguläre Kämpfer als auch Regierungstruppen nutzen diese Möglich-keiten, um den Konflikt fortzuführen. Unter Abwesenheit eines Gewaltmonopols und mit zunehmender Dauer der Gewaltsituation nimmt das wirtschaftliche Ziel an Wichtigkeit zu (Elwert 1999: 86). Keen stellt der Vorstellung von Konflikten als Zusammenbruch und Anarchie die Frage nach dem Nutzen von Gewalt und Konflikt für verschiedene Personen-gruppen entgegen. Durch den Zusammenbruch entsteht ein alternatives System von Profit, Macht und Schutz. Profiteure sind hierdurch sowohl direkt in dem betroffenen Gebiet, als auch in Drittländern zu finden, die durch Gewaltökonomien ihre ökonomischen Interessen durchsetzen können (Keen 2000: 19-24, 27; 1998: 11).

Warlords realisieren in unternehmerischer Manie ihre wirtschaftlichen Ziele durch die geplante und gezielte Anwendung von Gewalt. Massenwirksame Motive wie eine bestimm-te ethnische, ideologische oder religiöse Zugehörigkeit sind laut Elwert nur Fassade (Elwert 1999: 85). Der Sieg in einem inneren Konflikt und somit langfristig die Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit würde den gewaltbasierten, in Friedenszeiten kriminellen Geschäften eher im Wege stehen (Keen 1998: 12). Die psychologische Wirkung breit angesetzter Ge-walt nutzen Warlords gezielt zur Rekrutierung neuer Kämpfer. Aus Angst, selber Opfer von Gewalt zu werden, schließen sich Menschen den Warlords an und wenden wiederum Ge-walt an, um der Rache der Opfer zu entgehen (Elwert 1999: 90). Es muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass neben den gewaltökonomischen Strukturen immer auch glaubhafte ideologisch oder religiös motivierte Handlungen zu beobachten sind. Es ist in dem geschil-derten Kreislauf somit schwer, die tatsächlichen Kausalitäten auszumachen. Oder wie Keen es ausdrückt: „[…] they may exploit civilians in order to fight a war. But they may also fight a war in order to exploit civilians“ (Keen 2000: 31).

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Bell oder Jean und Rufin stellen der Elwertschen Perspektive entgegen, dass Geld zwar essentiell für den Erhalt der Organisation, nicht aber das letztendlich handlungsleitende Ziel ist (Jean/Rufin 1999: 8; Bell 1998: 139). Die Gewaltökonomie von Rebellen als Selbst-zweck zu betrachten, hieße hiernach, das Mittel mit dem Zweck zu verwechseln.

Wie bereits oben angemerkt, kann auch die Staatsführung nach Versiegen ihrer exter-nen Möglichkeiten der Ressourcenmobilisierung auf die Gewaltökonomie zurückgreifen. Staatliche Akteure, der Sicherheitsapparat, die Zivilbevölkerung und natürlich die Schnitt-stellen in Form von Konzernen und Händlern können sich durch die Aufrechterhaltung eines Gewaltzustandes bereichern. Die Kombination von Staatsführung und Warlordtech-niken bietet die Möglichkeit, den Staat in größerem Umfang zu plündern, sich externer Finanzquellen zu bedienen und sich gleichzeitig durch Souveränitätsbekundungen gegen äußere Einmischung zu verwehren (Reno 1998: 221-222).

Die Eliten können durch die Förderung von Gewalt einen sich selbst finanzierenden Zustand erschaffen, der nicht nur zu ihrer eigenen Bereicherung dient, sondern auch ihre Verantwortung für Menschrechtsverletzungen verdeckt sowie eine Demokratisierung und in diesem Zusammenhang insbesondere Wahlen unter Berufung auf den Ausnahmezustand hinauszögert. Beamte schwacher Staaten sind durch schlechte oder gar keine Bezahlung anfällig für Korruption, was Investoren in die Hände spielt. Von offizieller Seite kommt es zur Tolerierung, gar zur Förderung von Gewalt, um ein „Klima der Rechtlosigkeit“ zu schaffen, was eine gewaltbasierte Bereicherung vereinfacht (Keen 1998: 23-26). Die nicht bürokratische Gewaltanwendung und die Gefahr, die Gewalt für den Machthaber darstellt, führen zu einer eigenen Dynamik bewaffneter Kämpfe in Shadow States. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Eliten und ihre Herausforderer aus der Zivilgesellschaft den öko-nomischen Bereich, in den sie eingebettet sind, in Abwesenheit staatlicher Ordnung durch ausufernde Gewalt leiten müssen (Reno 2000: 55-56; 1998: 21).

Die Polizei und das Militär von institutionell und wirtschaftlich schwachen Staaten sind gekennzeichnet durch akute materielle Unterversorgung und den Zwang, sich selber zu versorgen, häufig durch Plünderung, Wegezoll oder Beteiligung an am Rohstoffabbau. Hierdurch unterscheiden sie sich kaum noch von ihren eigentlichen Gegnern, den Aufstän-dischen. Soldaten nutzen ihren Status als Lizenz, um ebenso in gewaltökonomischen Kreis-läufen tätig zu werden. In Sierra Leone führte dies soweit, dass im Zuge von Operation Pay yourself Soldaten in der Nacht auf Raubzüge gingen. Diese Soldaten werden Sobel genannt – Soldaten am Tage, Rebellen in der Nacht (Douglas 1999: 178). Eine Militärführung kann zudem ein Interesse an der Perpetuierung von Gewaltstrukturen haben, da hierauf ihre star-ke Stellung im Staate, ihren Einfluss über Wirtschaftssektoren oder ihren Etat basieren (UNSC 2001: 8; Lock 2000: 64-65; Keen 1998: 26-30). Wer von Gewalt profitiert, unab-hängig ob von privater oder staatlicher Seite, stützt die Gewaltökonomie.

Die Zivilbevölkerung kann die Anwendung von Gewalt in ursprünglich gewaltfreien Räumen bei de facto Straffreiheit ebenfalls nutzen. Vor allem Jugendliche, die keine Aus-sicht auf eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation in den häufig agrarischen Wirt-schaften haben, versuchen dieser Perspektivlosigkeit durch den Anschluss an Rebellen-gruppen oder durch Selbstorganisation in Banden abzuhelfen. Neben den kurzfristigen wirtschaftlichen Zwecken ist ein Anschluss an kriminelle oder bewaffnete Verbände ein Imperativ der heiklen Sicherheitslage (Lock 2003: 102; Schlichte 2003: 133; Keen 1998: 46-51).

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Besonders profitabel sind Gewaltökonomien für externe Akteure und solche, die Verbin-dungen zwischen der informellen bzw. kriminellen und der legalen Ökonomie herstellen. Händler, die Schnittstelle zwischen den Märkten, auf die Konfliktparteien angewiesen sind, profitieren erheblich von Gewaltkonflikten. Allerdings laufen sie aufgrund ihres profitablen Geschäfts permanent Gefahr, von politischen und militärischen Akteuren ausgeschaltet zu werden (Schlichte 2003: 134).

Auch transnationale Unternehmen, vornehmlich Minenfirmen, können aus der Situati-on der Instabilität durch das Unterlaufen von Embargos Gewinn schlagen. Die Dringlich-keit der militärischen Situation, die Lagerhaltung und Preisabsprachen unmöglich machen, verschafft eine günstige Verhandlungsposition (Schlichte 2003: 134-135). Transnationale Minenfirmen versorgen die Konfliktparteien, Regierungen und auch Rebellen, mit dem nötigen Kapital um ihre Existenz zu sichern. Besonders die staatliche Seite, egal ob repres-siv oder nicht, profitiert durch Steuerabgaben von der Tätigkeit der Unternehmen. Der Konzern kann sich in einem Konflikt nicht neutral verhalten. Er wird durch seine Abgaben an eine Seite zum politischen Akteur (Böge et al. 2006: 17-19). Das Ausmaß der Aktivität von Konzernen wird an einer Untersuchung der VN von 2001 deutlich. Alleine im Ost-Kongo wurden 80 Firmen aus OECD-Ländern ausfindig gemacht, die bestehende Embar-gos aus Profitgründen unterlaufen haben (UNSC 2001). Transnationale Konzerne sind aber auch sehr anfällig für Druck aus der Zivilgesellschaft, was zu einem Rückzug aus Konflikt-regionen führen kann. Firmen, die nicht im OECD-Raum ansässig sind, erweisen sich als weniger sensibel für Reputationsschäden und füllen die entstehenden Lücken schnell (Brzoska/Paes 2007: 43; Böge et al. 2006: 19; Le Billon 2003a: 257). Die Praxis wird damit fortgeführt, wird aber undurchschaubarer und schwerer zu unterbinden.

3 Maßnahmen der externen Eindämmung von gewaltökonomischen Strukturen

Die Dauerhaftigkeit von Gewaltökonomien, die durch sie angewandte Gewalt und damit die verheerenden Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung führen zu einem erhöhten Prob-lembewusstsein außerhalb der betroffenen Region. Externe Akteure, staatlicher oder zivil-gesellschaftlicher Art versuchen, aus nicht immer ganz selbstlosen Motiven, den Gewalt-ökonomien und den durch sie gespeisten Gewaltkreisläufen Einhalt zu gebieten. Nahe lie-gendes Ziel ist es, die ökonomische Basis der Konfliktparteien zu treffen. Um nachhaltig Konflikte einzudämmen, muss deren Finanzierung aus den Gewinnen des Ressourcenab-baus und -handels unterbunden werden: Die Kämpfer müssen bewegt werden, den Konflikt nach Möglichkeit nicht gewaltsam zu beenden (Le Billon 2003a: 221). Besondere Bemü-hungen müssen dort ansetzen, wo die Güter der Kriegsökonomien in die legale Ökonomie eingespeist werden (Paes 2003: 177). Le Billon unterscheidet insgesamt sieben verschiede-ne wirtschaftliche und rechtliche Instrumente, um gegen Bürgerkriegs- und Gewaltökono-mien vorzugehen. Aufgeführt werden Handelssanktionen, juristische Instrumente, Zertifi-zierungssysteme, die Konditionalisierung von Hilfslieferungen und wirtschaftliche Über-wachung, Instrumente zur Regulierung von geschäftlichem Gebaren in Konfliktzonen, Initiativen von Nichtregierungsorganisationen und der Medien sowie weitere grenzüber-greifende Instrumente zur Steuerung von Ressourcenhandel und des Umweltschutzes (Le Billon 2003a: 229-230). Zudem stellen militärische Interventionen eine Option des Vorge-hens gegen Gewaltökonomien dar. Hierdurch kann nicht nur direkter Einfluss auf ablaufen-

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de Kampfhandlungen, sondern ebenso auf die ökonomischen Strukturen der Konfliktpartei-en genommen werden.

Beide Typen von Maßnahmen, juristisch-ökonomische und militärische, zielen darauf ab, die Kosten der Weiterführung von Kampfhandlungen für die Parteien zu erhöhen und darüber ein Ende des Konfliktes herbeizuführen. Eine Studie von Regan und Rodwan wirft insgesamt ein pessimistisches Bild auf die Effektivität externer Maßnahmen. Das Ergebnis ihrer umfangreichen Untersuchung von 139 Konflikten ist, dass externe Intervention mit militärischen oder ökonomischen Mitteln eine tendenziell verlängernde Wirkung auf innere Konflikte hat (Regan 2002; Regan/Rodwan 2002: 44-52). Unklar bleibt jedoch, ob dies auf die Art des jeweiligen Konfliktes oder tatsächlich auf Interventionen zurückzuführen ist.

3.1 Embargo und Sanktionsmaßnahmen

Um auf dem Export von Rohstoffen basierende Gewaltökonomien einzudämmen, scheinen Sanktionen – insbesondere wirtschaftlicher Art – als Maßnahmen gegen die betroffenen Länder nahe liegend. In den 90er Jahre versuchten internationale Akteure durch zahlreiche Sanktionen das Austrocknen von Gewaltökonomien voranzutreiben und gezielt Einfluss auf das Verhalten zu nehmen. Dies gelang jedoch nur mit mäßigem Erfolg. Sanktionen haben nach Brzoska und Paes drei Ziele. Erstens die Umsetzung der Sanktion (Sanktionsziel): Werden die Sanktionsbeschlüsse befolgt und gibt es Wege diese zu umge-hen? Zweitens die Änderung des Verhaltens des sanktionierten Staates (Politikziel) und drittens die Ablehnung der Politik der Konfliktpartei, die innenpolitisch vorteilhaft für den Staat ist, der die Sanktionen vornimmt (Brzoska/Paes 2007: 36; Brzoska 2005: 212-213).

Sanktionen können umfassend den Handel eines Staates einschränken oder als gezielte Maßnahmen nur gegen bestimmte Bereiche eingesetzt werden. Solche zielgerichteten Sank-tionen können Finanzströme, Waren- und Waffenlieferungen sowie die Reisefreiheit von Personen einschränken (Cortright/Lopez 2002: 10-15). Sanktionen werden bisweilen nur asymmetrisch gegen eine der Konfliktparteien verhängt (Brzoska 2005: 211).

Betrachtet man die Wirksamkeit von Sanktionsmaßnahmen, ergibt sich ein ernüch-terndes Bild. Die massive Unterwanderung der eingesetzten Maßnahmen durch Nachbar-staaten, kriminelle Netzwerke oder transnationale Unternehmen verhindert häufig eine effektive Durchsetzung des Sanktionsziels. Insbesondere Rebellengruppen haben sich als gänzlich unempfindlich gegenüber Sanktionsmaßnahmen und reputationsschädigenden Kampagnen erwiesen, die bei Verstoß gegen die Handelsbeschränkung angewandt werden (Ballentine/Nitzschke 2005: 24; Nitzschke 2003: 6-7). Eine Reihe schwacher Staaten ist zudem schlicht nicht in der Lage, die Maßnahmen durchzusetzen. Sanktionen können die Gewaltakteure zwingen, nach alternativen Absatzwegen zu suchen. Das erhöht zwar die Transaktionskosten, ohne jedoch eine völlige Abschottung erreichen zu können (Paes 2003: 178).

Cortright und Lopez weisen darauf hin, dass Sanktionen nicht nur enttäuschend schwache Wirkungen haben. Es bildeten sich in der Vergangenheit bisweilen sogar Neben-effekte heraus, die den Absichten ihrer Einsetzung krass entgegenstehen. So wurde die Zivilbevölkerung des Konfliktlandes häufig am stärksten getroffen, wie am Beispiel des Irak oder in Haiti zu beobachten war. Die Folge der eingesetzten Sanktionen war eine ka-tastrophale Verschlimmerung der humanitären Situation mit enormer Kindersterblichkeit (Cortright/Lopez 2002: 2; 2000: 4-5). Repressive Regime waren sogar in der Lage, Kapital aus einer Blockadesituation zu schlagen, ihre Kontrolle über die Wirtschaft und die Bevöl-

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kerung zu verstärken und öffentliche Unterstützung zu mobilisieren. Sanktionen führen dazu, dass Eliten häufig auf Schwarzmarkthandel ausweichen und sich darüber erheblich bereichern, wie im ehemaligen Jugoslawien oder abermals in Haiti (Cortright/Lopez 2000: 19-26). Eine Abkehr von umfassenden Sanktionen zu zielgerichteten Maßnahmen, die ungewollte Effekte möglichst ausschließen, war in den 90er Jahren zu beobachten. Sanktio-nen sollten intelligenter werden und ihre Wirkung gezielt gegen einzelne Personen, Firmen oder die Regierung eines Zielstaates entfalten und dabei Schäden für die Zivilbevölkerung möglichst gering halten (Lektzian 2003: 14-15; Cortright/Lopez 2002: 1-3; 2000: 239-247). Die zahlreichen Schwierigkeiten bei einem effektiven Einsatz von Sanktionen wurden in drei aufeinander folgenden Prozessen bearbeitet. Der Prozess von Interlaken in den Jahren 1998 und 1999 setzte sich zentral mit den Möglichkeiten gezielter finanzieller Sanktionen gegen Eliten und Firmen in Zielländern auseinander (Porteous 2000: 173-180). Der Bonn-Berlin-Prozess erweiterte diesen Ansatz um eine Verbesserung von Waffenembargos sowie gezielten Flug- und Reisebeschränkungen für bestimmte Personen (Brzoska 2001: 9-10). Der Prozess von Stockholm bemühte sich schließlich darum, die praktische Umsetzung von Sanktionen und deren Überwachung zu gestalten. Dies soll durch eine Kette von individuell angepassten Maßnahmen, ausgehend vom Sicherheitsrat der VN bis in das unmittelbare Umfeld der zu Sanktionierenden, geschehen (Wallensten/Staibano/Eriksson 2003: 10-14, 81-100).

Durch einen gezielteren Einsatz der Sanktionen gelang es, negative humanitäre Aus-wirkungen abzuschwächen. Für das Erreichen von Politikzielen erwies sich diese intelligen-tere Form des Eingriffs hingegen als weniger erfolgreich. Dies ist laut Cortright und Lopez auf die geringere Bereitschaft von Staaten zurückzuführen, die Maßnahmen umzusetzen. Umfassende Sanktionen werden häufig mit größerem Nachdruck durchgesetzt, weshalb hier bessere Erfolge zu verzeichnen sind (Cortright/Lopez 2002: 3-10).

Sanktionen haben sich als ungeeignetes Instrument der Konfliktprävention und -beendigung erwiesen. Sie können die Kosten für die Verfolgung einer unerwünschten Poli-tik erhöhen und Druck auf Konfliktparteien ausüben, zu einer Verhandlungslösung zu kommen. Die Reichweite des Einflusses von Sanktionen bleibt aber beschränkt. Erst im Kontext eines umfassenden Konfliktmanagements sind diese effektiv (Cortright/Lopez 2002: 15; Brzoska/Paes 2007: 36-39).

3.2 Zertifizierungssysteme am Beispiel des Kimberley-Prozesses

Zertifizierungssysteme zielen auf einen kontrollierten Marktzugang bestimmter Rohstoffe ab, die in Zusammenhang mit Konflikten gebracht werden. Zertifizierungssysteme werden entweder auf freiwilliger Basis oder obligatorisch, auf Grund eines Beschlusses der Verein-ten Nationen in Kraft gesetzt. Das entsprechende Gut darf dann nur noch mit Zertifikat legal gehandelt werden. Ein fehlendes Zertifikat verdrängt die illegal produzierten Güter auf den Schwarzmarkt, was mit erheblichen Gewinneinbußen des Händlers verbunden ist (Le Billon 2003a: 243-244). Der Kimberley Prozess wurde speziell dafür ausgelegt, Kon-fliktdiamanten den Marktzugang zu verschließen. Der Kimberley Prozess geht auf eine Initiative der Nichtregierungsorganisation Global Witness zurück, welche auf die Bedeutung von Diamanten für afrikanische Konflikte hin-wies. Die VN reagierten 2000 mit einer entsprechenden Resolution, die diesen Zusammen-hang aufgriff. Im selben Jahr wurde der Kimberley-Prozess im südafrikanischen Kimberley von den diamantenproduzierenden Ländern, Vertretern der Diamantenindustrie und ver-

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schiedenen Nichtregierungsorganisationen ins Leben gerufen. Der Prozess trat 2003 in Kraft.

Das Abkommen von Kimberley sieht vor, dass alle Teilnehmer strenge Kontrollen der Ein- und Ausfuhr von Rohdiamanten und deren Produktion und Handel durchführen. Dia-manten dürfen nur unter den Teilnehmern des Zertifizierungssystems gehandelt werden. Bei der Ausfuhr müssen Zertifikate der Teilnehmerstaaten garantieren, dass durch diese Diamanten keine Konflikte finanziert werden (European Community 2002: 30-35).

Der Prozess schaffte es, den illegalen Handel in beachtlichem Umfang zurück zu drängen und große Mengen an Diamanten dem kontrollierten Export zuzuführen. Die offi-zielle Ausfuhr an Diamanten stieg in der Demokratischen Republik Kongo binnen eines Jahres um US $ 80 Millionen – Tendenz steigend. Sierra Leone schaffte es, 80% der heimi-schen Diamantenproduktion zu kontrollieren und das Exportvolumen zwischen 2003 und 2005 zu verdoppeln (European Commission 2006: 5).

Diese Erfolge dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch zu zahlreichen Fäl-len des Verstoßes gegen das Zertifizierungssystem gekommen ist. Konfliktdiamanten wur-den beispielsweise über Drittländer ausgeführt und teils dort zertifiziert. Von Rebellen im nördlichen Teil der Elfenbeinküste geförderte Diamanten wurden über Mali und dem Kim-berley Unterzeichner Guinea ausgeführt (Global Witness 2006: 2; 2005: 8). Auch in Brasi-lien, Guyana, Venezuela, Togo, den USA (Smillie 2006: 5-7) und jüngst Ghana (Onstad 2006) wurden eklatante Unregelmäßigkeiten in der Überwachung des Rohdiamantenhan-dels bekannt. Der Kimberley Prozess krankt an dem Mangel einer einheitlichen Durchset-zung von Maßnahmen zur Sicherung der Herkunft der gehandelten Diamanten in den Teil-nahmeländern. Das Resultat sind nur unzureichende Kontrollen in vielen Schlüsselregio-nen. Weiterhin läuft der Austausch von Daten unter den Mitgliedern nur schleppend und uneinheitlich. Auf Freiwilligkeit basierende Klauseln des Vertrages werden kaum ange-wandt. Afrikanische Länder sind aufgrund mangelnder technischer Ausrüstung, aber auch durch Korruption oder schlicht politischen Unwillen häufig nicht in der Lage, eine effektive Überwachung und Prüfung des Handels vorzunehmen. Das gilt besonders in den Fällen, wo die Vorkommen im schwer zu kontrollierenden Tagebau gewonnen werden (Wexler 2006: 8-9; Smillie 2006: 7). Der Kimberley Prozess bedarf trotz seiner Erfolge weiterer Refor-men, um gewaltökonomische Handelsströme verlässlich zu unterbinden.

3.3 Bewaffnete Eingriffe in Gewaltökonomien

Der Einsatz von bewaffneten Truppen im Rahmen von VN Missionen, in uni- bzw. multila-teralen militärischen Interventionen oder durch private Militärfirmen verändern ebenfalls die ökonomischen Prozesse, die Bürgerkriege begleiten (Keen 1998: 61). Ein militärisches Eingreifen kann ein wirksames Mittel zur Eindämmung von Gewaltökonomien sein, wenn dadurch den Kämpfern die ökonomische Grundlage genommen und Handelsrouten unter-brochen werden. Eine bloße Beendigung des Konflikts ist hingegen nicht ausreichend, da hierdurch die gewaltökonomischen Strukturen nicht unbedingt zerfallen. Sowohl in Sierra Leone, Liberia, dem Balkan, Afghanistan oder der Demokratischen Republik Kongo sind die ökonomischen Netzwerke, aus denen sich ehemals die Konfliktparteien bedienten, wei-terhin aktiv (Ballentine/Nitzschke 2005: 25). Die Gefahr, dass ihre Nutznießer nachhaltige Friedensbemühungen sabotieren, ist damit sehr hoch (Heupel 2005: 38-41). Interveniert wird, um Konflikte zu beenden, Friedensprozesse und Hilfsoperationen zu überwachen (Gareis/Varwick 2006: 117), Waffenlieferungen zu verhindern oder Verbre-

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cher zu verfolgen (Keen 1998: 61). Daneben kann ein militärisches Eingreifen auch die Kontrolle von lukrativen Ressourcenabbaugebieten und die Durchsetzung von strategischen Interessen zum Ziel haben (Le Billon 2005: 41; O’Brian 2000: 51; Musah 2000: 88-89). Die auf die Kontrolle von Minengebieten zielenden Einsätze privater Militärs zeigten sich kurzfristig als sehr wirkungsvoll. Dauerhaft sind diese Einsätze jedoch nur effektiv, wenn ihnen tief greifende Konfliktlösungsstrategien und eine Demobilisierung der Kämpfer fol-gen (Le Billon 2005: 76). Am Beispiel der Konfliktdiamanten in Sierra Leone und Angola wird dies deutlich. Die privaten Militärfirmen Executive Outcomes und ihre Tochter Sand-line International schafften es in kürzester Zeit durch massives Eingreifen, Minenregionen zu kontrollieren, Gebiete zu sichern und Rebellen so von ihrer ökonomischen Grundlage abzuschneiden (Singer 2003: 106-115; Musah 2000: 88-89; O’Brian 2000: 51-54; Cleary 1999: 158-162; Douglas 1999: 180-188). Sowohl die Rebellenorganisation UNITA in An-gola als auch die RUF in Sierra Leone wurden durch die militärischen Schläge der privaten Militärs substantiell geschwächt. Schwerer wog aber noch der zeitweilige Zusammenbruch der wichtigsten Stütze ihrer Gewaltökonomie (Cilliers/Dietrich 1996). Der Einsatz von privaten Militärs führte in beiden Fällen zu einer starken Verzerrung der Machtstrukturen, was eine nachhaltige Konfliktnachsorge behinderte. Der Rückzug der Kämpfer führte so zu einer schnellen Erholung der gewaltökonomischen Strukturen (Cleary 1999: 26-27; Reno 1998: 138).

Ein unilaterales Eingreifen in innere Konflikte kann auch von staatlicher Seite kaum mehr als die Beendigung von Kampfhandlungen erreichen. Umfassendes Konfliktmanage-ment, jenseits der unmittelbaren Erzwingung eines Waffenstillstandes ist nur durch multila-terale Interventionen möglich. Alleine auf diesem Wege stehen genügend Ressourcen und Fachkräfte zur Verfügung, die über einen ausreichenden Zeitrahmen Aufbauhilfe zur Frie-denssicherung leisten könnten. Politische und materielle Kosten können so auf mehrere Schultern verteilt werden. Multinationale Organisationen bieten ein geeignetes Mittel für eine solche langfristig angelegte Intervention und Konfliktnachsorge. Der Erfolg multilate-raler Eingriffe ist aber immer noch stark von den Eigenschaften des jeweiligen Konflikts und der Strategie abhängig, die von den Interventionsmächten verfolgt wird. Entscheidend ist, welche Ursache der Konflikt hat, in welcher Phase er sich befindet und welche Intensi-tät er zum Zeitpunkt des Eingriffs hat (Regan 2002: 101-121, 138-144). Die VN, aber auch die EU, die NATO oder die AU sind Organisationen, die solche umfassenden Interventio-nen leisten können. Die Vereinten Nationen stellten nach Ende des Ost-West Konfliktes ihre Einsätze allmählich auf die veränderten Eigenschaften innerer Konflikte ein. Grundle-gende Reformen der Friedenseinsätze wurden durchgeführt, was die Missionen komplexer machte. Kampfeinsätze wurden den dafür bereiten und fähigen Staatenkoalitionen überlas-sen. Die militärische Friedenssicherung und zivile Friedenskonsolidierung verschmolzen eng (Gareis/Varwick 2006: 136). Nach Beendigung von Kampfhandlungen wurden nun zunehmend polizeiliche und zivile Aufgaben übernommen und umfangreiche Konfliktlö-sungsmaßnahmen angewandt. Bhatia unterscheidet zwei Aufgabenfelder des Militärs im Rahmen multilateraler Friedensmissionen: erstens die Sicherung des Bedrohungsumfeldes und wenn nötig den Einsatz von Gewalt, was aber nur ein einleitender Schritt mit dem Ziel der Schaffung eines sicheren Raumes für folgende Aufbaumaßnahmen sein kann, sowie zweitens die Teilnahme an einem breiten Feld nicht-militärischer Aktivitäten. Solche um-fassen beispielsweise direkte Aufbau- und Nothilfe (Bhatia 2003: 123-131). Hieran an-schließend wird Hilfe in Transitionsprozessen und der demokratischen Konsolidierung

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geleistet, Unterstützung bei der Entwaffnung und Reintegration von Bürgerkriegsparteien gegeben und sogar vorübergehend quasi-hoheitliche Funktionen über ein Land ausgeübt (Gareis/Varwick 2006: 117, 128-129). Eine solche Strategie, welche auf den Aufbau staat-licher Institutionen und einer Wiedererrichtung des Gewaltmonopols abzielt, ist im Hin-blick auf die Eindämmung von Gewaltmärkten viel versprechend. Insbesondere gilt dies für Regionen, in denen noch lukrative Ressourcen vorhanden sind (Elwert 2003a: 269; 2003b: 147).

Militärische Interventionen bergen neben den Chancen der Konfliktbeilegung und Eindämmung von Gewaltökonomien immer auch unvorhersehbare Risiken. Die Sicher-heitslage kann drastisch verschlimmert und die Instabilität verschärft werden (Pham 2004). Wenn die Interventionstruppen schlecht oder gar nicht bezahlt werden und selber beginnen, sich durch Raub zu versorgen, wie am Beispiel der vorwiegend nigerianischen ECOMOG Truppen in Liberia zu sehen war (Genschel/Schlichte 1997: 514), werden gewaltökonomi-sche Strukturen durch Interventionen genährt statt eingedämmt. Die VN Mission in Soma-lia hat nicht nur lokale Warlords politisch und finanziell gestärkt statt geschwächt (Keen 1998: 61). Spezifische lokale Gegebenheiten wie ethnische, religiöse oder wirtschaftliche Konstellationen müssen in die Planung einer Intervention einbezogen werden, um eine Mission erfolgreich zu gestalten.

4 Fazit

Die Bewältigung von Gewaltökonomien, die noch immer in zahlreichen Konfliktregionen für massive Gewaltanwendung verantwortlich sind, bleibt eine zentrale Herausforderung für die Konfliktbearbeitung. Trotz der Kritikpunkte kann der Ansatz der Gewaltökonomie einen wertvollen Beitrag zum Verständnis der Finanzierungsstrukturen von bewaffneten Bewegungen machen. Die unter Punkt zwei aufgezeigten komplexen und vielfältigen Ursa-chen für die Entstehung und den Fortbestand gewaltökonomischer Strukturen finden zu-nehmend Eingang in die unter Punkt drei geschilderten Instrumenten. Dennoch bleiben die Erfolge der Maßnahmen im Einzelnen begrenzt. Die drei Beispielmaßnahmen externer Akteure können unter günstigen lokalen Bedingungen und richtiger Planung durchaus ein-dämmende Wirkungen entfalten, bergen jedoch immer die Gefahr der Wirkungslosigkeit oder gar gegenteiliger Effekte in sich. Dies wird besonders deutlich an den Beispielen der Sanktion und des militärischen Eingriffs. Eine weitere Verbesserung der Maßnahmen und ein besserer, aufeinander abgestimmter Einsatz erscheinen viel versprechend in seiner Wir-kung. Zentral für den Erfolg ist dabei eine spezifische Anpassung an die individuellen Ge-gebenheiten in den Konfliktstaaten.

Auffällig ist die stark divergierende Wirkung externer Maßnahmen auf Gewaltökono-mien verschiedener Regionen. Ein umfassender Beachtungsansatz der inneren Struktur, des Zusammenspiels der in ihnen wirkenden Akteure und der lokalen und regionalen Gegeben-heiten ist bislang nicht abschließend verfolgt worden. Zudem ist die Diskussion um die Handlungsmotive, die von Elwert vereinfacht als rein ökonomisch angenommen werden und den sich daraus ergebenden möglichen Ansätzen auf dieser Ebene nicht abgeschlossen. Es sind aber eben solche vielfältigen Bedingungen, welche über Erfolg und Misserfolg von Bemühungen der Eindämmung entscheiden. Gewaltökonomien befinden sich durch sich verändernde Umgebungsbedingungen in einem Anpassungsprozess, der einer näheren Beo-bachtung bedarf, um Eindämmungsmaßnahmen darauf abzustimmen. Der global härter

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werdende Wettbewerb um Rohstoffe und die damit einhergehende externe Einflussnahme auf bodenschatzreiche Regionen wird das Verhalten von Akteuren und die interne Macht-konstellationen krisengeschüttelter Staaten verändern. Gegebenenfalls bestehende Gewalt-ökonomien werden davon beeinflusst werden, weshalb Maßnahmen zu deren Eindämmung ebenfalls angepasst werden müssen. Steigende Rohstoffpreise könnten zudem ein Unterlau-fen von Sanktionen und Zertifizierungssystemen attraktiver machen. Forschungsbedarf besteht in den Bereichen der Anpassung von Gewaltökonomien an sich verändernde Be-dingungen und der möglichen Gegenmaßnahmen. Besonders die Wirkung militärischen Eingreifens ist noch zu wenig beleuchtet worden.

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Irreguläre Kräfte und der Interessierte Dritte im modernen Kleinkrieg

Dirk Freudenberg 1 Einleitung

Als Ausfluss eines umfassenden Sicherheitsverständnisses der Bundesrepublik Deutschland ist vor dem Hintergrund global – sowohl international als auch transnational – agierender staatlicher und nichtstaatlicher Akteure mit zunehmend effektiven und schädigenden Fä-higkeitspotentialen der strategische Aufklärungsraum als auch das entsprechende Wir-kungsspektrum zu erweitern. Demzufolge ist der Sicherheitsbegriff auch geographisch zu begreifen: Die Zeiten, in denen man Sicherheit ausschließlich territorial verstanden hat, sind vorbei (Lahl 2009: 160). Die Tatsache, dass heute gewaltsame Bedrohungen nicht mehr an der Elbe bzw. an Neiße und Oder abzuwehren sind, sondern unter Umständen das Feuer dort auszutreten ist, wo es entsteht – also unter Umständen weit ab vom deutschen Staatsgebiet – findet sich im öffentlichen Bewusstsein nicht wieder. Als besondere Proble-matik ergibt sich hierbei, dass Risiken und Bedrohungen oftmals nicht unbedingt direkt und in offener Auseinandersetzung von Staaten ausgehen, sondern zum Teil von netzwerkartig strukturierten Gewaltakteuren, welche nur eigene Interessen verfolgen, oder solchen, wel-che clandestin (auch) für staatliche Akteure agieren. Dabei steht der Begriff des Krieges in der derzeitigen Debatte um die Auslandseinsätze der Bundeswehr in einem besonderen Fokus. Die Ursache dieses Streites liegt zum einen wohl darin begründet, dass man Kampf-einsätze der Bundeswehr außerhalb des grundgesetzlich normierten Verteidigungsfalles und des NATO-Bündnisfalles bislang politisch nicht für denkenswert erachtet hat. Der Wesens-kern soldatischen Dienens, das Geben und Nehmen von Leben (Freudenberg 2007: 14), ist in weiten Teilen der Öffentlichkeit, der Politik und zum Teil auch im Militär in den Hinter-grund getreten.

Angesichts der Realität zunehmender Intensivierung militärischer Einsätze und ent-sprechend anfallender Verluste wird der Gebrauch des Begriffs Krieg mit Hinweis auf das Erleben und die subjektiven Befindlichkeiten der Soldaten allerdings politisch zunehmend gefordert. Ein weiterer Grund für den Streit mag sein, dass der Begriff wissenschaftlich nicht einheitlich definiert ist. Herfried Münkler hat denn dazu festgestellt, dass der Histori-ker für dieses gesellschaftliche Ereignis einen anderen Kriegsbegriff hat als der Völkerrech-tler (Münkler 2009: 7). Der Philosoph André Glucksmann hält das Wort Krieg denn auch für „irreführend“ (Glucksmann 1998: 141). Die nachstehenden Ausführungen wollen inso-fern einen Beitrag leisten, Begriffe zu klären, einzuordnen, gegebenenfalls neu zu justieren, und vor dem Hintergrund der aktuellen Erscheinungen operationalisierbar zu machen.

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Irreguläre Kriege und der Interessierte Dritte im Modernen Kleinkrieg 180

2 Irreguläre Kräfte

Das breite Spektrum außerhalb des staatlichen Gewaltmonopols agierender Akteure fügt sich nicht in traditionelle staatliche Vorstellungen gewaltsamer Konfliktaustragung. Dem-entsprechend wurden sie aus dem staatlichen Kriegsführungsrecht lange Zeit oftmals voll-ständig ausgegrenzt und eigenen Definitionen und Rechtstellungen unterworfen. Abgeleitet vom spanischen Ursprung gebrauchte man neben dem Ausdruck guerilla in gleicher Be-deutung den französischen Ausdruck petit guerre, den deutschen Kleinen Krieg, den engli-schen small war und seitdem wurden zahlreiche andere Begriffe gebräuchlich, die letztend-lich alle mit dem Terminus Guerilla synonym sind: Aufstand, Untergrund-, Widerstands-, Partisanenkrieg; Krieg ohne Fronten; revolutionäre, irreguläre oder subversive Kriegfüh-rung; Verdeckter Kampf, subkonventioneller Konflikt, unkonventioneller Krieg. Die den Guerillakampf führenden Akteure bezeichnet man als Guerillas (spanisch: Guerilleros), Partisanen, Freischärler (Freischaren), Franctireurs, Banditen (Banden) oder auch Fünfte Kolonne. Neben diesen Bezeichnungen gibt es noch den Begriff Werwolf. Hier werden also verschiedene Bezeichnungen für die gleiche Sache verwendet. Carl Schmitt beklagt in Anbetracht der vielen Begriffe, dass durch diese Schlagworte der Komplex des irregulären Kampfes in arge Verwirrung geraten sei (Schmitt 1995: 69). Nach dieser Terminologie steht der Kleinkrieg im Gegensatz zum großen Krieg; dabei betrifft der Unterschied von Groß und Klein nur mittelbar die Dimension von Zeit und Raum und meint vielmehr in erster Linie Strategie und Taktik der militärischen Aktion (Meyer-Tasch 1972: 9).

3 Der Interessierte Dritte

In dieser Konstellation kommt der Figur des Interessierten Dritten besondere Bedeutung zu. Das globalisierte Operationsgebiet wird als solches analog von unterschiedlichen Ak-teuren genutzt, die als Soldaten, subversive Kräfte, Kriegsunternehmer, Partisanen oder Terroristen in eigener Sache oder im Auftrag Dritter bzw. interessierter Staaten als Interes-sierte Dritte (Schmitt 1995: 76; Schroers 1961: 247) auftreten. Carl Schmitt definiert den Interessierten Dritten in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Rolf Schroers als einen regulären Mächtigen, auf den der Irreguläre wegen der ungebrochenen Steigerung der technischen Kampfmittel angewiesen ist und der technisch industriell imstande ist, den Irregulären mit den neuesten Waffen und Maschinen zu versorgen. Freilich hatte Schmitt vornehmlich staatliche, also reguläre Akteure als Interessierte Dritte vor Augen (Schmitt 1995: 79). Allerdings kommen angesichts der heutigen Erscheinungen Irregulärer Kräfte zunehmend auch andere – nichtstaatliche – Akteure als Interessierte Dritte in Betracht. DieMotive des Interessierten Dritten müssen zudem nicht denen der streitenden Parteien ent-sprechen; er macht vielmehr in diesem Streit seine eigene Rechnung auf (Schroers 1961: 249) und verfolgt damit eigene Ziele. Insofern kann es hier zu strategischen Allianzen mit punktuell begrenzten politischen Interessen und gemeinsamen operativen Absichten kom-men. Ebenso können Staaten durch die Unterstützung und Stärkung bestimmter Gruppie-rungen in anderen Staaten – auch wenn sie diese oder ihre Zielsetzungen im Grundsatz ablehnen oder gar mit ihnen selbst verfeindet sind – dort Einfluss auf bestimmte innenpoli-tische Kräfteverhältnisse und Entwicklungen nehmen, welche ihnen günstiger erscheinen. Die Einmischung des Interessierten Dritten ist in allen denkbaren Graden der Intensität wie auch der Deklaration vorstellbar; die Skala geht dabei von der offenen Einmischung über mannigfaltige Vermischungen bis zur geheim gehaltenen konspirativen Beteiligung

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(Schroers 1961: 252). Dabei kann es bei der Einmischung des Interessierten Dritten in die inneren Angelegenheiten der Irregulären wie auch auf deren operativen und strategischen Zielsetzungen zu Interessenskollisionen und -konflikten kommen. Dementsprechend liegt im Engagement des Interessierten Dritten immer auch das Risiko, dass sich die Irregulären für ihn unvorhersehbar und unberechenbar entwickeln – vielleicht ihm selbst gegenüber sogar unzuverlässig bis feindselig verhalten können. Das Verhältnis ist also von äußerst komplexer Interdependenz.

Von der Figur des Interessierten Dritten ist allerdings der zu interessierende Dritte ab-zugrenzen, den Münkler (Münkler 2001: 13) eingeführt hat. Dessen Funktion ist es, die Auswahl der möglichen Ziele zu steuern und die Auswahl der Opfer von Anschlägen zu erweitern oder zu begrenzen. Mithin ist der zu interessierende Dritte Adressat der Bot-schaft, dass irreguläre Aktionen Erfolg haben können, mit dem Ziel die Irregulären Aktio-nen zu unterstützen und günstigstenfalls sich den Irregulären anzuschließen (Münkler 2001: 13). Bei der Konstruktion der Figur ist zunächst fraglich, inwieweit die Bevölkerung bzw. Teile davon, wie Münkler sie definiert, tatsächlich Dritte sein können. Die Bezeichnung suggeriert, dass die Bevölkerung unbeteiligt sein könnte. Eine derartige Annahme bedeutet, dass die Irregulären Kräfte grundsätzlich außerhalb der Bevölkerung stünden, unabhängig und getrennt von ihr existierten. Tatsächlich kommt der Rolle der Bevölkerung, auf der ein permanenter Druck liegt und die selbst in einem ständigen inneren Spannungsverhältnis von Angst, Sympathie und Opferbereitschaft steht, für beide Seiten eine entscheidende Bedeutung zu (Freudenberg 2008b: 261). Folglich steht die Bevölkerung nicht abseits vom Geschehen, sondern ist den Aktionen und Repressalien der Akteure ausgesetzt. Da sie in ihrer Rolle zum entscheidenden Faktor für die Konfliktgegner wird, um den sich letztend-lich alles dreht, kann die Bevölkerung nicht wirklich Dritter sein. Die Bevölkerung ist viel eher – ob sie will oder nicht – als Teil eines Ganzen Gegenstand der Auseinandersetzung. Mit dem Interessierten Dritten und dessen Interessen, Absichten und Zielen steht sie erst recht oftmals in einem diametralen Widerspruch.

4 Ursprung und heutige Bedeutung des Kriegsbegriffs

Eine die wissenschaftlichen Disziplinen übergreifende, verbindliche Definition des Begriffs Krieg existiert nicht; allgemein versteht man darunter die gewaltsame Austragung von Streitigkeiten zwischen Staaten oder Staatengruppen (Weber 2001: 4; Köbler 1995: 238). Das Wort Krieg hatte bis zum Ausgang des Mittelalters keine spezielle Bedeutung; es stand für Streit, Konflikt, Meinungsverschiedenheit, Gegensätze, die ebenso durch einen Prozess vor Gericht wie mit Waffen ausgetragen werden (Janssen 2004: 567; Brunner 1965: 39). Das mittelhochdeutsche Wort kriec, welches auch für „Anstrengung, Beharrlichkeit, Hart-näckigkeit“ (Köbler 1995: 238) steht, hat dann auch erst im Laufe des 14. Jahrhunderts die Bedeutung angenommen, welche dem lateinischen Begriff bellum entspricht, und es stan-den bis in die frühe Neuzeit hinein für den Begriff Krieg noch andere Bezeichnungen zur Verfügung: vor allem das alte urliuge, das später von Krieg völlig aus dem deutschen Wortschatz verdrängt worden ist und sich als oorlog nur noch im Niederländischen gehal-ten hat (Janssen 2004: 567). Grundlegend für den mittelalterlichen Kriegsbegriff war die Zuordnung von Krieg und Recht (Janssen 2004: 568). In seiner ursprünglichen Bedeutung umfasste der Begriff Krieg somit lediglich den Rechtsstreit, der erst im Rahmen des Hoch- und Spätmittelalters hin zum gewalttätigen Rechtsstreit verändert wurde; das Rechtssystem

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des Mittelalters kannte den Begriff der Fehde, jenes Privatkrieges, der zwischen Herrscher-häusern oder Adelsgeschlechtern als zulässiges Rechtsmittel an die Einhaltung bestimmter Formen gebunden war (Janssen 2004: 567; Stadler/Stubka 2000: 701). Die Fehde war mit-ten im staatlichen Friedenszustand möglich und die Scheidung von Krieg und Frieden war keineswegs selbstverständlich, sondern musste erst mühsam errungen werden (Bossard 1990: 411). Eine Unterscheidung zwischen Krieg und Fehde als der eines Kampfes zwi-schen souveränen Staaten in der Völkerrechtsgemeinschaft und der Fehde als innerstaatli-che Auseinandersetzung lässt sich tatsächlich nicht durchführen, weil es im Mittelalter keine souveränen Staaten und keine Völkerrechtsgemeinschaft im neuzeitlichen Sinne gab (Brunner 1965: 39; Kimminich 1985: 73). Das Fehderecht hatte allerdings nachhaltige Wirkung auf die Entwicklung des Kriegsrechts (Schmid 1956: 5; Janssen 2004: 568). Spä-ter dann hatte die Rechtfertigung des Krieges über staatliche Interessen zu laufen; der Krieg wurde dahingehend limitiert, dass nur Staaten ihn führen konnten (Kaube 2001: 57; Woyke 2003: 5; Gantzel 1995: 27; Herberg-Rothe 2001: 240; Diner 2004: 63). Somit war der Bür-gerkrieg als rechtmäßige kriegerische Auseinandersetzung liquidiert (Schmitt 1997: 122). Mit der Ausbildung des souveränen Territorialstaates und in seiner Folge des als Gemein-schaft souveräner Nationen begriffenen Staatensystems galt eine bewaffnete Auseinander-setzung nur dann als Krieg, wenn geschlossene Gruppen bewaffneter Streitkräfte daran beteiligt waren und es sich zumindest bei einer dieser Gruppen um eine reguläre Armee oder sonstige Regierungstruppen handelte; wenn sich die Tätigkeit dieser Gruppen in orga-nisierter, zentral gelenkter Form entfaltete und wenn diese Tätigkeit nicht aus gelegentli-chen, spontanen Zusammenstößen bestand, sondern über einen längeren Zeitraum unter regelmäßiger, strategischer Leitung anhielt (Meyers 2003: 15; Gantzel 2000: 299). Die Hegung des Krieges war somit auch kein Ergebnis einer bestimmten intellektuellen Einstel-lung oder einer weisen Einsicht, sondern nur der Wirkung objektiver sozialpolitischer Fak-toren (Kondylis 1988: 145). Insofern war seit dem 17. Jahrhundert der zwischenstaatliche Krieg in Europa die vorherrschende Erscheinungsform (Creveld 2003: 275; Hoch 2001: 18). Krieg bedeutete das zeitweise Außerkraftsetzen (die Suspendierung) des Friedensvöl-kerrechts, welches den Normalzustand zwischen den Staaten regelt, und an seine Stelle tritt das Kriegsrecht, das die Anwendung militärischer Gewalt in zeitliche, räumliche sowie persönliche Schranken weist und die Mittel der Kriegführung regelt (Blumenwitz 2004: 156). Der Krieg stellt somit einen Ausnahmezustand des Völkerrechts dar, der den Zustand des Friedens aufhebt (Heydte 1960: 123; Kunze 1976: 6). Der Begriff Krieg ist demnach als Ordnungsbegriff der Auseinandersetzung zwischen Staaten vorbehalten.

5 Die systematische Einordnung der Phänomene

Die neuen Phänomene internationaler Gewaltanwendung scheinen die allseits akzeptierten Regeln der Kriegführung in Frage zu stellen (Diner 2004: 59). Dabei hatte das neuzeitliche Kriegsvölkerrecht den nichtstaatlich legitimierten Kämpfer, den Guerillero, den Partisanen, den Freischärler und den Terroristen aus dieser Ordnung bewusst herausgehalten. Die neue Art von Krieg kennt keine völkerrechtlichen Regeln, die denen des Staatenkrieges entsprä-chen (Isensee 2004: 91). Das Völkerrecht hatte für die irreguläre Form der Kriegführung keine Regeln herausgebildet; es beschränkt sich darauf, auch unter den Bedingungen des irregulären Kampfes die Geltung humanitärer Grundsätze zu sichern (Scheuner 1980: 180). Damit hat das Humanitäre Völkerrecht unter dem Eindruck der tatsächlichen oder vermeid-

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lichen Aufstände, Befreiungs- und Entkolonialisierungskämpfe nach dem Zweiten Welt-krieg zugleich begonnen, die irregulären Akteursformen bedingt unter seinen Schutz zu stellen und somit zu privilegieren. Daraus ergibt sich eine im Ergebnis geradezu aberwitzi-ge Rechtsfolge: Während rechtmäßige Kämpfer, die Widerstand leisten, jederzeit getötet werden dürfen, wo immer das möglich ist, genießen Irreguläre, von denen Widerstand aus-geht, Schutz vor individuellen Angriffen, wenn diese nicht direkt an den Kampfhandlungen teilnehmen, so dass gegen diese nur mit polizeilichen Mitteln vorgegangen werden kann (Bothe 2005: 69).

Für die irregulären Erscheinungen gibt es demnach also auch verschiedene Bezeich-nungen. Diese sind oftmals geprägt durch bestimmte Perspektiven auf die Phänomene und Akteure und haben nicht selten wertende Bedeutung. Eindeutige Abgrenzungen zwischen den Begriffen lassen sich ebenfalls schwierig herausarbeiten. Bisherige Betrachtungen haben sich mit dem Problemfeld vornehmlich von einem bestimmten Standpunkt, aus einer bestimmten Perspektive, fokussiert auf einen bestimmten Gesichtspunkt, mit einer besonde-ren historischen Fragestellung oder auf einer bestimmten Ebene des Gegenstandes beschäf-tigt und oftmals die Ganzheitlichkeit der Erscheinungen mit ihren vielfältigen Interdepen-denzen außer Acht gelassen. Damit sind die Bezeichnungen oftmals politisch bzw. ideolo-gisch motiviert. Dennoch haben sich bestimmte Merkmale als beständig herausgestellt, die es rechtfertigen, für die Akteure einen einheitlichen Begriff festzulegen. Der Begriff des Irregulären soll hier gewählt werden, weil unter ihm zwar bestimmte Merkmale zu subsu-mieren sind, die sein Wesen ausmachen, er aber gleichzeitig die Regellosigkeit des Phäno-mens widerspiegelt, ohne zwingend diskriminierend zu sein.

6 Moderner Kleinkrieg

Auch die Kampfform, in der sich Reguläre und Irreguläre Kräfte begegnen, verlangt nach einer einheitlichen Bezeichnung. Der Begriff Kleinkrieg erscheint hier der praktikabelste zu sein. Allerdings ist es angebracht, dem Begriff des Kleinkrieges den Terminus modernhinzuzufügen, da dem Kleinkrieg der Vergangenheit etwas Ursprüngliches und Zufälliges anhaftete und der moderne Kleinkrieg zu einem von den Machtgruppen geförderten und geplanten Mittel der Subversion und Einflussnahme und damit echte Fortsetzung der Poli-tik mit anderen Mitteln geworden ist (Johanny 1966: 10). Werner Hahlweg (Hahlweg 1967) hatte diesen Begriff bereits in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts vor dem Hintergrund des Ost-West-Konfliktes und Stellvertreterkriegen in der Dritten Welt entwi-ckelt und in die wehrwissenschaftlichen Debatten eingeführt, ohne damals seine Typologie abschließend bestimmen zu können. Freiherr Friedrich August von der Heydte hatte den Begriff des modernen Kleinkriegs dann aufgenommen und versucht, ihn als wehrpoliti-sches und militärisches Phänomen zugleich zu deuten: „… als strategisches Modell einer totalen, die Gesamtheit von Volk und Staat erfassenden, mit allen möglichen Mitteln ge-führten, lange Zeit andauernden gewaltsamen Auseinandersetzung, die zunächst von gerin-ger militärischer Intensität ist, der jedoch die Tendenz zu allmählicher Steigerung eignet. In diesem Kampf obsiegt der Streitteil, dem es gelingt, seinen Gegner im Verlauf des Kamp-fes mit der Zeit psychologisch und räumlich so zu isolieren und moralisch so zu zermürben, daß er alle ihm gestellten Bedingungen annimmt“ (Heydte 1972: 262). Seither wurde der Begriff des Modernen Kleinkrieges immer wieder verwendet (Steinkamm 1967: 22; Heydte 1986; Stubka 2004: 41; Hoffman 2005: 299). Wenngleich die konfrontativen Rahmenbe-

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dingungen des Kalten Krieges entfallen sind, sehen sich vor allem die modernen westlichen Demokratien irregulär und global agierenden, nichtstaatlichen Akteuren gegenüber, welche bereit sind, alle verfügbaren Mittel zur Erreichung ihrer Ziele – einschließlich medialer Propaganda – einzusetzen. Wichtig ist es hier festzustellen, dass der Irreguläre Kampf auf einen politischen Zweck – im Clausewitzschen Sinne – gerichtet ist. Mithin ist der Irregulä-re Kampf im modernen Kleinkrieg die Suche nach Möglichkeiten – unter Einschluss ge-waltsamer Mittel – die Überlegenheit des Gegenübers zu unterlaufen, um langfristig die eigene Überlegenheit auf allen Ebenen herzustellen. Der Begriff des modernen Kleinkrie-ges könnte also geeignet sein, die aktuellen Phänomene unterhalb der Kriegsschwelle zu bezeichnen, welche den Irregulären nicht in rechtlich und moralisch unzulässiger Weise privilegiert oder diskriminiert und dennoch die Dinge, um die es geht, beim Namen nennt.

7 Reaktion und Umgang mit den Akteuren

Bereits Werner Hahlweg war zu seiner Zeit und zu den damaligen Bedingungen klar, dass der Moderne Kleinkrieg zu einer weltpolitischen Kraft geworden war, welche „… niemals … isoliert gesehen werden darf, als eine bloß militärische Angelegenheit …“, sondern „… die in jedem Falle eng mit Politik, Sozialordnung und Wirtschaft verbunden ist …“ (Hahl-weg 1967: 54). Mithin hat Hahlweg bereits damals die Bedingungen für einen umfassenden wirkungsorientierten Umgang mit dem Problem vorweggenommen, wie sie heute im Comprehensive Approach eines Ressort und Institutionen übergreifenden Ansatz vernetzter Sicherheit niedergelegt sind. Die Streitkräfte sind hierbei ein Mittel von einer Vielzahl von Handlungsoptionen (Jung 2009: 39), wenngleich sich eine handlungsfähige Außen- und Sicherheitspolitik nicht nur auf krisenpräventive Maßnahmen beschränken kann und es verstärkt auf die Bekämpfung von Irregulären Kräften ankommt (Schneiderhahn 2009: 537). Aufstandsbekämpfung, Counterinsurgency, Operationen gegen Irreguläre Kräfte,wird auch für die Bundeswehr zunehmend zur „neuen Einsatzrealität“ (Warnecke 2009: 218). Spezial- und Spezialisierte Kräfte können hierbei einen wichtigen Beitrag zur Be-kämpfung Irregulärer Kräfte im Modernen Kleinkrieg leisten, wenngleich sie nur ein Mittel in einer breiten Palette staatlicher Instrumente darstellen und nur zu bestimmten – eben speziellen – Zwecken wirksam eingesetzt werden können (Freudenberg 2008b: 390; 2008a: 26). Folglich ist der Ansatz des Comprehensive Approach ein Konzept, das im Sinne einer Gesamtstrategie abgestimmt staatliche und nichtstaatliche Mittel zielführend zum Einsatz bringen kann (Schneiderhahn 2009: 537; Freudenberg 2008a: 26). Jeder zur Ausführung kommende Problemlösungsansatz muss das gesamte Spektrum möglicher Wirkungen und Wirkrichtungen berücksichtigen. Dabei sind nicht nur die unmittelbaren Folgen einzube-ziehen, sondern ebenso die Auswirkungen auf alle anderen Akteure. Auch der Interessierte Dritte darf hier auf keinen Fall vernachlässigt werden. Ein isoliertes Vorgehen gegen Irre-guläre Kräfte im Modernen Kleinkrieg ist – wie die aktuell verlaufenden Konflikte zeigen – häufig unzureichend und oftmals in den Auswirkungen und Reaktionen auch kontraproduk-tiv.

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Kleinkrieg in der Wüste: Nomadische Kriegsführung und die „Kultur des Krieges“ bei den Tuareg Georg Klute 1 Einleitung1

Für Rolf Hofmeier und Volker Mathies scheinen die Tuaregrebellionen2 nicht sehr bedeu-tend gewesen zu sein. Sie erwähnen sie nur mit einem Satz, ohne ihnen jedoch einen länge-ren Abschnitt zu widmen. Der von ihnen vorgelegte Sammelband „Vergessene Kriege in Afrika“ (1995) will die „vergessenen Kriege“ der „Dritten Welt“ und vor allem das Leiden der Kriegsopfer dem Vergessen entreißen. Solange nicht westliche Interessen betroffen oder westliche Länder involviert seien, würden Kriege in der Dritten Welt und besonders in Afrika selbst von der wissenschaftlichen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen; das Schick-sal der Kriegsopfer werde beinahe gänzlich ignoriert. Muss man daraus schließen, dass die Zahl der Opfer der Tuaregrebellionen nicht groß genug war? Dass Hofmeier und Mathies diesen Krieg deshalb nicht ausführlicher behandelt haben?

Im Gegensatz zu der geringen Beachtung, die Hofmeier und Mathies ihnen geschenkt haben, erfreuten sich die Tuaregrebellionen in der Welt der Entwicklungshilfe größter Aufmerksamkeit. Stellvertretend für viele Stimmen sei die des damaligen Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Kofi Annan, angeführt, der im Vorwort zu einer UNIDIR-Arbeit (United Nations Institute for Disarmement Research) über den Friedensprozess in Mali schreibt, dass die diplomatischen Bemühungen zur Verhinderung gewaltsamer Auseinan-dersetzungen im Fall der Tuaregrebellionen von „großem Erfolg“ gekrönt gewesen seien. Kofi Annan drückt die Hoffnung aus, dass der Friedensprozess in Mali als Modell für Frie-densinitiativen für die gesamte Welt dienen möge (Poulton/Ag Youssouf 1998: xi-xii). Hat gerade die „Winzigkeit“ der Tuaregrebellionen den Friedensinitiativen der VN und den von außen finanzierten Projekten der „Friedensförderung“, „Konfliktbewältigung“ usw. einen Erfolg beschert, der ihnen andernorts, vor allem innerhalb Afrikas, bisher so oft verwehrt geblieben ist?

1 Die folgenden Überlegungen beruhen auf mehreren Feldforschungen zwischen 1990 und 1998 in Algerien, Frankreich, Niger und Mali. Von März 1995 bis Oktober 1998 erfolgten die Forschungen in Zusammenarbeit mit Trutz v. Trotha im Rahmen eines gemeinsamen Projektes „Ethnizität, Staat und Gewalt“, das die Rebellionen der Tuareg in Mali und Niger zum Thema hatte und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wurde. Äußerungen, die wir nicht mit einer Quellenangabe versehen haben, stammen aus Interviews, Gesprächen und Beobachtungen, die im Rahmen der Feldforschungen gemacht wurden. 2 Für einen Überblick über die als „Tuaregrebellionen“ bekannt gewordenen aktuellen Kriege der Tuareg gegen die Staaten Mali und Niger siehe insbesondere die zusammenfassenden Abschnitte in Klute/Trotha 2000 sowie die dort genannte Literatur. Andere Veröffentlichungen behandeln entweder bestimmte Aspekte oder einzelne Ab-schnitte der Geschehnisse. Für weitere übergreifende Darstellungen insbesondere der Ereignisse in Mali vgl. Boilley 1999 und Lecocq 2002.

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Auffallend ist, dass kaum ein Autor die Tuaregrebellionen ausdrücklich als „Krieg“ be-zeichnet hat;3 vielmehr wird meist von „Konflikten“, „Aufständen“, „Revolten“, „Rebellio-nen“, etc. gesprochen, die ziemlich beliebig als gewaltsam, bewaffnet, ethnisch oder eth-nisch bedingt qualifiziert werden. Hofmeier und Mathies etwa nennen die Tuaregrebellio-nen nicht „Kriege“, sondern einschränkend „kriegerische Konflikte“ (Hofmeier/Mathies 1995: 18). Dagegen werde ich hier argumentieren, dass die Tuaregrebellionen sehr wohl Kriege waren. Alle Merkmale des Krieges lassen sich in ihnen finden:

� die kulturelle und soziale Organisation des Tötens und der Bereitschaft, sich töten zu lassen;

� die Trennung von Binnen- und Außenmoral; � die Reorganisation der Zeit, was sowohl, bedingt durch die große Dynamik von

Kriegen, eine andere Wahrnehmung vom Ablauf der Zeit als auch eine neue Sichtweise auf Geschichte einschließt;

� die eingeschränkte Voraussehbarkeit des Handelns; � reduzierte Normierung und reduzierte Sanktionierung, allerdings keine Regello-

sigkeit; � schließlich intensive körperliche, sinnliche und emotionale Erfahrungen, die vor

allem mit der tatsächlich ausgeübten oder mit der immer möglichen Gewalt zu-sammenhängen.

Trutz v. Trotha definiert den „Krieg“ in handlungstheoretischer Perspektive als den „kollek-tive[n] und organisierte[n] Einsatz von materieller Schädigung, absoluter Gewalt, sprich: Tötung, und einer Zerstörungs- und besonders Waffentechnik. Er [der Krieg] ist also der kollektive und organisierte Einsatz der Verbindung von zwei Grundformen von Aktions-macht mit technischem Handeln“ (Trotha 1999: 71). Diese Definition und die genannten Merkmale des „Krieges“ schließen alle Kriege ein, gleichgültig, ob es sich um Kriege zwi-schen modernen Staaten, um Kriege innerhalb eines Staates, bei dem sich eine Gruppe und die Staatsgewalt gegenüberstehen, oder um die Kriege zwischen staatenlosen Gesellschaf-ten handelt. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Kriegen liegen nicht darin, ob die Kriegsparteien staatlich organisiert sind oder nicht, sondern in den Formen, die die Kriege annehmen, den Bedeutungen, die die Kriegsmerkmale für die kriegführenden Gesellschaf-ten und Kulturen haben, und in den Zielen, für die Krieg geführt wird (Trotha 1999: 73).

3 Das lässt sich gut an der Presseberichterstattung zu den Tuaregrebellionen zeigen. In den 1.348 Artikeln der malischen Presse, die von meinem Mitarbeiter Kai Dröge und mir gesammelt wurden, taucht der Begriff „Krieg“ (guerre) in den Titeln und Untertiteln nur 19 Mal auf (Dröge 1999). Zieht man von diesen die Artikel ab, in denen „Kriegserklärungen“ und die Ausrufung des Ausnahmezustandes (état de guerre) behandelt werden, oder in denen der Begriff „Krieg“ in Sprachbildern (Kriegsbeil, verbrannter Krieg usw.) erscheint, oder in denen der baldige Ausbruch eines „Krieges“ - über vier Jahre nach Beginn der Tuaregrebellion! - prognostiziert wird, bleiben nur neun Artikel, in denen die Tuaregrebellion ausdrücklich „Krieg“ genannt wird. Von diesen wiederum sprechen vier einschränkend von „Bürgerkrieg“. In den 93 Artikeln der auswärtigen Presse zur Tuaregrebellion in Mali taucht der Begriff „Krieg“ (auch: war, guerre) in Titeln und Untertiteln neun Mal auf. Von diesen sind drei Sprachbilder. Ähnlich die Presseberichterstattung zur Tuaregrebellion in Niger. In den 247 Artikeln der nigrischen und auswärtigen Presse, die mir vorliegen, wird der Begriff „Krieg“ (war, guerre) in Titeln und Untertiteln nur sechs Mal verwandt. In wissenschaftlichen Arbeiten zu den Tuaregrebellionen bezeichnet nur Klaus Schlichte, soweit ich sehe, die Tuaregrebellionen als „Krieg“ (Schlichte 1996), alle übrigen Autoren wählen andere Bezeich-nungen.

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Ähnlich wie Trotha argumentiert der britische Militärhistoriker Keegan (Keegan 1997). Die Ausgangsfrage seiner kulturgeschichtlichen Studie „Die Kultur des Krieges“ lautet: „Was ist Krieg?“ Nach einer kenntnisreichen Darstellung der Geschichte des Krieges kommt er zu dem Schluss, dass der Krieg keineswegs das unausweichliche Schicksal der Menschheit sei. Der Mensch sei nicht zur Kriegführung verdammt, vielmehr habe er auch die Möglich-keit, Konflikte anders als durch Gewalt und Krieg zu regeln, selbst wenn das in der Ver-gangenheit nur selten geschehen sei. Tatsächlich ist die überlieferte Geschichte der Menschheit weitgehend eine Geschichte des Krieges.4 Die Art und Weise allerdings, wie die einzelnen Kriege geführt worden sind, sei wesentlich durch die Kultur der Kriegspartei-en bestimmt. Zwei Haupttypen der Kriegführung stehen sich gegenüber: die orientalische und die okzidentalische Kriegführung. Während die orientalische Art der Kriegführung von Ausweichen, Verzögern und indirekter Kampfweise bestimmt ist, hat sich im Okzident (zuerst in den Kriegen der griechischen Stadtstaaten) eine direkte Kampfesweise Mann gegen Mann entwickelt, die eine Entscheidung „auf Leben und Tod“ sucht. Schließlich hat der okzidentale Typus jegliche Beschränkung der Entwicklung von Waffen aufgegeben. Zwar verschaffte der unbeschränkte Gebrauch und die Entwicklung immer neuer Waffen dem okzidentalen große Vorteile gegenüber dem orientalischen Typ, der den Gebrauch und die Entwicklung von Waffen begrenzte, hat jedoch zu einem so großem Vernichtungspo-tential an Waffen geführt, dass sich der okzidentale Typus der Kriegführung heute in einer „atomaren Falle“ befindet.

Die „atomare Falle“, wie ich das atomare „Gleichgewicht des Schreckens“ nennen möchte, hat den Militärhistoriker Martin v. Creveld zu der Prognose geführt, dass die „Zu-kunft des Krieges“ (Creveld 1998) nicht dem Atomkrieg oder dem konventionellen Krieg, sondern dem low intensity war gehören werde; überall dort, wo Atomwaffen vorhanden sind, bestehe die Gefahr, dass Atomkriege geführt würden, was zugleich das Ende der kriegführenden Parteien oder der gesamten Menschheit bedeuten müsse.

Für die These, dass Kriege „geringer Intensität“ im Schatten der atomaren Gefahr ge-deihen und alle anderen Kriegsformen verdrängen, spricht die Entwicklung seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges: Die überwiegende Zahl der Kriege wurde als „Krieg geringer Intensität“ geführt. Militärtheoretiker befassen sich deshalb schon seit längerem mit der „Zukunft des Krieges“ im Schatten des atomaren Schreckens. „Der Kleinkrieg verdrängt allmählich den „Großen Krieg“. Es scheint so, als ließe das Gewaltanwendungsverbot des modernen Völkerrechts einerseits und die atomare Drohung andererseits die Menschen von heute auf einen Krieg ausweichen, der sich weitgehend außerhalb der Normenordnung des Völkerrechts abspielt und den Einsatz atomarer Kampfmittel in der Regel ausschließt“ (Heydte 1986: 11).5 Hat es den Umweg über die USA – und die Rückübersetzung von Cre-velds Buch ins Deutsche – gebraucht, damit diese Thesen auch außerhalb des Kreises mili-tärtheoretischer Fachkollegen diskutiert werden konnten?

4 John Keegan beschränkt diese Aussage auf die schriftlich überlieferte Weltgeschichte, „weil die Staaten, in denen wir leben, weitgehend durch Eroberungen, innere Auseinandersetzungen oder Kämpfe um Unabhängigkeit geschaffen worden sind“ (Keegan 1997: 545). Ich habe seine Aussage auch auf die mündlich überlieferte Ge-schichte erweitert, weil zum einen die implizite Unterstellung, dass Staatlichkeit an Schriftlichkeit gebunden sein muss, zumindest eine offene Frage ist und zum anderen auch orale Traditionen weitgehend Kriegsgeschichte überliefern. 5 V.d. Heydtes Studie „Der moderne Kleinkrieg“ wurde schon Ende der 1960er Jahre verfasst und erschien erst-mals 1972. Der Staats- und Völkerrechtler v.d. Heydte lehrte zuletzt an der Universität Würzburg. Zuvor war er Offizier der Reichswehr sowie der Wehrmacht und wurde 1962 zum Brigadegeneral i.R. der Bundeswehr ernannt.

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Auch die Tuaregrebellionen sind als „Kleinkrieg“ geführt worden. Die besondere Form dieses Kleinkrieges ist wesentlich durch die Kultur der kriegführenden Parteien bestimmt gewesen. Ich werde im Folgenden argumentieren, dass die Tuaregrebellen auf besondere Weise für Vorgehensweise und Strategien des modernen Kleinkrieges enkulturiert erschei-nen. Das gilt zum einen für ihre nomadische Herkunft. Tatsächlich weist die herkömmliche nomadische Kriegführung, die von Mobilität und Schnelligkeit, d.h. der Überwindung auch großer Entfernungen in kurzer Zeit, geprägt ist, überraschend viele strukturelle Analogien zu zentralen Merkmalen des modernen Kleinkrieges auf. Wie alle Nomaden sind auch die Tuareg „geborene Kleinkrieger“. Gegen die allgemein-nomadischen Merkmale der Krieg-führung steht das den Tuareg spezifische Merkmal der Bevorzugung des Nahkampfes mit Schockwaffen. Ich werde zeigen, dass dieses Merkmal der Kriegführung der vorkolonialen Tuareg bis heute nachwirkt. Vor allem zu Beginn der Kämpfe folgten die Rebellen keines-wegs immer den Grundregeln des Kleinkriegs, nach denen man schnell zuschlagen, sofort ausweichen und ein Gefecht nur bei eigener Überlegenheit annehmen soll, sondern sie suchten häufig – selbst bei Unterlegenheit – den Nahkampf und gebrauchten dabei auch blanke Waffen. Diese Art des Vorgehens demoralisierte die Militärs, weil sie die doppelte Bereitschaft der Rebellen bewies, kaltblütig von „Angesicht zu Angesicht“ zu töten und sich töten zu lassen.

Um diese Thesen zu verdeutlichen werde ich in einem ersten Teil meine Überlegungen zum „Begriff des Kleinkrieges“ und zu „Strategien im Kleinkrieg“ erläutern, um in einem zweiten Teil die Kriegführung der Tuareg zu diskutieren. Im Abschnitt „Nomadische Kriegführung“ werde ich zunächst auf die strukturellen Analogien zwischen aktuellen Kleinkriegen und dem nomadischen Krieg eingehen, um dann die Kriegführung der Tuareg darzustellen. Das kulturspezifische Merkmal des Nahkampfes werde ich in dichter Be-schreibung an verschiedenen Zusammenstößen zwischen den Rebellen und der malischen Armee illustrieren. In einer ethnographischen Rekonstruktion eines entscheidenden Gefech-tes zwischen Tuaregrebellen und malischer Armee sollen abschließend grundlegende Fra-gen einer theoretisch orientierten Anthropologie der Gewalt und des Krieges deutlich wer-den.

2 Zum Begriff des Kleinkrieges oder des Krieges geringer Intensität

Der Kleinkrieg oder der LIC (low intensity conflict), wie er – ziemlich unscharf – auch genannt wird, sperrt sich in mancher Hinsicht gegen Abgrenzungen vom „Großen Krieg“. Zunächst macht es aus Sicht der einzelnen „Kleinkrieger“, der gegnerischen Soldaten oder der betroffenen Menschen keinen Sinn, einen Krieg geringer von einem Krieg großer Inten-sität zu unterscheiden: In dem einen wie dem anderen geht es um ihre Existenz, um Leben und Tod. Auch die beteiligten kriegführenden Parteien können denselben Krieg durchaus unterschiedlich einordnen. Ihre militärische Planung richtet sich nach der Größe der vor-aussichtlichen oder der tatsächlich eingesetzten Mittel. Was für eine Großmacht eine be-grenzte militärische Aktion ist, kann für einen schwachen Staat oder für aufständische Gruppen den Einsatz aller Mittel erfordern.

So wenig eine Abgrenzung der Kriegsarten nach der Größe der Mittel möglich ist, so wenig aussagekräftig ist die Zahl der Kriegsopfer. Kleinkriege kennen typischerweise keine großen Schlachten, die bei einer einzigen Auseinandersetzung unzählige Opfer fordern. Dennoch können sie – vor allem wegen ihrer langen Dauer – sehr blutig sein: Man schätzt

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die Zahl der Opfer in den Kleinkriegen seit Ende des Zweiten Weltkrieges auf 20 Millionen Menschen (Trotha 1999: 88). Zwar mag die Zahl der Opfer der Tuaregrebellionen in Mali und Niger mit vermutlich weniger als 4.000 Menschen gering erscheinen, aber auch hier hat es sich um einen blutigen Krieg gehandelt. Das gilt vor allem für die einzelnen Beteiligten, so dass einschränkende Bezeichnungen wie z.B. „kriegerische Konflikte“ verharmlosend wirken müssen.

Die Militärtheorie in den USA befasst sich erst seit dem Vietnamkrieg ausführlicher mit dem „Krieg geringer Intensität“. Auslöser für die Diskussionen war das Buch von Her-man Kahn „On Escalation“ (1965). Kahn hatte argumentiert, dass die USA zwar für einen großen, insbesondere atomaren, Krieg gerüstet seien, kleineren Kriegen aber unvorbereitet gegenüber ständen (Kahn 1966; zit. in Rauchensteiner 1991). Kahn arbeitete deshalb eine Skala von 44 Eskalationsstufen aus, auf die jeweils angemessene Reaktionen erfolgen müssten. Vor allem der als demütigend empfundene Misserfolg in Vietnam richtete die Aufmerksamkeit auf das untere Ende der Eskalationsskala. Vielleicht vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrungen erwartete man den Low Intensity Conflict vor allem in den Län-dern der „Dritten Welt“. Diese geographische Begrenzung bedeutete jedoch zugleich eine zeitliche Einschränkung: Der LIC galt als neues Phänomen.

Dagegen wandten sich europäische Militärwissenschaftler. Sie argumentierten, dass man Kleinkriege schon seit langer Zeit und in allen Weltgegenden kenne. Abgesehen von den vielen „Kleinen Kriegen“, die von allen Kolonialmächten im Zuge ihrer kolonialen Eroberungen oder am Ende der Kolonialzeit (von der anderen Seite „koloniale Befreiungs-kriege“ genannt) geführt wurden, müssen auch die Kriege genannt werden, in die Groß-mächte außerhalb der Dritten Welt verwickelt waren: Etwa der seit 1800 schwelende Kon-flikt um Irland, das Engagement in Zypern ab 1878 und der Krieg in Palästina, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, auf britischer Seite oder der langjährige Aufstand der Grie-chen gegen das osmanische Reich, die Guerilla der spanischen und portugiesischen Bauern gegen die napoleonische Besatzung und die vielen Kleinen Kriege, mit denen die kaiserli-che und königliche Monarchie ein Auseinanderbrechen ihres Reiches zu verhindern suchte.

Als eigenständige Kriegsart tritt der Kleinkrieg erst in nachrevolutionärer Zeit auf. Vorherige Kleinkrieger operierten in Verbindung mit dem regulären Heer, so dass diese „Kleinkriege“ als eines der taktischen Mittel der Kriegführung, nicht aber als eigenständige Kriege angesehen werden (Kunisch 1991: 47). In den Kabinettskriegen des ancien régimewurden die Kleinkrieger, damals „Irreguläre“ oder „Freikorps“ genannt, von selbständigen oder halbselbständigen Kriegsunternehmern geführt. Sie wurden für Vorpostengefechte u.ä. eingesetzt und kämpften im Gegensatz zu den fest gefügten Reihen der regulären Heere in offener Gefechtsformation. Die Vorgehensweise dieser „Irregulären“, wie das der berühmt-berüchtigten Kosaken oder der gefürchteten Panduren, nahm gleichsam die „Zukunft des Krieges“ nicht nur in der „Guerilla“, sondern auch in den revolutionären Volkskriegen und den Kriegen der napoleonischen Zeit vorweg. Eine besondere Theorie dieses „Kleinkrie-ges“ der „Irregulären“ aber gab es noch nicht. Die Schriften zum Kleinkrieg hatten den Charakter persönlicher Erinnerungen oder gaben vor allem praktische Ratschläge (Kunisch 1991: 50-51). Erst Clausewitz befasste sich in seinen Vorlesungen an der Allgemeinen Kriegsschule in Berlin analytisch genauer mit dem Wesen des „Kleinen Krieges“ (Kunisch 1991: 52, EN 16).

Einer der großen Vordenker des „Kleinen Krieges“ war Friedrich Engels. Insbesonde-re seine Ausführungen zum Aufstand („Nun ist der Aufstand eine Kunst“) beeinflussten

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spätere Theoretiker des Kleinkrieges nachhaltig. Engels „Konzept des Revolutionskrieges“ beruhte nicht nur auf einem gründlichen Studium militärwissenschaftlicher Schriften, son-dern auch auf eigenen Erfahrungen, die er während der 1848er Revolution gesammelt hatte. Zwar hat Engels bis an sein Lebensende zahlreiche Veröffentlichungen über verschiedene Aspekte des „Revolutionskrieges“ verfasst, die Grundsätze seines Konzepts aber waren schon in einem Artikel gelegt, der 1852 in der Tribune veröffentlicht worden war (Wallach 1852: 255-256). Es ist leicht zu sehen, wie sehr Engels’ Grundsätze spätere „Kleinkrieger“ beeinflusst haben:

� nie mit dem Gedanken an einen Aufstand spielen, wenn man nicht fest entschlos-sen ist, alle Konsequenzen auf sich zu nehmen;

� der Aufstand ist nicht planbar, seine Bedingungen können sich täglich ändern; � dem an Organisation, (militärischer) Disziplin und hergebrachter Autorität überle-

genen Gegner nur mit starker eigener, zahlenmäßiger Überlegenheit gegenübertre-ten;

� mit Entschlossenheit handeln und immer die Offensive suchen; - den Gegner über-raschen, solange er zerstreut ist;

� immer für kleine Erfolge sorgen, um das moralische Übergewicht zu erhalten und Unentschlossene auf die eigene Seite zu ziehen;

� den Feind zum Rückzug zwingen, bevor er seine Kräfte hat sammeln können.

Im 20. Jahrhundert waren viele der großen Theoretiker des Kleinkrieges Männer, die selbst Kleinkriege geplant, geführt oder Kleinkrieger bekämpft hatten: Mao Tse-tung, der Schweizer Major Hans v. Dach, Ernesto Guevara, der griechische Oberst Georgios Grivas-Dighenis (auf Zypern), der Amerikaner Charles W. Thayer (als Verbindungsoffizier bei den Partisanen in Jugoslawien) oder der Deutsche Hellmuth Rentsch (als Offizier der Wehr-macht bei der Bekämpfung der Partisanen in der UdSSR).6 Trotz aller Unterschiede in ideologischer Hinsicht und der vielen unterschiedlichen Bezeichnungen, mit denen Klein-krieger in verschiedenen Epochen und Regionen belegt wurden7, gibt es zwischen ihnen verblüffende Ähnlichkeiten in Erscheinung und taktischem Vorgehen. Am prägnantesten hat dies Mao Tse-tung zusammengefasst: „Unsere Taktik ist die des Partisanenkampfes. Sie läuft im Wesentlichen auf folgendes hinaus: Die Truppen dezentralisieren, um die Massen zur Erhebung zu bringen, und die Truppen konzentrieren, um mit dem Gegner abzurechnen. Der Feind greift an – wir weichen zurück; der Feind ist zum Stehen gekommen, wir lassen ihm keine Ruhe; der Feind ist ermüdet, wir greifen an; der Feind zieht sich zurück – wir verfolgen ihn“.8

Bei den Versuchen der Abgrenzung des „Kleinen“ vom „Großen Krieg“ stimmt die Literatur weitgehend in folgenden Beschreibungen überein:

6 Die Liste ist nach Heydte (1986: 16-17) zusammengestellt. Vgl. auch die dort angeführte Literatur. Ebenso Wallach, der den Strategien und Vorgehensweisen im „revolutionären Volkskrieg“ am Beispiel Mao Tse-tungs, General Vo Nguyen Giaps und Ernesto „Che“ Guevaras ausführliche Abschnitte gewidmet hat (Wallach 1972: 289-313). 7 Piraten, Marauders, Mosstroopers, Carbonari, Guilleros, Partisanen, Freiheitskämpfer, Mujaheddin oder Fellaga. Letztere wurden im Zusammenhang mit dem algerischen Befreiungskampf von den attackierten Staaten zusam-menfassend und in herabsetzender Absicht auch „Banditen“ und schließlich „Terroristen“ genannt. 8 Diese Prinzipien des „Kleinkrieges“ formulierte Mao Tse-tung in der erstmals 1930 erschienenen Schrift „Ein Funke kann die ganze Steppe in Brand setzen“ (zit. nach Wallach 1972: 293).

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� der Kleinkrieg ist eine bewaffnete Auseinandersetzung (und nicht etwa nur ein Konflikt);

� Träger der Auseinandersetzungen sind nicht Großverbände (in militärischer Dikti-on: Armeen), sondern kleine Einheiten oder Aktionsgruppen;

� eine Entscheidung wird nicht in wenigen großen Schlachten, sondern in einer gro-ßen Zahl von Einzelunternehmungen gesucht;

� an stelle des Strebens nach waffentechnischer Überlegenheit und überlegener Feu-erkraft, die beim „Großen Krieg“ in der „Entscheidungsschlacht“ zur Geltung kommen sollen, tritt die Suche nach Überlegenheit an Mobilität.

Der Völkerrechtler v. d. Heydte fasst den „Kleinen Krieg“ vor allem unter rechtlichen Ge-sichtspunkten und grenzt ihn so vom „Großen Krieg“ ab (Heydte 1986: 20ff.). In Bezug auf Hugo Grotius unterscheidet Heydte den Friedens- vom Kriegszustand. Während im Frieden der Verkehr der Völker und Staaten untereinander durch Willenseinigung erfolgt, deren üblicher Ausdruck der Vertrag ist, sucht im Krieg eine Partei der anderen ihren Willen mit Gewalt oder der Drohung mit Gewalt aufzuzwingen. Krieg ist für Heydte allerdings nicht schon dann gegeben, wenn eine Seite Gewalt gegen die andere anwendet, sondern erst dann, wenn beide Seiten den Willen zur Gewaltanwendung haben. Die Gewalt muss jedoch nicht von Militärs ausgeübt werden. „Der Krieg ist älter als das Militär. Es war nicht das Militär, das den Krieg geschaffen hat, sondern der Krieg, der das Militär entstehen ließ“ (Heydte 1986: 23). Die Beschränkung der Gewaltausübung auf eine bestimmte besondere Gruppe von Personen, nämlich das Militär, das Gewaltmittel nur gegen andere Militärs (aber nicht gegen Zivilisten!) anwendet und den Kampf nur mit bestimmten, d.h. erlaubten, Kriegswaffen führt, gehören für Heydte zu den ältesten Konventionen im Krieg. Sie stün-den am Anfang des Kriegsrechtes.

Gegen diese Auffassung, dass erst mit der Institution des Militärs Kriegsrecht entsteht, hatte schon Wilhelm Mühlmann in einer während des Zweiten Weltkrieges erschienenen Studie über „Krieg und Frieden“ (Mühlmann 1940) argumentiert. Mühlmann zeigte, dass auch „Naturvölkern“ der „geregelte Kampf“ bekannt war (Mühlmann 1940: 113-123). Die ersten Konventionen des Krieges betrafen die Unterscheidung der Kriegs- von Friedenszei-ten, die voneinander durch Kriegserklärung, Friedensschluss, neutrale Zonen oder Personen und Regelung der Kampfmittel (Kriegs- vs. Jagdwaffen oder zeremonielle Waffen) abge-grenzt waren.

Auch das Kriegsgebiet selber, Schlachtfelder oder die Walstatt (!) beruhten ursprüng-lich auf Vereinbarung (Mühlmann 1940: 117). Manchmal wurden solche Kampfstätten extra hergerichtet oder lagen in der neutralen Zone zwischen zwei Gebieten und dienten seit Generationen als Kampfarena, was ihnen den Charakter eines Kriegstheaters verlieh. Wur-de ein Gebiet zur Kampfarena, waren entsprechend alle anderen Gebiete neutral. Gelegent-lich steckte man nicht die Kampfarena, sondern die neutralen Zonen ab, die so zu Asylen wurden. Der Neutralisierung bestimmter Gebiete entsprach die Ausnahme bestimmter Per-sonengruppen, etwa der Frauen oder Kinder, von den Kampfhandlungen. Psychologisch sei der Schritt vom geregelten zum entfesselten Kampf, wie er etwa häufig in langen Kriegen getan wird, leichter als der umgekehrte Schritt vom regellosen Überfall zum Kriegsrecht. Insgesamt habe sich ein Kriegsrecht vor allem bei kulturell ähnlichen Gruppen entwickelt. Genetisch stellt Mühlmann folgende Entwicklung fest: Vom plötzlichen Überfall zur fest-gesetzten Kampfstätte. „Alles Weitere vermag sich logisch anzuschließen“ (Mühlmann

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1940: 119). Endlich stelle sich ein fester Rhythmus von Friedens- und von Kriegszeiten ein. Das ist im Übrigen die Hauptthese in Mühlmanns Studie, die vor allem wegen der damit verbundenen impliziten Rechtfertigung des Krieges kritisiert worden ist. Im Gegensatz zur herkömmlichen Darstellung des Krieges als Abnormität, als „Ausnahmezustand des Völ-kerrechts“ (Heydte) oder als Unterbrechung der Friedenszeit, postuliert Mühlmann nicht nur für „Naturvölker“, sondern für die gesamte Geschichte der Menschheit einen immer wiederkehrenden Rhythmus von Kriegs- und Friedenszeiten. „Der Friede setzt nicht nur historisch, sondern auch genetisch [...] den Krieg voraus“ (Mühlmann 1940: 58).

Im Gegensatz zum geregelten, konventionellen Krieg ist der „Kleinkrieg“ unkonventi-onell. Er ist unkonventionell, weil er nicht von einer bestimmten ausgewiesenen Gruppe von Personen, den professionellen Militärs, geführt wird, nicht ausschließlich gegen andere professionelle Militärs gerichtet ist und auch andere als die erlaubten Kriegswaffen einsetzt. Folglich hält er die Übereinkünfte, wie ein Krieg „den Konventionen nach“ zu führen sei, nicht oder nur zu einem geringem Teil ein. In der Praxis werden Konventionen in allen Kriegen, gleich welcher Art, verletzt. Das gilt insbesondere für den totalen, den „unbe-schränkten“ Krieg, dessen radikalste Form der Atomkrieg ist. Das herausragende Merkmal des totalen Krieges und zugleich die schärfste Verletzung der Kriegskonventionen ist, dass er nicht zwischen Kämpfern und Nicht-Kämpfern, zwischen Soldat und Zivilist unterschei-det (Trotha 1999: 75). Unbeschränkte, totale Kriege werden deshalb ebenso wie Kleinkrie-ge vom Völkerrecht verurteilt.

Umgekehrt können „Kleinkrieger“ als reguläre Kombattanten anerkannt werden, wenn sie sich an die Kriegskonventionen halten. Schon die Haager Landkriegsordnung von 1907 nennt in Artikel I Milizen und Freiwilligenkorps und die Genfer Konventionen vom 12. August 1949 erwähnen zusätzlich organisierte Widerstandsbewegungen, die wie Soldaten in einem konventionellen Krieg behandelt werden sollen. Voraussetzung für die Anerken-nung als reguläre Kombattanten ist immer, dass diese sich durch ausdrückliche Erklärung zum Kriegsrecht bekennen oder zumindest durch ihr Verhalten erkennen lassen, dass sie die Konventionen des Krieges beachten. In der Praxis wird diese Anerkennung fast immer zunächst durch einen dritten, nicht unmittelbar beteiligten Staat geschehen, was im Übrigen als eine der Formen der Anerkennung von „Insurgenten“ als reguläre Kombattanten durch das Kriegsrecht (Genfer Konventionen) geregelt worden ist. Durch das Eingreifen einer „dritten Partei“ und ihre Anerkennung der Aufständischen als reguläre Kombattanten wird der innerstaatliche Krieg internationalisiert und so auch im Sinne des Völkerrechts zu ei-nem „wirklichen“ Krieg. In den Tuaregrebellionen war das Bemühen der Rebellen um die Anerkennung als reguläre Kombattanten und die entsprechende Behandlung nach den Re-geln der Genfer Konventionen von Anfang an ganz deutlich. In einem ihrer ersten Doku-mente in Mali wird die erste Aktion der Rebellion in folgenden Worten beschrieben:

„Am Abend des 28. Juni halten etwa 60 maskierte und in militärischen Uniformen ge-kleidete Tuaregkombattanten [...] einen Konvoi von 4 Geländefahrzeugen an [...]. Die Insassen [...] werden in ein Magazin der Organisation „World Vison“ verbracht, das Lebensmittel und Wasser enthält. Bevor sie weiterziehen, halten ihnen die Tuareg fol-gende Rede: „Wir haben uns für eine gerechte und bekannte Sache erhoben. Wir sind keine Banditen, sondern wir fordern unsere Rechte als malische Bürger. Diese Rechte

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werden zur Zeit mit Füßen getreten und Mali, das uns als Araber und Ausländer an-sieht, will uns auslöschen.“ 9

Unabhängig davon, ob diese Schilderung die Ereignisse am 28. Juni 1990 getreu wieder-gibt, offensichtlich suchten die Rebellen mit Hilfe dieser Botschaft, die an die Außenwelt gerichtet war, eine Anerkennung als reguläre Kombattanten zu erreichen: Sie sind äußerlich als Kämpfer gekennzeichnet, sie behandeln unbeteiligte Zivilisten human, sie streben nicht nach persönlichem Profit und sie befinden sich schließlich in einer Notwehrsituation, bei der sie Gewalt gebrauchen müssen, um ihr eigenes Leben zu retten.

Das Eingreifen dritter Mächte, zuerst Algeriens, dann auch Frankreichs und Maureta-niens, bewirkte die endgültige Anerkennung der Rebellen als reguläre Kombattanten und ihrer Organisationen als Widerstandsbewegungen. Der Prozess der Anerkennung der Re-bellenbewegungen lässt sich gut an der Sprachregelung der regierungsamtlichen Presse in Mali nachzeichnen, die in der ersten Phase des Konfliktes bis Anfang 1991 ein Quasi-Monopol der Berichterstattung innehatte. Bis zu ihrer Anerkennung als reguläre Kombat-tanten durch den malischen Staat, werden die Rebellen niemals als „Kombattanten“, son-dern ausschließlich als „Banditen“, die auf Beute aus seien, oder als „wilde“ und „blutdürs-tige“ Menschen bezeichnet, die ihre Opfer „niedermetzeln und verstümmeln“ (Dröge 1999: 68ff.).

In Niger wurde der Prozess der Anerkennung der Rebellen durch die scharfe Konkur-renz zwischen den „interessierten dritten Mächten“, Algerien und Frankreich, um den Ein-fluss im Land beschleunigt. Am 3. Mai 1992 hatte die nigrische Regierung – vermutlich auf starken Druck Algeriens – um algerische Vermittlung gebeten. Schon am 12. Mai wurde unter Algeriens Vermittlung ein Waffenstillstand zwischen den Rebellen und der Regierung geschlossen. Am selben Tag lud die Regierung neben Algerien auch Frankreich als Ver-mittlerin ein. Von diesem Zeitpunkt an standen die beiden „interessierten dritten Mächte“ in einem Konkurrenzverhältnis um den ersten Rang bei der Vermittlung und damit auch um den späteren Einfluss im Norden des Landes. Es versteht sich von selbst, dass der illegale Kleinkrieg bei erfolgreichem Ausgang legal werden kann; bei siegreichem Ausgang schafft er neues Recht. Die historischen Beispiele sind so zahlreich und bekannt, dass ich sie hier nicht weiter anzuführen brauche.

In gewisser Hinsicht ist die Frage, ob und wie die Tuaregrebellen als „reguläre Kom-battanten“ und ihre Organisationen als „organisierte Widerstandsbewegungen“ anerkannt worden sind, heute von geringerem Gewicht als in der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg. Nach den blutigen Schlachten des Weltkrieges begann sich die Idee eines generellen Kriegsver-bots durchzusetzen, dessen Grundsätze erstmals 1928 im „Briand-Kellog-Pakt“ formuliert wurden.10 Vom Kriegsverbot ausgenommen sind nach heutiger Auffassung nur der Sankti-onskrieg, der im Namen und im Auftrag der Vereinten Nationen zum Erhalt oder zur Wie-derherstellung des Weltfriedens geführt wird, und der Krieg zur Selbstverteidigung (schon im Briand-Kellog-Pakt formuliert), so dass das vormalige ius ad bellum, das allen souverä-

9 Vgl. die Pressemitteilungen über die Ereignisse, die wahrscheinlich von Exil-Touaregs in Europa im August 1990 veröffentlicht worden sind. In ähnlichen Worten wurden die Ereignisse in einer etwas späteren Mitteilung beschrieben, die ebenfalls der Presse zuging (vgl. das Manuskript „Nous Touaregs du Mali“, das wahrscheinlich von Exil-Touaregs in Europa im September 1990 veröffentlicht worden ist). 10 Benannt nach den damaligen Außenministern Frankreichs und Großbritanniens. Das auch als „Kriegsächtungs-pakt“ bekannte Abkommen wurde am 27.8.1928 in Paris von Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Polen, der UdSSR und den USA unterzeichnet. Bis 1939 waren dem Pakt 63 Staaten beigetreten.

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nen Staaten grundsätzlich das Recht zum Kriegführen einräumte, auf den „Notwehrkrieg“ beschränkt ist. Wann ein Staat oder eine ethnische Gruppe o.ä. sich in einer Notwehrsitua-tion befindet, die einen Krieg rechtfertigen würde, ist allerdings eine Frage, die weiten Spielraum für Interpretationen lässt. Ungeklärt ist ebenfalls, ob von einem Kollektiv, das in seiner Existenz bedroht ist, die Einhaltung der Kriegskonventionen erwartet werden darf oder nicht. Dürfen nicht alle Mittel, einschließlich der vom Kriegsrecht geächteten Mittel, eingesetzt werden, wenn das eigene Leben und die Existenz der Gruppe bedroht sind? Ei-nen Kleinkrieg, Attentate, Terrorakte, die Ermordung Unbeteiligter usw. mag man unter diesen Umständen als durchaus legitim ansehen.

In der Einleitung ihres Buches „Das Handwerk des Krieges“, das sich allerdings eher als eine Mentalitätsgeschichte des Krieges denn als Geschichte des Kriegshandwerkes liest, stellt Cora Stephan die Forderung auf, den Krieg nicht zu ächten. Eine vollständige Äch-tung des Krieges würde nur bewirken, „dass er sich um so regelloser entwickelt“ (Stephan 1998: 14). Die Entwicklung der letzten Jahre scheint Stephans Forderung zu stützen. Mit dem Ende des „Kalten Krieges“ hat sich die atomare Bedrohung abgeschwächt; zugleich können die USA unbestritten als stärkste politische, wirtschaftliche und militärische Macht auftreten. Ihre Militärdoktrin trägt dem veränderten Bedrohungsszenario Rechnung und richtet ihre Aufmerksamkeit weniger auf den „Großen“ als auf den „Kleinen Krieg“. 1987 prognostizierte der US-amerikanische Verteidigungsminister Caspar Weinberger, dass der Low Intensity Conflict „bis an das Ende des Jahrtausend die wahrscheinlichste Form der militärischen und militärpolitischen Auseinandersetzung sei, in die die USA verwickelt würden“ (Rauchensteiner 1991: 203).11 Die strategischen Grundlagen für das prognostizier-te Kriegsszenario wurden in einer Studie des Center for Strategic & International Studies gelegt, die im Mai 1990 vorgestellt wurde. Die Autoren der Studie gingen davon aus, dass die USA trotz der Verminderung der „atomaren Bedrohung“ durch Russland weiterhin in militärische Konflikte „niedriger“ oder „mittlerer Intensität“ bzw. „Kleine Kriege“ verwi-ckelt sein würden.

Seither haben sich die USA in nahezu allen Erdteilen – mit Ausnahme Australiens – militärisch engagiert. Die Intensität und die Formen der einzelnen Engagements waren ganz unterschiedlich und haben insofern Clauswitz“ Diktum bestätigt, dass „der Krieg [...] ein wahres Chamäleon [ist], weil er in jedem konkreten Fall seine Natur etwas ändert“ (Clau-sewitz 1991: 36). Sie wurden (und werden!) alle, soweit ersichtlich, entweder als „Sankti-onskriege“ (im Namen und Auftrag internationaler Organisationen wie der VN oder der NATO) oder als „Notwehrkriege“ der USA geführt und gerechtfertigt.

Wie aber sollte die stärkste Militärmacht der Welt in ihrer Existenz bedroht sein? Das Gefühl der Bedrohung lässt sich vor allem mit dem universalistischen Anspruch der USA erklären, der nach dem Bedeutungsverlust seiner „Antithese“, des kommunistischen Uni-versalismus, sein Wertesystem und seine Interessen weltweit durchzusetzen versucht. Schon 1983, also viele Jahre vor der Erklärung eines „globalen Krieges gegen den Terror“ nach dem Anschlag auf die Twin-Towers im September 2001, hatte einer der (amerikani-schen) Vordenker des „Kleinen Krieges“, Neil Livingstone, die Meinung vertreten, dass sich die USA in einem permanenten „Kriegszustand“ befänden, in dem es um das Überle-ben des amerikanischen Wertesystems und der amerikanischen Lebensart ginge (Kla-re/Kornbluh 1988; zit. in Rauchensteiner 1991: 192). Dieser Kriegszustand werde weniger

11 Die Darstellung der militärischen Doktrin und Planungen der USA am Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre erfolgt mit Bezug auf Manfred Rauchensteiner (1991: 191ff.).

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die Form konventioneller, großer Kriege, sondern die einer unendlichen Abfolge von „klei-nen Kriegen“, Geiselnahmen, Pazifizierungsaktionen, Rettungsmissionen, Bekämpfung von Aufständischen usw. annehmen, die vor allem in den städtischen und ländlichen Dschun-geln oder Wüsten der Dritten Welt ausgetragen würden (Livingstone 1984; zit. in Rau-chensteiner 1991: 192). Es scheint, als seien nicht nur zahlreiche aufständische Gruppen, die – ausgestattet mit vergleichsweise wenigen und primitiven Mitteln – um ein wie immer geartetes politisches Ziel kämpfen, oder „Kriegsherren“, denen es vor allem um Beute geht, sondern auch die größte Militärmacht der Welt zur Führung von „Kleinkriegen“ bereit. Wird die „Zukunft des Krieges“ (Creveld 1998) auch deshalb dem „Kleinen Krieg“ gehören, so dass neben die Verminderung – allerdings nicht dem Ende – der atomaren Bedrohung die zunehmende Bereitschaft zum Führen „kleiner“ Kriege träte? Muss angenommen werden, dass die Idee der Ächtung des Krieges ihn umso regelloser werden lässt (Stephan 1998)? Vieles spricht dagegen, dass der Krieg in absehbarer Zukunft verschwinden wird. Vieles spricht vielmehr dafür, dass eine Zeit unkonventioneller Kriege bevorsteht. Diese werden ganz unterschied-liche Formen annehmen und um so regelloser ablaufen, weil schon heute Kriege und militä-rische Interventionen vor allem damit begründet werden, dass sich die betreffenden Staaten und Gruppen in einer Notwehrsituation befänden und um den Erhalt ihrer Existenz kämp-fen müssten.

2.1 Strategien im Kleinkrieg

Es ist überaus erstaunlich, dass professionelle Militärs immer wieder glauben, sie könnten Kleinkrieger mit Leichtigkeit besiegen. In den meisten Fällen steht ihnen ein mangelhaft ausgebildeter, schlecht ausgerüsteter und von „Amateuren“ geführter Gegner gegenüber, der ihnen an Zahl weit unterlegen ist. Für „Profis“ sollten solche „Amateure“ kein unüber-windliches Problem darstellen. Selbst im Nachhinein, nachdem die malische Armee in einem sechsjährigen Kleinkrieg die Rebellen nicht hatte schlagen können, glaubte ein hoher malischer Offizier immer noch an die grundsätzliche Überlegenheit des Professionellen gegenüber dem Amateur: „En réalité, avec un bon suivi des ordres et un peu de courage, les rebelles n’auraient jamais pu avoir le dessus nulle part. Ils étaient peu nombreux, très mal armés“ (Mariko 2001: 146). Zu Beginn der Kämpfe scheint sich die malische Armee ihres Erfolges sicher gewesen zu sein. Nur etwas mehr als zwei Wochen nach dem ersten Angriff der Rebellen (28./29. Juni 1990) begann sie am 17. Juli eine Offensive gegen die damalige Hauptbasis der Rebellen, das Sandsteinplateau von In Taykaren, die den Aufstand in einer einzigen, energischen Militäraktion niederschlagen sollte: „Donc, quand le Mali a appris qu’il y a quelques rebelles qui sont retranchés là-bas, des premiers officiers sont venus. Ils ont apporté leur BM 21, leurs orgues de Staline, c’est une arme redoutable. Ils ont apporté ça. Ils ont pensé que une fois installé, ils vont envoyer 50, 100, 200 obus! Il y a un militaire qui disait qu’il va raser Taïkarène, ça va devenir plat“ (Klute 1996b).

Wie in allen Kleinkriegen jedoch hatte der tagelange, großflächige Artilleriebeschuss gegenüber den Rebellen, die sich in kleine Gruppen aufgeteilt hatten, kaum Wirkung. So erzählten die Rebellen, sie hätten nur einen Kochtopf nebst seinem Inhalt, der durch eine Druckwelle umgeworfen worden sei, als Verlust hinnehmen müssen. Wie können Kleinkrieger gegen professionelle Armeen bestehen, die ihnen unter militäri-schen Gesichtspunkten in jeder Hinsicht überlegen scheinen? Wieso sind sie militärisch so schwer zu besiegen, obwohl sie meist über geringere und primitivere Mittel als ihre Gegner

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verfügen? Was macht das besondere militärstrategische Vorgehen in Kleinkriegen aus, das die Armeen von Mali und Niger daran hinderte, eine „militärische Lösung“ zu erreichen?

Alle Arbeiten über das militärische Vorgehen im (aktuellen) Kleinkrieg beziehen sich auf die Kriegslehre Mao Tse-tungs.12 Der französische Militärwissenschaftler André Beaufre hat Maos Kriegslehre in „Grundregeln“ zusammengefasst (Beaufre 1964: 153). Die ersten vier dieser „Grundregeln“, die ich oben in Maos Worten zitiert habe, sind allgemein bekannt geworden:

1. Vor dem anrückenden Feind zieht man sich – möglichst auf einen zentralen Sam-melpunkt hin – zurück.

2. Der passive, sich nicht von der Stelle rührende Feind wird beunruhigt und gestört. 3. Der ermüdete Feind wird – möglichst in der Bewegung – angegriffen. 4. Zieht der Feind sich zurück, stößt man nach.

Die übrigen, weniger bekannten „Grundregeln“ sind jedoch ebenso wichtig:

� Ziel ist die Vernichtung der feindlichen Kampfkraft (und nicht etwa Geländege-winne). Dabei verlangt jedes einzelne Gefecht überlegene Kräfte, auch wenn die Kleinkrieger insgesamt an Zahl unterlegen sein können.

� Ohne Basisgebiete lässt sich ein Kleinkrieg nicht führen. � Der enge Zusammenhalt zwischen Bevölkerung und Kleinkriegern ist entschei-

dend. � Beute löst logistische Probleme.

Zunächst gilt festzuhalten, dass diese „Grundregeln“ für Militärs keine prinzipiell andersar-tige Strategie darstellen, die den Kleinen vom Großen Krieg abgrenzen könnte: In dem einen wie dem anderen gilt es, die eigene Handlungsfreiheit zu bewahren, mit den zur Ver-fügung stehenden Kräften zu haushalten, neuralgische Punkte des Gegners zu entdecken und zu treffen, auf gegnerische Aktionen flexibel zu reagieren, einen Kampf nur anzuneh-men, wenn der Erfolg wahrscheinlich ist, den Gegner immer wieder zu überraschen, ihn über die eigenen Absichten zu täuschen, und schließlich seine Kräfte so weit wie möglich zu zersplittern (Heydte 1986: 83-84). Militärs grenzen den Kleinen vom Großen Kriegdeshalb nicht durch ganz anders geartete strategische Prinzipien ab – die von Lidell Hart aufgestellten acht „Leitsätze der Strategie und Taktik“ gelten ohne weiteres auch im Klein-krieg (Hart 1955: 411ff.) –, sondern durch die Merkmale des indirekten Vorgehens und der Konturenlosigkeit.

Der Kleinkrieg ist ein Krieg der indirekten Aktion. Er ist ein Krieg der Scheinangriffe, der Täuschung des Gegners, des Verschleierns der eigenen Absichten, der plötzlichen Ü-berfälle und der Angriffe an den Punkten, wo es am wenigstens erwartet wird. All dies findet sich auch im „Großen Krieg“. Anders als im „Großen Krieg“ jedoch ist indirektes Vorgehen nicht eines, sondern das Mittel der Strategie im Kleinkrieg. Insofern ist der

12 Allerdings hat Mao selber immer betont, dass er nicht allgemein den Krieg, sondern den „revolutionären Volks-krieg“ in seiner spezifisch chinesischen Ausprägung behandle. Deshalb bezog er sich ausdrücklich auf den chine-sischen Kriegstheoretiker Sun Wu-tsu (5. Jahrhundert v.u.Z.) und nicht auf dessen deutschen Pendant Clausewitz (Wallach 1972: 291-292).

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Kleinkrieg die deutlichste Verwirklichung indirekter Methoden, die für Lidell Hart den „Kern aller Strategie“ ausmachen (Hart 1955: 16).

Reguläre Militärs empfinden den Kleinkrieg deshalb als konturenlos, weil ihnen die gewohnten Konturen des Großen Krieges im Kleinen Krieg zu verschwimmen drohen: Sie können weder zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten, noch zwischen Front und Hinterland, noch zwischen „eigenem“ (oder besetztem) Gebiet und Feindesland, noch zwi-schen Friedens- und Kriegszustand, noch zwischen dem (militärischem) Sieg und der Nie-derlage, die häufig genug zum politischen Sieg der Aufständischen wird, deutlich unter-scheiden. So kennzeichnet der Oberst der israelischen Armee, Jehuda Wallach, den Klein-krieg durch „das vollständige Fehlen klarer Fronten“ (Wallach 1972: 295) und der deutsche General Friedrich v. d. Heydte nennt ihn einen „Krieg der verschwommenen Konturen“ (Heydte 1986: 84). Das, was den besonderen Erfolg des Kleinkrieges ausmacht, macht ihn regulären Militärs zum besonderen Gräuel.

Ziel der Strategie in jedem Krieg ist das Bewahren der eigenen Handlungsfreiheit. Es gilt, Verfügung über Raum und Zeit zu gewinnen: Wer eher als der Feind zur rechten Zeit am rechten Ort ist, kann entscheiden, wann und wo er kämpfen bzw. dem Kampf auswei-chen will.13 Im Kleinkrieg kommt der Verfügung über die Zeit besondere Bedeutung zu. Weil er typischerweise keine großen Entscheidungsschlachten, sondern viele einzelne Schläge kennt, ist er ein Krieg des „Wartens und Warten-Könnens“ (Heydte 1986: 103). Unter Umständen müssen die Kleinkrieger den Krieg so lange hinziehen, bis der Gegner moralisch zermürbt oder physisch ermüdet ist. Gegen ihre einfachen und geringen Mittel muss er technisch hochwertiges Material in großer Menge setzen. Ein solcher Aufwand ist nicht unbegrenzt durchzuhalten. Das gilt insbesondere dann, wenn keine industrielle Rüs-tungsproduktion wie im Fall von Mali und Niger existiert, sondern alles Kriegsmaterial von außen eingeführt werden muss. Zugleich erringt der Gegner des Kleinkriegers selbst keine entscheidenden Siege. Es gelingt ihm nicht, die Kleinkrieger zu stellen, die ausweichen oder unauffindbar sind, wenn er vorrückt. Vielmehr versetzt ihn die Möglichkeit von An-griffen, die immer und überall erfolgen können, in permanente Unruhe. Trotz aller An-strengungen kann er weder die Kleinkrieger zu einem Entscheidungskampf zwingen, noch sich selbst, geschweige denn die übrige Bevölkerung, effektiv vor Angriffen schützen. Je länger dieser Zustand dauert, um so eher wird er zu Zugeständnissen an die Kleinkrieger bereit sein.

Gelingt es auf der anderen Seite, die Kleinkrieger ihrerseits unter Zeitdruck zu setzen, sie permanent zu verfolgen, so dass sie nur reagieren, aber nicht aus eigenem Willen agie-ren können, werden sie bald scheitern müssen. Dabei scheint Verfügung über die Zeit oft wichtiger als Verfügung über den Raum zu sein. Die Kriegsgeschichte kennt hierfür zahl-reiche Beispiele. Zwei der bekanntesten sind sicherlich Kutusows Rückzug vor der großen Armee nach Moskau und über Moskau hinaus sowie Mao Tse Tungs Langer Marsch im Krieg gegen die Kuomintang. Der eine weigerte sich gegen die Konvention, nach dem Aufeinandertreffen von Borodino Napoleons Angebot einer weiteren Schlacht anzunehmen,

13 Zu grundlegenden Überlegungen über die Faktoren Raum und Zeit im Krieg vgl. Klute 2008b. Dort wird ein relativ-relationales Konzept von Raum und Zeit vertreten. Es wird argumentiert, dass Raum und Zeit soziale und kulturelle Kategorien sind und ständig neu konstruiert werden. Vor allem im Krieg haben wir es nicht mit einer, sondern mit konkurrierenden Zeit-Raum-Gefügen zu tun. Wesentlich für die erfolgreiche Strategie von Kleinkrie-gern ist, dass es ihnen häufig gelingt, die eigene Zeit-Raum-Vorstellung gegen die des Gegners durchsetzen. Sie akzeptieren keine Konvention über ein einheitliches Zeit-Raum-Gefüge im Krieg, sondern versuchen, ein aus ihrer Sicht günstiges Zeit-Raum-Verhältnis zum Kämpfen zu schaffen.

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der andere gab, überraschend für seine Gegner und ebenfalls gegen die Konvention, schon eroberten Raum auf. Beide tauschten sozusagen Raum gegen Zeit, um eigene Handlungs-freiheit zurück zu gewinnen.

Der Kleinkrieg ist Bewegungskrieg par excellence. Auf den plötzlichen Angriff folgt der schnelle Rückzug, auf den Vorstoß über große Entfernungen folgt das Ausweichen weit ins Hinterland. Es gibt keine oder nur sehr kurzfristige Versuche zur Eroberung und zur Besetzung des Raums oder von festen Punkten, kein Verschieben oder Halten einer Front-linie. Wesentliches Kennzeichen des Kleinkrieges ist die permanente, schnelle Bewegung.14

Dies beherrschten die Rebellen meisterhaft. In Schnelligkeit und Beweglichkeit waren sie ihren Gegnern, vor allem zu Anfang der Auseinandersetzungen, weit überlegen. Ihre Vorteile in dieser Hinsicht beruhten zum einen auf der Technik des Streitwagens15, zum anderen auf der Tradition der nomadischen Kriegführung.

3 Nomadische Kriegführung

In einer Studie über „die nomadische Gesellschaft, den Bürgerkrieg und den Staat im Tschad“ stellt Peter Fuchs fest, dass die FROLINAT (Front de Libération National du Tchad) erst dann militärische Erfolge gegen die tschadische Regierungsarmee und die fran-zösische Fremdenlegion erzielen konnte, als sie „nomadische Taktiken“ anwandte (Fuchs 1996: 153-154). Unter „nomadischen Taktiken“ versteht Fuchs „the application of the means of mobility and diversification of (economic) activities to warfare“ (Fuchs 1996: 153). Die Mobilität und Anpassungsfähigkeit des Nomaden mache seine besondere Stärke im Krieg aus. Seine taktischen Mittel seien vor allem die List und der Hinterhalt; vor einem überlegenen Gegner ziehe sich der Nomade zurück, die Kämpfer teilten sich in kleine Gruppen, verstreuten sich im Raum, um sich wieder zusammenzufinden, sobald die Gefahr vorüber ist. Gebiete, die durch den Gegner von nomadischen Kämpfern „gesäubert“ worden sind, werden immer wieder neu infiltriert, so dass sich der Gegner des Nomaden schließlich auf das Halten weniger, strategisch wichtiger Punkte beschränkt, den übrigen Raum aber nicht besetzt. „Nomadische Taktiken“ im tschadischen Bürgerkrieg, wie sie Peter Fuchs beschrieben hat, sind jedoch dem typischen Vorgehen von Kombattanten in einem Klein-krieg verblüffend ähnlich, so dass Nomaden aus dieser Perspektive als „geborene Klein-krieger“ erscheinen.

14 Mao Tse-tung hat das zentrale Merkmal des Kleinkrieges, die Bewegung, in folgenden Worten gekennzeichnet: „Es sollte unsere Strategie sein, die eigenen Hauptkräfte im Bewegungskrieg auf einer breiten, fließenden und nicht fixierten Front einzusetzen - eine Strategie, will sie Erfolg haben, einen hohen Grad von Beweglichkeit auch im schwierigsten Gelände erfordert und sich durch schnellen Angriff und Rückzug, schnelle Konzentration und Aufsplitterung der Truppen auszeichnet. Es wird ein Bewegungskrieg von höchstem Ausmaß sein – und nicht so sehr ein Stellungskrieg“ (Mao Tse-tung 1969; zit. in Wallach 1972: 300). 15 Die herausragende Bedeutung der „Technologie des modernen Streitwagens“ für die Strategie in aktuellen Kleinkriegen wurde an anderer Stelle ausführlich behandelt (Klute 2008a). Dabei habe ich argumentiert, dass der moderne Streitwagen wie sein klassischer Vorgänger der Bronzezeit existierende Fahrzeug- und Waffentechnik kombiniert, um sie zu einer neuen Kriegstechnologie zu verbinden. Der Prozess der Aneignung und Verschmel-zung existierender Techniken wird als eigenständiger kreativer Akt angesehen, für den der Begriff der „kombinie-renden Erfindung“ vorzuschlagen ist.

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Der englische Militärhistoriker John Keegan schreibt, dass der äußere Rand der „Zivilisati-on“16 2.000 Jahre lang (etwa mit dem Einfall der Skythen vom 7. Jahrhundert v.u.Z. an) „durch eine periodisch wiederkehrende Abfolge von Überfall, Plünderung, Sklavennahme, Mord und Eroberung“ (Keegan 1997: 267) von Steppennomaden bedroht worden sei. Mili-tärisch waren die Nomaden den Sesshaften meist weit überlegen, auch wenn sie nur selten fähig waren, eigene Reiche zu errichten. Sie führten Kriege um ihrer selbst willen, wegen des damit verbundenen Kitzels der Gefahr, der Befriedigung bei Siegen und nicht zuletzt wegen der Aussicht auf Beute, aber nicht, um zu erobern und zu herrschen.17

Worin bestand die militärische Überlegenheit der Nomaden, die die sesshaften Völker immer wieder zu schweren und verlustreichen Abwehrkämpfen zwang? Keegan sieht den wesentlichen Grund für diese Überlegenheit in der Lebensweise nomadischer Hirtenvölker (Keegan 1997: 242ff.). Zunächst bereitete der tägliche Umgang mit den Tieren den Noma-den auf den Krieg vor. Das Dirigieren einer Herde, Absondern bestimmter Tiere, Einkrei-sen der Herde, Abschneiden eines Fluchtweges, Einschüchtern durch Drohgebärden usw. ist durchaus den Operationen in einem Gefecht vergleichbar, besonders wenn man es mit wenig disziplinierten Gegnern zu tun hat, die nicht in fest gefügten, starren Reihen, sondern in loser Formation kämpfen und deshalb von Nomaden ganz ähnlich, wie sie es mit ihren Tieren tun, manipuliert werden können.

Dann muss die nomadische Mobilität genannt werden. Nomaden sind es gewohnt, von einem Augenblick auf den anderen ihre Habe zusammenzupacken und woanders hinzuzie-hen. Alles, was sie haben, führen sie mit sich. Unter beinahe allen Umständen können sie ein Lager aufschlagen oder kochen. Als Karawanenhändler steigern sie diese Mobilität, indem sie ihr Gepäck auf das Notwendigste reduzieren und große Entfernungen in kurzer Zeit zurücklegen.18

Dank ihrer Beweglichkeit und Geschwindigkeit waren nomadische Kämpfer den Fußtrup-pen sesshafter Gesellschaften weit überlegen. Mit ihren Streitwagen oder auf ihren Reittie-ren konnten sie den Gegner weiträumig umfassen und einschließen. Bei Widerstand zer-streuten sie sich schnell, um an anderer Stelle wieder anzugreifen oder durch demonstrati-ven Rückzug den Feind in einen Hinterhalt zu locken. Entschlossen sie sich zum Rückzug, war eine Verfolgung meist zwecklos. Die Hsiung-nu an der chinesischen Nordgrenze etwa gründeten ihre „Beutestrategie“ (Barfield 1994: 169) gegenüber dem Han-Reich im We-sentlichen auf nomadischer Mobilität und Kriegführung. Sie sammelten sich unbemerkt in der Steppe, überrannten Grenzposten und griffen tief in China an, um sich dann schnell

16 Gemeint sind sesshafte Gesellschaften. Das ist im Übrigen die übliche Bezeichnung des Sesshaften, die John Keegan für seine eigene Kultur verwendet. Umgekehrt spricht er damit dem Nomaden jede Zivilisation ab, womit er zu erkennen gibt, wie tief die Abneigung gegen und Furcht vor Nomaden in sesshaften Kulturen verankert ist. 17 So soll Dschingis-Khan auf die Frage nach dem größten Glück auf Erden folgendes geantwortet haben: „Das größte Glück des Mannes besteht darin, seinen Feind zu hetzen und zu besiegen, dessen gesamten Besitz an sich zu bringen, seine Ehefrauen jammern und klagen zu lassen, seinen Wallach zu reiten und den Körper seiner Wei-ber als Nachtgewand und Unterlage zu benutzen“ (Ratchnevsky 1991; zit. in Keegan 1997: 281, FN 51). Ähnlich Thomas Barfield, der seine Ausführungen über die Reiternomaden der eurasischen Steppen mit einer Reihe von Zitaten aus dem Munde von Sesshaften einleitet. Diese reichen von Herodot (5. Jahrhundert v.u.Z.) über chinesi-sche Stimmen aus dem 1. Jhdt. v.u.Z., 8. Jhdt. und 15. Jhdt. u.Z. bis zu römischen und persischen Stimmen aus dem 4. und 13. Jahrhundert u.Z. Der Tenor ist einheitlich: Nomadische Krieger sind gnadenlose Mörder und Barbaren, deren Angriffe nicht nur Leib und Leben bedrohen, sondern auch das Ende der (sesshaften) Zivilisation bedeuten können (Barfield 1994). 18 Heute befähigen nomadische Mobilität und ihre Kompetenzen beim Reisen in besonderer Weise für die Anfor-derungen des Wüstentourismus (Klute 2003).

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zurückzuziehen, ohne Land zu besetzen oder den direkten Kampf anzunehmen.19 Schnelle Angriffe auf einzelne Punkte über große Entfernungen sind in Art und Organisation durch-aus Karawanenzügen vergleichbar, so dass das plötzliche Auftauchen nomadischer Krieger zwar die Mitglieder sesshafter Gesellschaften in Angst und Schrecken versetzte, für den Nomaden aber wenig mehr als die Steigerung einer alltäglichen Arbeit darstellte.

Schließlich hat das mobile, schweifende Leben des Nomaden einen zähen Menschen-typ ausgesiebt, der sich, wenn es sein muss, mit einem Minimum zufrieden gibt. Die Be-reitschaft (und die Fähigkeit), physische Entbehrungen aller Art zu ertragen, ist zu allen Zeiten einer der Faktoren gewesen, der über Sieg und Niederlage im Kampf entschieden hat. Eisenbahn, Motorisierung oder Lufttransport haben auch den modernen Soldaten kei-neswegs dem Zwang zu großer körperlicher Anstrengungen, langen Märschen mit schwerer Last, schlechter Verpflegung und wenig Schlaf etwa, enthoben.20 Eben diese nomadische Zähigkeit machte während der Tuaregrebellionen einen wesentlichen Unterschied zwischen den Rebellen und den Soldaten der malischen oder nigrischen Armee aus:

„Les rebelles étaient durs à la peine et se contentaient de peu. S’ils n’avaient qu’une vieille Toyota sans démarreur, ce n’était pas un problème! Lorsqu’il fallait attaquer, ils s’entassaient avec enthousiasme à vingt dessus, ils poussaient et partaient au combat. Tandis que de notre côté, c’était prudence et exigence matérielle. Il nous fallait le BRDM, il nous fallait le mortier, il nous fallait le canon, il nous fallait toujours ceci ou cela pour pouvoir partir. Si une panne survenait, tout le monde était immobilisé! [...] Mais dans cette [...] rébellion, s’il n’y avait pas un transport de troupe, soutenu par un blindé, personne ne bougeait. Avec une telle mentalité et cette impréparation, les ordres étaient souvent mal exécutés“ (Mariko 2001: 145-146).

3.1 Kriegführung der Tuareg

Alle Elemente, die Keegan für die militärische Überlegenheit des Nomaden über den Sess-haften anführt, finden sich auch bei den vorkolonialen Tuareg, mit einer Ausnahme aller-dings: Der Reflexbogen, für Keegan die Waffe des Nomaden, wurde von den Tuareg nicht verwandt.21 Nun lassen sich Keegans Aussagen nicht gänzlich verallgemeinern, weil er vor allem die Nomaden der eurasischen Steppen, nicht aber die anderer Weltgegenden im Blick hat. Bis zur allgemeinen Verbreitung von Gewehren war jedoch das Kämpfen aus der Dis-tanz, für Keegan die typische Kampfweise des Nomaden, bei den Tuareg nicht gebräuch-

19 Ähnlich gingen später auch die Mongolen vor, mit dem Unterschied allerdings, dass ihre Armee einer eisernen Disziplin unterworfen war und auch in geschlossener Gefechtsformation zu kämpfen verstand (Barfield 1994: 174). 20 Seit der Antike hat sich wenig geändert: Wie der römische Legionär ist auch der Soldat moderner Armeen mit etwa der gleichen Last (ca. 30kg) beladen und legt - bei mehrtägigen Märschen - etwa 30km pro Tag zurück. Eisenbahn und Motorisierung haben zwar seit dem 19. Jahrhundert immer mehr die Zeit verkürzt, mit der Soldaten zur Front gebracht werden können, im Einsatz aber erreichen auch moderne Soldaten kaum höhere Geschwindig-keiten als ihre Vorgänger im Altertum (Keegan 1997: 430ff.).21 Der Reflexbogen, die typische Waffe der eurasischen – allerdings nicht aller – Nomaden, war spätestens im 2. Jahrtausend v.u.Z. im Gebrauch. Er erlaubte das Verschießen von fünf bis zehn Pfeilen pro Minute auf eine Ent-fernung von 250m; noch auf 90m sollen die Pfeile Brustpanzer durchschlagen haben (Keegan 1997: 245ff.).

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lich. Sie verwandten weder den Reflexbogen, noch einfachere Bogentypen und setzten andere Distanzwaffen nur in beschränktem Umfang ein.22

Die Waffen der Tuareg wirkten nicht auf Distanz, sondern bei direktem Kontakt. Das beidseitig geschliffene Schwert, der lederne Schild, die eiserne Lanze, oder der am Unter-arm befestigte Dolch wurden ausschließlich als Hieb-, Stich- und Schlagwaffen gebraucht. Dabei bildeten sowohl Schwert und Schild als auch Schwert und Lanze eine Waffeneinheit.23 Der Lederschild eignete sich wegen seines geringen Gewichts ausgezeichnet für koordi-nierte Bewegungsabläufe zwischen Schwerthand und Schildhand, schützte wegen seiner Größe24, seiner Flexibilität und Widerstandsfähigkeit zugleich sehr gut gegen andere Waf-fen, Pfeile, Speere, Lanzen, Schwerter; nur die besten Schwerter sollen ein Schild haben durchdringen können. Das Schwert wird in der rechten, die Lanze in der linken Hand ge-führt. Das Ende der Lanze wird zwischen Ellbogen und Rippen eingeklemmt und von die-sem Angelpunkt aus in Kreisbewegungen zur Abwehr von Schwertschlägen oder als Stichwaffe eingesetzt. Einzige Distanzwaffe war der Wurfspeer mit hölzernem Schaft und aufgesetzter eiserner Spitze, der jedoch nur auf kurze Distanzen geschleudert wurde. Die geringe Bedeutung des hölzernen Wurfspeeres zeigt sich auch daran, dass er nicht vom Kriegeradel, sondern nur von leichten Fußtruppen, Vasallen oder freigelassenen Sklaven, vor Beginn des eigentlichen Gefechtes zur Auflockerung der Reihen des Feindes geworfen wurde.

Die Tuareg gebrauchten also vor allem Schockwaffen, die bis zum Aufkommen von Schusswaffen allen gebräuchlichen Distanzwaffen an Genauigkeit, Frequenz und Wirkung weit überlegen waren.25 Selbst die modernsten Distanzwaffen, „intelligente“ Bomben oder Raketen, haben sich, etwa im Kosovo-Krieg, als weit weniger genau als erwartet erwiesen oder konnten vergleichsweise einfach abgelenkt werden, so dass auch diese modernen Lenkwaffen den Nachteil aller Distanzwaffen aufweisen: Sie mussten in sehr großer Menge eingesetzt werden, um die von den Militärs erwünschte Wirkung auf den Feind zu erzielen.

Schockwaffen verlangen eine andere Taktik als das Vorgehen der (eurasischen) Step-pennomaden, deren Hauptwaffe der Reflexbogen war und die deshalb vor allem aus der

22 Allerdings setzten die südlichen Tuareg Bogenschützen als Hilfstruppen ein. Die Bogenschützen wurden jedoch ausschließlich unter verbündeten oder unterworfenen Gruppen anderer Ethnien, vor allem den Hausa, rekrutiert. 23 Die genaue Koordination von Schwert und Schild, von Offensiv- und Defensivwaffe, wurde immer wieder geübt und in sportlichen Wettkämpfen perfektioniert. Nicolas hat die verschiedenen Figuren dieses Fechtkampfes mit Schild und Schwert skizziert (1950: 184; vgl. auch einige der seltenen Photos einer solchen Übung auf S. 185), und bemerkt im Übrigen, dass dieser Wettkampf „du souffle, du coup d’oeil, une légèreté et une vigueur peu communes“ erfordere (Nicolas 1950: 186). Henri Lhôte stellt fest, dass der Lederschild, ebenso wie das Schwert, in vorkolonialer Zeit eine ausschließliche Waffe des Adels gewesen sei, deren Gebrauch allen anderen Schichten - vielleicht mit Ausnahme der Tuareg im Tassili des Ajjer - untersagt gewesen war (Lhôte 1950: 374). Allerdings scheint es noch andere Ausnahmen gegeben zu haben, so dass Lhôte’s generelle Aussagen über das Tragen des Lederschildes mit Vorsicht behandelt werden müssen. Heinrich Barth berichtet etwa aus Timbuktu, dass am 28.2.1854 ein Trupp von 60 Vasallen der Tuareg zu seinem Schutz in die Stadt gerufen wurde, die beim Einzug durch das Zusammenschlagen ihrer Lederschilde großes Geräusch verursachten (Barth 1857c: 59). 24 Vgl. etwa den bei Nicolas (1950: 124) abgebildeten Lederschild von 1,40m mal 0,67m. 25 Kriegswaffen werden üblicherweise in Schock- und Distanzwaffen unterschieden (Keeley 1996: 49). Gemäß ihrer Fixierung auf Formen differenziert die „Ergologie und Technologie“ in der Völkerkunde darüber hinaus in weitere Unterkategorien: Schockwaffen werden in Schlagwaffen, die im Winkel zur Längsachse geführt werden, und in Stoßwaffen unterteilt, die in Richtung der Längsachse geführt werden. Distanzwaffen werden in Wurfwaf-fen, bei denen die Kraft des Werfenden im Winkel zur Längsrichtung ausgeübt wird und die in Rotation versetzt werden, und in Projektile unterschieden, bei denen die Kraft in Richtung der Längsachse ausgeübt wird und die bestimmte Schussvorrichtungen voraussetzen (Hirschberg/Janata 1966: 177ff.).

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Distanz kämpften. Das Problem beim Gebrauch von Schockwaffen ist, dass sie nur auf sehr kurze Entfernung wirken. Es gilt, nah an den Feind heranzukommen. Der wiederum kann zwischen sich und dem Feind künstliche Hindernisse, Dornenverhaue, Mauern, Gräben, Palisaden usw. errichten, die eine Annäherung erschweren. Zugleich kann er durch das Abfeuern von Distanzwaffen (Pfeile, Speere, Steine etc.) vor den Feind eine „Todeszone“ legen, die zu betreten höchste Gefahr bedeutet.

Falls es nicht gelang, durch Überraschung an den Gegner heranzukommen, um den Nahkampf zu beginnen, überwanden die Tuareg die letzte gefährliche Distanz zum Feind durch hohe Geschwindigkeit. Es galt, möglichst wenig Zeit in der „Todeszone“ zu verbrin-gen. Entweder stürmten die Angreifer im Laufschritt auf den Gegner, wobei sie der große flexible Lederschild gegen Pfeilschüsse und Speerwürfe schützte. Allerdings schränkten mit dem Schild aufgefangene Geschosse die Beweglichkeit ein, so dass man sie im Laufen abschlagen und sich deshalb für kurze Zeit dem Beschuss der Verteidiger aussetzen muss-te.26 Die „Todeszone“ wurde auch im Reiterangriff überwunden. Lösten sich die Reihen der Verteidiger durch den Reiterangriff auf, sprangen die Tuareg von ihren Tieren und kämpf-ten zu Fuß weiter.

Im Allgemeinen jedoch suchten die Tuareg einen Überraschungseffekt zu erreichen, um möglichst ungehindert von Befestigungen oder einer „Todeszone“ den Nahkampf be-ginnen zu können. Dazu legten sie große Entfernungen in kurzer Zeit zurück oder nahmen weite Umwege in Kauf, um von unerwarteter Seite her angreifen zu können. Bei Raubzü-gen wurden regelmäßig Spione, sogenannte „Augen“, eingesetzt, die in der Nähe potentiel-ler Angriffsziele nomadisierten und Positionen sowie Stärke der Verteidiger ausspähten, ohne Verdacht zu erregen. Auf Kriegszügen zogen der eigentlichen Truppe Späher auf schnellen Tieren voraus, die bei Gelegenheit Gefangene nahmen, um sie über den Gegner befragen zu können. Schlüssel zum Erfolg war sowohl bei Raub- wie bei Kriegszügen, die schnelle Annäherung in hoher Geschwindigkeit. Sie wurde erzielt durch sehr lange Ritte ohne Pausen vom Morgengrauen bis in die Nacht, durch die Mitnahme von nur einem Mi-nimum an Gepäck, manchmal auch durch die Anlage von Lebensmittel- und Wasserdepots auf dem geplanten Weg (Lhôte 1955: 370). Gelegentlich wurden Kamele und unbeladene Pferde mitgeführt; die Kamele trugen Gepäck, Lebensmittel, Wasser und Reiter bis in die Nähe des Angriffsziels, die Pferde dienten zur schnellen Überwindung der „Todeszone“.

Zwei Merkmale kennzeichneten also die Kriegführung der vorkolonialen Tuareg: Zum einen die schnelle Überwindung großer Entfernungen mit dem Ziel, überraschend nah an den Feind zu gelangen, zum anderen der Nahkampf mit den spezifischen Schockwaffen der Tuareg, Schwert, Schild und Lanze. Das erste Merkmal, die schnelle Überwindung großer Entfernungen, findet sich in allen nomadischen Kriegen. Das zweite Merkmal hingegen, die Bevorzugung des Nahkampfes mit Schockwaffen, ist ganz atypisch für die eurasischen Steppennomaden und kann als spezifische Kampfweise der Tuareg bezeichnet werden.

Diese beiden Merkmale lassen sich exemplarisch an dem Feldzug aufzeigen, den die Tuareggruppe der Kel-Ewey im Jahr 1850 gegen die arabischen Nomaden der Awlad Su-layman (Zeltners Umschrift) im Tschadseegebiet führten. Die Awlad Sulayman waren erst wenige Jahre zuvor, Ende 1842 oder Anfang 1843, aus ihren vorherigen Wohnsitzen in

26 Wie ein solcher Angriff vorgetragen wurde, berichtet Heinrich Barth: „Uórdugu (Wardugu), der Tapferste von allen südlichen Tuáreg“ sei bei der Wiedereroberung des von den Fulbe besetzten Goundam durch die Tuareg von seinem Pferd auf die Befestigungsmauer gesprungen und habe seinen Kameraden die Erstürmung der Befestigung ermöglicht, indem er mit seinem Schild alle Speere der Feinde auffing (Barth 1857c: 110-111).

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Tripolitanien nach Kanem ausgewandert (Zeltner 1993: 47). Dank ihrer großen Zahl, ihrer Kriegserfahrung, ihrer Waffen und Pferde27 dominierten sie sehr bald die ansässige Bevöl-kerung und unternahmen weiträumige Raubzüge, die sie bis ins Kawar führten, wo sie die Salzkarawanen der Kel-Ewey ausraubten. Um die Raubzüge der Awlad Sulayman zu unter-binden, durchquerten im Jahr 1850 7.000 Kel-Ewey in Eilmärschen über 800km (Luftlinie) das schwierige und beinahe wasserlose Wüstengebiet der Tenere bis nach Kanem. Hier fielen die Tuareg so schnell und überraschend über die Awlad Sulayman her, dass diese ihre große Überlegenheit an Schusswaffen nicht ins Spiel bringen konnten.28 Die Kel-Eweybegannen den Nahkampf und töteten die Hälfte der Bevölkerung der Awlad Sulayman, bevor die übrigen fliehen konnten (Barth 1857b: 56-57).

So vernichtend der Nahkampf mit Schockwaffen für die Angegriffenen auch sein kann, so gefährlich ist er für die Angreifer. Um ihre Waffen gebrauchen zu können, müssen sie sich denen ihrer Gegner aussetzen. Sie müssen bereit sein, schwere Verwundungen oder sogar den Tod in Kauf zu nehmen. Diese Bereitschaft ist nicht ohne weiteres vorauszuset-zen. Viele vormodernen Krieger suchten den Nahkampf, wo immer möglich, zu vermeiden. Zwar kannten sie viele Schockwaffen, das heißt aber nicht, dass sie auch sehr nah an den Gegner herangetreten wären. Die meisten Gruppen kämpften nämlich zunächst mit Dis-tanzwaffen und setzten ihre Schockwaffen erst bei der Verfolgung Fliehender ein (Keeley 1996: 50).

Offenbar setzt der natürliche Selbsterhaltungstrieb dem Menschen eine Sperre, sich ohne Not in tödliche Gefahr zu begeben. John Keegan hat gezeigt, dass der direkte Kampf „Mann gegen Mann“ erst in den Kriegen der griechischen Stadtstaaten entstanden ist; vor-herige Gesellschaften kannten den direkten Kampf nicht (Keegan 1997: 354ff.). Die Über-windung der Furcht des Menschen, sich im Nahkampf unmittelbar todbringenden Waffen auszusetzen, bewertet Keegan als „eine ungeheure Tat“ der antiken Griechen (Keegan 1997: 364).

Die Überwindung der Todesfurcht beim Gebrauch von Schockwaffen im Nahkampf verlangt zunächst langjährige Übung. Die Übungen haben ein doppeltes Ziel: Zum einen sollen die körperlichen Voraussetzungen für diese Art des Kampfes, Stärke, Gewandtheit, Reflexe und ein gutes Auge, gelegt werden. Die Einübung dieser körperlichen Fähigkeiten ist wichtig, sogar lebensnotwendig, weil der Nahkampf mit Schockwaffen an den mensch-lichen Körper gebunden ist. Er gleicht dem Gebrauch einfacher Werkzeuge, die den menschlichen Körper, seine Kraft und Geschicklichkeit, sozusagen nur verlängern und verstärken. Darin unterscheiden sich Schockwaffen von (modernen) Distanzwaffen, die kaum körperliche Fähigkeiten erfordern und deren Bedienung deutlich an die einer Maschi-ne oder einer maschinellen Anlage erinnert; in beiden Fällen ist der Zusammenhang zwi-schen Tätigkeit und Ergebnis nicht unmittelbar sinnlich erfahrbar. Je besser daher körperli-che Fähigkeiten ausgebildet werden, umso ungefährlicher wird der Kampf mit Schockwaf-fen. Zum anderen sollen die Übungen an Nahkampfsituationen gewöhnen. Im Angesicht der Gefahr, der man im Nahkampf im wahrsten Sinn des Wortes ins Auge sehen muss, soll

27 Rolf Overweg, Mitglied der britischen Mission unter James Richardson, der auch Heinrich Barth angehörte, schätzte die Zahl der Awlad Sulayman auf insgesamt 10.000 Personen, die Zahl ihrer Musketen auf 1.000 und die Zahl ihrer Pferde auf 500, was ihnen gegenüber jeder anderen Gruppe in der südlichen Sahara und im Sudan eine große militärische Überlegenheit verschaffte (Brief „Overweg to His Lordship“; zit. in Zeltner 1993: 73, FN 152). 28 Einige Jahre später allerdings, im Jahr 1854, berichtet Barth von Gerüchten, nach denen die Kel-Ewey im Krieg gegen die Tuareggruppe der Kel Gress ebenfalls 1.000 Musketen eingesetzt haben sollen (Barth 1857c: 341).

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der Kämpfer nicht von Furcht und Panik gelähmt werden, sondern die nötigen Bewegungen routiniert ausführen. Ähnlich wie die alten Griechen übten deshalb die vorkolonialen Tua-reg, besonders der Kriegeradel, ihre Jungen schon ab 6-7 Jahren in der Kriegskunst, vor allem im Nahkampf. Man verwandte zunächst Waffen aus Holz, dann stumpfe Waffen. Zudem gab es eine Reihe unterschiedlicher Sportarten und sportlicher Wettkämpfe, die ebenfalls auf den Kampf vorbereiteten (Nicolas 1950: 185ff.).

Die Bereitschaft, den Kampf „Mann gegen Mann“ zu führen, wurde durch einen aus-gesprochenen Kriegerethos gefördert, der persönlichen Mut und Standhaftigkeit hoch be-wertete, Feigheit und Weichen aber gering schätzte. In einer Untersuchung über die „Be-wältigung von Todesangst“ bei den Tuareg zeigt Gerd Spittler, wie sehr dieser Kriegerethos kulturell durch das Konzept von Ehre und Schande sowie sozial durch die Beziehung der Kombattanten zu den Nicht-Kombattanten der Gesellschaft, d.h. zwischen Männern und Frauen, verankert gewesen ist (Spittler 2000). Die traditionelle Poesie thematisiert in den Stücken über Krieg und Kampf meist zugleich die Liebe der Männer zu den Frauen. Es sind die Frauen, um deren Anerkennung und Liebe willen der Mann Mut im Kampf beweisen will und die ihrerseits den Tapferen besingen sowie den Feigen mit Spott überschütten. Auf diese Weise drückt sich die kulturelle und soziale Einbettung des Kriegerethos aus. Über-haupt scheinen Poesie und Krieg bei den Tuareg eng zusammenzugehören. Die umfang-reichste Sammlung zur Poesie der (Hoggar)-Tuareg von insgesamt 575 Liedern und Ge-dichten enthält zahlreiche Stücke, die verschiedene Aspekte des Krieges zum Thema ma-chen (Foucauld 1925-1930). An zweiter Stelle stehen Stücke über die Liebe; sehr oft wer-den Liebe und Krieg in einem Gedicht behandelt, ein Phänomen, das schon in den frühen Arbeiten zur Poesie der Tuareg aufgefallen war.

Der Linguist Henri Basset legte im Jahr 1920 einen „Versuch über die Literatur der Berber“ vor, in dem er u. a. die traditionelle, d.h. vorkoloniale, Dichtung der Tuareg analy-sierte (Basset 1920). Basset stützte seine Analyse neben einigen früheren Veröffentlichun-gen vor allem auf die Gedichtsammlung des damals wenige Jahre zuvor (1916) ermordeten Père de Foucauld, die zwar zu diesem Zeitpunkt noch unveröffentlicht war, Basset aber in Manuskriptform vorlag. Basset unterteilt die traditionelle Dichtung der Tuareg nach den behandelten Themen in „geographische Gedichte“, „Liebesgedichte“, „Epigramme“ und „Gedichte über den Krieg“. Dabei zeigt er sich überaus erstaunt, dass in den „Gedichten über den Krieg“ dieser „so kriegerischen Bevölkerung“ nur wenig vom Krieg, der „Liebe zur Schlacht, zum Raub oder zur Unabhängigkeit“ (Basset 1920: 386), die im bewaffneten Kampf zu verteidigen wäre, die Rede ist, dafür aber umso mehr von der Liebe und nächtli-chen Zusammentreffen mit der Geliebten oder anderen schönen Frauen. Ausnahmen seien nur die Gedichte, die große bedeutende Kriege („les grands dangers nationaux“, Basset 1920: 386) behandeln. Diese Gedichte seien allerdings meist sehr kurz und von geringer Qualität. Tatsächlich behandelten die vorkolonialen Poeten der Tuareg in ihren Gedichten kaum jemals den eigentlichen Kampf. Vielmehr beschrieben sie ausführlich ihre Vorbereitungen und (persönlichen) Motive zum Krieg, vor allem aber thematisieren sie ihren Schmerz ihre Familien, Frauen oder Geliebte verlassen zu müssen. Ähnlich lebendig und anschaulich wie beim Abschied sei die „Kriegspoesie“ der Tuareg nicht in ihren Kampfbeschreibungen, sondern erst wieder bei der Rückkehr der Krieger zu Frauen und Zelten. Tatsächlich folgten (fast) alle traditionellen dichterischen Kompositionen über den Krieg demselben Muster: Trauer, die Frauen zu verlassen; Beschreibung der Ausrüstung und des zurückgelegten

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Weges, der Kampf, Freude über den Sieg und vor allen Dingen die Rückkehr; Anrufung der Frauen, die man bald wieder finden werde (Basset 1920: 389).

Dass Krieg und Poesie bei den Tuareg eng miteinander verwandt sind, lässt sich in ähnlicher Weise an einer Dokumentation über die Geschichte der Tuareg im Westen Nigers belegen, die als zweisprachige Arbeit veröffentlicht wurde und den Zeitraum von 1804 bis 1918 umfasst (Alojaly 1975). Von den insgesamt 35, oft mehrseitigen Gedichten behandeln 33 kriegerische Ereignisse, die meisten davon thematisieren zugleich die Liebe, so dass die Poeten aus dem Niger Bassets Beobachtungen bestätigen.

Ein Kriegerethos, das auf die Bevorzugung des Nahkampfes ausgerichtet ist, muss den Kampf aus der Ferne ablehnen. Der Anführer der Kel-Ewey im Feldzug gegen die Awlad Sulayman kannte sicherlich Schusswaffen und ihre große Zerstörungskraft. Dennoch ver-achtete er sie und die, die sie gebrauchten: „[...] wie er denn die Europäer für abscheuliche Barbaren hielt, weil sie in ihren Kriegen schonungslos so ungeheuere Schaaren von Men-schen töten könnten und Kanonen anstatt Speer und Schwert gebrauchten; denn die letzte-ren hielt er für die einzigen erlaubten und eines Mannes würdige Waffen, welche der Mensch gegen den Menschen gebrauchen dürfe“ (Barth 1857a: 559).

Selbst nachdem die Tuareg zu Anfang des 20. Jahrhunderts gegen die französische Armee viele Niederlagen erlitten und dabei „am eigenen Leib“ erfahren hatten, wie wir-kungslos ihre bevorzugte Taktik des Nahkampfes mit Schockwaffen gegen Karabiner und Maschinengewehre war, waren sie nur schwer zu bewegen, ihren Kriegerethos und den direkten Kampf „Mann gegen Mann“ aufzugeben. Nur wenige waren bereit, den Nahkampf gegen den Kampf aus der Distanz, den direkten Kampf gegen indirektes Vorgehen, Stand-halten gegen Ausweichen, einzutauschen. Der Anführer des Aufstandes der Aïr-Tuareg gegen die Franzosen während des Ersten Weltkrieges, Kawsan, hatte während der langen Jahre seines Exils moderne Kriegführung kennen gelernt und einen anderen Kriegerethos angenommen.29 Als er Ende 1916 an der Spitze einer Truppe von etwa 130 Mann, die wie er aus lang gedienten und in moderner Kriegführung erfahrenen Soldaten bestand, ins Aïr (Nordniger) einzog, hatte er große Mühe, die Aïr-Tuareg, die sich ihm in großer Zahl an-schlossen, zu einer anderen Kampfführung zu bewegen. Während der langen Belagerung des französischen Militärposten von Agadez um die Jahreswende 1916/17 verwandte er weniger Zeit auf den eigentlichen Kampf, als darauf, seinen Anhängern die neue, indirekte Kriegführung zu erläutern:

„Der Krieg, den wir führen, ist nicht wie der von früher zwischen zwei gleichen Tua-reggruppen. [...] Ich verlange von euch, dass ihr wie Wölfe oder wie Schakale kämpft,

29 Kawsan ist um 1880 im Aïr geboren, seine Familie aber wanderte 1899 nach Süden in den Damergou (Süd-Niger) aus (Claudot-Hawad 1990: 29ff.) Die ausführlichste Beschreibung seines weiteren Lebensweges gibt Jean-Louis Triaud. Demnach schließt er sich im Jahr 1909 in Gouro (Kanem, im heutigen Tschad) der islamischen Bruderschaft der Sanusiyya an und nimmt an einer ersten Schlacht gegen die Franzosen teil (Schlacht von Oua-chenkalé, 27. November 1909). Dann wird er im Ennedi (Tschad) Mitglied des Dar, nomadischer Truppen unter-schiedlicher ethnischer Herkunft, der die Sanusiyya unterstützt. Am 8. Mai 1911 können französische Truppen 400 Kamele von Kawsan rauben, der mittlerweile als einer der Anführer des Dar erscheint. Nach einem kurzen Auf-enthalt in Darfur (heutiger Sudan) kehrt er in den Borkou (nach ‘Aïn Galakka, Nordtschad) zurück. Von da geht er Ende 1913 oder Anfang 1914 in den Fezzan, wo er zum Mitglied des Generalstabs der Sanusiyya aufsteigt. Am 28. November 1914 greift er die italienische Garnison von Ubari an, die nach zweiwöchiger Belagerung fällt. Ab April 1915 wird er zum militärischen Kommandanten der Region von Ghat. Seine Präsenz in Ghat ab August 1916 führt dazu, dass sich die Franzosen aus Südostalgerien zurückziehen (und sogar den Nachbarort Djanet räumen). Von Ghat aus bereitet er ab Herbst 1916 die Expedition in das Aïr vor (Triaud 1999: 150ff.).

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die jedes Mal, wenn sie zugeschlagen haben, die Flucht ergreifen und dann den Kampf von neuem aufnehmen, die ein Stück herausreißen und sich dann retten, sich verste-cken und wiederkommen. Ihr sollt nicht Löwen sein, sondern Schakale“ (zit. nach Claudot-Hawad 1990: 35). 30

Allerdings war Kawsan nicht sehr erfolgreich. Viele Tuareg lehnten die von ihm angewand-ten Kleinkriegstaktiken ab, eben weil sie dem herkömmlichen Kriegerethos widersprachen. Selbst Mitglieder seiner eigenen Familie verweigerten ihm die Gefolgschaft, da er auch Wehrlose nur deshalb angriff, ausgeplünderte oder tötete, weil sie sich den Franzosen un-terworfen hatten.

3.2 Die Kultur des Krieges während der aktuellen Tuaregrebellionen

Dieser Kriegerethos, etwa die Abneigung, gegen Wehrlose vorzugehen – allerdings nicht, sie auszurauben! –, und die Bevorzugung des Nahkampfes, wirkt bis heute nach. Zwar gehen die heutigen Rebellen nicht mehr, wie noch die Tuareg Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, gegen Maschinengewehre mit Schwert und Lanze vor, aber in dem Ei-genbild, das sie von sich selber zeichnen, gleichen sie den vorkolonialen Kriegern, als han-delten und kämpften sie nach den Maximen des gleichen Kriegerethos:

„Unsere Revolution geht nicht gegen die Kader, noch gegen die Stammeshäuptlinge, noch gegen die ‚Armen‘. Sie richtet sich allein gegen die Militärs, damit sie aus die-sem Land verschwinden. Im Krieg im Tschad sollten die Brunnen vergiftet werden [auf libyschen Befehl]. Ich bin dagegen aufgestanden und habe ihnen gesagt: ‚Wir sind nicht hierher gekommen, um gegen die ‚Armen eines Landes zu kämpfen. […] Ich werde hier nicht das Gleiche tun!‘“

[...]

„Wir wissen zu kämpfen. Ich halte meine ,Kalasch‘ und kann damit kämpfen.“ Er zeigt eine Verletzung an seinem Arm. „Die habe ich aus dem Libanon.“

[...]

G.K.: „Sind die Palästinenser tapfer?“

„Es gibt unter ihnen Tapfere, bei Gott. Aber die Araber lieben das Leben. Mit einem Fuß im Krieg, mit einem im Leben, mit einem im Geschäft, mit einem bei den Frauen. Wir denken nur an den Krieg. Ich z.B. kann nicht gut laufen, Zickzack rennen und mich hinwerfen. Wenn ich mich einmal hingeworfen habe, komme ich nicht mehr hoch, schon wegen des Gewichts, die Feldflasche, die vielen Magazine, die Granaten. Also ziehe ich vor, mich erst gar nicht hinzuwerfen und gehe einfach los, bis ich beim Feind bin. In dem Krieg gegen ‚Mali‘ [d.h. gegen die malische Armee] habe ich keine einzige Verletzung bekommen. Malische Soldaten schießen so, den Kopf nach unten, immer rafale [frz. für Feuerstoß]. Sie haben Angst und deshalb halten sie einfach in Richtung des Feindes. Aber immer rafales, was soll denn das? Rafale macht man nur, wenn der Feind in einer Gruppe zusammen ist, zehn oder 15 oder so. Ansonsten im-

30 Hierbei handelt es sich um die Wiedergabe der Erinnerungen zweier Mitkämpfer. Allerdings sind die Erzählun-gen 1989 und 1990 aufgenommen, also über 70 Jahre nach der zitierten Rede.

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mer nur eine Kugel, genau zielen und eine Kugel. Im Krieg zwischen ARLA und MPA [zwei Rebellenbewegungen der Tuareg] haben fast alle, die gefallen sind, eine Kugel in die Stirn bekommen. Beide Seiten haben genau gezielt. Beim Kampf von Tigharghar ist mein Turban mehrmals durchlöchert worden. Ich hatte einen großen Turban, der mehrere Durchschüsse bekommen hat; aber ich selbst nichts, nicht mal ei-ne Verletzung. Wie kommt das wohl? Es gab im gesamten Krieg mit ‚Mali‘ keine Auseinandersetzung, die so hart war wie unsere eigenen Kämpfe“ (Klute 1996a).

In dieser Gesprächspassage über die Kampfweise der heutigen Rebellen erscheinen alle Elemente des Kriegerethos der (vorkolonialen) Tuareg: Der Kampf richtet sich ausschließ-lich gegen Wehrhafte, das sind Bewaffnete, aber nicht gegen Wehrlose; das gilt sogar dann, wenn es sich um die „Armen“ eines anderen Landes handelt. Dann wird der persönliche Mut im Kampf angesprochen. Während andere Ethnien ihr Verhalten im Kampf von ver-schiedenen Beweggründen leiten lassen, wie etwa die Araber, „denken die Tuareg nur an den Krieg“. Der Wunsch, persönlichen Mut im Kampf zu zeigen, überragt alle anderen Motive. Im Vergleich zu anderen Ethnien ist deshalb ihr Mut unübertroffen. Diesen Mut beweist er dadurch, dass er alle Gefahr missachtend direkt auf den Feind losgeht, ohne Deckung zu suchen. Dabei kritisiert er heftig das Vorgehen der malischen Soldaten, die kein Ziel anvisieren, sondern mit automatischen Waffen eine „Todeszone“ vor den Feind legen, um sein Näherkommen zu verhindern. Allerdings ist dieses Verhalten, das er mit der Angst der malischen Soldaten erklärt und als Feigheit abtut, genau das, was vom modernen Soldaten erwartet wird. Abgesehen von Scharfschützen- und Eliteeinheiten, trainieren die heutigen Armeen kaum mehr das Zielen und Treffen ausgewählter Ziele, sondern die Sol-daten sollen den ihnen zugewiesenen Abschnitt in ein Gebiet verwandeln, in das der Feind nicht eindringen kann. Dabei spielt „Munitionsverschwendung“, einer der größten Fehler des Soldaten in früheren Zeiten, heute kaum noch eine Rolle (Keegan 1991: 365-366). In dieser Hinsicht verhalten sich die Tuareg keineswegs wie moderne Soldaten, die durch Dauerbeschuss einen Frontabschnitt in eine „Todeszone“ verwandeln sollen, sondern sie zielen und schießen, um ein bestimmtes Ziel zu treffen. Hier liegt ein weiterer Unterschied zum „modernen“ Kampfverhalten. Der „moderne“ Soldat kann kaum mehr erkennen, ob er einen Gegner getroffen hat, weil er meist auf niemanden bestimmten zielt oder zu weit entfernt ist, um die Auswirkung seines Schießens sehen zu können. In diesem Sinn erlebt der „moderne“ Soldat den Akt des Tötens nur ausnahmsweise als Ergebnis seines Han-delns. Dagegen suchten die Rebellen den einzelnen Feind anzuvisieren und zu treffen. Dazu mussten sie sich so weit nähern, dass sie eine Chance auf einen gezielten Schuss bekamen; sie sahen denjenigen, den sie töten wollten. Wenn mein Gesprächspartner anspricht, dass in den Kämpfen der Rebellenbewegungen die Opfer durch einen gezielten Schuss gefallen sind, meint er eben dies: Wie im Nahkampf wurde die Tötung der Feinde als bewusster Akt vollzogen. Zugleich macht er deutlich, dass alle Kombattanten dem herkömmlichen Krie-gerethos entsprochen haben: Sie sind nicht gewichen und haben dem Feind den Rücken gezeigt, sondern sie wurden durch gezielte Schüsse von vorn getötet, was ihre Standhaftig-keit und ihren Mut unter Beweis stellt. Sie gingen in den Kampf mit der doppelten Bereit-schaft, zu töten und getötet zu werden.

Aufschlussreich ist die Erwähnung des Turbans, den er bei der Eroberung der Basis von Tigharghar getragen hat. Wichtiger als die Tatsache, dass der Turban von Kugeln durchlöchert wurde, ist, dass er einen Festtagsturban angelegt hatte. Nun kann man fragen, warum er nicht im Kampfanzug, sondern in Festkleidung am Kampf teilnahm, obwohl er

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doch große körperliche Strapazen erwarten musste. Auf jeden Fall ist das Tragen eines festlichen Turbans ein deutlicher Verweis auf die Kämpfe der vorkolonialen Tuareg. Vor allem in den Gefechten der Tuareg untereinander trugen die Krieger reiche Festkleidung, die durch kreuzweise über die Brust geschlungene Baumwollbänder oder Ledergürtel zu-sammengehalten wurde, um Bewegungsfreiheit zu gewährleisten.31 Im „Bruderkrieg“ des Jahres 1994 nehmen die Tuareg diesen Brauch wieder auf. Sie zeigen, dass sie nach dem-selben Kriegerethos wie ihre Vorfahren zu kämpfen gedenken.

Die Wahl einer bestimmten Kleidung ist von größerer Symbolik, als man meinen möchte. Bei allen menschlichen Gruppen ist Kleidung mehr als Schutz gegen Witterungs-einflüsse; sie bewahrt vor übernatürlichen Kräften oder menschlichen Einwirkungen (den „bösen Blick“); sie schafft Identität, indem sie Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder den Status innerhalb dieser Gruppe markiert. Im Zusammenhang der Tuaregrebellionen kommt der Wahl des Turbans besondere Bedeutung zu, wie generell die Kopfbedeckung von allen Kleidungsstücken die größte Symbolkraft und entsprechend den größten Variantenreichtum aufweist (Nixdorf 1987: 100). In den Kriegen gegen die Armeen von Mali und Niger trugen die Rebellen den kurzen Turban der vorkolonialen Krieger, der zwar Mund und Stirn be-deckt, Kopf und Haupthaar aber freilässt. Sie verstießen bewusst gegen die bis dahin herr-schende Mode, nach der immer längere Stoffbahnen in immer kunstvolleren Wicklungen um den Kopf geschlungen werden mussten: ein äußeres Zeichen für die kommende neue Gesellschaft. Viele banden den Turban ganz nachlässig, womit sie Verachtung für geltende Konventionen zeigten. In ähnlicher Weise hatte schon Kawsan zu Anfang des 20. Jahrhun-derts gehandelt: Er trug in der Regel überhaupt keinen Turban, sondern einen Fez oder ein Kopftuch, so dass ihn schon das Fehlen einer konventionellen Kopfbedeckung als politi-schen und militärischen „Neuerer“ der herkömmlichen Tuareggesellschaft auswies.

Nun kann man von dieser Selbstdarstellung nicht unmittelbar darauf schließen, ob und wieweit die modernen Tuaregrebellen dem hergebrachten Kriegerethos wirklich entspro-chen haben. Tatsächlich sind die Tuaregrebellionen in Mali und Niger bemerkenswert ge-mäßigte Kriege gewesen, vor allem, wenn man sie mit anderen aktuellen Kleinkriegen vergleicht, in denen nicht nur die regulären Armeen, sondern auch die Kleinkrieger kaum in Bewaffnete und Unbewaffnete, sondern nur in Anhänger und Gegner differenzieren. In den Tuaregrebellionen blieben der Zivilbevölkerung auch deshalb größere Opfer erspart, weil sich die Rebellen weitgehend an einen Ethos hielten, der die Tötung unbewaffneter „Ar-mer“ als Feigheit verurteilt.

Es mag erstaunen, dass sich auch das zweite Merkmal der Kriegführung der (vorkolo-nialen) Tuareg in diesem Krieg wieder finden lässt: der Nahkampf „Mann gegen Mann“. Die Rebellen folgten keineswegs immer den Grundregeln des Kleinkrieges, nach denen man schnell zuschlagen, sofort ausweichen und ein Gefecht nur dann annehmen soll, wenn man numerisch überlegen ist. Tatsächlich suchten sie bei verschiedenen Gelegenheiten den Nahkampf und griffen selbst dann an, wenn sie an Zahl und Waffen unterlegen waren. Diese Beobachtung lässt sich besonders für den Krieg in Mali und hier vor allem für die erste Phase, bis zu den ersten Friedensvereinbarungen von Januar 1991 belegen.

Schon die erste Aktion der Rebellen Ende Juni 1990 gegen den Ort Menaka wurde wie ein Angriff vorkolonialer Tuareg geführt. Die Angreifer hatten sich unbemerkt genähert

31 Das Tragen festlicher Kleidung wird in der traditionellen Dichtung immer wieder erwähnt (Foucauld 1925-30). Hélène Claudot-Hawad gibt an, dass Festkleidung vor allem in den Kämpfen innerhalb einer Rachebeziehung zweier Tuareggruppen getragen wurde (Claudot-Hawad 1993: 17).

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und drangen schnell und überraschend gegen 4 Uhr morgens in den Ort ein. Eine kleinere Gruppe wandte sich zum Gefängnis, überwältigte die Wärter und befreite die Gefangenen; eine größere Gruppe griff den Gendarmerieposten an. Die Rebellen begannen keine Be-schießung aus der Distanz, sondern gaben einige Feuerstöße über die Hofmauer ab und drangen dann sofort in das Gebäude ein. Fast alle Opfer wurden mit Schwertern und Mes-sern getötet.

Ursprünglich hatten die Rebellen geplant, verschiedene Militär- oder Gendarmeriepos-ten im Norden des Landes (die von Menaka, Kidal, Tessalit, Abeïbara, Tin-Essako und Tin Zaouatène) zeitgleich (am 4. Juli 1990 um vier Uhr morgens) und in ähnlicher Weise, d.h. durch schnelle, überraschende Annäherung und im Nahkampf zu nehmen. Dieser erste Plan musste geändert werden, nachdem eine Zollpatrouille am 28. Juni das Rebellenfahrzeug, das Waffen und Munition für den Angriff auf die Militärgarnison von Kidal transportierte, aufgebracht hatte.32

Für den Angriff auf den Militärposten von Kidal, der größte und am stärksten besetzte Posten der geplanten Angriffspunkte (1 Kompanie Infanterie, 10 Schützenpanzer, 3 Batte-rien Artillerie, zusammen 240 Mann), waren nur 30 Kombattanten mit 5 automatischen Waffen vorgesehen.33 Das war ein Angriffsplan, der allen Regeln der Kriegskunst und vor allem denen des Kleinkrieges gänzlich widersprach; während Militärhandbücher für einen Angriff unbedingt Überlegenheit voraussetzen,34 wollten die Rebellen die Kaserne von Kidal bei einer Unterlegenheit von eins zu acht erobern! Zwei Kombattanten mit einem Maschinengewehr sollten den Eingang der Kaserne überwachen. Die übrigen, ausgerüstet mit vier Sturmgewehren, einigen Granaten und wiederum vor allem mit Schwertern und Messern, sollten in die Anlage eindringen und die Soldaten im Nahkampf angreifen. Außer der Erbeutung von Waffen zielten die zeitgleichen Angriffe auf verschiedene Militärposten darauf, die malische Regierung durch einen einzigen Schlag moralisch soweit zu erschüt-tern, dass sie zu sofortigen Verhandlungen bereit wäre. Sollte das nicht gelingen und sollte die Regierung Verhandlungen ablehnen, wollten die Rebellen mit den erbeuteten Waffen einen Kleinkrieg beginnen.

In ähnlicher Weise, d.h. ebenfalls im Nahkampf, wurde am 16. Juli 1990 der Gendar-merieposten von Tarkint erobert. Hier gebrauchten die Rebellen die List des „Trojanischen Pferdes“, um in den Ort und nah an den Gendarmerieposten zu gelangen. Als „Trojanisches Pferd“ nutzten sie einen algerischen LKW mit Datteln, den sie zuvor angehalten hatten. Die beiden Gendarmen, die zur Kontrolle an das Fahrzeug herantraten, wurden von den auf der Ladefläche verborgenen Kombattanten überwältigt; die übrigen Gendarmen flohen. Die Rebellen besetzten den Ort und plünderten den Gendarmerieposten aus.

Auch beim Angriff auf den Posten von Abeïbara am 28. Juli 1990 wurde der Erfolg im Nahkampf und fast nur mit blanken Waffen erzielt. Während ein Kombattant den Eingang

32 Die Ladung des aufgebrachten Fahrzeuges bestand aus einem Maschinengewehr, vier Kalaschnikow, mehreren Dutzend Granaten, mehreren tausend Patronen, Tarnuniformen, Messern, Lebensmitteln, Personalausweisen und zwei Karten der Region, auf denen verschiedene Angriffspunkte, die Namen der für die jeweiligen Angriffe vor-gesehenen Kombattanten und ihre Bewaffnung spezifiziert waren (Mariko 2001: 139-140). 33 Für die Darstellung des Angriffsplans auf den Militärposten von Kidal beziehe ich mich auf Informationen, die die malische Armee in Verhören mit gefangenen Rebellen erhoben hat (Maiga 1990). Die Darstellung des An-griffsplans in diesem Dokument wurde mir in Gesprächen mit Offizieren der Rebellen bestätigt. 34 Mao Tse-tung etwa verlangte für das einzelne Gefecht eine Überlegenheit der Kleinkrieger von fünf zu eins (Heydte 1986: 83). Ähnlich die Kleinkriegsanleitung des Major von Dach, der für die Anwendung von offener Gewalt zu „starker Überlegenheit“ rät (Dach 1972: 57).

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des Postens beschoss, so dass die Aufmerksamkeit der Besatzung in seine Richtung gelenkt wurde, drangen die übrigen von hinten durch die Fenster in das Gebäude ein und töteten die Besatzung mit Messern.35

Dass die Kombattanten der Rebellen bei den meisten Angriffen der zweiten Jahres-hälfte 1990 (so auch bei den Angriffen auf den Militärposten von Bouressa am 9. August, am 10. August und am 3. September 1990)36 nicht aus der Ferne schossen, sondern, wo immer möglich, den Nahkampf suchten und hierbei auch blanke Waffen gebrauchten, hat die Soldaten der malischen Armee tief beeindruckt; ihre Kampfmoral sank schnell, so dass viele schon bei Beginn eines Rebellenangriffs von Panik erfasst wurden und flohen. In einigen Fällen brachte aber auch die Flucht kein Heil. Unter den Geflohenen hat es mehrere Dursttote gegeben, andere wurden von den Rebellen gefangen genommen oder erschlagen.

3.3 Das Gefecht von Touksemen37

Das Gefecht von Touksemen vom 3. auf den 4. September 1990 war ohne Zweifel die schwerste militärische Auseinandersetzung der Tuaregrebellionen sowohl in Mali als auch in Niger. Die Niederlage, die die malische Armee hierbei erlitt, hatte weitreichende Konse-quenzen: Die Kampfmoral der malischen Soldaten wurde so nachhaltig erschüttert, dass die Regierung sich gezwungen sah, Verhandlungen aufzunehmen und die Rebellen als „regulä-re Kombattanten“ anzuerkennen. Die Niederlage von Touksemen änderte den Charakter der Auseinandersetzungen in Mali. Bis dahin hatte die malische Regierung ausschließlich auf eine militärische Lösung gesetzt; die Armee hatte den Auftrag, die Rebellen, als „Banditen“ und „Kriminelle“ angesehen, zu ergreifen oder zu töten. Jetzt suchte sie eine Verhandlungslösung. Was auch immer in der Folge verhandelt wurde und welche weiteren Ergebnisse die malische Seite bei den ver-schiedenen Verhandlungsrunden jeweils noch anstrebte, oberstes Ziel war die Bewahrung

35 Die Angaben über die Opfer differieren. Die Rebellen gaben eine Gesamtzahl von 17 gefallenen Soldaten an; ein Bericht exilierter Tuareg aus Paris jedoch nennt drei Tote, zwei Vermisste und zwei Verletzte - in Bezug auf aufgefangene Funksprüche der malischen Armee (vgl. wiederum das Manuskript „Nous Touaregs du Mali“). In den Erinnerungen eines hohen malischen Offiziers werden elf Gefallene und vier Verletzte gezählt; die übrige Besatzung sei im Schutz der Nacht geflohen (Mariko 2001: 146). Von den Geflohenen sollen einige verdurstet sein, andere konnten erst einige Tage später wieder gefunden werden. 36 Der Posten von Bouressa wurde ein erstes Mal am Morgen des 9. August angegriffen. Die Rebellen, die in der Nähe versteckt waren, hatten beobachtet, dass die meisten Soldaten mit der Zubereitung des Frühstücks befasst waren. In der morgendlichen Geschäftigkeit gelang es ihnen, nah an den Posten heranzukommen und ihn schnell einzunehmen; die Soldaten, die sich noch in den Unterkünften oder im Dorf befanden, flohen in die Umgebung. Am selben Morgen lagerte eine Truppe, begleitet von 2 Schützenpanzern, die von Kidal aus zur Verstärkung ausgesandt worden war, unmittelbar südlich vor dem Ort. Sie hörte den Kampflärm und fuhr in den Ort, wo es einem Schützenpanzer gelang, in den Posten einzudringen. Obwohl die Rebellen den Schützenpanzer in Brand setzen konnten, indem einer der Kombattanten auf das Fahrzeug sprang und eine Granate durch die Sehschlitze warf, mussten sie sich vor der Übermacht zurückziehen. Am Morgen des 10. August griffen die Rebellen zur selben Stunde, die Morgenbeschäftigungen der Soldaten ausnutzend, und wieder im Nahkampf an. Diesmal konn-ten sie den Posten vollständig einnehmen und alle Soldaten entweder vertreiben oder töten. Nach Angaben der MPA sollen bei diesen beiden Angriffen 45 Soldaten gefallen sein, nach Angaben der malischen Armee jedoch 17 Soldaten (Mariko 2001: 152). 37 Die Rekonstruktion der Ereignisse von Touksemen beruht zum einen auf den angegebenen schriftlichen Doku-menten, zum anderen auf zahlreichen Gesprächen, die wir mit den am Gefecht beteiligten Tuareg führen konnten. Ebenso aufschlussreich wie der Besuch der Kampfstätte in Begleitung ehemaliger Rebellen war das ausführliche Interview mit Iyad ag Rhali, dem Generalsekretär und militärischen Chef der Rebellen, im Dezember 1998 in Kidal., in dem Hintergrund, Planung, Vorbereitungen und Ablauf erläutert wurden.

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der nationalen Einheit und zwar in der Form eines einheitlichen Nationalstaates; eine Um-wandlung Malis in eine föderative Republik oder die Gewährung einer in der Verfassung verankerten autonomen Region wurden ausgeschlossen. Nach Touksemen bot man deshalb die Integration in den malischen Staat an; verhandelt wurden jeweils nur die Form und das Ausmaß, in denen sie geschehen sollte. Folgerichtig stellte die malische Seite die fehlende Teilhabe der Tuareg am politischen, sozialen und ökonomischen Leben in Mali als ur-sprünglichen Grund für die Aufnahme ihres bewaffneten Kampfes dar, so dass sie die Tua-regrebellion sozusagen im Nachhinein legitimierte.38

Der Sieg von Touksemen wurde erreicht, weil die Rebellen wiederum nach Art der vorkolonialen Tuaregkrieger vorgingen: schnelle und überraschende Annäherung und Auf-nahme des Nahkampfes. In Touksemen stand Anfang September 1990 eine starke und gut ausgerüstete Armeeeinheit, die die Rebellen aus den Bergen nördlich und östlich von Bou-ressa vertreiben sollte. Ziel der Aktion war die dauerhafte Besetzung der Grenze zu Alge-rien, um Rückzugsmöglichkeiten nach Algerien abzuschneiden. Offenbar waren drei Kom-panien motorisierter Infanterie im Einsatz, die von Schützenpanzern und mehreren Batte-rien Artillerie unterstützt wurden. Die Gesamtstärke dieser Einheit muss mit mindestens 450 Mann angenommen werden.

Soldaten und Offiziere scheinen sehr zuversichtlich gewesen zu sein; zumindest ein Teil von ihnen war erst kürzlich im Norden eingetroffen und hatte noch nicht an Kämpfen teilgenommen. Vertrauend auf ihre große Zahl und gute Ausrüstung glaubten sie, ihre Auf-gabe relativ einfach erledigen zu können. Die Position um den Brunnen von Touksemen, von wo die Operationen geleitet werden sollten, schien gut gewählt. Sie ist nach drei Seiten durch natürliche Hindernisse geschützt: nach Osten und Süden durch eine Kette niedriger Hügel, nach Norden durch einen Felsriegel; nur in westlicher Richtung erstreckt sich offe-nes, von einigen Büschen und Bäumen bedecktes Gelände. Angesichts der großen Aridität der Region jedoch bietet die Vegetation nur wenig Deckung.

Der Kommandant der Einheit hatte die Artillerie (Mörser 82mm) auf den Hügeln öst-lich des Brunnens aufstellen und auf Bouressa selbst bzw. auf die Rebellenbasis Esali (öst-lich von Bouressa) ausrichten lassen. Der Grund dafür war, dass der Posten von Bouressa in der Nacht vom 2. auf den 3. September angegriffen worden war; bei diesem Angriff sind sieben malische Soldaten gefallen, die übrigen sind geflohen.39 Das Stabsquartier und die

38 In einer Rede vor Vertretern der politischen Parteien und der malischen „Zivilgesellschaft“ stellte der malische Präsident Konaré die malische Position folgendermaßen dar: „La rébellion de populations du Nord avait pour objectif légitime la renégociation des conditions de leur participation à la Nation malienne. Leur combat était d’essence démocratique. C’était un combat pour l’honneur et le développement. [...] La signature du Pacte Natio-nal a scellé une réconciliation que nous voulions définitive. [...] Nous avons tenu partout à réaffirmer ce qui n’était pas négociable: l’unité et l’intégrité du pays. [...] Le Mali est un et indivisible“ (Konaré 1994). 39 Hier beziehe ich mich auf eigene Erhebungen in Bouressa im Herbst 1998. Zuvor hatten die Rebellen die Zahl der Gefallenen bei diesem Angriff mit 70 angegeben, was sowohl den Aussagen der Dorfbewohner wie denen eines Kombattanten, der am Angriff beteiligt war, widerspricht. Zudem gibt es Widersprüche und Unklarheiten in den Dokumenten der Rebellen, die von dem Angriff berichten. Zunächst wurde angegeben, dass der Posten seit dem letzten Angriff am 10. August 1990 nicht besetzt gewesen und erst von bei Touksemen stationierten Truppen am Abend des 3. September neu besetzt worden sei; diese neue Besatzung sei dann in der Nacht angegriffen worden (vgl. die Mitteilung „Les Affrontements entre Touaregs et Armée Malienne“, die wahrscheinlich von Exil-Touaregs in Europa im September 1990 veröffentlicht worden ist). Das ist nicht richtig. Vielmehr ist der Posten schon am 12. August, zwei Tage nach dem letzten Angriff, neu besetzt worden (Mariko 2001: 152). In einem späteren Dokument ist das Datum des Angriffs, wiederum mit der Angabe von 70 Gefallenen, fälschlicherweise auf den 5. September, einen Tag nach dem Gefecht von Touksemen verlegt worden.

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Mannschaftszelte wurden um den Brunnen eingerichtet und nach Westen und Süden von den Schützenpanzern gedeckt. Nach Norden war die Position durch den Felsriegel ge-schützt, auf dem der Kommandant eine Gruppe Soldaten in flachen Schützenlöchern mit steinernen Brustwehren postiert hatte.

Die Rebellen hatten die Anwesenheit der malischen Armee in Touksemen rasch be-merkt, weil von dort aus der Posten von Bouressa, den man von ihnen besetzt glaubte, und die Basis von Esali beschossen wurden. Nach dem Angriff auf den Militärposten zogen sich die Rebellen nicht nach Nordosten, in ihre Basis, zurück, sondern schlugen einen weiten Bogen nach Westen und Süden. Dort versteckten sie ihre Fahrzeuge und näherten sich auf Kamelen der Einheit bei Touksemen. Hinter Büschen verborgen beobachteten sie den gan-zen Tag des 3. September von Westen aus Position und Aufstellung der Einheit; während-dessen war die Aufmerksamkeit der malischen Soldaten nach Norden und Nordosten ge-richtet.

In den frühen Morgenstunden des 4. September griffen die Rebellen die Position bei Touksemen an. Erstes Angriffsziel war der Felsriegel, der die Position der malischen Ar-mee nach Norden deckte. Die Rebellen, insgesamt 45 Mann, waren in zwei Gruppen ge-teilt: Eine Gruppe sollte von Osten, die andere von Westen kommen; der Felsriegel sollte also von den Schmalseiten her genommen werden. Ursprünglich war geplant, lautlos vor-zugehen und die Wachtposten mit Messern zu töten. Zwar gelang das nicht, weil einige Soldaten aufmerksam wurden, aber die Tuareg konnten den Felsriegel dennoch schnell besetzen und von hier aus die Position der malischen Einheit beschießen. Einige Kombat-tanten blieben in den Schützenlöchern zurück, die anderen drangen von der Nordseite, wo keine Schützenpanzer standen, in das Lager der malischen Soldaten vor, einige sogar bis in die Mannschaftszelte.

Von nun an lässt sich das Geschehnis nicht mehr genau rekonstruieren. Die Erzählun-gen derjenigen, die an dem Gefecht teilgenommen haben, lösen sich in einzelne, separate Bilder auf. Dafür scheint es im Wesentlichen zwei Gründe zu geben: Zum einen entwickel-te sich ein Nahkampf mit Messern und leichten Schusswaffen in und bei den Mannschafts-zelten; einige malische Soldaten wurden offenbar im Schlaf überrascht, so dass sie keine Zeit zur Gegenwehr fanden. Bei diesen Kämpfen „Mann gegen Mann“ war die ganze Auf-merksamkeit auf den Gegner und die unmittelbare Umgebung gerichtet; der Gesamtablauf des Geschehens wurde nicht mehr wahrgenommen. Zum anderen scheinen viele malische Soldaten mit Beginn des Kampflärms ziellos in alle Richtungen geschossen zu haben, weil sie in der Dunkelheit nicht erkennen konnten, von welcher Seite sie angegriffen worden waren. Dieses unkontrollierte Schießen verstärkte die herrschende Verwirrung, weil nun-mehr Kampflärm überall zu hören waren: vom Felsriegel auf der Nordseite des Lagers und mitten aus dem Lager. Außerdem griffen einige der Schützenpanzer, die im Westen und Süden den äußeren Verteidigungsring des Lagers bildeten, in die Kämpfe ein; weil sie vom Felsriegel aus beschossen wurden, erwiderten sie das Feuer. Andere Schützenpanzer aller-dings scheinen sich vor dem Beschuss zurückgezogen zu haben. Einer der Batteriechefs hatte zudem die Idee, mit Artillerie in das Gefecht einzugreifen: Eine der abgefeuerten Mörsergranaten traf einen Panzer, der sofort explodierte (Mariko 2001: 155).

In den Morgenstunden des 4. September war das Gefecht zu Ende. Die Rebellen nah-men so viele Waffen und Munition auf, wie sie tragen konnten, und zogen sich zu den war-tenden Kamelen zurück. Zu dieser Zeit wurden sie von einem der Schützenpanzer, bis da-hin hinter einem Hügel verborgen, beschossen, so dass sie sehr schnell flüchten mussten. In

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dem nächtlichen Durcheinander sind offenbar mehrere Dutzend Soldaten in die Umgebung geflohen; von diesen wurden drei (ein Kapitän, zwei Unteroffiziere) gefangengenommen, zehn Soldaten erreichten die nahe algerische Grenze und wurden von den Rebellen zur Gendarmeriestation im algerischen Tamanrasset gebracht. Andere haben sich verirrt, sind verdurstet oder wurden erschlagen.

Obwohl die malische Armee nie Zahlen veröffentlicht hat, scheinen ihre Verluste in Touksemen sehr hoch gewesen zu sein. Der malische Offizier, dessen Erinnerungen ich schon mehrfach zur Darstellung der Sichtweise der Armee benutzt habe, war zwar nicht persönlich an dem Gefecht beteiligt, verfolgte aber die Geschehnisse am Funk im Armee-hauptquartier in Kidal: „Kurz nacheinander trafen die Meldungen ein: ‚Zusammenstoß, 20 Tote‘, ‚Zusammenstoß, 30 Tote‘, ‚Zusammenstoß, 35 Tote!‘ Die Verlustzahlen hörten nicht auf zu steigen“ (Mariko 2001: 156). In Touksemen selber seien weit über 40 Soldaten ge-fallen, viel mehr aber seien, von Panik erfasst, irgendwohin in den „Busch“ geflohen, hätten sich verirrt und sind dann unter der heißen Septembersonne verdurstet oder an Erschöpfung gestorben. Die Armee habe über eine Woche benötigt, die letzten Toten zu finden (Mariko 2001: 155).

Die Rebellen geben die Verluste der malischen Armee mit 140 Gefallenen und 3 Ge-fangenen an. Zudem seien zwei Schützenpanzer (BRDM), ein LKW und neun Geländewa-gen zerstört worden. Ihre eigenen Verluste werden auf 15 Gefallene und sechs, z.T. schwer verletzte Kombattanten beziffert.40

Das Gefecht von Touksemen wurde von beiden Seiten als schwere Niederlage der ma-lischen Armee angesehen. Malische Offiziere bezeichneten es als „eine wirkliche militäri-sche Katastrophe“. Eine starke und gut ausgerüstete Truppe war von einem zehn Mal schwächeren Gegner angegriffen worden und hatte trotz ihrer großen numerischen Überle-genheit mindestens fünf bis sieben Mal höhere Verluste als jener erlitten, was zu der ge-nannten einhelligen Bewertung des Gefechts führte.

4 Schlussfolgerungen

Es muss erstaunen, mit welcher Eindeutigkeit beide Seiten die malische Armee als Verlie-rerin und die Tuaregrebellen als Sieger des Gefechtes von Touksemen bezeichnet haben. Es wäre auch die genau gegenteilige Bewertung möglich gewesen. Im Verhältnis zu den ein-gesetzten Kräften nämlich waren die Verluste der Rebellen leicht höher als die der mali-schen Armee: Die Rebellen mussten ein Drittel gefallene (15 von 45) Kombattanten hin-nehmen; betrachtet man die Gesamtzahl ihrer Ausfälle (einschließlich der Verwundeten), hatte sie gar Verluste von knapp 47% (21 von 45). Dagegen musste die malische Armee „nur“ Ausfälle zwischen etwa einem Fünftel (ca. 100 von 450) und etwa einem Drittel (153 von 450) der eingesetzten Truppe beklagen, je nachdem, welche Angaben man zugrunde legt. Das gleiche Bild ergibt sich, wenn man die Verlustraten zu den insgesamt zur Verfü-gung stehenden Kräften in Beziehung setzt. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Rebellen ca. 300 bewaffnete Kämpfer; von diesen waren maximal 150 so ausgerüstet und ausgebildet, dass sie solche Angriffe wie den von Touksemen vortragen konnten. Mit anderen Worten: Von ihren besten Kombattanten hatten die Rebellen 10% (oder mehr) verloren, von ihrer Gesamtstärke 5%. Die von der malischen Armee zur Niederschlagung der Tuaregrebellion

40 Vgl. wiederum die Mitteilung „Les Affrontements entre Touaregs et Armée Malienne“.

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insgesamt eingesetzten Kräfte lassen sich zu diesem Zeitpunkt auf 2 Drittel ihres Effektives von knapp 5.000 Mann schätzen, auf über 3.000 Soldaten also; von diesen hatte die mali-sche Armee in Touksemen knapp 5% verloren.

Noch in einer zweiten Hinsicht war die Niederlage der malischen Armee weniger ein-deutig, als es den Anschein hat. Üblicherweise sprechen wir derjenigen Seite den Sieg zu, die sich auf dem Schlachtfeld behauptet. Hier geschah das genaue Gegenteil: Obwohl die Einheit der malischen Armee nicht vom Brunnen von Touksemen vertrieben wurde (am nächsten Tag traf die von Kidal ausgesandte Verstärkung in Touksemen nicht die „Sieger“, sondern die „Verlierer“ demoralisiert und in völliger Auflösung an) und obwohl die Rebel-len am Morgen des 4. September überstürzt vom Ort des Gefechtes fliehen mussten, hielt man allgemein die Armee und nicht die Rebellen für die Verliererin von Touksemen.

Warum war in diesem Fall die Bewertung des Ausgangs von „Touksemen“ auf allen Seiten so eindeutig? Die Einheit der malischen Armee galt als „Verliererin“, weil sie nach dem Gefecht moralisch vollkommen zusammenbrach. Der moralische Zusammenbruch der Truppe von Touksemen hatte im Übrigen weitergehende Auswirkungen auf andere im Norden von Mali stationierte Soldaten, von denen viele kurz vor einer offenen Meuterei standen: Sie beschimpften ihre Vorgesetzten, bezichtigten sie der Unfähigkeit oder bedroh-ten sie; der Chef des Generalstabs der malischen Armee, der Oberst O.C., der sich zur Klä-rung der Lage selbst nach Kidal begeben hatte, musste sich angesichts der drohenden Hal-tung der Soldaten sogar einige Zeit versteckt halten (Mariko 2001). Es kam zu zahlreichen Fällen von Befehlsverweigerung oder „psychiatrischen Ausfällen“, wie psychische Zu-sammenbrüche in der Sprache der Militärärzte zusammenfassend genannt werden.

Damit ist ein erster Grund für den „moralischen Zusammenbruch“ und die Niederlage von Touksemen benannt: Die malischen Soldaten bekamen immer mehr das Gefühl, von unfähigen Offizieren geführt zu werden, deren Inkompetenz die Ursache für die erlittenen Niederlagen sein musste. Während sie zunächst den Grund für die militärischen Misserfol-ge in der „Konturenlosigkeit“ ihres Gegners gesucht und eine heimliche Komplizenschaft der Tuaregbevölkerung mit den Aufständischen unterstellt hatten, weshalb sie ein hartes Vorgehen nicht nur gegen Bewaffnete, sondern auch gegen unbewaffnete „Verdächtige“ einforderten – für viele Soldaten waren alle Tuareg verdächtig - , wandten sie sich nun gegen die eigene Führung. Sie waren nicht mehr bereit, deren Fehler, die ihnen das Leben kosten konnten, widerspruchslos hinzunehmen.

Der amerikanische Psychiater Jonathan Shay, der Veteranen des Vietnamkrieges mit psychischen Störungen behandelt, stellt als eine der wesentlichen Ursachen für „schwere posttraumatische Persönlichkeitsstörungen“ (post-traumatic stress disorder) den „Verrat an dem, was recht ist“ heraus (Shay 1998). Schon Achill in der Ilias, die Shay als Folie zur Erhellung der Berichte der Vietnamveteranen nutzt, fühlte sich „verraten“, weil ihm der Preis, den ihm seine Mitstreiter für Tapferkeit im Kampf zugesprochen hatten, von seinem Befehlshaber Agamemnon vorenthalten wurde. Als schlimmsten Verrat empfanden die Soldaten in Vietnam den Mangel an Kompetenz bei ihren Vorgesetzten, besonders wenn sie dadurch in unnötige Gefahr gerieten. Von den Schrecken des Krieges können sich Sol-daten erholen, aber der „Verrat an dem, was recht ist“, führt häufig zu psychischen Schädi-gungen, die sich im zivilen Leben fortsetzen. Die Reaktionen der Soldaten „haben sich im Laufe von drei Jahrtausenden nicht geändert: sie heißen immer noch Zorn und Empörung“ (Shay 1988: 55).

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Der zweite Grund für den moralischen Zusammenbruch der Einheit in Touksemen muss in der Art gesucht werden, mit der die Rebellen ihre Angriffe geführt haben. Wichtiger noch als die Tatsache, dass sie sich häufig unbemerkt näherten und den Angriff überraschend begannen, war, dass sie den Nahkampf suchten. Sie schienen bereit, ihren Gegnern so nah zu kommen, dass sie Blickkontakt hatten, um sie zielgerichtet und ohne zu zögern zu töten. In Touksemen war das Suchen der Nähe des Gegners extrem gesteigert. Hier drangen die Rebellen mitten in die Stellung einer Einheit ein, die angesichts ihrer Stärke und Ausrüs-tung selbst sehr zuversichtlich gewesen war, ihrerseits die Rebellen besiegen zu können; offenbar hatten weder Offiziere noch Soldaten ernsthaft mit einem Angriff gerechnet. Ein Zweites kommt hinzu. Der Angriff auf die numerisch überlegene und besser bewaffnete Einheit in Touksemen kam einem Selbstmordkommando gleich; die Angreifer mussten davon ausgehen, dass zumindest ein Teil von ihnen nicht überleben würde. Damit hatten die Rebellen unter Beweis gestellt, dass sie nicht nur bereit waren, ohne zu zögern zu töten, sondern auch bedenkenlos ihr eigenes Leben zu opfern. Diese Bereitschaft, in der Sprache der Militärs „Kampfwille“ genannt, demoralisierte die malischen Soldaten und führte zu ihrer Niederlage bei Touksemen.

In einem Ausblick auf die „Schlacht der Zukunft“ streicht John Keegan die Un-menschlichkeit zukünftiger Schlachten heraus. Sie würden noch um vieles grausamer und für den Einzelnen unerträglicher sein als die Schlachten des 20. Jahrhunderts. Seit der Er-findung des Schießpulvers habe ein Prozess der „Entpersönlichung“ (Keegan 1991: 381) des Soldaten eingesetzt, der in zukünftigen Schlachten eine weitere Steigerung erfahren werde. Aus dem Zweiten Weltkrieg wird berichtet, dass sich der einzelne Soldat gegenüber der ungeheuren Zerstörungsgewalt der Schlacht verloren fühlte; er empfand sich als Opfer, das dem Gang der Ereignisse hilflos ausgeliefert war. Gegner habe man kaum mehr sehen oder erkennen können; mit ihnen in Kontakt zu treten oder zu kommunizieren war nur selten möglich.

Im Vergleich zu den modernen, „entpersönlichten“ Schlachten zeichnet Keegan von den Schlachten des Mittelalters – und, so muss man hinzufügen, überhaupt von allen Schlachten, die ohne Schusswaffen geführt wurden – ein viel menschlicheres Bild. Die Gegner dieser Kriege waren nur eine Schlagweite voneinander entfernt und sahen sich von Angesicht zu Angesicht, um überhaupt kämpfen zu können. Sie mussten einander sogar in die Augen sehen – muss man Keegan ergänzen –, um die nächsten Schläge vorausahnen und parieren zu können. Auch die Dauer der mittelalterlichen Schlacht hatte menschliche Dimensionen. Sie bemaß sich nicht wie die heutigen Schlachten nach Tagen oder sogar Wochen, sondern nach Stunden, weil sie von der Kraft und Ausdauer der Waffenführenden begrenzt war. Schließlich seien auch die Verwundungen im Mittelalter insofern menschli-cher gewesen, als sie in Art und Ausmaß den Verletzungen des Alltags glichen. „Kurzum, der Schrecken und die Brutalität der Schlacht waren noch nach menschlichen Zeitbegriffen zu messen und in menschlichen Kategorien fassbar“ (Keegan 1991: 382).

Nun darf man durchaus fragen, ob nicht John Keegan in der Rückschau die Empfin-dungen der mittelalterlichen Menschen verklärt hat, denen Tod und Verwundung als ebenso grausam und unmenschlich wie uns erschienen sein mögen. Aber abgesehen davon, dass es für den Betroffenen keinen Unterschied macht, durch welche Waffe er getötet wird, habe ich hier anders argumentiert. Während Keegan dem Kampf mit blanken Waffen und auf kurze Distanz eine menschliche Dimension zuspricht, war es gerade diese Nähe, die die malischen Soldaten demoralisierte. Dass die Tuareg ihren Gegnern ins Auge sehen und sie

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sofort bedenkenlos töten konnten (und in Kauf nahmen, getötet zu werden), wurde als er-schreckend unmenschlich und barbarisch empfunden. Die den Tuareg spezifische Tradition des Nahkampfes und die allen nomadischen Viehzüchtern eigene Fähigkeit, schnell und überraschend anzugreifen, hat die Entscheidung in Touksemen herbeigeführt.

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III. Kriege im Zeichen der Globalisierung

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Die Bedrohung durch transnational organisierte Kriminalität Lars J. Gerdes 1 Einleitung

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erinnert nur noch wenig an die Zeit der bipolaren Konfron-tation. Statt „direkter militärischer Bedrohung“ steht man heute einer Vielzahl von „Bedro-hungen“, „Herausforderungen“ und „Risiken“ gegenüber. Die Begriffe sind zurückhalten-der geworden, doch der sicherheitspolitische Rahmen hat sich sachlich und geographisch erweitert. So sind im Rahmen der sicherheitspolitischen Analyse viele neue (oder als neu erkannte) Erscheinungsformen hinzugekommen. Herausforderungen wie die transnational Organisierte Kriminalität (OK) sind dabei von grundsätzlich anderem Charakter als her-kömmliche militärische Bedrohungen. Sie sind unkonventionell, entstehen in Verbindung mit sub- oder transstaatlichen Akteuren und Faktoren, sind diffus und multidimensional und können in vielen Fällen nicht mit militärischen Mitteln bekämpft werden.

Insgesamt wirken sich transnationale Risiken und Bedrohungen weit über die Landes-grenzen und Regionen ihrer Herkunft hinaus aus. Heutige sicherheitspolitische Überlegun-gen enden daher nicht an territorialen oder Bündnisgrenzen. Ebenso wenig aber enden sicherheitsrelevante Auswirkungen von regionalen Konflikten vor den Landesgrenzen stabiler Staaten, auch wenn diese polizeilich gesichert sind. Dies verwischt zunehmend die bisher übliche Trennung zwischen innerer und äußerer Sicherheit, und Faktoren der inneren Sicherheit gewinnen an bemerkenswerter Bedeutung für die Politik in der Sicherheitsum-gebung des 21. Jahrhunderts.

Die Ursachen, Hintergründe und Auswirkungen der transnational Organisierten Kri-minalität sind zum Teil noch unerforscht. Im Rahmen der Frage nach Erscheinungsformen von Krieg und Gewalt setzt sich dieser Beitrag daher zum Ziel, Folgen der Krisen und Konflikte im ehemaligen Jugoslawien der 90er Jahre auf die OK-Landschaft Deutschlands aufzuzeigen und nach unkonventionellen Bekämpfungsmöglichkeiten zu fragen. 2 Organisierte Kriminalität als nicht-traditionelle Bedrohung

Bei der Organisierten Kriminalität handelt es sich um ein diffuses Kriminalitätsphänomen, welches sich die Möglichkeiten der mit der Globalisierung verbundenen Entwicklungen wie kaum eine andere Verbrechensform zu Nutze gemacht hat. Ursprünglich lediglich ein Problem der nationalen Strafverfolgung, haben sich die Erscheinungsformen der Organi-sierten Kriminalität in den letzten zwei Jahrzehnten beachtlich weiterentwickelt. Aufgrund ihres Wachstums, ihrer dynamischen Anpassungsfähigkeit und ihrer zunehmenden Interna-tionalität, hat sie sich zu einem Sicherheitsproblem von internationaler Bedeutung entwi-ckelt. Treffend bezeichnete Phil Williams Transnational Organisiertes Verbrechen als „die dunkle Seite der Globalisierung“ (Williams 1998: 250).

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2.1 Begriffsbestimmung

Die Handlungen der OK reichen in viele Kriminalitätsbereiche hinein und passen sich stän-dig an globale Entwicklungen an. Dies hat dazu geführt, dass bisher weder national noch international eine einhellig anerkannte Definition von Organisierter Kriminalität existiert. Einigkeit herrscht jedoch dahingehend, dass Organisierte Kriminalität nicht im Organisie-ren von Straftaten ihr zentrales Kennzeichen besitzt. Erkennungsmerkmale sind vielmehr, dass darüber hinaus das Begehen der Straftaten auf einen längeren Zeitraum angelegt sind, zum Erhalt des Lebensunterhalts oder der Erhaltung von Macht und Einfluss im eigenen Bereich dient, durch eine Vermischung von legalen und illegalen Aktivitäten gekennzeich-net ist und aus geschäftsähnlichen und häufig hierarchisch aufgebauten Strukturen besteht (BMI 2001; Lampe 1999; Hess 1993).

Für Deutschland hat die Bundesregierung sich 1991 zusammen mit den Bundeslän-dern auf eine gemeinsame Arbeitsdefinition verständigt. Diese wurde 1990 von der ge-meinsamen Arbeitsgruppe Justiz/Polizei erarbeitet und lautet:

„Organisierte Kriminalität ist die von Gewinn- oder Machtstreben bestimmte planmä-ßige Begehung von Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung sind, wenn mehr als zwei Beteiligte auf längere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen, unter Anwendung von Gewalt oder anderer zur Einschüchterung geeigneter Mittel oder un-ter Einflussnahme auf Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft zusammenwirken. Der Begriff umfasst nicht Straftaten des Terrorismus. Die Erschei-nungsformen der Organisierten Kriminalität sind vielgestaltig. Neben strukturierten, hierarchisch aufgebauten Organisationsformen (häufig zusätzlich abgestützt durch ethnische Solidarität, Sprache, Sitten, sozialen und familiären Hintergrund) finden sich – auf der Basis eines Systems persönlicher und gesellschaftlicher kriminell nutzbarer Verbindungen – Straftäterverflechtungen mit unterschiedlichem Bindungsgrad der Personen untereinander, deren konkrete Ausformung durch die jeweiligen kriminellen Interessen bestimmt wird“ (RiStBV 1991).

Diese Definition ist in der Fachwelt umstritten. Im Zentrum der Kritik steht die vermeintli-che Unschärfe der Definition, da die verschiedenen Merkmale mit der Konjunktion „oder“ verknüpft werden, und die Organisierte Kriminalität somit nicht hinreichend abgegrenzt werde (Pütter 1998: 284; Zachert 1993: 11; Busch 1992: 382). Des Weiteren wird es als problematisch angesehen, dass nahezu alle Elemente der Definition interpretationsfähig seien und dadurch staatliche Sanktionen und grundrechtsrelevante Eingriffe popularisierten (Pütter 1997; Rupprecht 1993). Unabhängig davon ermögliche diese Definition auch nicht die Abgrenzung zu anderen Erscheinungsformen der Mehr-Täter-Kriminalität und kenn-zeichne jede komplexe und professionell durchgeführte Straftat, in der Haupttäter und Teil-nehmer zu verzeichnen seien (Kersten 1998: 132; Albrecht 1997). Daher wird kriminalpoli-tisch auch die Befürchtung geäußert, dass eine leichtfertige Zuschreibung Organisierter Kriminalität zu einem Abnutzungseffekt führen könne und dadurch eine ungewollte Ver-harmlosung der realen Gefahrenlage eintrete (Zachert 1995: 286).

Tatsächlich ist es aufgrund der Komplexität Organisierter Kriminalität außerordentlich problematisch, den Begriff exakt einzugrenzen. Nach Sieber/Bögel versucht die OK-Arbeitsdefinition daher vielmehr, alle denkbaren Typen der Organisierten Kriminalität in einem Grobraster zu erfassen, ohne bestimmte Erscheinungsformen von vornherein auszu-

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grenzen. Damit werde die Definition ihrem Anspruch gerecht, Organisierte Kriminalität für Zwecke der Kriminalitätsbekämpfung einheitlich zu bezeichnen (Sieber/Bögel 1993: 31). Wolf-Dieter Remmele fügt hinzu, dass sich auf der Grundlage dieser Definition, und mit den Erkenntnissen aus OK-Verfahren und Ermittlungen, ein hinreichend präzises Bild der unterschiedlichen Formen von Organisierter Kriminalität entwerfen lässt (Remmele 1998).

Zwar umschreibt die OK-Definition der Arbeitsgruppe Justiz/Polizei eher ein phäno-menologisches Feld krimineller Aktivitäten als den OK-Begriff als solchen. Dies scheint jedoch aufgrund der Natur und der charakterlichen Erscheinungsformen von Organisierter Kriminalität auch angebracht. Ebenso wie die Kriminalitätsbekämpfung muss sich auch die OK-Analyse Flexibilität für neue oder bisher ungekannte Ausprägungen Organisierter Kriminalität erhalten. Eine streng abgegrenzte Definition könnte sich vor diesem Hinter-grund als kurzsichtig erweisen, da sie neu erkannte OK-Formen ausgrenzt oder ignoriert und damit ein gefährliches Erkenntnisresistenzpotential besitzt. Richtlinien, Beschreibun-gen bestehender Erscheinungsformen und Indikatoren Organisierter Kriminalität stellen daher, wie in der diskutierten OK-Definition geschehen, eine zur Analyse geeignete Ar-beitsdefinition dar.

Insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass die quantitative Grundlage der folgen-den Untersuchung auf offiziellen Statistiken beruht, soll im Folgenden die von der Arbeits-gruppe Justiz/Polizei erarbeitete OK-Definition als Arbeitsdefinition übernommen werden.

2.2 Sicherheitsrelevante Auswirkungen

Die primär ökonomischen Zielsetzungen Organisierter Kriminalität lassen zunächst keine Auswirkungen auf die Sicherheit vermuten, die über die Gefahren konventioneller Krimi-nalität hinausgeht. Aus diesem Grund wurde Organisiertes Verbrechen traditionell als in-nenpolitisches Kriminalitätsproblem angesehen. In den letzten zwei Jahrzehnten jedoch hat die zunehmende Erkenntnis der Komplexität und des Wachstumspotenzials von transnatio-nal aktiven OK-Gruppen zu einer differenzierteren Sichtweise geführt. Staaten und interna-tionale Organisationen haben sich heute die Bekämpfung Organisierter Kriminalität zum Ziel gesetzt.

Aktivitäten der Organisierten Kriminalität können weitreichende Auswirkungen auf verschiedene Referenten einer modernen Sicherheitskonzeption haben. Sie schränken die innere Sicherheit der Bürgergesellschaft ein, behindern die gesellschaftliche, ökonomische und politische Entwicklung von Staaten, können das politische und wirtschaftliche System unterminieren und sogar ganze Länder und Regionen destabilisieren. Während die Auswirkungen auf die Gesellschaft lediglich als negative Auswirkung krimi-neller Aktivitäten zu verstehen sind, können die Folgen von OK-Aktivitäten auf Individu-en, die Wirtschaft und den Staat eine maßgebliche Bedrohungssituation hervorrufen. Diese kann sich unter Umständen bis zu einer Bedrohung der regionalen oder internationalen Ordnung entwickeln.1 Obwohl die identifizierten Bedrohungen kein erklärtes Ziel Organi-sierter Kriminalität sind, so sind sie doch ein unerlässliches Beiprodukt organisierter krimi-neller Aktivitäten.

Das Ausmaß dieser Bedrohungen ist abhängig sowohl von der Stabilität des betroffe-nen Staates, als auch vom quantitativen und qualitativen Aufkommen krimineller Gruppen.

1 Zur Analyse von durch OK hervorgerufene Gefahren auf die Referenten einer modernen Sicherheitskonzeption vgl. Gerdes 2007b.

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Dementsprechend sind in politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwick-lungsprozessen oder Umbrüchen stehende Staaten in der Regel stärker von OK-Aktivitäten und deren Auswirkungen betroffen als etwa die stabilen Staaten des EU-Raums.

Fraglich ist nunmehr, inwieweit sich regionale Konflikte, welche sich jenseits der EU-Außengrenzen befinden, auf die OK-Landschaft in Deutschland auswirken können. Die Untersuchung dieses ungeklärten Zusammenhangs zwischen innerer und äußerer Sicherheit verlangt zunächst eine Betrachtung der Entstehung von OK im Zusammenhang mit regio-nalen Konflikten. Beispielhaft sollen hierzu die Konflikte im ehemaligen Jugoslawien be-trachtet werden.

3 Ursprünge der OK im ehemaligen Jugoslawien

Die Konflikte im ehemaligen Jugoslawien haben zu einem dramatischen Anstieg von Or-ganisierter Kriminalität auf dem Balkan geführt (McMahon 2000; Boyes 1999; Kopp 1999; Schmidt-Eenboom 1999; Thamm 2000; Tomiuc 2002). Nach UN-Informationen kontrol-lierten Gruppen aus dem ehemaligen Jugoslawien in den 90er Jahren etwa 70% des He-roinhandels in Europa. Auch 200.000 der geschätzten 700.000 jährlich vom Menschenhan-del betroffenen Frauen kamen zu dieser Zeit aus Balkan-Staaten. Nach den Worten des Generalsekretärs der VN ist jedes Land im ehemaligen Jugoslawien von OK betroffen (Tomiuc 2002). Vor diesem Hintergrund wird die Gefahr gesehen, dass das ehemalige Jugoslawien dauerhaft als Entstehungs- und Rückzugsgebiet für Organisierte Kriminalität in Europa dienen könnte (United Nations 2001).

In der internationalen OK-Forschung existieren eine Vielzahl von Versuchen aus ver-schiedenen Disziplinen, die Ursachen der Organisierten Kriminalität zu erklären. Im Fol-genden soll daher ausschließlich auf diejenigen Ansätze eingegangen werden, die im We-sentlichen den Gegenstand der theoretischen Diskussion zur Organisierten Kriminalität ausmachen.

3.1 Der ethnisch-soziologische Ansatz

Unter dem ethnisch-soziologischen Ansatz können diejenigen Theorien zusammengefasst werden, die die Ursachen der Entstehung von Organisierter Kriminalität in der gesellschaft-lichen Ausgangssituation eingewanderter Bevölkerungsgruppen sehen. Nach Daniel Bell ist eingewanderten ethnischen Minderheiten wirtschaftlicher und politischer Erfolg aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung verwehrt. Dies führe dazu, dass sich viele Immigranten gezwungen sehen, ihre soziale Stellung mit Hilfe von Kriminalität und insbesondere Orga-nisierter Kriminalität zu verbessern (Hentig 1959: 5; Bell 1953). Ergänzend wird argumen-tiert, dass die Akzeptanz zumindest einiger krimineller Aktivitäten in den beschriebenen Minderheiten höher sei. Begründet wird dies damit, dass innerhalb der ethnischen Gruppe alle denselben wirtschaftlichen Problemen ausgesetzt seien und daher mehr Verständnis für deviantes Verhalten aufbringen als andere Gesellschaftsgruppen. Auch falle es innerhalb von nicht integrierten Minderheiten aufgrund von Perspektivlosigkeit wesentlich leichter, jugendlichen kriminellen Nachwuchs zu rekrutieren (Kelly/Schatzberg/Chin 1997).

Untersuchungen belegen die ethnische Einheit der meisten, insbesondere der transna-tional aktiven, OK-Gruppen. Diese sichern dadurch ihren Zusammenhalt sowie Kontakte in das Heimatland (Lupsha 1996). Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe hat auch bei der OK-Entwicklung im multiethnisch geprägten ehemaligen Jugoslawien eine wesentliche

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Rolle gespielt. Dies ist besonders deutlich am Beispiel der eingewanderten Kosovo-Albaner, deren Integration in das serbische Kosovo über Jahrhunderte nicht gelang. Die zur Zeit des Kosovo-Konfliktes für ein unabhängiges albanisches Kosovo kämpfende ethnische UCK (Ushtria Çlirimtare e Kosovës2) hat sich Berichten zufolge „in weiten Teilen aus dem Bereich der Organisierten Kriminalität finanziert, insbesondere aus dem Heroinhandel“ (Scherer 1999). Dazu wurden Strukturen genutzt, die sich über Jahrzehnte währende Akti-vitäten albanischer Gruppen gebildet hatten (Chossudovsky 1999). Ebenso zeichneten sich auch in Bosnien-Herzegowina kroatische und serbische OK-Gruppen durch ethnische Zu-gehörigkeit aus (Durak 2003).

Eine Relation zwischen ethnischer Zugehörigkeit und Gruppen Organisierter Krimina-lität scheint somit auch im ehemaligen Jugoslawien zu bestehen. Dennoch ist es erst im Laufe der jugoslawischen Konflikte zu einem erheblichen Anstieg von OK gekommen. Entstehungsgründe für den OK-Boom im Jugoslawien der 90er Jahre müssen demnach auch jenseits ethnischer Zusammenhänge gesucht werden.

3.2 Der historisch-empirische Ansatz

Unter dem historisch-empirischen Ansatz werden im Folgenden Überlegungen verstanden, die aufgrund von Beobachtungen und Erkenntnissen der historischen Betrachtung von Organisierter Kriminalität aufgestellt worden sind.

Hopwood, Rawlings und Wees haben bereits bei der Untersuchung des Organisierten Verbrechens der Antike die Behauptung aufgestellt, dass die Entstehung Organisierter Kriminalität mit der Entwicklungsstufe des staatlichen Systems zusammenhängt. So sei das Aufkommen krimineller Gruppen im antiken Griechenland und Rom parallel zu Perioden der Transformation und Krise des Staates zu beobachten (Hopwood/Wees/Rawlings 1999). Übereinstimmend sieht Anthony Blok in seinem Standardwerk zur sizilianischen Organi-sierten Kriminalität die Ursache zur Entwicklung der Mafia in dem Machtvakuum, welches durch den Rückzug der herrschenden Klasse der Latifundienbesitzer hervorgerufen wurde (Blok 1974).

Sobald der Staat also Schwäche zeigt oder sich zurückzieht, wurde beobachtet, dass lokale Eliten seine Machtstellung einnehmen und ihr eigenes System mit ihren eigenen Gesetzen sowie Mitteln zu deren Durchsetzung etablieren. Diese Beobachtungen finden sich ebenso in der Betrachtung der Entwicklung im ehemali-gen Jugoslawien wieder. Paddy Ashdown, Hoher Repräsentant der EU in Bosnien, nannte die „Schwäche und Zerstörung der Regierungen und Rechtssysteme“ als Folge der Kriege im ehemaligen Jugoslawien als die Hauptursachen der Organisierten Kriminalität (Tomiuc 2002). Auch der Analytiker Berndt Georg Thamm führte das ehemalige Jugoslawien als „treffendes Beispiel“ für einen Bürgerkrieg an, in dem jede Partei von nach Einfluss stre-benden kriminellen Netzwerken umgeben war (Thamm 2000). Ebenso argumentierte auch Pierre Kopp in Bezug auf das ehemalige Jugoslawien, dass „je weiter die Destabilisierung eines Landes durch einen Konflikt fortgesetzt ist“, je größer sei „(...) das Risiko einer Aus-weitung der Kriminalisierung.“ Er begründete dies mit dem Rückzug der öffentlichen Ge-walt und dem damit verbundenem Anstieg von Übergriffen jeder Art. Darüber hinaus führ-te er als weiteren Grund auch den Kriegszustand als solchen an, welcher den idealen Rah-men für OK-Entwicklungen biete (Kopp 1999).

2 Befreiungsarmee des Kosovo.

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Neben dem Streben nach Einfluss wiesen Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler bei der Beobachtung der OK-Aktivitäten im ehemaligen Jugoslawien auch auf die Beschaffung von Gütern aller Art mithilfe ihrer Netzwerke hin (Thamm 2000). Dies zeigt, dass auch der historisch-empirische Forschungsansatz nicht isoliert betrachtet werden kann und leitet damit über zu einem weiteren theoretischen Ansatz.

3.3 Der ökonomische Ansatz

Die jüngste und zurzeit populärste Theorie zur Entstehung Organisierter Kriminalität ist der ökonomische Forschungsansatz. Diese Theorie sieht die Ursache Organisierter Kriminalität in der Existenz von illegalen Bedürfnissen potenzieller Konsumenten und einer damit ent-stehenden Marktlücke mit beträchtlicher Gewinnspanne. Nach diesem „Rational Choice“-Ansatz wird die Entstehung von OK-Gruppen nahezu ausschließlich durch die Dynamik des illegalen Marktes bestimmt. Kriminelle Organisationen weisen dabei dieselbe organisa-torische Struktur wie legitime Wirtschaftunternehmen auf. Betriebswirtschaftliche Theorien über die Organisation von Unternehmen werden daher auch zur Erforschung krimineller Gruppen angewendet (Smith 1975: 27-28)3. Legale und illegale Wirtschaft entwickeln sich nach dieser Theorie also parallel mit derselben finanziellen Gewinnorientierung. Aufgrund der Besonderheiten des illegalen Marktes sei der wesentliche Unterschied zwischen beiden Unternehmensformen das den kriminellen Unternehmen eigene Bestreben nach Verhinde-rung von Tataufdeckung und Tatnachweis (Wittkämper/Krevert/Kohl 1996: 55-56). Aus-gehend von diesem Forschungsansatz hat es eine Reihe von Untersuchungen gegeben, die Aufschluss über die wirtschaftlichen Tätigkeiten krimineller Gruppen geben. Dabei konn-ten die theoretischen Überlegungen des ökonomischen Ansatzes insbesondere im Bereich des Rauschgifthandels bestätigt werden (Sieber/Bögel 1993; Adler 1985: 88-89).

Eine hohe Nachfrage nach illegalen Gütern entsteht in Bürgerkriegen naturgemäß am Bedürfnis nach Waffen, militärischer Ausrüstung und Munition. Im ehemaligen Jugosla-wien war besonders die Separatistenorganisation UCK durch Verwicklungen in den Dro-genhandel aufgefallen. Nach Berichten des Bundeskriminalamtes (BKA) waren kosovo-albanische Gruppen zwischen 1992 und 1999 die bedeutendsten Lieferanten illegaler Be-täubungsmittel in Europa. Die Erlöse aus dem illegalen Drogenhandel flossen wiederum in Waffenkäufe für den Unabhängigkeitskampf gegen Serbien (Klebnikov 2000; Schmidt-Eenboom 1999).

Doch auch der Zusammenbruch des legalen Wirtschaftsmarktes förderte die OK-Entwicklung im ehemaligen Jugoslawien. Entsprechend des „Rational Choice“-Ansatzes besetzten kriminelle Gruppen im Verlauf der Krisen und Konflikte schnell das markwirt-schaftliche Vakuum, welches infolge des Zerfalls legaler wirtschaftlicher Ströme und damit einhergehender Bedürfnisse entstand (Boyes 1999). So bestätigten auch Experten von Eu-ropol und Interpol, dass kriminelle Gruppen die Kriege im ehemaligen Jugoslawien dazu genutzt haben, wirtschaftliche Lücken legaler wie illegaler Natur zu besetzen (McMahon 2000). Insgesamt zeigt die Anwendung des ökonomischen Ansatzes Einschlägigkeit auf die OK-Entwicklung im ehemaligen Jugoslawien der 90er Jahre.

3 Dwight Smith war der erste Wissenschaftler, der den klassischen Rational Choice-Ansatz auf die Organisierte Kriminalität anwandte.

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Lars J. Gerdes 229

3.4 Fazit: Ein holistisches Erklärungsmuster

Der ethnisch-soziologische, der historisch-empirische und der ökonomische Forschungsan-satz geben wesentliche Hinweise auf die Ursachen für die Entstehung von OK im ehemali-gen Jugoslawien. Gleichwohl hat jeder dieser Ansätze auch Schwachstellen, weil er die Entstehung Organisierten Verbrechens nicht abschließend zu erklären vermag. Doch schließen sich die verschiedenen Erklärungsmuster auch nicht gegenseitig aus, sondern besitzen das Potential zur Integration in einen holistischen Forschungsansatz zu den Ursa-chen der Entwicklung von Organisierter Kriminalität.

Die im ökonomischen Ansatz verdeutlichten wirtschaftlichen Zielvorstellungen und eine damit verbundene Marktopportunität stellen zweifellos eine wesentliche Grundlage für die Entstehung von Organisierter Kriminalität dar. Dies ist an der krisengeschüttelten und durch wirtschaftlichen Zusammenbruch gekennzeichneten Entwicklung im ehemaligen Jugoslawien deutlich zu erkennen gewesen. Dennoch wird nicht jede legale und illegale Marktlücke durch eine OK-Gruppe gefüllt.

Weitere Umstände müssen demnach als Zusatzfaktoren von Bedeutung sein: Nach dem historisch-empirischen Ansatz wirken sich unzureichende legislative, exekutive und judikative Funktionen eines Staates begünstigend auf die Durchführung illegaler Aktivitä-ten aus. Eine derartige Schwäche des staatlichen Systems wurde im ehemaligen Jugosla-wien durch Krisen, Konflikte, Kriege und eine tief greifende Systemtransformation hervor-gerufen. Diese Umstände stellten zweifellos einen weiteren Faktor zur Entstehung krimi-neller Gruppen im ehemaligen Jugoslawien dar.

Für das erfolgreiche Arbeiten in kriminellen Gruppen ist Zusammenhalt, Vertrauen und ein damit einhergehender hoher Konspirationsgrad unverzichtbar. Nach dem ethnisch-soziologischen Forschungsansatz weisen nicht integrierte ethnische Gruppen einen höheren inneren Zusammenschluss auf als andere gesellschaftliche Gruppen. Auch wird deviantes Verhalten in diesen Gruppen eher akzeptiert als im Gesamtdurchschnitt der Gesellschaft. Die aufgeführten Beispiele aus der OK-Landschaft des ehemaligen Jugoslawien belegen dies. Die Existenz nicht integrierter ethnischer Minderheiten ist daher ein zusätzlicher Fak-tor für die Entstehung Organisierter Kriminalität im ehemaligen Jugoslawien gewesen.

Aus den angeführten Gründen kommt zur Erklärung der OK-Entwicklung auf dem Balkan daher nur ein holistisches Erklärungsmuster in Betracht, welches die drei Faktoren des ökonomischen, historisch-empirischen und ethnisch-soziologischen Ansatzes miteinan-der verknüpft.

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Abbildung 1: Erklärungsmuster zur OK-Entwicklung im ehemaligen Jugoslawien

Die Graphik verdeutlicht die illegale Marktopportunität (ökonomischer Ansatz) als Grund-voraussetzung für OK-Aktivität. Prinzipiell bestehen illegale Marktopportunitäten in Ge-sellschaften immer, womit sie eine unabhängige Variable darstellen. Dennoch sind illegale Marktopportunitäten in Krisengebieten ungleich höher, etwa im Bereich der illegalen Be-schaffung von Waffen und Sprengstoffen. Für den hier untersuchten Balkan der 90er Jahre ist die illegale Marktopportunität demnach zusätzlich als intervenierende Variable aufzu-zeigen. Die Existenz nicht integrierter ethnischer Gruppen (ethnisch-soziologischer Ansatz) und die Schwäche des staatlichen Systems (historisch-empirischer Ansatz) kommen bei der Entstehung von OK als weitere intervenierende Variablen hinzu. Die Schwäche des Staates geht regelmäßig mit einer Schwächung des Gewaltmonopols einher. In Verbindung mit den

Illegale Marktopportunität (unabhängige Variable)

OK(abhängige Variable)

Schwäche des staatlichen

Systems (intervenieren-de Variable)

Nicht integ-rierte Min-

derheit(intervenieren-de Variable)

Erhöhte Marktoppor-tunitäten in Krisengebie-

ten(intervenieren-de Variable)

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in Krisengebieten erhöhten Marktopportunitäten führt dies zu parastaatlichen Räumen und Gewaltmärkten mit eigenen Gesetzen. Diese Strukturen werden dann durch Gruppen der Organisierten Kriminalität kontrolliert, die das entstandene Machtvakuum füllen.

Demnach stellte der in den 90er Jahren von Krisen und wirtschaftlichem Zusammen-bruch gekennzeichnete multiethnische Balkan eine besonders fruchtbare Region für die Entwicklung krimineller Netzwerke und Organisationen dar. Von OK-Gruppen auf dem Balkan begangene Delikte sind insbesondere:

� Schmuggel von und Handel mit Betäubungsmitteln, Zigaretten, Waffen, Benzin und Menschen

� Förderung der Prostitution / Zwangsprostitution � Schutzgelderpressung � Schleusung � Korruption � Markenpiraterie

Die Täter nutzen ihre Heimat einerseits als Basis und Rückzugsraum, andererseits als Drehscheibe für ihre Aktivitäten. Allein im Jahre 2000 wurden über den Flughafen Saraje-wo über 20.000 Personen in die EU geschleust.

Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die OK-(Weiter-)Entwicklung im Jugos-lawien der 90er Jahre ihre wesentlichen Ursachen in den regionalen Konflikten hatte. Die grundsätzlich immer bestehenden illegalen Marktopportunitäten wurden durch die kon-fliktbedingten Konsequenzen für die Wirtschaft sowie durch die in Konfliktgebieten erwei-terten illegalen Märkte vergrößert. Intervenierend kamen die durch die innerstaatliche Krise hervorgerufene Schwäche des staatlichen Systems sowie die gesellschaftliche Spaltung der am Konflikt beteiligten ethnischen Gruppen hinzu. Diese tief greifenden Auswirkungen auf das staatliche System, die gesellschaftliche Struktur und die ökonomische Leistungsfähig-keit der Region wirkten sich stark fördernd auf die Entwicklung von durch OK-Gruppen kontrollierte Gewaltmärkte als parastaatliche Phänomene aus. Inwiefern sich diese Ent-wicklung transnational auf die am Konflikt unbeteiligten Staaten der Europäischen Union ausgewirkt hat, soll im folgenden Abschnitt am Beispiel Deutschlands untersucht werden.

4 OK jugoslawischer Gruppen in Deutschland

4.1 Analysemodell

Das im vorherigen Abschnitt erarbeitete Erklärungsmuster zur OK-Entwicklung auf dem Balkan bezieht sich nur auf die Ursachenforschung und damit auf die vertikale Ebene. Die horizontale Ebene dagegen betrifft die hier in Frage stehende Ausbreitung Organisierter Kriminalität auf transnationaler Ebene. Zur Untersuchung dieses Zusammenhanges zwi-schen internationaler und innerer Sicherheit ist daher zu prüfen, inwieweit sich die durch Krisen und Konflikte hervorgerufene OK-Entwicklung im ehemaligen Jugoslawien auf die OK-Landschaft Deutschlands ausgewirkt hat.

Das Analysemodell zur OK-Entwicklung im ehemaligen Jugoslawien veranschaulicht die Einschlägigkeit von ökonomischen, politischen und sozialen Faktoren. Dies ist jedoch weder eine zwangsläufig kausale Konstellation, noch schließt sie die Entstehung von OK

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unter anderen Umständen aus. Die ökonomische Variable der Rational Choice, also der grundsätzlichen Opportunität eines illegalen Marktes, stellt eine Grundvoraussetzung dar. Die sozialen und politischen Variablen intervenieren und wirken fördernd bei der Entste-hung organisierter Kriminalität. Je stärker die Ausprägung der Variablen ist, desto größer ist auch die Gefahr der Entstehung von Strukturen Organisierter Kriminalität.

Angewendet auf die Situation in Deutschland führt dies zu folgender Annahme: Deutschland stand zur Zeit der Balkankriege mit den Nachfolgestaaten Jugoslawiens durch legale wie illegale Migration sowie durch familiäre Beziehungen bereits in der Vergangen-heit migrierter Personen, in Verbindung. Der weit überwiegende Teil dieser Bevölkerungs-gruppe führte aufgrund der Begrenzung ihres Aufenthalts (etwa aufgrund des Status als Flüchtlinge) oder aufgrund ihrer Illegalität eine Daseinsform als nicht integrierte ethnische Minderheit. Diese parallelgesellschaftliche Struktur verfügte in Teilen über transnationale Verbindungen zu den parastaatlichen Strukturen ihres Heimatstaates. Der ethnisch-soziale Faktor als intervenierende Variable war somit auch in Deutschland erfüllt. Weiterhin be-steht eine illegale Marktopportunität, insbesondere im Bereich der Betäubungsmittelkrimi-nalität, in modernen Industriestaaten grundsätzlich immer. Damit war auch der ökonomi-sche Faktor der Rational-Choice als wesentliche Grundvoraussetzung und unabhängige Variable für die Entwicklung von OK erfüllt. Letztlich nicht erfüllt war in Deutschland der historisch-empirische Faktor der Schwäche des staatlichen Systems. Dennoch handelt es sich, wie bereits ausgeführt, bei politischen wie auch bei sozialen Faktoren um intervenie-rende Variablen. Die Abwesenheit staatlicher Schwäche schließt demnach keine organisiert kriminelle Entwicklung aus. Zu prüfen ist folglich, ob die illegalen Opportunitäten und sozialen Voraussetzungen im Deutschland der 90er Jahre tatsächlich zu einer Parallelent-wicklung Organisierter Kriminalität Gruppen aus der Konfliktregion Balkan geführt haben. Die nachstehende Grafik verdeutlicht das Forschungsmodell.

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Abbildung 2: Analysemodell

OK(abhängige Variable)

Schwäche des staatlichen Sys-

tems(intervenierende

Variable)

Nicht integrierte Minderheit

(intervenierende Variable)

Erhöhte Marktopportu-nitäten in Kri-

sengebieten (intervenierende

Variable)

DDDeeeuuutttsssccchhhlllaaannnddd

EEEhhheeemmmaaallliiigggeeesssJJJuuugggooossslllaaawwwiiieeennn

Illegale Markt-opportunität (unabhängige

Variable)

Daseinsform als nicht-integrierte

Minderheit (intervenierende

Variable)

Illegale Marktopportunität (unabhängige Variable)

OK

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Die Bedrohung durch transnational organisierte Kriminalität 234

4.2 OK-Emtwicklung4

Die OK-Entwicklung jugoslawischer Gruppen in Deutschland ist anhand statistischer In-formationen aus den OK-Lagebildern des Bundeskriminalamts (BKA) zu quantifizieren. Dies soll im Folgenden anhand einer Untersuchung der jährlichen Lagebilder von 1991 bis 2003, also für den Zeitraum vom Beginn der Kriege im ehemaligen Jugoslawien bis vier Jahre nach deren Ende, erfolgen.

Das Bundeslagebild Organisierte Kriminalität wurde erstmalig für das Berichtsjahr 1991 erstellt, und liefert seitdem verlässliche und gesicherte Informationen über die OK-Situation in Deutschland. Das Lagebild wurde im Laufe der 90er Jahre schrittweise modifi-ziert. Im Jahre 1993 wurde begonnen, auch OK-Verfahren des Bundesgrenzschutzes5

(BGS) mit einzubeziehen, 1996 auch OK-Verfahren des Zollfahndungsdienstes. Seit 1996 wird das Lagebild um eine qualitative Komponente ergänzt: In Form einer Strukturanalyse werden Querschnittsanalysen und Darstellungen zu den Aktivitäten ethnischer und auslän-discher Gruppierungen erarbeitet sowie durch eine gewisse Kasuistik ergänzt. Seit dem Jahr 2000 werden pressefreie Kurzfassungen der OK-Lagebilder durch das BKA veröffent-licht. Vor 2000 wurden die Lagebilder ausschließlich für dienstliche Zwecke erstellt. 6

Einschränkend muss an dieser Stelle jedoch auf die begrenzte Verwertbarkeit der In-formationen aus Kriminalitätsstatistiken im Allgemeinen und Lagebildern im Speziellen hingewiesen werden. Trotz ständig verbesserter Methoden können die Lagebilder des BKA lediglich das messen, was offiziell bekannt geworden ist, das so genannte Hellfeld. Dieses Hellfeld spiegelt unausweichlich immer nur einen Teil der Kriminalitätswirklichkeit wie-der. Dennoch liefern sie den einzigen Anhalt zur statistischen OK-Entwicklung in Deutsch-land und sind somit essentieller Bestandteil jeglicher wissenschaftlicher Analyse.

Die Entwicklung der jugoslawischen und ex-jugoslawischen Tatverdächtigen ver-zeichnete seit 1992 einen erheblichen Anstieg, der sich von 1994 bis 2000 stabilisierte. Tatverdächtige aus den Staaten des ehemaligen Jugoslawiens bildeten in dieser Zeit regel-mäßig die drittstärkste Gruppe von Tatverdächtigen (nach deutschen und türkischen Perso-nen). Der Anteil der jugoslawischen Tatverdächtigen betrug zu dieser Zeit kontinuierlich etwa zehn Prozent der Tatverdächtigen insgesamt7. Auffallend war durchweg das hohe OK-Potenzial8 jugoslawischer Straftätergruppierungen sowie ihre erhebliche Gewaltbereitschaft und Bewaffnung. Der Anteil bewaffneter Tatverdächtiger bei (ehemals) jugoslawischen

4 Die Informationen des folgenden Abschnitts entstammen der Auswertung der jährlichen Lagebilder Organisierter Kriminalität des Bundeskriminalamts (BKA) aus den Jahren 1991 bis 2003. 5 Seit Juli 2005 Bundespolizei. 6 Genehmigung zur Nutzung ausgesuchter Informationen aus den Lagebildern OK zwischen 1991 und 2000 (VS-NfD) mit Schreiben vom 13.07.2006 durch BKA, SO 51, erteilt. 7 In den OK-Lagebildern von 1991 bis 1993 wurden tatverdächtige Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien in einer Gruppe geführt. Seit 1994 wurde zwischen der Gruppe der Staatsangehörigen aus Serbien und Montenegro (jugoslawische Staatsangehörigkeit) und der Gruppe mit bosnischer, kroatischer, slowenischer und mazedonischer Staatsangehörigkeit unterschieden. Da die Unterscheidung ab 1994 inmitten der jugoslawischen Krisen stattfand und somit Vergleichszahlen fehlen, verhilft sie nicht zu signifikanten Ergebnissen. Da aber ohnehin die Auswir-kungen der Summe von Konflikten im ehemaligen Jugoslawien untersucht werden, sollen die beiden Gruppen, die aus dem ehemals gesamtjugoslawischen Staat entstanden, auch hier im Ganzen beurteilt werden. 8 Über ein niedriges OK-Potential verfügen nach BKA-Definition Gruppen, die die Anforderungen der OK-Definition (vgl. Abschnitt 1.1) erfüllen, aber noch wenig gefestigt sind. Gruppen mit mittlerem OK-Potential verfügen bereits über gefestigte Gruppenstrukturen und professionelle Arbeitsweisen. Nur etwa 10 % aller Grup-pen besitzen ein hohes OK-Potential, welches in Bezug auf Gruppenstrukturen und Arbeitsweisen die Anforde-rungen des mittleren OK-Potentials noch übersteigt. Vgl. Bundeskriminalamt 2001c: 19-20.

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366477

612

864775

863683 691 756 759

440

162253

0

200

400600

800

1000

Jahr

Anz

ahl

Zahl derPersonen

1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003

Staatsangehörigen lag in den neunziger Jahren bei 14,2%, im Vergleich zu durchschnittli-chen 5,9% der übrigen Tatverdächtigen. Das BKA beurteilte bis zum Jahr 2000 (ex-)-jugoslawische OK-Gruppen als das qualitativ bedeutendste OK-Phänomen in Deutschland. Die Gruppierungen konnten auf gewachsene Strukturen in Deutschland zurückgreifen und zeichneten sich besonders durch transnationale Aktivitäten aus (Bundeskriminalamt 2001c: 40).

Ab dem Jahre 2001 kam es dann zu einem drastischen Rückgang des Anteils jugosla-wischer Tatverdächtiger, welcher sich bis zum Ende des Untersuchungszeitraums im Jahre 2003 auf den bis dahin niedrigsten Stand entwickelte (Bundeskriminalamt 2001c: 9). Der folgende Graph verschafft einen detaillierten Überblick.

Abbildung 3: Entwicklung der Anzahl jugoslawischer Verdächtiger in Verfahren

Deutlich zu erkennen ist die Steigerung des Anteils jugoslawischer Tatverdächtiger seit Beginn der 90er Jahre. Ebenso markant ist auch der abrupte Abfall der Kurve am Ende der Dekade. Unklar sind die relativen Spitzen der Entwicklung in den Jahren 1994 und 1996 sowie auch der leichte Anstieg im Jahre 2003. Vermutlich waren diese kurzzeitigen Wellen jedoch abhängig von Großverfahren, die unregelmäßig für kurzfristige Erhöhungen des Anteils der jeweiligen Nationalitäten der Tatverdächtigen verantwortlich sind. An dem allgemeinen Trend, der über diesen langen Zeitraum sehr deutlich verläuft, ändern diese Spitzen und relativen Abweichungen aber nichts.

Wie eingangs beschrieben, findet seit 1997, über die vorwiegend quantifizierte Erhe-bung hinaus, eine Strukturanalyse bedeutender ethnischer Gruppen im OK-Lagebild Be-rücksichtigung. Dabei ergab die Untersuchung der jugoslawischen Täterstrukturen eine Dominanz kosovo-albanischer Tatverdächtiger.9 Kosovo-albanische OK-Gruppierungen traten erstmals in den 80er Jahren in Deutschland auf. In den 90er Jahren (insbesondere in der zweiten Hälfte) wurden diese Strukturen erheblich aus- und aufgebaut. Daraufhin wur-

9 Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Konflikte in Bosnien-Herzegowina sowie in Kroatien zu diesem Zeitpunkt bereits beendet waren, und frühere Untersuchungen dieser Art nicht existieren. Die Situation in der ersten Hälfte der 90er Jahre bleibt somit unklar.

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de 1999 das BKA-Auswertungsvorhaben „OK familiär strukturierter Tätergruppen ethni-scher Albaner in der Bundesrepublik Deutschland (ETHNA)“ begonnen (Gerdes 2004d). Nach Verbesserungen der Erkenntnislage zu den priorisierten ethnisch-albanischen OK-Gruppierungen sollten dabei Aussagen über deren personelle Zusammensetzung, Organisa-tionsstrukturen, nationale und internationale Verbindungen, Firmengeflechte, Mobilität und Logistik möglich werden. Diese Erkenntnisse sollten dazu genutzt werden, polizeiliche Bedarfsträger über erkannte OK-Strukturen zu informieren, bereits eingeleitete Ermitt-lungsverfahren zu unterstützen und neue Ermittlungsverfahren zu initiieren. Das Auswerte-vorhaben wurde im Jahr 2003 beendet. Hintergrund für diese Entscheidung war der Rück-gang ethnisch-albanischer Tatverdächtiger seit 2001 und eine damit einhergehende verän-derte Prioritätensetzung.

Jugoslawische OK-Gruppen waren in den 90er Jahren in Deutschland in vielen Berei-chen des illegalen Marktes deliktübergreifend tätig. Der Rauschgifthandel stellte die domi-nierende Hauptaktivität dar (Gerdes 2007a). Weitere Deliktfelder waren Eigentumsdelikte, Schleusungskriminalität, Wirtschaftskriminalität, illegaler Handel mit Waffen, Fälschungs-delikte, Gewaltstraftaten sowie Straftaten im Zusammenhang mit dem Nachtleben (Bun-deskriminalamt 2001c: 34-35). Auffallend bei der Strukturierung der jugoslawischen Tä-tergruppen waren im Beobachtungszeitraum:

� die autoritären Anführerpersönlichkeiten, deren Position sich oftmals an ihrer kör-perlichen Stärke bemisst,

� die weitestgehende ethnische Abschottung im Führungsbereich, � die Ausnutzung von Familienstrukturen bei den kriminellen Aktivitäten, insbeson-

dere im Führungsbereich der Tätergruppierungen und � das Vorhandensein von Teilgruppierungen im Ausland, die wichtige logistische

Funktionen wahrnehmen und sich aus Verwandten oder langjährigen Bekannten der gleichen Nationalität zusammensetzen.

Gewinne aus OK-Aktivitäten kosovo-albanischer Gruppen in Deutschland wurden ver-mehrt im Kosovo in legale und illegale Geschäfte investiert. Dadurch wurde das Geld ge-waschen oder aber neue kriminelle Geschäfte finanziert. Jedoch wurde die internationale polizeiliche Zusammenarbeit zur Zeit der Konflikte im ehemaligen Jugoslawien erheblich erschwert, da eine Zusammenarbeit insbesondere mit Serbien (beziehungsweise mit der serbischen Provinz Kosovo) aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen nicht möglich war.

Insgesamt bleibt festzuhalten, dass sich im Laufe der 90er Jahre OK-Gruppen aus dem ehemaligen Jugoslawien zunehmend in Deutschland etabliert und auf hohem Niveau stabi-lisiert haben. Auffallend durch starken familiären und ethnischen Zusammenhalt und ge-prägt durch ein hohes Gewalt- und Waffenpotential, haben sich jugoslawische Gruppierun-gen deliktübergreifend mit dem Schwerpunkt Rauschgiftkriminalität betätigt. Verbindun-gen ins Ausland haben dabei eine besondere Rolle gespielt.

Bemerkenswert in der Entwicklung von OK-Gruppen aus dem ehemaligen Jugosla-wien ist neben dem starken Anstieg in den Jahren 1992/93 und 1998/99 auch der beträchtli-che Rückgang der Aktivitäten seit 2000. Inwiefern diese Entwicklungen mit dem Verlauf der Konflikte im ehemaligen Jugoslawien in Zusammenhang stehen, soll in der folgenden Parallelanalyse untersucht werden.

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5 Parallelanalyse

Die OK-Entwicklung jugoslawischer Gruppen in Deutschland wird nunmehr parallel zur zeitgeschichtlichen Eskalation der Jugoslawienkonflikte sowie zur Migrationsentwicklung untersucht. Dies soll Aufschluss über den Zusammenhang zwischen den regionalen Kon-flikten im ehemaligen Jugoslawien und der transnationalen Ausbreitung Organisierter Kri-minalität bis nach Deutschland geben.10

Die Darstellung des historischen Verlaufs der Konflikte und deren Eskalation werden qualitativ eingeschätzt und anhand einer Verlaufskurve abgebildet. Der Eskalationsgraph beschreibt dabei die Entwicklung der wesentlichen Konflikte in Kroatien, Bosnien-Herzegowina und in der serbischen Provinz Kosovo seit den frühen 90er Jahren. Die X-Achse der Graphen zeigt den zeitlichen Verlauf an, während an der Y-Achse die Intensität der jeweiligen Konflikte, Migrationsbewegungen und des Aufkommens von OK in Deutschland abzulesen ist. Zur Veranschaulichung der Darstellung werden die drei wesent-lichen Konflikte im ehemaligen Jugoslawien der 90er Jahre kombiniert in einem Graphen abgebildet.

Im Rahmen des Kroatien-Konfliktes ist das erste bedeutende Ereignis die Unabhän-gigkeitserklärung Kroatiens gegenüber Jugoslawien im Jahre 1991. Diese stellt, mit den daraus resultierenden bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen kroatischer National-garde und serbischen Freischärlern, den ersten Höhepunkt in diesem Konflikt dar. Der Konflikt deeskaliert anschließend durch den Waffenstillstand und die Entsendung der UN-Friedenstruppe UNPROFOR (United Nations Protection Force) im Jahr 1992. Aufgrund wiederholter Zusammenstöße der verfeindeten Parteien steigt die Intensität des Konfliktes in den Jahren 1993 und 1994 erneut an, bevor der Konflikt mit dem Vertrag von Dayton im November 1995 endgültig beendet wird (Eisermann 2000).

Der Bosnienkonflikt flammt nach der Verkündung der Souveränität 1991 erstmals deutlich im März 1992 auf. Ursache ist auch hier die Unabhängigkeitserklärung Bosnien-Herzegowinas und der darauf folgende Kriegsbeginn. Grund für die hohe Intensität in die-ser Phase sind neben Gefechten mit erheblicher Härte vor allem auch die Berichte über erste Gräueltaten an der Zivilbevölkerung. Nach dem Scheitern des Friedensplanes der Bosnien-Kontakt-Gruppe nimmt der Konflikt im Jahre 1994 noch einmal an Intensität zu. Neben dem bekannt werden weiterer Gräueltaten und NATO-Luftangriffen auf bosnisch-serbische Stellungen ist hierfür auch ein schwerer serbischer Artillerieangriff auf Sarajewo mit zahlreichen zivilen Opfern verantwortlich. Nach verstärkten NATO-Luftangriffen auf Stellungen der bosnischen Serben endet auch dieser Konflikt mit dem Friedensabkommen von Dayton im November 1995 (Koslowski 1996).

Der Kosovo-Konflikt bleibt in den frühen 90er Jahren, trotz verschiedener gegen die albanische Bevölkerungsgruppe gerichteten politischen Maßnahmen des Milosevicregimes auf der einen und Proklamierung einer Republik durch albanische Separatisten auf der anderen Seite, auffallend ruhig. Erst Verhaftungen albanischer Separatisten im Jahre 1993 lassen den Konflikt erstmals in dieser Dekade bedingt aufschwellen. 1996/97 verschärfen sich die Auseinandersetzungen jedoch mit den ersten Aktivitäten der paramilitärischen Separatistenorganisation UCK. Diese Entwicklung findet ihren vorläufigen Höhepunkt in

10 Da bei der Betrachtung der Migration- und Konfliktanalyse lediglich die Gesamtwerte von Bedeutung sind, werden diese im Folgenden nicht anhand der jeweiligen Region (Kroatien, Bosnien, Rest-Jugoslawien) aufge-schlüsselt. Die Darstellung von Gesamtergebnissen dient der Übersichtlichkeit und Vergleichbarkeit der Analyse.

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den massiven Polizei- und Militäroperationen serbischer Kräfte gegen die UCK. Dazu tragen vor allem auch Operationen gegen kosovo-albanische Dörfer und Berichte über Gräueltaten bei. Internationale Sanktionen und die Androhung von Luftschlägen seitens der NATO führen mit dem Rückzug serbischer Streitkräfte und der Einreise von OSZE-Beobachtern zur zeitweiligen Entschärfung des Konfliktes im Oktober 1998. Nach dem Scheitern der Friedensgespräche in Rambouillet stellt die, von NATO-Luftschlägen gegen Serbien begleitete, groß angelegte serbische Offensive mit der systematischen gewalttäti-gen Vertreibung ethnischer Albaner aus dem Kosovo zwischen März und Juni 1999 den absoluten Höhepunkt des Kosovo-Konfliktes dar. Nach 78-tägigen NATO-Luftangriffen unterzeichnete Jugoslawien am 9. Juni 1999 einen Vertrag, welcher den Rückzug serbi-scher Truppen aus dem Kosovo und den Einsatz einer 50.000 Mann starken internationalen Friedensmission im Kosovo vorsah (Artus 1999).

Die durch kriegerische Handlungen, Vertreibungen und Gräueltaten gekennzeichnete Intensität der Konflikte hat regelmäßig auch Auswirkungen auf die internationale Umge-bung und damit auch auf die Situation in europäischen Staaten. Die offensichtlichste Aus-wirkung stellen ausgelöste Flüchtlingsströme dar. Flüchtlings- und migrationrelevante Auswirkungen im Zeitraum der untersuchten Konflikte werden daher ebenfalls in den Gra-phen der Parallelanalyse aufgenommen. Migration ist dabei definiert als die räumliche Bewegung zur Veränderung des Lebensmittelpunkts von Individuen oder Gruppen über eine sozial bedeutsame Entfernung. Migration in diesem Sinne ist demnach nicht zwangs-läufig auch mit einem dauerhaften Aufenthalt in Deutschland verbunden. Daher sind in der folgenden Untersuchung Asylberechtigte11 und deren Angehörige, Konventionsflüchtlin-ge,12 Kontingentflüchtlinge,13 Asylbewerber14, Bürgerkriegs-Flüchtlinge15 sowie De-facto-Flüchtlinge16 gleichermaßen berücksichtigt worden.

Auch das Aufkommen illegaler Migration wurde in der Parallelanalyse berücksichtigt. (Gerdes 2004c).Unerlaubte Einreisen sind grundsätzlich jedoch nur bedingt festzustellen, da Dunkelfeldstudien nur unpräzise Auskunft über Zahlen geben können. Geeignete Indi-katoren zur ungefähren Identifizierung illegaler Zuwanderung stellen die von der Bundes-polizei registrierten Aufgriffe bei illegalen Grenzübertritten dar. Hierbei ist jedoch zu be-rücksichtigen, dass die Aufgriffszahlen durch die sich im Laufe der Zeit ändernde Effekti-vität der Grenzkontrollen (veränderter Personaleinsatz, Modernisierung der Führungs- und Einsatzmittel, Erhöhung oder Verringerung der Kontrolldichte) stark beeinflusst werden.

11 Personen, die vom Bundesamt für die Annerkennung ausländischer Flüchtlinge oder von einer verwaltungs-rechtlichen Instanz als asylberechtigt nach Art. 16a GG anerkannt worden bzw. als im Ausland anerkannte Flücht-linge Asylberechtigten gleichberechtigt sind. 12 Personen, die Abschiebeschutz genießen, weil im Heimatstaat ihr Leben oder ihre Freiheit wegen ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung bedroht ist (vgl. §51 I AuslG). 13 Ausländer, die im Rahmen einer humanitären Hilfsaktion von der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen worden sind. 14 Ausländer, die sich in der Bundesrepublik Deutschland auf Art 16a GG berufen oder wegen politischer Verfol-gung Abschiebeschutz nach § 51 I AuslG begehren und deren Verfahren noch nicht bestands- oder rechtskräftig abgeschlossen ist. 15 Personen, die sich in Deutschland auf der Grundlage einer Verpflichtungserklärung nach § 84 AuslG aufhalten, oder die im Rahmen einer gemeinsamen Aufnahmeaktion von Bund und Ländern auf Grundlage des § 32 AuslG in Deutschland aufgenommen wurden, und Personen, die nach § 54 AuslG geduldet werden. 16 Personen, die keinen Asylantrag gestellt haben oder deren Antrag abgelehnt worden ist, denen aber aus humani-tären oder politischen Gründen die Rückkehr in den Heimatstaat nicht zumutbar ist, sowie Personen, die ursprüng-lich aus diesen Gründen Aufnahme gefunden haben und sich noch immer im Bundesgebiet aufhalten.

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Im Bereich der OK-Entwicklung ist eine deutliche Steigerung der Aktivitäten (ehemals) jugoslawischer Staatsangehöriger kurz nach Beginn der Kriege im ehemaligen Jugoslawien zu verzeichnen, was anhand der folgenden Abbildung deutlich wird. 17

17 Zu den Zahlen legaler Migration vgl. Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen 2001: 88-89, er-gänzt um Gerdes 2005 sowie Materialien, die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration Karin Eichinger am 5. Juli 2005 an den Verfasser sendete. Zu Zahlen illegaler Migration vgl. Angaben der Bundespolizeidirektion Koblenz, SG 11-3 sowie Email mit Anla-gen, die Polizeihauptkommissar Kurt Walgenbach am 15. Juli 2005 an den Verfasser sendete. Vgl. auch Bundes-grenzschutz 2003. Anmerkungen: Zur Veranschaulichung wurden hier alle Einreisen aus den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien zusammengefasst. Die Darstellung illegaler Einreisen erfolgt anhand relativer – nicht absoluter – Zahlen im Vergleich zur legalen Migration.

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Abbildung 4: Konflikt-, Migration- und OK-Entwicklung (jugoslawischer und ehema ls jugoslawischer Staatsangehöriger) zwischen 1991 und 2003

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Der Graphik zufolge steigt die Zahl der Aktivitäten bis 1994 und stabilisiert sich dann, bis sie etwa anderthalb Jahre nach Beendigung der Konflikte wieder rückläufig wird und an-schließend bis auf unter das Vorkriegsniveau absinkt. Während der von geringer Konflikt-eskalation geprägten Jahre 1995 bis 1997 (Ende des Krieges in Bosnien-Herzegowina und noch ruhige Situation im Kosovo) bleibt die OK-Aktivität jugoslawischer Gruppen in Deutschland hoch. Eine verstärkte Rückkehr beziehungsweise Rückführung von Migranten insbesondere aus Bosnien-Herzegowina ist allerdings auch erst im Jahre 1997 zu verzeich-nen. In diesem Jahr jedoch entwickelt sich die Kosovo-Krise weiter, was zu einem erneuten Zugang jugoslawischer Staatsangehöriger führt. Zwar werden bei diesem Konflikt die meisten Flüchtlinge von den angrenzenden Nachbarstaaten des Kosovo aufgenommen, doch steigen daher auch die illegalen Einreisen nach Deutschland. Parallel hierzu kommt es auch zu einem leichten Anstieg der Aktivitäten jugoslawischer OK-Gruppen. Erst andert-halb Jahre nach Beilegung des Kosovo-Krieges 1999 ist ein signifikanter Rückgang der OK-Aktivitäten jugoslawischer Gruppen in Deutschland zu verzeichnen. Diese Verzöge-rung ist durchaus nachvollziehbar, da gewachsene OK-Strukturen nicht unmittelbar mit den Veränderungen im Heimatstaat ihre Geschäfte in Deutschland abbrechen. Vielmehr war zu erwarten, dass die Situation im Kosovo zunächst beobachtet wird. Nach über einem Jahr nach Beendigung des Krieges war die Situation im Kosovo, hinsichtlich eines befürchteten Rückzugs der internationalen Gemeinschaft und damit einhergehender Rückkehr des serbi-schen Militärs, stabil. Auch die Auswertung der Migrationsbewegungen weist eine Erhö-hung der Fortzüge aus Deutschland erst im Jahre 2000 auf. Es ist davon auszugehen, dass ebenso mögliche Rückführungen von ethnischen Albanern aus anderen Staaten der EU erst nach Stabilisierung der Situation im Kosovo durchgeführt wurden. Die Voraussetzungen für eine Verlagerung der Aktivitäten waren somit gegeben. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass der Verfolgungsdruck im Kosovo ungleich geringer ist als in Deutschland, wo sich die Strafverfolgung Ende der 90er Jahre schwerpunktmäßig auf die Aufdeckung von OK jugoslawischer Gruppen eingestellt hatte (Gerdes 2004a). Auch die Strukturanalyse des BKA aus dem Jahre 2000 bestätigt, dass das Ziel dieser Gruppen re-gelmäßig das Erreichen eines gewissen Wohlstandes und die anschließende Rückkehr in die Heimat ist. Diese Voraussetzungen waren ab 2001 gegeben.

Die erneute Kriseneskalation des Kosovo im Jahre 2004 hatte weder Auswirkungen auf die OK-Entwicklung noch auf die Migrationsentwicklung. Der Grund dafür ist gleich-wohl offensichtlich: Die März-Unruhen 2004 führten in erster Linie zu einer Vertreibung von Personen serbischer Abstammung. Dieser Personenkreis flüchtete in das angrenzende serbische Gebiet. Ein Zusammenhang mit Deutschland besteht hier nicht. Darüber hinaus handelt es sich bei den März-Unruhen um einen vergleichsweise geringfügigen Konflikt (Flottau et al. 2004)18.

Insgesamt weist die vorliegende Auswertung nach, dass die jugoslawischen OK-Aktivitäten in Deutschland parallel mit der jugoslawischen Konfliktphase gewachsen sind und sich auf hohem Niveau stabilisiert haben. Die jeweiligen Eskalationsspitzen und Dees-kalationsstufen der Konflikte haben sich dabei nicht wesentlich auf die OK-Entwicklung ausgewirkt. Dies ist damit zu erklären, dass OK-Gruppen zunächst Strukturen aufbauen

18 Offenbar langfristig geplant und professionell organisiert gingen gewalttätige kosovo-albanische Demonstrati-onszüge gegen Serben und UN-Polizisten vor. Bei den Ausschreitungen wurden 19 Menschen getötet, 900 ver-letzt, 29 serbisch-orthodoxe Kirchen und Klöster sowie 800 Häuser der serbischen Minderheit zerstört und mehre-re tausend Serben vertrieben.

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und Aktivitätsfelder schaffen müssen. Auch benötigt die Strafverfolgung, deren statisti-sches Material der Untersuchung zugrunde liegt, einen gewissen Zeitrahmen für die Auf-nahme und den Erfolg von Ermittlungen. Alle Entwicklungen sind daher durch eine gewis-se Verzögerung charakterisiert, die am Ergebnis jedoch nichts ändert.

Die aufgezeigte Migrationentwicklung verlief, abgesehen von der 1993 durch die No-vellierung des Asylrechts19 hervorgerufene Verzerrung20, parallel sowohl zur Konflikteska-lation als auch zur OK-Entwicklung. Die Parallelität von Migration und Konflikteskalation war aufgrund des unmittelbaren Zusammenhangs zu erwarten. Ersichtlich ist aber darüber hinaus ein wesentlich deutlicherer Zusammenhang zwischen OK-Entwicklung und illegaler Migration als zwischen OK-Entwicklung und legaler Migration.

6 Zusammenfassung der Ergebnisse und Suche nach unkonventionellen Präventionsalternativen

Aktivitäten der Organisierten Kriminalität können weitreichende Auswirkungen auf ver-schiedene Referenten einer modernen Sicherheitskonzeption haben. Sie schränken die inne-re Sicherheit der Bürgergesellschaft ein, behindern die gesellschaftliche, ökonomische und politische Entwicklung von Staaten, können das politische und wirtschaftliche System unterminieren, und sogar ganze Länder und Regionen destabilisieren. Obwohl die identifi-zierten Bedrohungen kein erklärtes Ziel Organisierter Kriminalität sind, so sind sie doch ein unerlässliches Beiprodukt organisiert krimineller Aktivitäten und deren Streben nach Macht- und Kapitalmaximierung. Das Ausmaß der Bedrohungen ist abhängig sowohl von der Stabilität des betroffenen Staates, als auch vom quantitativen und qualitativen Auf-kommen krimineller Gruppen. Dementsprechend sind in politischen und wirtschaftlichen Entwicklungsprozessen oder sogar in Krisen und Konflikten stehenden Staaten stärker von OK-Aktivitäten und deren Auswirkungen betroffen als etwa die Staaten im EU-Raum. Die Bedrohung durch Organisierter Kriminalität in Deutschland ist im weltweiten Vergleich noch verhältnismäßig gering. Die dargestellte Relation zwischen Organisierter Kriminalität und den aufgezeigten Auswirkungen und Bedrohungen, verbunden mit dem Wachstumspo-tential transnational organisierter Gruppen, rechtfertigen aber zweifellos ihre Berücksichti-gung auf der deutschen Sicherheitsagenda.

Die Untersuchung der Ursprünge der Organisierten Kriminalität auf dem Balkan hat ergeben, dass im Zusammenhang mit den Konflikten stehende wirtschaftliche, politische und ethnisch-soziale Gründe verantwortlich für einen starken Anstieg von durch OK kon-trollierten Gewaltmärkten im ehemaligen Jugoslawien waren. Neben den Konfliktbeding-ten Konsequenzen für die Wirtschaft haben die Konflikte und Kriege zu einer verminderten Leistungsfähigkeit der Staatsorgane geführt, und die gesellschaftliche Spaltung der am Konflikt beteiligten ethnischen Gruppen erhöht. Diese Faktoren wirkten sich stark fördernd auf die Entwicklung von Organisierter Kriminalität im ehemaligen Jugoslawien aus. Diese OK-Strukturen haben sich parallel zu den Jugoslawien-Kriegen transnational über die Au-ßengrenzen der EU bis auf Deutschland ausgedehnt, sich dort etabliert und im Laufe der

19 Seit der Novellierung des Asylrechts 1993 kann die legale Einreise nach Deutschland auf dem Landweg nicht mehr geltend gemacht werden, da Deutschland von sicheren Drittstaaten umgeben ist. Die Möglichkeit des Zu-gangs zum Asylverfahren stellt seither ein weiteres Motiv der illegalen Zuwanderung dar. 20 Die Novellierung des Asylrechts wurde Mitte 1993 in Kraft gesetzt. Daher sinkt die legale Migrationentwick-lung erst ab 1994 signifikant ab, während die illegale Zuwanderung zunimmt.

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90er Jahre auf hohem Niveau stabilisiert. Auffallend durch starken familiären und ethni-schen Zusammenhalt und geprägt durch ein hohes Gewalt- und Waffenpotential, betätigten sich jugoslawische Gruppen deliktübergreifend mit dem Schwerpunkt Rauschgiftkriminali-tät. Verbindungen ins Ausland haben dabei eine besondere Rolle gespielt. OK-Gruppen aus dem ehemaligen Jugoslawien stellten bis einschließlich dem Jahr 2000 das qualitativ be-deutendste OK-Phänomen in Deutschland dar. Die Konflikte im ehemaligen Jugoslawien haben sich somit durch einen erheblichen Anstieg der Aktivitäten jugoslawischer OK-Gruppen auf die innere Sicherheit Deutschlands ausgewirkt.

Ein Zusammenhang zwischen internationaler und innerer Sicherheit besteht damit in sofern, als sich im Zeitalter der Globalisierung die, unter den Voraussetzungen von Krisen und Konflikten entstehende, Organisierte Kriminalität ihre Aktivitäten transnational aus-dehnt. Durch diese Form der Schattenglobalisierung wird die innere Sicherheit von am Konflikt unbeteiligten Staaten beeinträchtigt.

Der am Beispiel OK geführte Nachweis der Hypothese, dass internationale Konflikte sich auf die innere Sicherheit von Staaten im EU-Raum auswirken, belegt nicht nur die Bedeutung eines erweiterten Sicherheitsbegriffes. Vielmehr wird deutlich, dass die konven-tionelle polizeiliche und grenzpolizeiliche Kontrolle offensichtlich keine ausreichend effek-tive Prävention gegen transnational aktive OK-Gruppen sein kann. Angezeigt ist somit die Suche nach unkonventionellen Bekämpfungsmethoden, welche transnational aktive OK-Gruppen in ihrem Ursprung angehen.

Ziel des internationalen Krisenmanagements ist nicht nur das Erreichen eines Zustan-des der Abwesenheit von Gewalt, sondern auch die politische, ökonomische, gesellschaftli-che und soziale Stabilität. Damit wirkt internationales Krisenmanagement auch der Entste-hung beziehungsweise Ausbreitung von Organisierter Kriminalität entgegen und stellt so-mit eine indirekte OK-Bekämpfung dar. Über diese Möglichkeiten der indirekten OK-Bekämpfung hinaus beinhalten internationale Polizeimissionen auch Mittel der direkten Bekämpfung von Organisierter Kriminalität: Zum einen kann die Wahrnehmung von Exe-kutivbefugnissen in Regionen ohne funktionierende Polizei zu einer Eindämmung von OK führen. Zum anderen kann die Ausbildung, Unterstützung und Beratung von einheimischen Polizeibehörden und Regierungen eine entscheidende Bedeutung für die zukünftige Ver-folgung und Aufklärung von OK-Delikten und -Strukturen haben. Die erfolgreiche An-wendung dieser direkten und indirekten Maßnahmen zur OK-Bekämpfung in Krisengebie-ten bedeutet aktive OK-Prävention hinsichtlich der Ausbreitung nach Europa. Der Umfang des Erfolges einer internationalen Polizeimission und deren OK-Bekämpfung hängt jedoch ab von ausreichender Mandatierung und ausreichenden Befugnissen, qualitativer und quan-titativer Logistik in Material und Personal und der Vermeidung von Schnittstellenproble-men der einzelnen Institutionen und Organisationen durch Kooperation (Gerdes 2004b).21

Die zentrale Forderung besteht hier in einer Schwerpunktsetzung zugunsten einer direkten OK-Bekämpfung, die den durch Organisierte Kriminalität hervorgerufenen Gefahren ge-recht wird. Eine solche Entwicklung könnte die Bereitstellung von ausreichendem Perso-nal, finanziellen und materiellen Mitteln sowie die Ausstattung mit ausreichenden Befug-nissen ermöglichen. Die Bekämpfung hoch entwickelter Kriminalitätsformen wie der Or-ganisierten Kriminalität kann nur durch besonderen Aufwand und die Anwendung beson-derer technischer und nachrichtendienstlicher Mittel erreicht werden. Ein internationales

21 Zur Defizitanalyse vergangener und aktueller Polizeieinsätze auf dem Balkan vgl. Gerdes 2007b.

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kriminalpolizeiliches Analyse-Konzept, welches nachrichtendienstliche Erkenntnisse der verschiedenen Mitgliedstaaten sowie des Militärs verknüpft und damit die Grundlage für eine proaktive OK-Bekämpfung bildet, könnte die Entstehung und Ausbreitung von Orga-nisierter Kriminalität in Krisenregionen wirksam begrenzen. Unter diesen Voraussetzungen würde auch die Ausbreitung transnational aktiver OK-Gruppen in die Europäische Union und nach Deutschland effektiv bekämpft werden. Erfolgreiches internationales (militäri-sches und ziviles) Krisenmanagement im Allgemeinen und Internationale Polizeimissionen im Speziellen können folglich eine europäische OK-Prävention im Rahmen einer modernen Sicherheitskonzeption darstellen.

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Page 245: Die Komplexitat der Kriege

Die Digitalisierung der Medien und ihre Auswirkungen auf Kriegsführung und Öffentlichkeit

Henrike Viehrig

„Massenkommunikationsmittel können Verlauf und Ausgang von Konflikten entschei-dend beeinflussen. Wer über sie verfügt, wird sie zum eigenen Nutzen und zum Scha-den des Gegners einsetzen.“ (Zentrum Operative Information der Bundeswehr (ZOpIn-fo) 2007)

1 Nachrichten und Krieg

Kommunikation ist ein zentraler Bestandteil von Kriegsführung. Bereits Sun Tsu hob die Bedeutung der Informationsbeschaffung für den militärischen Sieg hervor (Sun Tsu 2005: 180ff.) und auch Clausewitz vermerkte die Schwierigkeiten im Umgang mit Nachrichten: „…die meisten Nachrichten sind falsch, und die Furchtsamkeit der Menschen wird zur neuen Kraft der Lüge und Unwahrheit“ (Clausewitz 1980: 76).

Für die modernen Kriege gilt: Gleichviel um welche Form des Krieges es sich handelt, die Medien „schweben“ potenziell über jedem Gewaltgeschehen mit, da es sich in der Re-gel um Informationen von allgemeinem öffentlichen Interesse mit einem hohen Nachrich-tenwert handelt. Die meisten politischen Informationen werden durch die Medien übertra-gen und erst dadurch Dritten zugänglich gemacht. Indem Medien das politische Geschehen vermitteln, erzeugen sie eine parallele Darstellung vom tatsächlichen Geschehen, und diese Darstellung wird anschließend an die entsprechenden Adressaten weiterverbreitet. Dieser Prozess hat im Wesentlichen zwei aufeinander aufbauende Konsequenzen: Durch die Dar-stellung der Informationen in Form von Nachrichten haben die zirkulierenden Berichte erstens das Potenzial, mehr Individuen zu erreichen als ursprünglich von den Geschehnis-sen Kenntnis nehmen konnten. Zweitens kommt dem medial vermittelten Geschehen eine größere Bedeutung zu als dem eigentlichen Geschehen, da die Nachricht potenziell mehr Menschen beeinflussen kann als das Ereignis.

Die Tatsache, dass die aufgeschriebenen Berichte der Möglichkeit nach weltweit zu-gänglich sind, heißt aber noch nicht, dass auch alle verfügbaren Botschaften wahrgenom-men werden – und noch viel weniger, dass sie von allen Adressaten gleichermaßen rezipiert werden und anschließend alle denselben Kenntnisstand hätten.1 Denn es konkurriert eine Vielzahl von Botschaften um die knappe Aufmerksamkeit der Rezipienten, die zudem über unterschiedliches Vorwissen und unterschiedliche Meinungen und Einstellungen verfügen (Schenk 1987: 27-28).

1 Eine Untersuchung zur Darstellung der Darfur-Krise in den westlichen Medien 2003-2004 zeigt, dass sowohl die Medienberichterstattung als auch die öffentliche Meinung deutliche Unterschiede aufweisen, was lange Zeit ein gemeinsames internationales Eingreifen in den Konflikt verhindert hat (vgl. Jäger/Viehrig 2005).

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Nicht nur die Rezeptionsweise bestimmt also über die Wahrnehmung von Konflikten, auch die Produktion von Medieninhalten unterliegt in Kriegs- und Krisensituationen einigen Besonderheiten. Zunächst ist hier die besondere Dominanz der Exekutive zu nennen. Der Regierung obliegt nicht nur die strategische Entscheidung über Krieg und Frieden, auch die Darstellung dieser Entscheidung nach außen kann aufgrund von Informationsasymmetrien maßgeblich von ihr bestimmt werden. Zwar können die Medien durch selbständige Recher-che in die Politik eingreifen, sie können aber ebenso von der Exekutive instrumentalisiert werden. Denn vor allem in Bereichen, in denen nachträgliche Recherche aufwändig und der Publikationsdruck hoch ist, neigen Journalisten und Redaktionen dazu, O-Töne und Formu-lierungen zu übernehmen: „Aus Luftangriffen werden ‚chirurgische Schläge‘, aus Todes-Schwadronen ‚Elite-Formationen‘, aus Mord ‚gezielte Tötung‘“ (Chimelli 2006). Ein Bei-spiel der selektiven Informationsweitergabe und ihrer ungenügenden Reflektion durch die Massenmedien liefert die amerikanische Berichterstattung im Vorfeld des Irakkrieges: Hier räumten die führenden Zeitungen des Landes – New York Times und die Washington Post – im Sommer 2004 erhebliche Fehler in ihrem Umgang mit Informationen zu den mögli-chen Massenvernichtungswaffen ein (Kurtz 2004; The New York Times 2004).

Zu diesem schwer zu trennenden Geflecht von Information und Rezeption kommt in den letzten Jahren eine weitere Komponente hinzu: die Digitalisierung der Medien und die Umstrukturierung des bisherigen Informationsverhaltens der Rezipienten. Im folgenden Kapitel soll die neue Komponente der Digitalisierung erklärt und daran anschließend ihr möglicher Einfluss auf die moderne Kriegsführung und ihre öffentliche Darstellung be-schrieben werden.

2 Digitalisierung der Medien

Medien spielen eine immer wichtigere Rolle im Leben der Menschen – ein Phänomen, das mit dem Begriff „Mediatisierung“2 umschrieben wird.

„Mediatisierung […] kann dreierlei bezeichnen: (1) die wachsende Verschmelzung von Medienwirklichkeit und politischer wie sozialer Wirklichkeit, (2) die zunehmende Wahrnehmung von Politik im Wege medienvermittelter Erfahrung sowie (3) die Aus-richtung politischen Handelns und Verhaltens an den Gesetzmäßigkeiten des Medien-systems“ (Sarcinelli 1998: 678-679).

Mediatisierung betrifft alle Bereiche des modernen gesellschaftlichen Lebens, denn „das soziale Handeln bedient sich…in immer stärkerem Ausmaß der Medien“ (Münch/Schmidt 2005: 202). Übertragen auf die Politik bedeutet dies, dass politische Akteure zunehmend Aufmerksamkeit und Arbeitszeit auf die Interaktion mit Medien verwenden. Symptome der Mediatisierung sind beispielsweise absolvierte Medientrainings, die tägliche Presseschau als fester Arbeitsbestandteil der politischen und wirtschaftlichen Akteure sowie die zuneh-mende Anzahl von Pressesprechern und Journalisten in Unternehmen und Politik.

Zwar stellt die Grundtendenz des sich Präsentierens bzw. sich vorteilhaft Präsentierens nichts Neues dar. Sie ist fester Bestandteil aller gesellschaftlichen Entwicklungsstufen. Neu ist hingegen die Vermehrung, Beschleunigung und Verdichtung von Kommunikation. Die-

2 „Mediatisierung“ hat sich mit der Ausweitung der Medienangebote im allgemeinen Sprachgebrauch und auch in der Fachsprache etabliert, obwohl „Medialisierung“ eigentlich der zutreffendere Begriff ist (vgl. Sarcinelli 1998: 678-679).

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se Phänomene sind Teil der Mediatisierung und verdeutlichen ihre Dynamik (Münch/Schmidt 2005: 206). Ihre Ursache hat die Mediatisierung zu einem großen Teil in der technologischen Entwicklung und der zunehmenden Verbreitung der Informationstech-nologie, im Folgenden mit Digitalisierung bezeichnet. In der letzten Dekade fand ein be-achtlicher Umschwung in der technologischen Entwicklung statt: Die Zeit für die Verarbei-tung von Informationen hat deutlich abgenommen – die Zahl der virtuell erreichbaren Ad-ressaten hat jedoch zugenommen. Theoretisch sind Onlinenachrichten, Internetvideos und Weblogs an die gesamte Weltbevölkerung gerichtet, sofern sie über Zugang zum Internet verfügt. Allerdings bilden sich in der Praxis nicht eine Weltöffentlichkeit, sondern mehrere, großenteils fragmentierte Öffentlichkeiten heraus, die sich gemäß ihrer Präferenzen und Interessen um gewisse Informationsangebote herum bündeln und jeweils flexibel auf Ver-änderungen reagieren.

Diese neuen Entwicklungen haben ihrerseits zu einer weiteren Verbreitung der Infor-mationstechnologie und des Internets geführt. Allerdings mussten nach der ersten Euphorie über die neuen Medien und nach zahlreichen geplatzten Börsengängen im Zuge der NewEconomy Ende der Neunzigerjahre die Erwartungen und Einschätzungen deutlich herunter-geschraubt werden. So wird einerseits ein „medialer Autismus der Weblogs“ (Seifert 2006) bemängelt, andererseits erreichen einige Angebote wie „Wikipedia“ oder „Wer-weiss-was“ tatsächlich sehr hohe Nutzerzahlen (Dambeck 2006). Aber nur wenige Angebote schaffen es, die notwendige kritische Masse an Usern zu erreichen (Weiss 2005), die nicht selten zu einer Erwähnung der Online-Angebote in den Qualitätsmedien führt und vor allem dauer-haft einen Mehrwert erwirtschaften kann. Für die Szene der Internet-Filmemacher ist es ein Quantensprung, wenn einige ihrer Vertreter vom regulären Fernsehmarkt wahrgenommen und in diesem gesendet werden (Pfaff 2007). Oft steigt auch das Interesse an Online-Inhalten eben erst dann an, wenn ein Fall in den Feuilletons der einflussreichen Printme-dien diskutiert wird oder im Fernsehen darüber berichtet wird (Bucher 2004: 279).

Seit dem Aufkommen von Wikipedia und Online-Foren ist auch von einer Weiterent-wicklung des Internets, dem „Web 2.0“ die Rede.3 Damit ist zum einen ein Neustart des Internetbooms gemeint, da nach einer vorübergehenden Flaute um die Jahrtausendwende herum nunmehr wieder in Internettechnologie investiert wird (Randow 2007: 1). Zum an-deren bedeutet Web 2.0 auch einen neuen Stil der Internetkommunikation, der auf Interak-tivität und dem sogenannten „user generated content“ basisert (Stanoevska-Slavbeva 2008: 15-23; Meyer-Lucht 2007: 86). So bestimmen nicht mehr lose Darstellungen privater Ak-teure in Tagebuchform die häufig genutzten Seiten des Internets, sondern neuerdings ver-netzte, kommentierbare und selbstgenerierbare Inhalte. Vernetzt, weil die Zahl der Verlin-kungen zu einer eigenen „Währung“ des Internets geworden ist, kommentierbar, weil di-rekte Meinungsäußerung, zeitnahe Gratifikation in Form von Aufmerksamkeit und ständige Selbstvergewisserung der eigenen Position zu einem Markenzeichen des Online-Raumes geworden sind (Riefler 2007: 68) und selbstgenerierbar, weil nicht nur Texte, sondern auch andere Formate wie Fotos, Filme oder kleine Programmier-Tools Gegenstand des Austau-sches und der Modifizierung geworden sind. Ähnlich wie in einem Wohn- oder Büroraum

3 Die Bezeichnung 2.0 wurde von Tim O’Reilly geprägt (DIE ZEIT 2006). Sie ist der Sprache der Softwareent-wickler entlehnt und bezeichnet die neue Version eines alten Produktes, dessen bekannten (Marken-)Namen man beibehält, dessen Überarbeitungsgrad hingegen am numerischen Zusatz erkennbar wird. So deutet eine Verände-rung der Vorkommastelle eine gänzlich neue Version an, eine Veränderung der Nachkommastelle hingegen nur eine Erweiterung.

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kann sich jeder Besucher eines interaktiven Onlineangebots seine Arbeitsoberfläche indivi-duell einrichten. Die drei unter dem Schlagwort „Interaktivität“ zusammengefassten Merkmale – Vernetztheit, Kommentierbarkeit und Selbstgenerierbarkeit – können als Ver-such gewertet werden, das Unpersönliche der Massenmedien durch eine neue Illusion von Unmittelbarkeit zu ersetzen.4

Der Erfolg gibt dem Konzept recht: Die Website der New York Times zählt zu den meistbesuchten Seiten im Internet (Schweitzer 2006). Erreicht wurde dies durch innovative Online-Tools, die ganz auf die neuen Anforderungen der Interaktivität setzen. So kann sich dort jeder Besucher seine individuell zugeschnittene Einstiegsseite zusammenstellen (my.nytimes.com), die die jeweils eigenen Interessen reflektiert. Als besondere Inspiration können sich die User die My-Times-Seiten der hauseigenen Journalisten ansehen und be-kommen so einen Einblick in deren Nutzer- und Informationsgewohnheiten (Riefler 2007: 68).

Das Neue am Web 2.0 ist also die „Generation technisch avancierter Angebote, die auf eine Zusammenarbeit ihrer Nutzer setzen“ (Meyer-Lucht 2007: 86). Beispiele dieser Neue-rungen sind die kollektive Enzyklopädie Wikipedia und Foren wie MySpace, Xing oder StudiVZ. Diese Angebote generieren ihren Mehrwert durch Abschöpfung der „kollektiven Intelligenz“ (Weiss 2005: 17), die sich erst entfalten konnte, nachdem diese Technologien die entsprechende Nutzerzahl erlangten. Nur durch diese Vielzahl an Nutzern kommt es zu einer umfassenden Sammlung der vorhandenen Kenntnisse, die bereits mit einer „Bereiche-rung wie das Gespräch mit einem vielseitig gebildeten Menschen“ oder einer „collaborative cocktail party“ verglichen wurde (Kohlenberg 2006; Weiss 2005: 21). In jedem Fall ist es nicht das einzelne Expertenwissen, sondern es sind die kollektiv generierten Inhalte, die die Wertschöpfung der Zukunft darstellen. Nicht allein die Sammlung vieler individueller Bei-träge und Daten, sondern ihre verwertungsorientierte Aggregierung (z.B. bei Google oder Amazon) sind dabei die entscheidende Leistung. „Marktmacht“ kann in diesem Zusam-menhang neu bemessen werden, denn wer künftig über die Datenquellen herrscht, bündelt auch die Vorteile des Marktes (DIE ZEIT 2006). Angesichts der rasanten Entwicklung könnten diese Phänomene auch bald von etwas Neu-em ersetzt werden, dem „Web 3.0“ (Kundrun 2007: 90-91). Denn die momentanen „antiau-toritären Reflexe“ des „frech, anarchisch, politisch inkorrekt“ erscheinenden Web 2.0 wer-den möglicherweise durch seriösen Kontext und Qualitätsjournalismus abgelöst. Damit reagieren die Portalanbieter auf zukünftig noch stärker strukturierte Nutzergewohnheiten und nutzen Kernkompetenzen des klassischen Journalisten: einen Kontext zu schaffen, der Orientierung bietet (Eichel 2007; Kundrun 2007). Im Folgenden soll nun betrachtet wer-den, wie sich die beschriebenen technologischen Entwicklungen auf die Kriegsführung und seine öffentliche Darstellung auswirken.

4 Die Interaktivität scheint auch auf traditionelle Printmedien Einfluss zu nehmen, wie das Beispiel des amerikani-schen IT-Magazins „Wired“ zeigt. Es versprach für eine bestimmte Ausgabe jeweils personalisierte Titelblätter mit Foto, sofern die Abonnenten ein Digitalfoto von sich an die Redaktion schickten (Gehlen 2007). Aber auch ganz ohne Internet und Breitbandanschluss setzen Printmedien auf Interaktivität: Die BILD-Zeitung hat einen Leserbeirat einberufen, in dem BILD-Leser ehrenamtlich die BILD-Redaktion aus ihrer Perspektive heraus bera-ten (vgl. Der Tagesspiegel 2007).

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3 Digitalisierung des Krieges

Die Veränderungen, die durch die Digitalisierung und Mediatisierung auf dem Gebiet der Kriegsführung stattgefunden haben, werden mit den verschiedensten Begriffen umschrie-ben: Information Warfare, Information Operations, Revolution in Military Affairs (RMA) und Cyberwar werden entweder synonym oder diskrepant verwendet.5 Für diesen Beitrag sollen die Begriffe nach der Zielgruppe unterschieden werden, also einmal in die Digitali-sierung der militärischen Kriegsführung und ein anderes Mal in die Digitalisierung in der Außendarstellung kriegerischer Handlungen (vgl. Tab. 1).

Abbildung 1: Digitalisierung des Krieges

Information Warfare (Kriegsführung)

Information Operations (Außendarstellung)

Revolution in Military Affairs Cyberwar Perzeptionsmanagement

Im ersten Fall – der Digitalisierung der militärischen Kriegsführung – handelt es sich hauptsächlich um eine technologische Weiterentwicklung der Waffen- bzw. Aufklärungs-systeme, die Einbeziehung von digitaler Infrastruktur in die militärische Zielplanung oder allgemein den Einfluss neuer Technologien auf die Militärorganisation. Diese Phänomene sollen im Folgenden unter dem Stichwort Information Warfare behandelt werden und bein-halten die Unterpunkte Revolution in Military Affairs (RMA) und Cyberwar.Im zweiten Fall – der Digitalisierung in der Außendarstellung – werden die Veränderungs-prozesse in der Informationspolitik des Militärs nach außen betrachtet. Nach der Maßgabe der Truppe für Operative Information der Bundeswehr heißt es:

„Unser Auftrag ist es, mit kommunikativen Mitteln und Methoden auf gegnerische Streitkräfte, die sie unterstützende Bevölkerung sowie auf Konfliktparteien und Be-völkerung im Einsatzgebiet von Verbänden und Einheiten der Bundeswehr bzw. ihrer alliierten Streitkräfte einzuwirken“ (ZOpInfo 2007).

Diese kommunikativen Maßnahmen sollen hier unter dem Stichwort Information Operati-ons beschrieben werden; eine wichtige Komponente bildet dabei das Perzeptionsmanage-ment.

3.1 Veränderte Kriegsführung

Die Digitalisierung hat das Kriegführen für alle Seiten verändert – sowohl die staatlichen als auch die nichtstaatlichen Akteure bedienen sich der neuen Technologien. Terroristen

5 Szukala bezeichnet Information Operations als Überbegriff für den veränderten Umgang mit Informationen durch das Militär (Szukala 2005: 224-225), Jertz/Bockstette sehen Information Operations als Teil der InformationWarfare an. Erschwert wird eine trennscharfe Abgrenzung durch die unterschiedlichen Einteilungen, die die jeweiligen Streitkräfte praktizieren. In den USA sind PsyOps (Psychological Operations) Teil der InfoOps (Infor-mation Operations), die Bundeswehr hingegen distanziert sich ausdrücklich von der Beeinflussung der eigenen Bevölkerung oder der eigenen Streitkräfte im Rahmen ihrer Operativen Information (ZOpInfo 2007).

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vernetzen sich online, Nachahmer finden Anleitungen für den Bau von Bomben6 im Inter-net (PAN AMP 2008). Wichtiger sind jedoch die neuen Möglichkeiten der gegenseitigen Überwachung für beide Seiten: Google Earth musste für die Ansichtsmöglichkeiten von Hochsicherheitszonen seine Auflösung entschärfen, um Terroristen nicht die Anschlags-planung zu erleichtern (Patalong 2007), und die von den Architekten der neuen US-Botschaft in Bagdad versehentlich ins Netz gestellten Pläne mussten auf Anweisung des US-Außenministeriums wieder entfernt werden (Hamburger Abendblatt 2007).

Umgekehrt überwachen die Geheimdienste vermehrt die Online-Kommunikation von Verdächtigen und versuchen auf diese Weise, Anschläge zu verhindern. Die digitale Kom-munikation, ihre Störung und ihre Verarbeitung sind somit zu einem zentralen Mittel im Kampf gegen den Terrorismus geworden. Analog zur Revolution in Military Affairs wird hier auch von einer absehbaren Revolution in Intelligence Affairs gesprochen (Daun 2007: 147, 156).

Eine andere Komponente, der Cyberwar, umfasst die Kriegsführung, die sich auf geg-nerische Rechen- und Informationsverarbeitungskapazitäten richtet. Cyberwar ist eine explizit militärische Fähigkeit, die – anders als ein Hacker-Angriff – ausschließlich auf militärisch relevante Informationen und Fähigkeiten zielt: „It means turning the ‚balance of information and knowledge‘ in one’s favor, especially if the balance of forces is not“ (Ar-quilla/Ronfeldt 1997: 30). Doch Arquilla/Ronfeldt verweisen ausdrücklich darauf, dass Cyberwar mehr ist als die bloße Digitalisierung der Waffen- und Aufklärungssysteme. Vielmehr ziehen diese Neuerungen weitere Änderungen nach sich, z.B. die zunehmend dezentralisierte Organisationsform militärischer Einheiten, die aber gleichzeitig die Fähig-keit ermöglicht, die große Strategie auch für niedrige Hierarchieebenen transparent („topsight“) zu machen (vgl. Arquilla/Ronfeldt 1997: 30-31).

Auch in der militärischen Ausbildung hat sich die Digitalisierung niedergeschlagen. Für das amerikanische Militär werden in Zusammenarbeit mit Hollywood Video- und Computerspiele hergestellt, mit denen die Soldaten dann mögliche Kampfszenarien so realistisch wie möglich durchspielen können (Burston 2003: 164). Der populäre Egoshooter „Doom“ wurde für die Seestreitkräfte zu „Marine Doom“ abgewandelt, in dem anstelle von Monstern nun feindliche Truppen besiegt werden müssen (Schlüter 2004: 246).

Innerorganisationale Lernprozesse können ebenfalls durch den Einsatz digitaler Me-dien erleichtert werden. Die Einrichtung von Online-Foren wie CompanyCommand.com hat für die amerikanische Armee zur Folge, dass sich auch niedrigrangige Soldaten über weite Distanzen und organisatorische Schranken hinweg austauschen können und somit Vernetzung und Lernprozesse durch Selbstorganisation und von der untersten Hierarchie-ebene aus in Gang gesetzt werden. Die wechselnden Einheiten können somit von vorange-gangenen Erfahrungen profitieren – ein Prozess, der auch „Peer-Production“ genannt wird, da die Befehlsempfänger nun zu Mitproduzenten von kollektivem Wissen werden (Rid 2007: 12).

6 Für die selbst hergestellten Bomben hat sich im Militärjargon bereits ein eigener Begriff entwickelt: Improvised Explosive Devices (IEDs). Mittlerweile zählen die IED-Zwischenfälle im Irak sogar als eigene Kategorie in der Gefallenenstatistik (vgl. Lubold 2007).

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3.2 Veränderte Außendarstellung

Die Beeinflussungsmöglichkeiten gegenüber externen Systemen wie z.B. der Öffentlichkeit haben sich gleichermaßen für staatliche und nichtstaatliche Akteure geändert. Die Taliban nutzen die Berichterstattung über ihre Taten zur Legendenbildung und Imagearbeit in der eigenen Öffentlichkeit. So habe der amerikanische Einmarsch in Afghanistan dazu geführt, die teils zersplitterten Islamisten zu einen und ihnen zu einem Führer – Osama bin Laden – zu verhelfen (Schirra 2007). Die Breitenwirkung der Gewalttaten verstärkt sich mit der Produktion und Distribution von DVDs, auf denen Propaganda und die gefilmten Hinrich-tungen westlicher „Ungläubiger“ zu sehen sind (Gebauer 2007).

Doch auch fremde Öffentlichkeiten sind mittlerweile Ziel der Taliban. Sobald sich Entführungsfälle in Afghanistan ereignen, reklamieren die Taliban diese als ihre Taten und verknüpfen die Bekanntgabe ihrer Täterschaft mit oft utopischen politischen Forderungen. So solle z.B. die Bundeswehr innerhalb weniger Stunden das Land verlassen (Schmiese 2007b). Deutschen Sicherheitsdiensten ist bekannt, dass die Taliban die deutschen Medien sehr genau beobachten. „Sprecher“ der Taliban nehmen aus eigener Initiative Kontakt mit deutschen Presseagenturen auf (Schmiese 2007a; 2007b). Diese Praxis ist aus Sicht der Bundesregierung höchst problematisch, da die (falschen) Informationen bezüglich der Gei-selnahmen und die damit verbundenen politischen Forderungen meist direkt an die deut-schen Medien gesendet und von diesen veröffentlicht werden. Die Taliban zielen mit ihrer Informationspolitik klar auf die deutsche Öffentlichkeit, erstens um mächtiger zu erschei-nen als sie es tatsächlich sind und zweitens, um die deutsche Öffentlichkeit gegen das En-gagement ihrer Armee in Afghanistan zu mobilisieren.

Auch Al-Qaida bemüht sich mit Hilfe der Medien, nicht in Vergessenheit zu geraten. Seit Ende 2005 gibt es in der Organisation einen eigenen Medienzweig („As Sahab“), der u.a. für die Produktion von Videos verantwortlich ist. So gebe es für den erhöhten Medien-output Al-Qaidas drei Gründe: Erstens verfügt die Organisation auch in entlegenen afgha-nischen Lagern über digitale Technologie, zweitens wähnt sich Al-Qaida mittlerweile in einer sichereren Position als zwischen 2001 sowie 2004 und drittens gebe es zunehmend Konkurrenz von anderen Dschihadistengruppen, denen gegenüber die bisherige (herausge-hobene) Stellung mit geeigneter PR verteidigt werden muss (Murphy/Carroll 2007).

Die nichtstaatlichen Akteure nutzen die neuen digitalen Möglichkeiten ebenfalls zur Rekrutierung: Z.B. wird im Internet auf der Seite der „Globalen Islamischen Medienfront“ (GIMF) gezielt um deutsche Sympathisanten für das Netzwerk geworben. In fehlerfreiem Deutsch werden dort wie bei einer PR-Agentur Stellen ausgeschrieben, die die Medienar-beit und Berichterstattung aus Krisengebieten weiter verbessern sollen. Die GIMF möchte das offizielle Sprachrohr Al-Qaidas in Deutschland werden. Dabei setzt die Seite jedoch hauptsächlich auf Gewaltvideos, die in verschiedenen Formaten heruntergeladen werden können und vor allem einen jugendlichen Rezipientenkreis ansprechen sollen (Bittner 2007).

Aber auch das US-Militär arbeitet bei der Anwerbung neuer Freiwilliger und Reservis-ten mit der Unterhaltungsindustrie zusammen. Zum Beispiel wurde die Befreiungsge-schichte der Soldatin Jessica Lynch nicht nur vom Militär, sondern auch von den Massen-medien wirkungsgerecht dargestellt. Diese wechselseitige Zusammenarbeit zwischen Un-terhaltungsindustrie und Militär wird auch unter dem Begriff „Militainment“ zusammenge-fasst (Schlüter 2004: 243). Da das amerikanische Militär mittlerweile ebenso auf Öffent-lichkeiten einwirkt wie es die politische Exekutive tut, sind hier zunehmend Überschnei-

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dungen und Gemeinsamkeiten festzustellen. Diese Überschneidung von militärischer und außenpolitischer Kommunikation widerspricht aber ihrer oft praktizierten analytischen Trennung in wissenschaftlichen Untersuchungen und kann mittlerweile sogar als überholt gelten (Szukala 2005: 227).

Die Massenmedien werden nicht nur als Beeinflussungsmittel gegenüber der breiten Öffentlichkeit gesehen, sondern sie können Botschaften direkt an feindliche Streitkräfte transportieren. Diese Art von Medieneinsatz nennt man „Deception“ (Fehlinformationen) oder „Perzeptionsmanagement“. Letzteres hat „vor allem das Ziel, die Köpfe der militäri-schen Führer der gegnerischen Partei zu erreichen“ (Szukala 2005: 225). Während des Irakkriegs 2003 wurde besonders der Funktionswandel der Massenmedien von „potenziel-len Störfaktoren…zu willfährigen Helfern“ kritisiert (Bussemer 2003: 20).

3.3 Auswirkungen auf die Öffentlichkeit

Die Öffentlichkeit kann heute über das Internet eine Vielzahl von Informationen über Kriegsereignisse abrufen. Viele dieser Informationsquellen werden nicht von Journalisten, sondern von direkt beteiligten Akteuren (z.B. Soldaten) gespeist. So gibt es mehrere Video-tauschportale, wo man sich Filmsequenzen über Vorkommnisse im Irak und in Afghanistan anschauen kann.7 Einige davon sind bereits auf Druck der Regierungen oder des Militärs geschlossen worden, z.B. die Onlinetagebücher (Weblogs) von amerikanischen Soldaten im Irak (Spiegel Online 2007b; 2007c).

Zu Beginn der Offensive durch Aufständische im Irak wurden zahlreiche Hinrichtun-gen von Videokameras gefilmt und anschließend im Internet und in arabischen Fernsehka-nälen gezeigt. Die Aufmerksamkeit für diese Videos und die darin gezeigten Handlungen war zu Beginn hoch – was sich an der Metaberichterstattung über die Veröffentlichung der Videos in Printmedien und anderen Fernsehsendern ablesen lässt. Diese Aufmerksamkeit hat zwar mit dem Verlauf des Irakkriegs nachgelassen. Aber das heißt auch, dass die nach Aufmerksamkeit suchenden nichtstaatlichen Akteure auf neue Methoden zurückgreifen, wie ein Vorfall in Großbritannien Anfang 2007 zeigt: Dabei sollten gezielt muslimische Soldaten der britischen Armee entführt, hingerichtet und die Taten gefilmt werden. Zahl-reiche bekannte Symbole waren Teil des Plans, z.B. dass die Opfer in einem orangefarbe-nen Overall vorgeführt werden, wie es auf den Bildern von Gefangenen in Guantánamo zu sehen war (Netzeitung 2007b). Die Tatsache, dass die Opfer von Gewalt jetzt sowohl wäh-rend des Heimaturlaubs in Großbritannien als auch während des eigentlichen Einsatzes in Afghanistan entführt werden könnten (Netzeitung 2007a), zeigt die zunehmende Entkoppe-lung der Gewaltschauplätze. In Polizeikreisen wurde die geplante Tat als „Entführung im irakischen Stil“ bezeichnet (Spiegel Online 2007a) – eine komplexitätsreduzierende Be-nennung und Einordnung der neuen Mittel im asymmetrischen Terrorkrieg.

Viele Gewaltvideos werden ausschließlich im Internet gezeigt, was zunächst den Re-zipientenkreis einschränkt. Denn die Informationen sind dann nur denjenigen zugänglich, die erstens die erforderliche Ausstattung besitzen und zweitens gezielt nach solchen Infor-mationen suchen oder bereits anderweitig davon Kenntnis erhalten haben. Allerdings sind einmal online gestellte Informationen in der Regel für eine lange Zeit abrufbar, sodass dem

7 Dazu zählen http://www.nowthatsfuckedup.com (mittlerweile geschlossen, vgl. Willhoit 2006), http://www.lifeleak.com (Videosammelstelle), http://www.yoursoldiersblog.com (nur für US-Soldaten) und http://youtube.com (frei zugängliches Videoportal).

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Internet als Speicherort und Archiv eine noch nicht abzuschätzende „versteckte“ Wirkung innewohnt. Sollte also einmal vermehrtes Interesse z.B. an einer Dokumentation über den irakischen Alltag bestehen („Hometown Baghdad“, vgl. Schmitt 2007), können die Rezi-pienten die entsprechende Information zu vermutlich gleich bleibenden Kosten immer wieder heranziehen. Dieser Faktor erweitert den Rezipientenkreis (Pfaff 2007).

Die mediale Darstellung selbst kann auch öffentliche Proteste hervorrufen, wie bei-spielsweise im Karikaturenstreit 2005/2006. Hier wurde teils gewaltsam gegen die Darstel-lung des Propheten Mohammed in westlichen Zeitungen protestiert. Diese Proteste aus den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens wurden durch die Massenmedien in die westli-chen Öffentlichkeiten gesendet und regten z.B. in Deutschland zu einer kontroversen De-batte über die Darstellung von Muslimen in den Medien an (Henze 2007; Hafez 2006).

Der Karikaturenstreit wirkte für die westlichen Gesellschaften als Schlüsselereignis, durch das zahlreichen Journalisten und Teilen der Öffentlichkeit bewusst wurde, wie die Nachrichtenwerte hierzulande auf die Relevanzfaktoren „Muslime in Verbindung mit Ter-ror“ ausgerichtet sind. Ob diese Ausrichtung von Dauer sein wird, hängt auch ab von der Weiterentwicklung des Konflikts, also von der Verzweigbarkeit in weitere Konfliktlinien und von der Konkurrenz der übrigen Ereignisse, die täglich in den Nachrichten behandelt werden. Im September 2006 wurde in Berlin kurzzeitig die Aufführung der Mozart-Oper Idomeneo abgesetzt, da auch dort eine Abbildung Mohammeds in der Abschlussszene vorkam und die Sicherheitsbehörden eine Warnung ausgesprochen hatten (Küpper 2006). Solche Ereignisse wirken einerseits als Auslöser für Diskussionen und Selbstreflektionen, andererseits können sie auch zu Abstumpfung und Verfestigung bereits vorhandener Wahrnehmungsmuster dienen. Durch die weltweite Verknüpfung der Medien ist die Anfälligkeit moderner Gesell-schaften für Propaganda nicht gesunken. Durch fragmentierte Öffentlichkeiten lassen sich im Gegenteil nach wie vor Bevölkerungsgruppen isolieren und gegeneinander in Konflikt setzen (Hafez 2005: 223).

3.4 Reaktionen der Politik

Die Politik kann durch die Digitalisierung der Kriegsführung und der Außendarstellung unter Zugzwang geraten – sie muss es aber nicht. Es ist jedoch anzunehmen, dass die Mög-lichkeit des medialen Protestes und die Möglichkeit der Weiterverbreitung regierungsseiti-ger Bilder fest im Bewusstsein der politischen Akteure verankert sind. Wenn man diesen Ansatz auf die Außen- und Sicherheitspolitik überträgt, führt es dazu, dass die Offiziere der Bundeswehr vor einem Auslandseinsatz als Teil ihrer Vorbereitung ein Medientraining absolvieren und in journalistischen Grundregeln unterwiesen werden. Umgekehrt kann aber auch ohne diese Vorbereitung der niedrigrangige „strategische Gefreite“ die Politik beein-flussen, wie die Affäre um die „Schädelbilder“ aus Afghanistan zeigte (Rid 2006). Die entsprechenden Fotografien waren der BILD-Zeitung zugespielt worden, die diese wieder-um in einem politisch wichtigen Moment veröffentlichten – als Bundesverteidigungsminis-ter Jung am 25. Oktober 2006 das neue Weißbuch der deutschen Sicherheitspolitik vorstell-te (Möhle 2006).

Das Produzieren und Weiterleiten von Fotos ist zwar durch die Verbreitung von Digi-talkameras und Fotohandys wesentlich vereinfacht worden, stellt aber noch keine genuin neue Qualität von Einflussnahme auf die Politik dar. Selbst die erstmals mögliche Beo-bachtung von Kriegsgeschehnissen über Google Earth – womit unzugängliche Regionen

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wie das Darfur-Gebiet im Westen des Sudans aus der Vogelperspektive betracht werden können – stellt zunächst nur eine Möglichkeit dar. Damit lässt sich das Ausmaß der Zerstö-rung von Dörfern am Bildschirm betrachten. Diese Möglichkeit bedeutet aber erstens noch nicht, dass die breite Öffentlichkeit auch von ihr Gebrauch macht. Zweitens ist zu überle-gen, was diese Möglichkeit eigentlich bewirken kann, denn Google Earth liefert lediglich die Indizien für eine widerrechtliche Zerstörung. Motive oder kausale Beweisführung hin-gegen kann das Programm nicht zur Verfügung stellen (Baldauf/Crilly 2007). So sind zwar eine Menge Informationen über den Darfurkonflikt verfügbar, bis zu einem gemeinsamen Eingreifen der westlichen Länder mussten jedoch fast vier Jahre vergehen.8 Ein wesentli-cher Unterschied scheint es also zu sein, ob es sich um einen „sichtbaren“ Krieg wie im Kosovo oder um einen „vergessenen“ Konflikt wie den im Kongo handelt (Reuters Foun-dation 2005; Jertz/Bockstette 2004: 215).

Primärer Bezugsrahmen für jedes politische Handeln bleibt also die Öffentlichkeit, und dies gilt nicht nur in demokratisch verfassten Staaten sondern auch für die nichtstaatli-chen Akteure. Bestes Beispiel dafür ist der Terrorismus, in dessen Ursprungsbedeutung („Angst“) ja schon die kommunikative Grundhaltung, die Verbreitung von Angst in der Öffentlichkeit, angelegt ist. Die entscheidende Wirkung der Terroranschläge des 11. Sep-tember war auch weniger der materielle Verlust für Fluggesellschaften, Immobilienbesit-zer, Firmeninhaber und Versicherungen. Ebenso wenig konnte der tragische Verlust von ca. 3.000 Menschenleben das US-amerikanische Wirtschafts- und Sozialgefüge oder gar die Weltwirtschaft schwächen. Es waren vielmehr die mit den Anschlägen kommunizierten Botschaften, die die eigentliche Bedeutung des 11. September darstellten. Die Anschläge richteten sich einerseits an die muslimischen Länder („Amerika ist verwundbar, der Kampf lohnt sich“), andererseits aber auch an den Westen („wir sind stark und solche Anschläge sind jederzeit wiederholbar“). Münkler spricht in diesem Zusammenhang von „doppelt adressierten Botschaften“: So sind einerseits die unmittelbar Betroffenen, andererseits aber die „zu interessierenden Dritten“ angesprochen (Münkler 2002: 179-180). Auf den 11. September 2001 bezogen bedeutet dies, dass die unmittelbar Betroffenen die Vereinigten Staaten sind, die zu interessierenden Dritten aber die Menschen der islamischen Welt. Ih-nen sollte demonstriert werden, dass Widerstand gegen die größte Weltmacht durchaus Erfolg versprechend und lohnend sein kann.

Spiegelbildlich lassen sich Vergleiche zur westlichen Öffentlichkeitsarbeit in Afgha-nistan oder im Irak ziehen. Die Information Operations sollen sich positiv auf die Kriegs-führung auswirken, aber dieser Kampf wird mit journalistischen Mitteln geführt. Dabei soll die lokale Bevölkerung – die Zielgruppe – zu Gunsten der westlichen Einsatzkräfte beein-flusst werden. Was also die zu interessierenden Dritten bei den Terroranschlägen des 11. September waren – die islamischen Öffentlichkeiten, sind für die Öffentlichkeitsarbeit in Afghanistan oder im Irak die westlichen (heimischen) Öffentlichkeiten die eigentlichen Adressaten (Albrecht 2001). Denn die lokale Bevölkerung lässt sich kaum von US-Propaganda überzeugen, ebenso wenig, wie Terroranschläge das Verständnis für den Islam auf Seiten der westlichen Länder erhöhen.

8 Erstmalig erwähnt wurde der Konflikt im Dezember 2003 in Le Monde (Jäger/Viehrig 2005: 12). Am 31. Juli 2007 beschloss der UN-Sicherheitsrat die Entsendung von 26.000 Soldaten und Polizisten in einer sog. Hybrid-mission mit robustem Mandat (Frankfurter Allgemeine Zeitung 2007).

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4 Fazit

Wenn die Auswirkungen der Digitalisierung auf moderne Kriege und ihre Berichterstattung unter dem Aspekt des Mitteleinsatzes betrachtet werden, ergibt sich eine Art von „Medien-krieg“, der vornehmlich auf die sekundäre, mediatisierte Wirkung des Krieges abzielt: Indem der Vermittlung eine wesentlich größere Wirkung zugeschrieben wird als dem tat-sächlichen gewalttätigen Geschehen, verschiebt sich die Intention des Gewaltverursachen-den von der primären Wirkung hin zur sekundären Wirkung. Kriege oder kriegerische Handlungen werden demnach nicht mehr ausschließlich um Länder, Territorien oder Infra-struktur geführt, sondern auch um die Botschaften, die sich aus der Berichterstattung über Kriege konstruieren lassen. Die Ursache der Gewaltanwendung ist demzufolge auch der Kampf um die Informationshoheit über Internetseiten, da die am meisten verbreiteten In-formationen die Öffentlichkeit am stärksten beeinflussen. Daraus folgt, dass Politik nicht mehr nur die Verteilung von Werten in den Bereichen Wohlfahrt, Sicherheit und Herrschaft ist, sondern dass zusätzlich der Kampf um Informationen hinzukommt und möglicherweise ebenfalls die Ursache von Gewalt werden könnte. Die Digitalisierung scheint hierbei aber nur ein neues Instrument zu liefern und keine substanziellen Änderungen mit sich zu brin-gen.

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(Hg.): In Athena's Camp. Preparing for Conflict in the Information Age, Santa Monica, CA: RAND, 23-60.

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Schutzraum, Kampfzone oder Pax Americana? – Der Welt-raum und die Kriegsführung der Zukunft

Mischa Hansel 1 Einleitung: Kriegsführung und Weltraumfähigkeiten

Ein an kriegerischen Akten unbeteiligter Raum ist der Weltraum schon lange nicht mehr: Die terrestrische Kriegsführung greift bereits seit Jahrzehnten auf weltraumbasierte Aufklä-rungs-, Kommunikations- und Navigationsfähigkeiten zurück. Auch ist zumindest die Mög-lichkeit der Kriegsführung durch den Weltraum hindurch (indem Raketen auf ihrer Flug-bahn zeitweise die Atmosphäre verlassen) fester Bestandteil sicherheitspolitischer Kalküle. In den Weltraum hinein wurde der Krieg jedoch nicht getragen: Die gegen Weltraumziele gerichtete Kriegsführung hat bislang ebenso wenig stattgefunden wie der Einsatz im Welt-raum stationierter Waffen gegen terrestrische Ziele. Dass jedoch allein die bloße Möglich-keit einer räumlichen Ausdehnung des Krieges in den Weltraum auf massive politische Widerstände trifft, legen die Reaktionen auf zwei zurückliegende Ereignisse nahe:

In ihrer am 31. August 2006 veröffentlichten Weltraumstrategie erklärten die Verei-nigten Staaten unumwunden die Absicht, nicht nur eigene Weltraumfähigkeiten zu schüt-zen, sondern auch andere Akteure an der Nutzung des Weltraums zu hindern, sofern dies den nationalen Interessen der USA zuwiderlaufen würde:

„The United States will: preserve its rights, capabilities, and freedom of action in space; dissuade or deter others from either impeding those rights or developing capa-bilities intended to do so; take those actions necessary to protect its space capabilities; respond to interference; and deny, if necessary, adversaries the use of space capabili-ties hostile to U.S. national interest“ (The White House 2006: 1-2; eigene Hervorhe-bung).

Das Dokument rief weltweit überwiegend kritische Interpretationen hervor. Dabei ist es in wesentlichen Zügen nur eine Fortführung der bereits von der Regierung Bill Clintons ver-tretenen Weltraumstrategie (The White House 1996). Allerdings offenbarte die neue Strate-gie nicht nur eine radikalere Rhetorik, sondern auch einen deutlich unilateralen Ansatz. Weiteren völkerrechtlichen Beschränkungen der amerikanischen Handlungsfreiheit im All wird eine explizite Absage erteil (The White House 2006). Argumentation und Abstim-mungsverhalten der amerikanischen Vertreter in den zuständigen Rüstungskontrollgremien der Vereinten Nationen entsprechen dieser Leitlinie (Spacesecurity.org 2008: 56; Spacese-curity.org 2007: 51-52). Darüber hinaus hatten sich die USA bereits zentralen Beschrän-

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kungen durch Aufkündigung des ABM-Vertrages entledigt (Neuneck/Rothkirch 2006: 41-42).1

Das von den weltraumpolitischen „Falken“ der Regierung Bush vorgebrachte Argu-ment einer nicht mehr tolerierbaren Verwundbarkeit der amerikanischen Weltraumfähigkei-ten konnte Anfang 2007 einen enormen Plausibilitätsgewinn verbuchen: Am 11. Januar 2007 zerstörte die chinesische Armee einen nicht mehr funktionstüchtigen chinesischen Wettersatelliten mit Hilfe einer ballistischen Rakete (Covault 2007). Dieser Test einer Anti-Satellitenwaffe rief heftigen diplomatischen Protest vor allem von Seiten westlicher Regie-rungen sowie ein beträchtliches Medienecho hervor (Spacesecurity.org 2007: 51). Hatte China doch selbst lange Zeit gemeinsam mit Russland auf ein vertragliches Verbot von Weltraumwaffen hingewirkt (Ministry of Foreign Affairs of the People’s Republic of China 2002). Zudem entstand durch die freigesetzten Splitter des getroffenen Satelliten eine dau-erhafte und erhebliche Gefahr für zahlreiche andere Satelliten in umliegenden Orbits. Den Eindruck eines offensiven, aggressiven Aktes konnten auch die reichlich späten Beteuerun-gen chinesischer Offizieller nicht ausräumen.

Die weit verbreitete Empörung bezüglich dieser Ereignisse wirft die Frage auf, warum bereits die Androhung von Gewaltmaßnahmen und die Demonstration von Gewaltmitteln im Weltraum als etwas Ungeheuerliches wahrgenommen wird, während die Austragung eines einmal begonnenen Krieges bzw. die Androhung von Gewaltmitteln auf dem Boden, der See und in der Luft als eine bedauerliche Selbstverständlichkeit erscheint. Ist denn die Ausdehnung kriegerischer Akte auf den Weltraum nicht ebenso unvermeidlich wie es die Entwicklung des Seekrieges bzw. des Luftkrieges war? Dem Verweis auf eine vermeintlich größere moralische Sensibilisierung unserer Zeit ist zu entgegnen, dass dem möglichen Übergreifen des Krieges auf die virtuelle Dimension der Computernetzwerke (Minkwitz 2003) wohl kaum eine vergleichbare Entrüstung entgegengebracht wird.

Jene Ereignisse und ihre mediale Resonanz legen ein Auseinanderfallen heutiger welt-raumpolitischer Strategien einerseits und tradierter normativer Überzeugungen andererseits offen. Das legt die Frage nahe, wie sich der verlorene Gleichklang von Strategie und Norm einmal ausgebildet hat. Der im folgenden Abschnitt durchgeführten Analyse liegt dabei die Annahme zugrunde, dass sich die Doktrin eines gewaltfreien Weltraums nur unter den spezifischen Bedingungen des symmetrischen Wettbewerbs zweier mit Nuklearwaffen ausgestatteter Supermächte ausbilden, verfestigen und realisieren konnte. Mit dem Über-gang zu asymmetrischen Wettbewerbsformen, dem Bedeutungsgewinn des Weltraums für die konventionelle Kriegsführung sowie der sich ausweitenden Verfügbarkeit von Welt-raumtechnologien entfallen aber die Voraussetzungen eines gewaltfreien Weltraums. Im dritten Abschnitt soll der Nachweis geführt werden, dass die Aufrechterhaltung dieser Norm schlichtweg nicht mehr im gleichen Maße den strategischen Interessen aller welt-raumpolitisch relevanten Akteure entspricht. Vielmehr konkurrieren in einer nun prinzipiell

1 Die verbliebenen militärischen Beschränkungen ergeben sich hauptsächlich aus dem von den USA unterzeichne-ten Outer Space Treaty von 1967. Dieser verbietet aber lediglich die Stationierung von Massenvernichtungswaffen im Weltraum sowie die Einrichtung bzw. Durchführung von Militärbasen, Manövern und Waffentests auf dem Mond und anderen Himmelskörpern (Treaty on Principles Governing the Activities of States in the Exploration and Use of Outer Space, Including the Moon and other Celestial Bodies 1967). Hinzu kommt das im Rahmen des Eingeschränkten Teststoppabkommens (PTBT) von 1963 vereinbarte Verbot von Nuklearwaffentests und Nukle-arexplosionen im Weltraum sowie Klauseln innerhalb verschiedener Rüstungskontrollverträge, die eine Ein-schränkung Nationaler Technischer Mittel (NTM) der Vertragsverifikation, d.h. auch Aufklärungssatelliten unter-sagen (Spacesecurity.org 2008: 53; Neuneck/Rothkirch 2006: 41-42).

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offenen Situation Modelle einer hegemonialen Stabilisierung des Raumes durch überlegene Gewaltmittel eines Akteurs („Pax Americana“) mit einer Entwicklung des Weltraums zu einem in hohem Maße umkämpften Raum („Kampfzone“). Warum diese Modelle von welchen Akteuren und mit welchen Mitteln vorangetrieben werden, soll eingehend beleuch-tet werden. In einem Ausgriff auf die zukünftige Entwicklung werden schließlich die Reali-sierungsbedingungen beider Varianten im letzten Kapitel gegeneinander abgewogen und davon ausgehend auch der fördernde oder hemmende Einfluss der strategischen Situation im Weltraum auf Kriegsausbrüche und Kriegsformen der Zukunft bemessen.

2 Rückblick: Von der strategischen Notwendigkeit zur universellen Norm: Der Weltraum als Friedenszone

Der Systemwettbewerb des Ost-West-Konfliktes war bekanntermaßen die treibende Kraft hinter der mit massivem Ressourceneinsatz vorangetrieben Erschließung des Weltraums in den 50er und vor allem den 60er Jahren. Ihre wechselseitige Vernichtung bei einer direkten militärischen Konfrontation vor Augen, führten die USA und die Sowjetunion einen sym-bolpolitischen „Ersatzkrieg im Weltraum“ (Werth 2006) zur Bestimmung der besseren Staats- und Gesellschaftsordnung. Weniger bekannt ist, dass die amerikanische Führung unter Präsident Eisenhower bereit war, zugunsten ihrer unmittelbaren sicherheitspolitischen Präferenzen die erste Niederlage in diesem Wettbewerb in Kauf zu nehmen:

„Far from being a bitter blow, Sputnik furthered one of Eisenhower’s cherished mili-tary goals […] In fact, the Soviet Union beat the U.S. into space only because the U.S. was in no great hurry to get there“ (Begley 2007).

In der maßgeblich von geheimdienstlichen Erfordernissen bestimmten amerikanischen Sichtweise war der Start des ersten Satelliten durch die Sowjetunion 1957 begrüßenswert, beinhaltete er doch implizit die Anerkennung des Weltraums als einen extraterritorialen Raum, der legitimerweise zur Informationsgewinnung genutzt werden durfte:

„The military intelligence definition of space policy was so deeply entrenched within the administration that air force secretary Donald Quarles actually argued […] that the USSR had ‚done us a good turn, unintentionally‘ by establishing the concept of free-dom of international space“ (Kay 2005: 48-49).

Welche strategischen Zwänge konnten nun die Sicht auf die enormen symbolpolitischen Verluste zumindest anfangs verstellen? Unter der Bedingung wechselseitig sicherer Zerstö-rung im Falle eines Nuklearkrieges wurde bereits der Beitrag orbitaler Systeme zur Ge-währleistung von Abschreckung und Friedenserhalt antizipiert. In der Tat erfüllten Satelli-ten alsbald verschiedene essentielle Funktionen: Aufklärungssatelliten verschafften Infor-mationen über die technologischen Fähigkeiten des Gegners und die Standorte seiner mili-tärischen Kräfte. Weltraumbasierte Sensoren ermöglichten Frühwarnsysteme und dämpften die Furcht vor Überraschungsangriffen. Kommunikationssatelliten erfüllten die technischen Voraussetzungen dafür, dass die Nuklearstreitkräfte unter der Kontrolle der politischen Führung blieben. Späterhin stellten Satelliten die benötigten technischen Verifikationsmit-tel für die Rüstungskontrollvereinbarungen der Entspannungspolitik bereit. Aufgrund dieser lebenswichtigen Funktionen betrachtete die Mehrzahl der Entscheidungsträger auf beiden Seiten die existierenden Weltraumfähigkeiten als stabilisierende Elemente ihrer jeweiligen

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Sicherheitspolitik, die keinesfalls zugunsten der zweifelhaften Vorteile von Anti-Satellitenwaffen einem Risiko ausgesetzt werden dürften (Gonzales 1999: 26-27): „It was clear to many that outer space was more valuable in keeping the peace than in fighting wars“ (Caldicott/Eisendrath 2007: 68).

Beide Seiten hätten bei drohendem Funktionsverlust ihrer jeweiligen Systeme in glei-chem Maße an Sicherheit verloren. Dies war Grundlage der weitgehenden Befolgung jener weltraumpolitischen Doktrin, die den Weltraum als sanctuary betrachtete: als dem Wettbe-werb aggressiver militärischer Mittel entzogener Schutzraum. Zwar zeugen die Anti-Satelliten-Programme beider Seiten (Spacesecurity.org 2007: 127; Mowthorpe 2002) vom stets vorhandenen Misstrauen. Im Ernstfall wollten weder die USA noch die UDSSR ganz alleine ohne Fähigkeiten dastehen. Doch von einem Ausbau und Einsatz dieser Systeme konnte sich keine Seite relative Gewinne versprechen. So hatte die Sanctuary-Doktrin grundsätzlich den Vorrang vor Ambitionen der Weltraumkontrolle.2

Diese strategischen Kalküle der Supermächte bildeten die Grundlage für die Durchset-zung der Prinzipien des waffenfreien Weltraums, des unbeschränkten Zugangs zum Welt-raum sowie der freien Passage im Weltraum. Solange sich der exklusive Klub der Welt-raummächte nur sehr begrenzt über den Kreis der Supermächte und ihrer Verbündeten ausdehnte, genügte es, wenn allein deren Interessen mit den genannten Prinzipien vereinbar waren. Die Ausbildung eines von Öffentlichkeit und Eliten geteilten moralischen Konsen-ses bezüglich der genannten Prinzipien beruhte jedenfalls auf dieser sehr spezifischen und auf wenige Weltraummächte begrenzten strategischen Situation. Der Weltraum rief nun nicht mehr überaus bedrohliche Assoziationen wie noch unmittelbar nach dem „Sputnik-Schock“ hervor (Werth 2006), sondern diente im Gegenteil zusehends als Projektionsfläche für die progressiven, friedlichen Potentiale des Menschen, eine Funktion, die etwa mit der Inszenierung der sowjetisch-amerikanischen Apollo/Soyus-Mission in den 70er Jahren symbolpolitisch bedient werden konnte. Die realpolitischen Voraussetzungen der Normbil-dung und -durchsetzung blieben jedoch meist unreflektiert:

„Past practices, including the decision not to place weapons in outer space […] have hardened into a moral certainty that such space weaponry is, in fact, forbidden […]. What goes unnoticed in this universalistic paradigm or worldview is that its underlying premises grew out of the strategic calculations of two military super-powers“ (Handberg 2000: 256).

Wird es allerdings nicht mehr als notwendig und hinnehmbar betrachtet, das System wech-selseitiger nuklearer Abschreckung zu stabilisieren, so entfallen auch die Gründe der Zu-rückhaltung gegenüber den Weltraum gefährdenden Waffen. In den Debatten seit Anfang der 80er Jahre über ein amerikanisches System der Raketenabwehr haben denn nicht nur im Weltraum befindliche Sensoren, sondern auch weltraumbasierte Waffensysteme ihren fes-ten Platz gehabt. Doch nicht nur solche orbitalen Waffensysteme, sondern schon allein die zum Zwecke der Raketenabwehr auf dem Boden, der See oder auf Flugkörpern stationier-ten Waffen wären möglicherweise gegen Satelliten einsetzbar (Neuneck/Rothkirch 2006:

2 Nach einer klassischen Studie David E. Lupton’s können vier idealtypische Weltraumdoktrinen voneinander abgegrenzt werden: Neben der sanctuary doctrine sind dies die survivability doctrine, welche die orbitalen Objek-ten inhärente Verwundbarkeit betont, die high-ground doctrine, welche demgegenüber die kriegsentscheidende Wirkung weltraumbasierter Waffen hervorhebt, sowie die space control doctrine, die eine hegemoniale Kontrolle des Weltraumes in Analogie zur Kontrolle der Meere als notwendig betrachtet (Lupton 1988).

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19-21). Dann könnte die Herstellung der Weltraumkontrolle als Nebenprodukt abfallen. An diese Möglichkeit erinnerte im Februar 2008 die Zerstörung eines funktionsuntüchtigen Spionagesatelliten durch eine modifizierte Rakete der US-Marine. Ob diese Maßnahme nun dem unkontrollierten Absturz des giftigen Treibstofftankes zuvorkommen sollte oder aber tatsächlich ein verdeckter Waffentest war, zur politischen Debatte um Anti-Satellitenwaffen trug sie in jedem Falle bei (Choong 2008; Kaufman/White 2008).

Im Folgenden soll allerdings begründet werden, warum eine hegemoniale Kontrolle des Weltraums nicht nur als Nebenprodukt der Raketenabwehr denkbar ist, sondern auf Seiten der USA auch davon unabhängige und hinreichende Anreize für das Streben nach Kontrolle des Weltraums bestehen. Diesen Anreizen für den Aufbau im Weltraum wirksa-mer und in den Weltraum wirkender Gewaltmittel stehen nun stark verminderte strategische Zwänge gegenüber: Nicht allein, dass nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Risi-ken einer antagonistischen Konfliktsituation weg gefallen sind. Es bestehen inzwischen auch ernsthafte Zweifel am Fortbestand wechselseitig gesicherter nuklearer Abschreckung (Lieber/Press 2006). Die Interessen und Ressourcen potentieller amerikanischer Gegner weisen darüber hinaus darauf hin, dass selbst (oder gerade) bei Ausbleiben einer amerikani-schen Kontrolle der erdnahen Orbits die Zeiten eines gewaltfreien Weltraums vorbei sein könnten.

3 Wandel: Die Rolle orbitaler Fähigkeiten in zwei Erscheinungsformen der asymmetrischen Kriegsführung

Der Begriff der asymmetrischen Kriegsführung wird in der Regel mit Strategien jener Ak-teure in Verbindung gebracht, die aufgrund ihrer Schwäche in einem symmetrisch geführ-ten (Abnutzungs-)Kampf unterliegen müssten. Die beiden nachfolgenden Abschnitte wen-den sich hingegen sowohl dem Einsatz qualitativ ungleicher Kampfformen durch den Schwächeren – verstanden als derjenige, der bezüglich seiner sozioökonomischen und technologischen Ressourcen im Nachteil ist – als auch durch den stärkeren Akteur zu.3 Das Verhältnis von Stärke und Schwäche kehrt sich dabei um, sofern nicht Ressourcen, sondern die Verteilung relativer politischer Verwundbarkeiten in den Blick genommen werden, die auf die ungleichen innerstaatlichen Restriktionen der Akteure rekurrieren: Überlegene Weltraumfähigkeiten dienen dem materiell stärkeren Akteur dazu, seine diesbezügliche Verwundbarkeit zu reduzieren. Der Angriff auf diese Weltraumfähigkeiten von Seiten des materiell Schwächeren dient dazu, die Verwundbarkeit des Stärkeren wieder zu erhöhen, um ihn abschrecken oder gar besiegen zu können.

3.1 Der Weltraum und die Asymmetrisierung des „demokratischen Krieges“

Das Ende des bipolaren Systems lässt wieder stärker Tendenzen wirksam werden, die sich aus den Akteurseigenschaften der einzig verbliebenen Supermacht ergeben: Unter der Vor-aussetzung eines auf dem militärischen Sektor unipolaren Systems stehen der Führung von Kriegen durch die USA keine grundsätzlichen systemischen Restriktionen mehr entgegen. Zu fragen ist nun noch mehr als zuvor, welche innerstaatlichen Restriktionen – dessen un-geachtet – wirksam bleiben. Hierbei sind jene Forschungen von besonderem Interesse, die

3 Vgl. die Unterscheidung von Asymmetrien aus Stärke und Asymmetrien aus Schwäche bei Herfried Münkler (2006: 65).

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seit nunmehr gut zwei Jahrzehnten der These vom so genannten „demokratischen Frieden“ nachgehen (Levy 2002: 358-361).

Die ein friedliches Außenverhalten fördernden, spezifisch demokratischen Institutio-nen und Normen scheinen ihre Wirkung freilich nur in den Beziehungen zwischen Demo-kratien zu entfalten. Der „demokratische Seperatfrieden“ erstreckt sich nicht auf die Bezie-hungen demokratischer Staaten zu nicht demokratisch organisierten Staaten (Hasenclever 2003: 200-201). Im Rahmen der derzeit geführten Debatten über spezifisch „demokratische Kriege“ (Geis/Brock/Müller 2006) wird nun gerade jene gern verdrängte „Schattenseite des demokratischen Friedens“ (Geis/Wagner 2006: 280) näher unter die Lupe genommen. Sie wird nicht mehr nur als Abweichung, sondern gerade als komplementäres Gegenstück des demokratischen Friedens interpretiert (Daase 2006). D.h. demokratische Institutionen und Normen lassen nicht nur die Führung bestimmter Kriege zu, sondern insbesondere der normative Anspruch der Verteidigung und Verbreitung liberaler Werte begründet erst eine interventionistische Tendenz, die sich gewaltsam gegen autoritäre Regime wendet. Den empirischen Hintergrund dieser Perspektive bietet die Vielzahl der von den USA geführten Interventionen seit den 90er Jahren, die sich (auch) auf den Schutz der Menschenrechte bzw. auf das Ziel der Demokratisierung berufen haben.

Die demokratische Verfasstheit der amerikanischen Führungsmacht zeigt ihren Ein-fluss somit einerseits auf die Auswahl möglicher Kriegsgegner und Kriegsziele, anderer-seits beschränkt sie aber in hohem Maße die Art der Kriegsführung. Umfragedaten zum zweiten und dritten Golfkrieg sowie zum Kosovokrieg scheinen die Annahme der Opfer-sensibilität in der amerikanischen Bevölkerung zu erhärten (Claßen 2004). Dies müsste dem Ausmaß der von der politischen Führung einsetzbaren Gewaltmittel enge Grenzen setzen. Tatsächlich richten sich die Rüstungsanstrengungen westlicher Staaten darauf, ef-fektive Gewaltmittel bereitzustellen, die Opfer unter den eigenen Soldaten sowie der Zivil-bevölkerung im größtmöglichen Ausmaß vermeiden können (Müller/Schörnig 2002).4 Im Zuge einer Revolution in Military Affairs (RMA) soll sich die Anwendung organisierter Gewalt an den Kriterien größtmöglicher Geschwindigkeit, Selektivität und Präzision aus-richten (Freedman 2006: 12-20). Dahinter steht die Annahme, dass nur für kurze, verlust-arme und mit großer Sicherheit siegreiche Kriege die notwendige politische Unterstützung organisiert werden kann. Die dafür benötigte enorme Informationsasymmetrie zu eigenen Gunsten und die hochgradige militärische Vernetzungsfähigkeit werden in erheblichem Maße mittels weltraumbasierter Fähigkeiten hergestellt und erhalten.

Begrifflich wird dieser Bedeutungszuwachs orbitaler Fähigkeiten inzwischen in der Funktionsbezeichnung Force Enabling statt bloß Force Enhancement reflektiert.5 Einige

4 Eine Analyse der eingesetzten Strategien zeigt aber auch, dass im Zweifel der Schutz eigener Soldaten weit höher gewichtet wird als der Schutz der Zivilbevölkerung (Shaw 2005). Zudem ist die Anzahl erwarteter und tatsächlicher Kriegsopfer nicht die wichtigste Variable hinsichtlich der Unterstützung militärischer Interventionen. Größeren Einfluss hat das Ausmaß, in dem die Bevölkerung von der Notwendigkeit des Einsatzes überzeugt ist (Larson/Savych 2005). 5 Die militärische Nutzung des Weltraumes wird begrifflich in vier Teilmissionen gegliedert: Force Enhance-ment/Force Enabling bezieht sich auf die Nutzung weltraumbasierter Fähigkeiten der Aufklärung, Kommunikati-on und der Navigation zur Unterstützung/Ermöglichung terrestrischer Kriegsführung. Unter Space Support sind die technischen und organisatorischen Voraussetzungen – Transportmittel, Startplätze, Kontrollstationen etc. – für den Zugang zum Weltraum sowie die Unterstützung der im Weltraum befindlichen Systeme zusammengefasst. Force Application bezeichnet den Einsatz im Weltraum stationierter konventioneller oder nuklearer Waffen gegen terrestrische Ziele. Space Control schließlich umfasst alle Maßnahmen zur Gewährleistung der eigenen Hand-

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Zahlen mögen diese Funktion verdeutlichen: Eine herausgehobene Bedeutung für die Be-wegungs- und Koordinierungsfähigkeit US-amerikanischer Truppen sowie die Genauigkeit der eingesetzten Waffensysteme in den zurückliegenden Interventionen hatte die Nutzung des Global Positioning Systems (GPS). Betrug der Anteil gelenkter Munition (per Laser oder GPS-Signalen) lediglich 8% im Zweiten Golfkrieg 1991, so waren es bereits 28% im Kosovokrieg 1999, dann 52% im Afghanistankrieg 2001 und schließlich 64% im Irakkrieg von 2003 (Minkwitz 2008: 71). Im Zweiten Golfkrieg konnten nur 5% aller Flugzeuge GPS-Signale empfangen und durchschnittlich 200 Soldaten verfügten über einen GPS-Receiver. Operation Iraqi Freedom wurde dagegen ausschließlich mit GPS-kompatiblen Flugzeugen und einem Verhältnis von einem Receiver gegenüber sechs bis zehn Soldaten (army squad) durchgeführt (Dolman 2006: 165). Andere Satellitentypen sind nicht weniger wichtig für die auf Informationsasymmetrie gestützte Kriegsführung: Zunehmend leistungs-fähige Aufklärungssatelliten dienen der Informationsgewinnung über das Kriegsgeschehen. Radar- und Infrarotsensoren machen die Gefechtslage auf dem Boden auch bei schlechtem Wetter oder zur Nachtzeit transparent.6 Hinzu kommen die Daten von Wettersatelliten sowie die satellitengestützte Frühwarnung vor Raketennutzung des Gegners. Auch das Volumen satellitengestützter Kommunikation hat sich zum Zwecke beschleunigter Aktions-fähigkeit enorm ausgeweitet: Die etwa 500 000 während des Golfkrieges 1991 eingesetzten Soldaten konnten auf Übertragungskapazitäten von 100 Megabites pro Sekunde zurückgrei-fen, im Afghanistankrieg 2001 standen einem Zehntel dieser Truppengröße fast das Sieben-fache zur Verfügung. Dadurch wurde die Zeit der Informationsübermittlung enorm verkürzt (Scott 2002). Die Abhängigkeit von Weltraumfähigkeiten schließt aber im zunehmenden Maße auch kommerzielle Systeme mit ein. So stieg der anteilige Rückgriff auf kommerziel-le Übertragungskapazitäten von 15% während Operation Desert Storm auf 60% während Operation Allied Force und 80% in Operation Iraqi Freedom (US Air Force 2006: 36). Auch kommerziell vertriebene Satellitenbilder finden militärische Verwendung. So schloss die dem amerikanischen Verteidigungsministerium zugehörige National Geospatial Intelli-gence Agency für das Jahr 2006 entsprechende Verträge im Wert von US$ 60 Mio. ab (US Department of Defense: 2006).

Wird jene auf Weltraumsysteme gestützte Asymmetrie zur unabdingbaren Vorausset-zung der amerikanischen Fähigkeit zur Kriegsführung, so erklärt sich, dass das amerikani-sche Militär die Nivellierung dieser Überlegenheit durch den Zugriff des Gegners auf ähn-liche Fähigkeiten als Bedrohung betrachtet. Dieses Problem stellt sich dringlicher als je zuvor insofern, als immer mehr staatliche und private Akteure über Weltraumfähigkeiten

lungsfreiheit im Orbit sowie zur Beschränkung der Handlungsfreiheit des Gegners (Air Force Space Command 2003: 2). 6 Die mit Hilfe technologischer Aufklärungsmittel hergestellte Transparenz des Kriegsgeschehens nimmt gleich-wohl in dem Maße wieder ab, in dem der Gegner die Methoden der konventionellen Kriegsführung verlässt, sich dem direkten Kampf entzieht und effektive Methoden der Tarnung und Täuschung findet. So gelang es serbischen Truppen während des Kosovokrieges den amerikanischen Beschuss auf wertlose Ziele zu lenken, indem sie Att-rappen aus Sperrholz aufstellten (Cook 2001). Im Kampf gegen irreguläre Truppen vergrößern sich die Probleme noch: Im Verlauf der im März 2002 durchgeführten US-Operation Anaconda gegen Al-Qaida-Kämpfer in Afgha-nistan konnten trotz intensiver Aufklärung über ein nur kleines Operationsgebiet die Mehrzahl der Positionen des Gegners nicht vor dem Beginn des Bodenkampfes aufgedeckt werden (Biddle 2003). Indem solche Maßnahmen der Täuschung und Tarnung zwar nicht die Beobachtungsmittel des überlegenen Gegners schädigen, sie aber wertlos machen, können sie auch als grundlegendste Form der Verweigerung (negation) (s.u.) betrachtet werden (Spacesecurity.org 2007: 124).

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verfügen oder aber auf die von anderen staatlichen oder privaten Akteuren bereitgestellten Fähigkeiten zurückgreifen können:

„Space capabilities are proliferating internationally, a trend that can reduce the advan-tages we currently enjoy“ (Air Force Space Command 2003: 5).

„Adversaries do not need to be space-faring nations to exploit the benefits of space. Adversaries can purchase space products and services, such as imagery and communi-cations, which often rival those available to US military forces“ (United States Air Force 2004: 4).

Die Interessen von privaten Akteuren als Anbieter von Fähigkeiten, als Mitinvestor in Fä-higkeiten sowie als Abnehmer von Fähigkeiten nicht mehr nur im Bereich der Telekommu-nikationssatelliten und des darauf bezogenen Satellitentransports, sondern auch im Bereich der Erdbeobachtung, der satellitengestützten Navigation und in Ansätzen des Weltraumtou-rismus bilden den maßgeblich im wirtschaftlichen Bereich angesiedelten Antrieb dieser Proliferationsdynamik. Hinzu treten die im intensiven Wettbewerb stehenden Kommerzia-lisierungsstrategien der Staaten selber, die auf Reamortisierung der getätigten Investitionen in Forschung und Entwicklung abzielen (Hansel 2007: 17-19). Im Zuge der Verbreitung von Start- und Satellitentechnologie konnte zwar schon Ende der 80er Jahre von einer deut-lichen Abschwächung der amerikanischen Dominanz gesprochen werden (Schrogl 1993: 133-134). In den letzten zwei Dekaden hat sich die Verfügbarkeit von Weltraumtechnolo-gien und -diensten aber noch einmal deutlich ausgeweitet. Einige Zahlen mögen verdeutli-chen, wie weit der Prozess der Pluralisierung weltraumpolitisch relevanter Akteure heute vorangeschritten ist: Inzwischen verfügen neun Staaten, ein Staatenverbund (European Space Agency) sowie zwei internationale Konsortien (Sea Launch und International Launch Services) über einen eigenständigen Zugang zum Weltraum. Kasachstan, Brasilien, Südkorea, der Iran und möglicherweise Nordkorea sind zudem auf dem Weg, diese Fähig-keit zu erlangen. Ende 2006 kontrollierten 47 Staaten zumindest einen Satelliten im Erdor-bit. Allein die in Großbritannien ansässige Firma Surrey Satellite Technology Ltd. mit ihren kostengünstigen Kleinsatelliten ermöglichte es Algerien, Malaysia, Nigeria, Portugal, Süd-korea, Thailand und der Türkei ihre ersten eigenen Satelliten zu betreiben (Spacesecuri-ty.org 2007: 58-59). Die neuen Weltraumakteure verändern die politische Landkarte nach-haltig, indem sie zunehmend Kooperationen außerhalb der etablierten weltraumpolitischen Partnerschaften ermöglichen (Peter 2006). Darüber hinaus haben inzwischen nahezu alle Staaten Zugang zu einigen weltraumgestützten Daten oder Dienstleistungen, deren Qualität sich immer weiter verbessert: Kommerziell vertriebene Satellitenaufnahmen erreichen nun Auflösungen von weniger als 0,4 Metern (Harris 2008), die Kosten des Transports einer Nutzlast von 1 kg in den geostationären Orbit fielen von $US 40 000 im Jahr 1990 auf $US 26 000 im Jahr 2000 (Spacesecurity.org 2007: 77-78). Kapazitäten der satellitengestützten Kommunikation können weltweit eingekauft werden und bald sind nicht nur die Signale amerikanischer und russischer, sondern auch chinesischer, europäischer, japanischer und indischer Navigationssatelliten global oder regional verfügbar (Ianotta 2007). Die Sichtweise amerikanischer Militärs auf die globale Zugänglichkeit satellitengestützter Beobachtungsdaten und Navigationssignale verdeutlicht, dass die drohende Nivellierung der eigenen, überlegenen Gewaltmittel die Kriegsführungsfähigkeit der USA angesichts hoher gesellschaftlicher Opfersensibilität grundsätzlich einschränken könnte:

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„We are paving the road of 21st century warfare now. And others will soon follow. What will we do five years from now when American lives are put at risk because an adversary uses space-borne imagery collectors, commercial or homegrown, to identify and target American forces? What will we do ten years from now when American lives are put at risk because an adversary chooses to leverage the global positioning system or perhaps the Galileo constellation to attack American forces with precision?“ (Peter B. Teets7, zitiert nach United States Air Force 2004: viii).

Die Notwendigkeit, die Ungleichheit der eigenen Gewaltmittel unter diesen erschwerten Bedingungen auf Dauer zu stellen, impliziert jedoch noch keine Festlegung auf dafür einzu-setzende Mittel. Bevor auf diese eingegangen werden kann, müssen allerdings erst einmal die Optionen der potentiellen amerikanischen Gegner genauer in den Blick genommen werden.

3.2 Der Weltraum und die asymmetrische Kriegsführung des Schwächeren

Freilich müssen die Gegner der USA nicht notwendigerweise die Strategie einer Nivellie-rung amerikanischer Überlegenheit durch symmetrische Weltraumfähigkeiten anstreben. Aus ihrer Perspektive würde der Funktionsverlust der amerikanischen Fähigkeiten einen vergleichbaren relativen Gewinn ergeben. Ein Ausfall aller Weltraumfähigkeiten vorausge-setzt, würde die Kriegsführung des amerikanischen Militärs um Jahrzehnte zurückgewor-fen:

„If our space capabilities are taken away, the U.S. military begins to go back in time…The less effective and capable we are in space, the farther back in time we go, until we [no longer have] precision strike [and] we don’t have – or have very little – situational awareness. We do not have reach-back abilities and must revert to methods used 10-30 years ago“ (Robert Kehler, deputy commander of Strategic Command, zit-iert nach Scott 2006: 105).

„If they take over our asymmetric advantage in space, we go from an information age war machine to an industrial war machine […] the edge will go to the adversary“ (Lieutenant General Michael Hamel, head of the Air Force’s Space Command, zitiert nach Spacewar.com 2007).

Militärisch wäre ein Krieg gegen jedweden Gegner sicher auch dann noch zu gewinnen, politisch jedoch kaum. Angesichts der dann gesteigerten Opferzahlen bestehen berechtigte Zweifel daran, dass hinreichend Unterstützung für Initiierung und Fortsetzung einer sol-chen Kriegsführung in einem demokratischen System organisiert werden könnte.

Solange die schwachen Gegner der Vereinigten Staaten keinen Zugang zu Weltraum-fähigkeiten hatten und auch keine Fähigkeiten zur Bekämpfung der amerikanischen Welt-raumfähigkeiten ausbilden konnten, standen die weltraumbasierten Elemente der konventi-onellen Überlegenheit amerikanischer Streitkräfte nicht in Frage. Zwar wurde der Zweite Golfkrieg in Anbetracht der Bedeutung amerikanischer Weltraumfähigkeiten als „First Space War“ (Anson/Cummings 1991) tituliert. Doch war der erdnahe Weltraum in diesem Konflikt kein umkämpftes Gebiet. Er war nicht einmal ein Raum, der von beiden Parteien genutzt werden konnte:

7 Damaliger Undersecretary der Air Force.

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„The U.S.-led coalition came to the desert battlefield with a near-total dominance of Earth orbits and marshalled unprecendented space-dependent military capabilities to help it achieve decisive victory. The Iraqi leadership, conversely, approached war in so conventional and outmoded a fashion that it did not even exploit the space-based in-formation potentially available to it“ (Lambakis 1995: 418).

Erst im Irakkrieg 2003 kam es zum – allerdings gescheiterten – Einsatz von Störsendern gegen das amerikanische GPS. Die dafür verwendeten Signale verrieten auch die Position der verantwortlichen irakischen Einheiten, die daraufhin gezielt angegriffen werden konn-ten (Krane 2003). Dennoch besteht keinerlei Garantie für eine vergleichbar einseitige Kon-trolle des Weltraums in zukünftigen Konflikten, denn die Proliferation weltraumbezogener Technologien erstreckt sich auch auf Fähigkeiten, die gegen Satelliten einsetzbar sind.

Schätzungsweise 30 Staaten sind nun in der Lage, die Funktionstüchtigkeit unge-schützter Sensoren im niedrigen Erdorbit befindlicher Satelliten mittels bodengestützter Niedrigenergielaser zu schädigen (Spacesecurity.org 2006: 134). Es gibt Hinweise, dass China den Einsatz solche Laser bereits gegen amerikanische Aufklärungssatelliten getestet hat (Muradian 2006). Diverse Raumfahrtprogramme verwenden so genannte Mikrosatelli-ten (deren Gewicht unterhalb von 100 Kg liegt), die einfach herzustellen, vergleichsweise günstig zu erwerben und im Orbit schwer zu lokalisieren sind (Western European Union 2006: 11). Auch wenn der großen Mehrheit dieser Anstrengungen zweifelsohne wissen-schaftliche und ökonomische Motive zugrunde liegen, könnten Mikrosatelliten – mit fort-geschrittenen Manövrier- und Tarnfähigkeiten sowie entsprechenden Angriffsinstrumenten ausgestattet – als Anti-Satellitenwaffe dienen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt haben etwa 30 Staaten Mikrosatelliten verwendet (Spacesecurity.org 2006: 136; Hitchens 2006: 2-3). Alle Nuklearmächte sind prinzipiell in der Lage, durch Auslösung einer Nuklearexplosion in der höheren Atmosphäre den Ausfall zahlreicher Satelliten zu bewirken. Wie das Chinesische Beispiel zeigt, können aber auch konventionell bestückte Mittelstreckenraketen als Grund-lage für die Gefährdung diverser Satelliten dienen, indem sie durch gezieltes Auftreffen auf ein im Orbit befindliches Objekt eine kritische Menge an Weltraumschrott produzieren.

Aus Sicht vieler nicht-staatlicher Akteure – etwa terroristischer Gruppierungen – und technologisch rückständiger Staaten sind diese Methoden eines direkten Angriffs auf die im Weltraum befindlichen Komponenten amerikanischer Fähigkeiten freilich unerreichbar. Satelliten mag zwar aufgrund ihrer vorhersagbaren Bewegung in festgelegten Bahnen eine inhärente Verwundbarkeit zu Eigen sein – so werden sie von vielen Militärs als sitting ducks betrachtet (Marshall et al. 2005: 28) – und es bestehen nur sehr begrenzte Eingriffs-möglichkeiten, um den Schaden eines Angriffs zu beheben. Doch die eingeschränkten Zugriffmöglichkeiten schließen auch Angriffe von vielen denkbaren Gegnern aus. Jenen stehen freilich noch andere indirekte Möglichkeiten offen: Dazu zählt vor allem der Einsatz geeigneter Störsender, die die Signale eines Satelliten lokal überlagern.8 Generell gilt: Ein

8 Nach Angaben der Satellite Users Interference Reduction Group (SUIRG) gab es im Zeitraum von Januar 2005 bis Januar 2008 insgesamt 13 Vorfälle der beabsichtigten Störung von Satellitenkommunikation, vgl. http://suirg.org/interference/ (Zugriff 09.01.2008). Im Verdacht solcher Maßnahmen stehen unter anderem der Iran, Libyen und die Türkei, aber auch in Taiwan befindliche chinesische Oppositionsgruppen (Spacesecurity.org 2006: 138-139; Spacesecurity.org 2007: 125). Aufgrund der gescheiterten Versuche des israelischen Militärs, im Sommer 2006 die Ausstrahlung des per Satelliten übertragenen Fernsehprogramms der Hisbollah technisch zu stören, betonten auch Vertreter israelischer Sicherheitskreise die Notwendigkeit einer entsprechenden Anti-Satelliten-Fähigkeit (Opall-Rome 2006).

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Angriff auf die Weltraumkomponenten eines Satellitensystems ist schwierig, der bewirkte Schaden angesichts begrenzter und teurer Möglichkeiten der Wiederherstellung aber e-norm. Hingegen ist der Angriff auf Bodensegmente und Datenverbindungen vergleichswei-se einfach, der bewirkte Schaden aber auch mit geringerem Aufwand zu beheben (Spacese-curity.org 2007: 112-113).

Die sich ausweitende Verfügbarkeit von Fähigkeiten impliziert noch keine Bedrohung, hinzu müssen entsprechende Interessen an der Schädigung amerikanischer Weltraumfähig-keiten treten: Auf Seiten vieler terroristischer Gruppierungen kann dies vorausgesetzt wer-den. Anreize für einen terroristischen Angriff bestehen weniger in der militärischen, son-dern weit mehr in der gesellschaftlichen Abhängigkeit der USA von ihren Weltraumfähig-keiten. Telekommunikation, Transportwesen, Elektrizitäts- und Wasserversorgung, die Speicherung und Verteilung von Gas und Öl, Rettungsdienste, Finanztransaktionen sowie zahlreiche administrative Aufgaben werden mit Hilfe von Weltraumfähigkeiten überwacht und gesteuert. Die amerikanischen, privat und staatlich kontrollierten Weltraumfähigkeiten stellen ohne Frage eine kritische Infrastruktur dar, deren Zusammenbruch der Gesellschaft massive Kosten auferlegen würde. Es ist nicht zuletzt einer Reflexion dieser enorm zuge-nommenen gesellschaftlichen Verwundbarkeit geschuldet, dass die USA den Weltraum nun zu ihren vitalen Interessen zählen (Joseph 2007; The White House 2006). In Hinblick auf mögliche staatliche Gegner bietet insbesondere China Anlass für amerika-nische Befürchtungen. Für den Anfang des Jahres durchgeführten chinesischen Test einer Anti-Satellitenwaffe stehen verschiedene Erklärungen im Raum. Der chinesische Abschre-ckungsexperte Bao Shixiu betrachtet den möglichen Aufbau und Einsatz chinesischer Anti-Satellitenwaffen vor allem als Reaktion auf amerikanische Weltraumkontrollansprüche. Sie dienen damit als Abschreckung gegen einen amerikanischen Angriff auf die chinesischen Weltraumfähigkeiten (Shixiu 2007). Die chinesische Strategie könnte auch auf eine Macht-demonstration abgezielt haben, die die Vereinigten Staaten in Verhandlungen über einen neuen Weltraumvertrag zwingt (Hitchens 2007: 16). Andere Autoren interpretieren den Test als Alleingang der chinesischen Militärbürokratie und als erschreckenden Beleg für deren relative politische Autonomie (Gill/Kleiber 2007).

Die Hinweise in chinesischen Quellen (s.u.) sowie die relative Verteilung weltraumge-stützter Fähigkeiten und Verwundbarkeiten zwischen den USA und China legen hingegen folgende Interpretation nahe: Die chinesische Anti-Satellitenfähigkeit ist weder bürokrati-schen Partikularinteressen geschuldet, noch ist sie eine Reaktion auf amerikanische Welt-raumkontrollansprüche. Sie richtet sich vielmehr gegen die konventionelle militärische Überlegenheit der USA, deren „Achillesferse“ sie ins Visier nimmt:

„The weapons China seeks to blunt through its emerging space-denial capability are not based in space: they are US naval and air forces that operate in China’s immediate or extended vicinity. What are in space are the sensory organs, which find and fix tar-gets for these forces, and the nervous system, which connects the combatant elements and permits them to operate cohesively […] Its best chance of countering the massive conventional superiority of the United States lies in being able to attack the relatively vulnerable eyes, ears, and voice of American power“ (Telis 2007: 45).

Die Möglichkeit, Objekte im Orbit außer Funktion zu setzen, könnte über die konventionel-le Dimension hinaus dazu beitragen, die Überlebensfähigkeit chinesischer Nuklearwaffen zu gewährleisten, indem sie gegen die weltraumbasierten Elemente des zukünftigen ameri-

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kanischen Raketenschutzschildes einsetzbar wäre (France/Adams 2005: 18). Zwar handelt es sich in Bezug auf den freigesetzten Weltraumschrott sowie die Identifizierbarkeit der Urheberschaft um eine „primitive“ Variante einer Anti-Satellitenfähigkeit. Sie wurde von einem Experten als „outer space equivalent of a car bomb“ (zitiert nach Tandon 2007) be-zeichnet.9 Doch könnte gerade eine solche Variante die Grundlage einer glaubwürdigen Abschreckung und der Fähigkeit zur asymmetrischen Kriegsführung bieten. Denn China kann sich aufgrund seiner geringeren Abhängigkeit von Weltraumfähigkeiten eines relati-ven Gewinnes gegenüber den USA sicher sein, wenn die beim Einschlag der Rakete freige-setzten Partikel in der Folge den willkürlichen Ausfall diverser Satelliten verursachen wür-den.10 Analytiker gehen davon aus, dass allein Bruchstücke des nun zerstörten chinesischen Wettersatelliten sich bis zu 200 mal pro Woche näher als 3 Meilen an amerikanische Satel-liten heranbewegen (Whitelaw 2007). Ein kommerzieller Kommunikationssatellit sowie ein Forschungssatellit der NASA mussten bereits Ausweichmanöver durchführen (Gertz 2008).

In einer kürzlich erschienenen Analyse chinesischer Fachliteratur wurden insgesamt 30 spezifische Empfehlungen für Strategien oder technische Systeme vorgefunden, die auf die Ausnutzung der amerikanischen Verwundbarkeit im Weltraum abzielen (Pillsbury 2007). Die chinesischen Autoren versprechen sich davon vor allem die wirksame Abschre-ckung einer amerikanischen Intervention zugunsten Taiwans. Sollte die Abschreckungsstra-tegie scheitern, würde die Nivellierung der weltraumgestützten Überlegenheit amerikani-scher Streitkräfte aber auch die chinesischen Siegeschancen in einem begonnenen Krieg erheblich steigern. So heißt es in einer der Kriegsführung im Weltraum gewidmeten, 2001 veröffentlichten Studie:

„[…] to meet the requierements of defeating the United States in a war over Taiwan; the PLA is urged to possess weapons that can act as ‚assassin maces‘ (shashoujian) with space attack capability“ (Li Daguang, zitiert nach der Übersetzung von Pillsbury 2007: 22).

„We must understand the situation of our space force construction and focus on the possible space operational issues when resolving the Taiwan problem. Studying and developing operational models and campaign methods of real operational significance with a special focus on those that can effectively contain Air Force support for Taiwan by the United States“ (Li Daguang, zitiert nach der Übersetzung von Pillsbury 2007: 23)

Ein anderer chinesischer Fachartikel – „Methods for Defeating GPS“ (Pillsbury 2007: 13) – widmet sich explizit den Optionen zur Ausschaltung des amerikanischen Navigationssys-tems. Der Einfluss der Befürworter solcher Strategien innerhalb des chinesischen Militärs und der Regierungsinstitutionen ist unklar. Deutlich wird allerdings, dass China zumindest

9 Mit Blick auf die technischen Schwierigkeiten der Zielfindung fällt dieses Urteil allerdings anders aus: „China accomplished the most sophisticated of space maneuvers: a hit-to-kill interception, the equivalent of hitting a bullet with a bullet“ (Forden 2008). 10 Hingegen verfügen die Vereinigten Staaten schlichtweg über zu viele Satelliten, um eine strategisch signifikante Menge davon mit Hilfe ballistischer Raketen einzeln und gezielt auszuschalten. Dies gilt zumindest vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Abschusskapazitäten Chinas (Forden 2008). Die bewusste Produktion von Welt-raumschrott hätte aber das notwendige Destruktionspotential (Dinerman 2008). Fraglich ist allerdings der Zeit-raum, in dem eine kritische Menge amerikanischer Satelliten beschädigt sein würde.

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an konzeptionellen Planungen interessiert ist, die im Detail untersuchen, wie die weltraum-bezogene Verwundbarkeit der USA auszunutzen wäre (Pillsbury 2007: 8).

Zusammenfassend bestehen erhebliche Anreize für staatliche wie nicht-staatliche po-tentielle Gegner der USA, deren Verwundbarkeit in Form überwiegend ungeschützter Welt-raumfähigkeiten auszunutzen. Die dafür notwendigen Mittel sind weit zugänglicher gewor-den. Von dieser Analyse ausgehend, lässt sich durchaus ein plausibles Bedrohungsszenario ableiten. Die vom späteren US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld geleitete und hochgradig besetzte „Space Commission“ präsentierte in ihrem Abschlussbericht zu Beginn des Jahres 2001 ein solches Ergebnis. Für die notwendige Dramatik sorgte dabei eine histo-rische Analogie: „The U.S. is an attractive candidate for a ‚Space Pearl Harbor‘“ (Space Commission 2001: 22). Der Vorstellung des Weltraums als sanctuary stellte sich der Be-richt eindeutig entgegen:

„[…] we know from history that every medium – air, land and sea – has seen conflict. Reality indicates that space will be no different. Given this virtual certainty, the U.S. must develop the means both to deter and to defend against hostile acts in and from space“ (Space Commission 2001: x).

Die beiden letzten Kapitel sollten begründen, warum aus Sicht der USA ein doppelter An-reiz dafür besteht, eine Kontrolle des Weltraums anzustreben. Im Folgenden richtet sich die Untersuchung darauf, welche Mittel dafür in Frage kommen.

3.3 Formen und Optionen der Weltraumkontrolle

Weltraumkontrolle kann auf vier Komponenten beruhen: Die Überwachung (surveillance)des Weltraums zur Feststellung, Lokalisation und Identifikation von Gefahren und ihrer Urheber stellt eine Grundvoraussetzung dar. Hinzu treten Schutzmaßnahmen (protection)zur Erhöhung der Überlebensfähigkeit der eigenen Systeme, Vorbeugung (prevention)dagegen, dass die eigenen Fähigkeiten oder Fähigkeiten Dritter durch den Gegner genutzt werden können und schließlich die Verweigerung (negation), d.h. Maßnahmen, die verhin-dern, dass der Gegner seine eigenen Fähigkeiten nutzen kann (United States Air Force 2004: 54; Hitchens 2002). Die Implementation dieser Teilmissionen kann durch den Ein-satz von Mitteln unterschiedlicher Sektoren – Wirtschaft, Diplomatie, Militär – erfolgen. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, scheinen sich die in Frage kommenden Optionen aus Sicht der USA jedoch merklich einzugrenzen. Hintergrund dieser Entwicklung ist die bereits beschriebene enorme Zunahme staatlicher wie privater Weltraumakteure.

Der andauernde und sich beschleunigende Pluralisierungstrend vermindert zunächst einmal die Wirksamkeit und erhöht die Kosten wirtschaftlich-finanzieller Strategien der Weltraumkontrolle: Restriktive Regeln bezüglich des Technologieexports und der Bereit-stellung kommerzieller weltraumgestützter Dienstleistungen können den fortgeschrittenen Pluralisierungstrend angesichts zahlreicher Anbieter kaum mehr aufhalten. Im Gegenteil verstärken sie allenfalls die Anreize für die Entwicklung autonomer Fähigkeiten auf Seiten anderer Staaten. Zudem schädigen sie die Profitabilität der heimischen Raumfahrtunter-nehmen unter den Bedingungen eines hochgradig umkämpften Marktes (Spacesecurity.org 2007: 80-81; Zelnio 2006). Während der Bombardements in Afghanistan 2001 erwies sich eine andere Strategie als wirksamer: Das amerikanische Militär erwarb für mehrere Monate die Exklusivrechte an kommerziell verfügbaren Satellitenbildern der Region. Diese Maß-nahme richtete sich allerdings in erster Linie gegen die eigenen Medien, denen es nicht

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ermöglicht werden sollte, gestützt auf Satellitenbilder ungefilterte Informationen über die Folgen der amerikanischen Bombenab-würfe zu erhalten (Simpson 2001). Langfristig könnte diese Form des „checkbook shutter control“ (Shrader 2007) jedoch scheitern, denn die Zahl der Anbieter nimmt vor dem Hintergrund steigender Nachfrage nach Satellitenbil-dern zu. Das amerikanische Militär sieht sich der Tatsache gegenüber, dass es neben ent-sprechend zahlungsbereiten Staaten tatsächlich immer mehr Medien und Menschenrechts-gruppen sind, welche die öffentliche Wahrnehmung von Krisen und Kriegsführung mit Hilfe von Satellitenaufnahmen beeinflussen (Bates 2003; Simpson 2001).11

In der Vergangenheit gelang es den Vereinigten Staaten auch auf diplomatischem We-ge sicherzustellen, dass andere Akteure keinen Zugriff auf Weltraumfähigkeiten nehmen konnten. So war es dem irakischen Militär im Golfkrieg von 1991 nicht möglich, an Satelli-tenbilder zu gelangen. Voraussetzung dieser politisch hergestellten, temporären Weltraum-kontrolle war allerdings die Unterstützung des Krieges durch eine überaus breite Staatenko-alition einschließlich der damaligen Sowjetunion (Lambakis 1995: 421). Es sollte sich in späteren Kriegen zeigen, dass ein solcher politischer Konsens die Ausnahme bleiben sollte. Gegenüber den amerikanischen Verbündeten mögen diplomatische Maßnahmen zur Her-stellung von Weltraumkontrolle noch Erfolg versprechen: So gelang es den USA mit Hilfe massiven diplomatischen Drucks auf die europäischen Staaten die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass eine Störung des zukünftigen europäischen Navigationssystems Galileo ohne gleichzeitige Beeinträchtigung des amerikanischen GPS technisch möglich ist, da nun unterschiedliche Frequenzen benutzt werden. Damit ist eine wichtige Gewähr für die euro-päische Autonomie in der satellitengestützten Navigation entfallen (Härpfer 2003). Es wird auch über ein geheimes Zusatzprotokoll in einem Abkommen zwischen den USA und der kanadischen Regierung bezüglich des kommerziellen kanadischen Satelliten Radarsat-2 berichtet. Darin ist mutmaßlich festgelegt, dass die USA ein Vetorecht bezüglich des Ver-kaufs von Satellitenbildern haben, auf denen US-amerikanische Einrichtungen bzw. aktuel-le oder potentielle Kriegsgebiete zu sehen sind. Die geplante Übernahme des Satelliten-betreibers durch eine amerikanische Firma hat die kanadische Regierung allerdings verhin-dert (Byers 2008). Schließlich scheinen die USA den Status eines inoffiziellen Vetospielers bezüglich der Exporte israelischer Weltraumtechnologie und weltraumgestützter Dienstleis-tungen zu besitzen.12

Doch der Pluralisierungstrend umfasst auch eine ganze Reihe von Staaten, deren poli-tische Beziehungen zu den USA weit instabiler und teils von gravierenden Spannungen gezeichnet sind: unter anderem China, Brasilien und der Iran. Letzterer steht offenbar kurz davor, eigene Startfähigkeiten zu etablieren und hat diese Dienste bereits befreundeten islamischen Staaten angeboten (Fathi 2008). Russland offeriert Venezuela und Kuba die Nutzung seines satellitenbasierten Navigationssystems (RIA Novosti 2008). Es erscheint jedenfalls kaum wahrscheinlich, dass in zukünftigen Konflikten alle Anbieter von Welt-raumfähigkeiten ein Interesse daran haben, die jeweiligen amerikanischen Gegner von der Nutzung des Weltraums auszuschließen.

11 Vgl. z.B. das „Eyes on Darfur“-Projekt von Amnesty International auf http://www.eyesondarfur.org/satellite. html (Zugriff 10.01.2008). 12 Als die chinesische Regierung beabsichtigte, Nutzungsrechte an einem kommerziellen Erdbeobachtungssatellit einer in Israel operierenden Firma einzukaufen, soll das Pentagon ein Recht auf „shutter control“ sowie regelmä-ßige Vorabinformationen über die von China gewünschten Bilddaten eingefordert haben. Diese Forderungen scheint Israel trotz der damit erheblich verschlechterten Geschäftsaussichten akzeptiert zu haben (Opall-Rome 2007).

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Auch einem vertraglichen Verbot von Weltraumwaffen – d.h. einer auf völkerrechtlichem Wege implementierten Überwachungs- und Schutzmission – stehen erhebliche Hindernisse entgegen: Allein die Verifizierung eines solchen Vertrages wäre äußerst problematisch: Die bestehenden Systeme zur Weltraumbeobachtung reichen dafür nicht aus. Ein ausreichender zwischenstaatlicher Datenaustausch müsste darüber hinaus gravierende Vorbehalte der Sicherheitsbehörden überwinden.13 Zudem mangelt es an einer eindeutigen Definition von Weltraumwaffen. Werden darunter alle gegen Weltraumziele einsetzbaren Fähigkeiten verstanden, dann sind Weltraumwaffen in Form ballistischer Raketen bereits eine Tatsache, deren Abschaffung illusorisch ist. Im Bezug auf im Orbit befindliche Fähigkeiten kommt die der Weltraumtechnologie inhärente dual-use Problematik (Geiger 2005: 11) voll zur Geltung: Auch zivile Fähigkeiten könnten als Waffe gegen andere Objekte eingesetzt wer-den. Überspitzt ausgedrückt: „The flick of a joystick during close approach is all it takes to convert a rescue mission into an attack“ (Oberg 2007).

Vertragliche Verbote von Weltraumwaffen, zum Beispiel in Form des gemeinsamen russisch-chinesischen Entwurfs, erscheinen darum notwendigerweise unvollständig. Die im Januar 2007 zum Einsatz gekommene chinesische Anti-Satellitenwaffe fiele etwa gar nicht darunter. Rüstungskontrollexperten empfehlen daher kein Verbot von Waffensystemen anzustreben, sondern einen Verzicht auf aggressive Handlungen im Weltraum auszuhan-deln (Krepon 2008). Selbst dann bliebe aber das Verifikationsproblem. Die bereits genann-te Maßnahme der US Marine gegen einen funktionsuntüchtigen Spionagesatelliten im Feb-ruar 2008 hat ja gerade gezeigt, wie sich ein Vorwand für verdeckte Waffentests jederzeit konstruieren lassen könnte.

Darüber hinaus sind solche umfassenden vertraglichen Verpflichtungen mit der kon-zeptionellen Eingliederung des Weltraums in Überlegungen zur asymmetrischen Kriegsfüh-rung, etwa auf Seiten Chinas, schlichtweg unvereinbar. Zudem stünden die Interessen der zuständigen amerikanischen Militärs – genauer: die Erfordernisse der Prävention und Ver-weigerung unter den Bedingungen weltraumpolitischer Pluralisierung – einem solchen Verzicht auf aggressive Handlungen entgegen. Denn wie bereits gezeigt wurde, besteht für die USA ein doppelter Anreiz für die Etablierung der Weltraumkontrolle: Es gilt nicht nur, Abhilfe gegen die Verwundbarkeit der eigenen Weltraumfähigkeiten zu schaffen sondern auch, weiterhin auf überlegene Weltraumfähigkeiten gestützt, asymmetrisch Krieg führen zu können. Im Zuge der Pluralisierung staatlicher und privater Weltraumakteure droht eine Tendenz der Nivellierung amerikanischer Weltraumüberlegenheit. Um diese Tendenz im Konfliktfall auch mit gewaltsamen Mitteln aufheben zu können, scheidet aus Sicht der verantwortlichen Militärs ein grundsätzlicher Verzicht auf offensive Akte gegen Weltraum-objekte aus. Dieselbe Logik verbietet auch die ausschließliche Konzentration auf eine Ver-besserung der Weltraumüberwachung sowie rein defensive Schutzmaßnahmen. Dabei wür-den sich durchaus eine ganze Reihe viel versprechender Maßnahmen anbieten, um die Wahrscheinlichkeit und das Destruktionspotential eines Angriffes auf eigene Weltraumsys-teme abzusenken.

13 Immerhin stellen Ansätze eines institutionalisierten Datenaustauschs mit kommerziellen Satellitenbetreibern und ausgewählten Regierungen, etwa im Rahmen des Commercial and Foreign Entity (CFE) Pilot-Projekts der US Air Force einen Anfang dar. Allerdings hält das Pentagon genaue Informationen über viele seiner Satelliten zurück (Taverna 2008). Sicherheitsvorbehalte innerhalb solcher Datenaustauschprogramme machen aber auch andere Institutionen geltend. Nach Angaben des für die Satellitenkontrolle bei der European Space Agency (ESA) zustän-digen Experten Jean-François Kaufeler gibt die NASA 20% ihrer Informationen über Weltraumschrott nicht an ihre europäischen Partner weiter (Der Standard 2008).

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Die Notwendigkeit einer verlässlichen Situationserfassung im Weltraum als Voraussetzung aller Verteidigungsabsichten (und Angriffsabsichten) steht außer Frage. Entsprechende terrestrische und weltraumgestützte Fähigkeiten werden nun ausgebaut (Butler 2007a; Spacesecurity.org 2007: 109-110, 119-120). Beispielsweise soll das voraussichtlich 2011 voll einsatzfähige Rapid Attack Identification Detection Reporting System (Raidrs) in der Lage sein, die Signale eingesetzter Kommunikationssatelliten bezüglich etwaiger Störun-gen zu überprüfen sowie die terrestrische Quelle möglicher Störsignale auf die Größe we-niger Häuserblocks genau aufzudecken. Ein Prototyp des Systems wird bereits seit Juli 2005 im Nahen Osten eingesetzt (Butler 2007b).14 Die geplante Erweiterung des Systems soll dann alle Satellitentypen überwachen und zeitnah sicherheitsrelevante Informationen, etwa über anfliegende Raketen, bereitstellen (Butler 2008). Über diese Fähigkeiten der Lageerfassung hinausgehende Schutzmaßnahmen können versuchen, die Verwundbarkeit der Satelliten zu reduzieren, das Angriffsrisiko durch Funktionsteilung und Redundanz zu streuen oder Zeit und Kosten der Wiederherstellung geschädigter Systeme zu verändern. Letzterem Ansatz hat sich das Konzept Operationally Responsive Space verschrieben (De-partment of Defense 2007). All diese Maßnahmen beabsichtigen, nicht nur Schaden zu vermeiden, sondern vor allem die Effizienz eines Angriffs aus der Sicht potentieller Gegner zu reduzieren. Viele dieser Maßnahmen implizieren aber auch höhere Kosten. Die Härtung eines Satelliten erhöht die Systemkosten um 2-5%, eine im Satelliten integrierte Verteidi-gungsfähigkeit um 20-40%. Zusätzliche Treibstoffreserven um Attacken auszuweichen sind mit 10-20% höheren Systemkosten zu veranschlagen (Nordin 1992: 226). Und die Fähig-keit, Satelliten in wenigen Stunden zu ersetzen, setzt die Finanzierung ungenutzter Back-up Satelliten bzw. die Entwicklung und Bereithaltung kurzzeitig einsetzbarer Trägermittel voraus. Diese zusätzlichen Investitionen müssten gegebenenfalls auch für jene privaten Kapazitäten übernommen werden, auf die das amerikanische Militär im Kriegsfall zurück-greift. Bereits heute entfallen etwa 15% der Kosten eines Satelliten auf Schutzmaßnahmen (Bodderas 2007). Zumindest bezüglich der milliardenschweren heutigen Sattelitenexempla-re scheint das Verhältnis von Angriff und Verteidigung (Jervis 2007) deutlich zugunsten des ersteren auszuschlagen. So war von der Führungsspitze der Air Force zu hören:

„I’m reluctant to replace a US$1.5-billion satellite if it can be destroyed by a US$100-million anti-satellite missile. These numbers are bad. I can’t afford that exchange ra-tio“ (Secretary of the US Air Force Michael Wynne, zitiert nach Buxbaum 2007).

Es bleibt abzuwarten, ob die Aufsplitterung kritischer Funktionen auf mehrere Satelliten, die Rückversicherung durch Zugriffsrechte auf alliierte Kapazitäten oder auch das Auswei-chen auf Unmanned Aerial Vehicles (UAVs) dieses Verhältnis hinreichend verändern kön-nen.

Doch unabhängig von den Kosten der Verteidigung erscheint ein Minimum offensiver Fähigkeiten dann unabdingbar, wenn auch die Präventions- und Verweigerungs-Komponente der Weltraumkontrolle implementiert werden soll. Bestehende amerikanische Waffensysteme könnten diese Funktionen bereits übernehmen. Für diese Zwecke ließen sich nämlich nicht nur seegestützte Teile der Raketenabwehr, sondern auch auf Luftplatt-formen ausgelegte Geschosse kurzfristig zu Anti-Satellitenwaffen umfunktionieren (Fulg-

14 Der Fähigkeit zur Lokalisation und Ausschaltung der Störsender kommt auch deswegen eine besondere Bedeu-tung zu, da ein bloßes Ausweichen angesichts zunehmender Knappheit freier Übertragungsfrequenzen immer weniger durchführbar ist.

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hum/Barrie 2008).15 Aus zwei Gründen tendiert das amerikanische Militär heute aber eher zu solchen Fähigkeiten, deren Wirkung möglichst reversibel und selektiv ist (Tirpak 2006; Gonzales 1999: 36-43): Die physische Zerstörung eines fremden Satelliten setzt zum einen eine beträchtliche Menge so genannten Weltraumschrotts frei, die dann weitere eigene, gegnerische oder neutrale Objekte in nahe liegenden Orbits dauerhaft und völlig willkürlich gefährdet. So wird davon ausgegangen, dass der anfangs erwähnte chinesische Anti-Satelliten-Test eine Menge von 35.000, über 1 cm großen Partikeln freigesetzt hat, die in erdnahen Umlaufbahnen verbleiben werden (Morring 2007). Auf lange Sicht hätte dann jene Partei die größten relativen Verluste zu tragen, die im größten Maße von Weltraumfä-higkeiten abhängt. Dies aber sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt die USA selber. Zum zwei-ten behält sich das amerikanische Militär ausdrücklich vor, auch die Satellitensysteme un-beteiligter Dritter außer Funktion zu setzen, sollte es Gegnern gelingen, darauf zuzugreifen. Temporäre und reversible Effekte würden in diesem Fall den geringsten politischen und ökonomischen Schaden mit sich bringen.

Die genannten Kriterien werden von dem seit 2005 einsatzfähigen Counter Communi-cation System (CCS) erfüllt, das aus drei tragbaren, vom Boden aus sendenden Störsendern besteht:

„The system is an ingenious compromise between the military’s need to neutralize spacecraft that are being used against America and its allies, and the desire of the dip-lomats and politicians not to permanently destroy expensive commercial space assets belonging to unfriendly, neutral or even, supposedly, allied nations“ (Dinerman 2005).

Inzwischen wird bereits in die Entwicklung eines Nachfolgesystems investiert (Pincus 2007). Eine vergleichbare Funktion könnte das seit 2004 klassifizierte Counter Surveillance Reconnaissance Program ausfüllen (Windrem 2007). Es gibt Hinweise, dass solche Fähig-keiten durchaus im Rahmen laufender Konflikte gegen die Satelliten unbeteiligter Dritter eingesetzt werden. So steht das amerikanische Militär im Verdacht, einen kommerziellen europäischen Satelliten außer Funktion gesetzt zu haben, weil es irrtümlich davon ausging, dass irakische Aufständische darüber propagandistische Inhalte verbreiteten (Maeder 2007). 2004 beauftragte Präsident Bush das Verteidigungsministerium mit der Verbesserung ge-eigneter Maßnahmen, um potentiellen Gegnern den lokalen Zugriff auf das Global Positio-ning System und die Navigationssysteme anderer Staaten zu verweigern (Boles 2004; The White House 2004). Bereits seit 2001 besteht auch die erste, defensiven und offensiven Weltraumkontrollmaßnahmen verpflichtete militärische Einheit, das 76. Space Control Squadron.16 Entsprechend werden offensive und defensive Elemente der Weltraumkontrol-le, einschließlich der verbesserten Fähigkeiten zur Situationserfassung im Weltraum orga-nisatorisch verklammert (Pincus 2007; Spacesecurity.org 2007: 126). Darüber hinaus wer-den nicht nur im Rahmen der Forschungen an boden- und luftgestützten Hochenergielasern (Spacesecurity.org 2007: 128-129, 134-135) sondern auch in zahlreichen Mikrosatelliten-programmen – XSS, DART, ANGELS, MiTEX (Caron 2006; Hoey 2006; Shiga 2006;

15 Schon zu Zeiten des Ost-West-Konfliktes experimentierten die USA bevorzugt mit luftgestützten Anti-Satellitenwaffen (vgl. Globalsecurity.org: Air-Launched Miniature Vehicle (ALMV), online unter: http://www.globalsecurity.org/space/systems/almv.htm (Zugriff 16.07.2008) bzw. Project Spike, online unter: http://www.globalsecurity.org/space/systems/spike.htm (Zugriff 16.07.2008). 16 Vgl. Globalsecurity.org: 76th Space Control Squadron [76th SPCS], online unter: http://www.globalsecurity. org/space/agency/76spcs.htm (Zugriff 25.05.2007).

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Krepon 2004) – Fähigkeiten erprobt, die sich für den Einsatz gegen gegnerische Satelliten eignen könnten und den Kriterien der Selektivität und Reversibilität genügen. Die unbeab-sichtigte Kollision zwischen zwei Testsatelliten während der von der NASA im Jahr 2005 durchgeführten DART Mission veranschaulichte bereits solche der Technologie inhärenten Gewaltpotentiale.17 Dennoch fehlt es weiterhin an eindeutigen Nachweisen für ein kohären-tes und umfassendes Programm, das auf die unilaterale Herstellung von Weltraumkontrolle mit technischen Mitteln abzielt. Es bleibt freilich zweifelhaft, ob angesichts der Möglich-keiten, solche Programme der Öffentlichkeit vorzuenthalten, jemals eindeutige Nachweise zu erwarten sind. In der Regierungszeit von Präsident Bush ist das klassifizierte Pentagon-Budget jedenfalls massiv angewachsen. Darin könnten durchaus Entwicklungsprogramme für im Weltraum wirksame Waffensysteme verborgen sein (Broad 2008). Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Aufstellung offensiver Fähigkeiten zur Gewährleistung der Kon-trolle des Weltraums auch in den Planungen der zuständigen Institutionen erst für einen Zeitraum ab 2012 anvisiert ist (Air Force Space Command 2003: 9-10, 24).

4 Ausblick: Die Entstehungs- und Erhaltungsbedingungen einer zukünftigen „Pax Americana“ im Weltraum

Mögen gewisse strategische Gesichtspunkte für eine forcierte Implementierung der Welt-raumkontrolle durch die USA sprechen, so ist diese Entwicklung keineswegs sicher: Ganz im Gegenteil stehen ihr nicht nur technologische Herausforderungen, sondern auch erhebli-che innenpolitische Restriktionen in Form der öffentlichen Meinung, aber auch der die traditionellen Waffengattungen vertretenden bürokratischen Interessen entgegen. Dessen ungeachtet konzentrieren sich die abschließenden Überlegungen auf die Frage, wie sich die Chancen einer derartigen Weltraumkontrollpolitik unter dem Einfluss variabler Machtver-hältnisse und Verwundbarkeiten der relevanten Weltraumakteure in der Zukunft verändern könnten.

Es wird dabei nicht behauptet, die Anlässe oder gar Ursachen zukünftiger Kriege wür-den sich aus einer Konfrontation gegensätzlicher Interessen im Weltraum ergeben. Viel-mehr erscheint es plausibel, dass das Kriegsgeschehen sich unter bestimmten Bedingungen auf den Weltraum ausdehnt. Aber indem die Akteure dieses Ausgreifen antizipieren und in ihre Kalküle mit einbeziehen, können doch ihre jeweiligen Handlungschancen und Ver-wundbarkeiten im Weltraum, je nachdem wie sie Kosten und Risiken eines Krieges umver-teilen, Anreize oder Restriktionen bezüglich einer Kriegsteilnahme oder einer Eskalation des Kriegs verändern. Solchen Tendenzen sich verschiebender Verwundbarkeiten und Handlungschancen wendet sich die Untersuchung nun zu.

Die Überlegungen gehen dabei von drei Zeitphasen aus, die sich aus einer hypotheti-schen Entwicklungsrichtung und -geschwindigkeit mehrerer Schlüsseltrends ergeben. Diese Phasen setzen sich hinsichtlich weltraumbezogener Handlungschancen und Verwundbar-keiten und damit hinsichtlich der Erhaltungsbedingungen einer hegemonialen Kontrolle des Weltraums deutlich voneinander ab.

In der ersten, in der mittelbaren Zukunft beginnenden Phase, erwerben die USA das ganze Spektrum jener Fähigkeiten, die die reversible und selektive Ausschaltung gegneri-scher Weltraumobjekte erlauben. Da das amerikanische Budget für militärische Weltraum-

17 Vgl. NASA 2006.

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fähigkeiten etwa 95% der weltweiten Aufwendungen für militärische Raumfahrt entspricht (Neuneck/Rothkirch 2006: 10) und sogar eine weitere Erhöhung von gegenwärtig jährlich 22 Milliarden auf 28 Milliarden im Jahr 2010 erwartet wird (Business Wire 2006), ist ein symmetrischer Rüstungswettlauf mit anderen Staaten in der Folge kaum zu erwarten. Mög-liche Konkurrenten können sich den amerikanischen Ambitionen allerdings asymmetrisch, mit Hilfe jener weitaus kostengünstigeren Anti-Satelliten-Fähigkeiten erwehren, die infolge ihres Einsatzes Weltraumschrott in großen Mengen produzieren. Da ihre Gesellschaften bezüglich der Gewährleistung von Sicherheit und Wohlstand in weit geringerem Maße von Weltraumfähigkeiten abhängen, können Konkurrenten den Einsatz derartiger Waffen – etwa modifizierter ballistischer Raketen – glaubhaft androhen. Folglich bedeutet die nicht-selektive Gefährdung diverser orbitaler Systeme in jedem Falle einen relativen Gewinn gegenüber den USA. Eine Vergeltung solcher Angriffe ist zwar möglich, da ihre Urheber-schaft vergleichsweise leicht festzustellen ist. Allerdings müssten die USA die Vergel-tungsmaßnahmen dann ohne die Unterstützung zahlreicher Weltraumfähigkeiten durchfüh-ren. Dabei müssten sie bereit sein, ihre Truppen sowie die Zivilbevölkerung des Gegners einem Risiko auszusetzen, dass mit Hilfe der Weltraumfähigkeiten gerade vermieden wer-den sollte. Es stellt sich zudem die sensible Frage, ob die Legitimität einer opferreichen Luft- oder Bodenoperation als Antwort auf die bloße Zerstörung technischer Systeme in-nerstaatlich und international vermittelt werden kann. Dies vermindert die Chancen, den Einsatz solcher Anti-Satelliten-Fähigkeiten abschrecken zu können. In der Abwägung die-ser Faktoren ergibt sich eine Situation, in der die USA trotz erheblich größerem Ressour-ceneinsatz keine stabile hegemoniale Kontrolle des Weltraums herstellen können. Für ihre Konkurrenten bestehen erhebliche Anreize für eine Ausdehnung möglicher Konflikte in den Weltraum hinein. Paradoxerweise kann diese strategische Situation im Weltraum ins-gesamt friedenserhaltende Effekte zeigen, indem sie nämlich die Vereinigten Staaten dazu anhält, auf Interventionen gegen entsprechend befähigte Gegner zu verzichten, sofern zu-mindest ihre vitalen Interessen nicht bedroht sind.

Eine zweite Phase nimmt ihren Anfang, wenn auch die Sicherheit und der Wohlstand der amerikanischen Konkurrenten in erheblichem Maße von weltraumgestützten Systemen abhängig werden. Möglich wird dies infolge des sich ausweitenden Engagements privater Akteure, die Weltraumfähigkeiten anbieten, abnehmen oder mitfinanzieren und damit die Kosten des Rückgriffs auf solche Fähigkeiten weiter reduzieren. Eine asymmetrische Reak-tion auf die amerikanische Weltraumkontrollpolitik ist nun nicht mehr möglich, denn bei einer Gefährdung der erdnahen Orbits verteilen sich die Kosten zwischen den USA und ihren Gegnern nun weit gleichmäßiger. Symmetrisch können diese jedoch auch nicht kon-kurrieren, denn die immer noch weit größeren Ressourcen der USA erlauben ihnen die Aufrechterhaltung eines überlegenen Verteidigungsbudgets.18 In dieser Zeitphase sind die Voraussetzungen einer hegemonialen Kontrolle des Weltraums vergleichsweise günstig. Die Ausdehnung kriegerischer Gewaltmaßnahmen in den Weltraum verspricht den ameri-

18 Da die militärische Überlegenheit der USA ganz wesentlich von qualitativem statt von lediglich quantitativem Charakter ist, liegen ihre Grundlagen nicht nur in bloßer industrieller Leistungsfähigkeit, sondern auch in überle-gener Innovationsfähigkeit, mit anderen Worten in der Überlegenheit ihrer wissenschaftlich-technischen For-schungseinrichtungen. Wie Robert Paarlberg aufzeigt, weisen alle geläufigen Indikatoren für das Ausmaß dieser wissensbasierten Machtgrundlagen – wissenschaftliche Veröffentlichungen und Auszeichnungen, öffentliche und private Aufwendungen in Forschung und Entwicklung, Marktanteile in Bereichen der Hochtechnologie – darauf hin, dass noch für einige Jahrzehnte kein Ende dieser militärischen Sonderstellung der USA abzusehen ist (Paarl-berg 2004).

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kanischen Konkurrenten nur geringe Vorteile. Zumindest müssten nun auch ihre Gesell-schaften damit rechnen, einen hohen Preis für solche Maßnahmen zu zahlen.

An dieser Stelle ist ein kurzer Einschub vonnöten: Denn je mehr Anti-Satellitenwaffen in der ersten Zeitphase getestet, aufgestellt oder gar eingesetzt wurden, desto weiter kann sich der Beginn der zweiten Zeitphase hinauszögern. Dies beruht auf der Tatsache, dass die Pluralisierung der Weltraumakteure in hohem Masse vom Ressourceneinsatz privater Ak-teure abhängig ist. Vergrößert sich aber das Risiko für orbitale Systeme, werden sich die privaten Investoren alsbald aus ihrem Raumfahrtengagement zurückziehen.19 Die Kosten für technische Schutzmaßnahmen sowie drastisch erhöhte Versicherungssummen würden schlicht jede Gewinnaussicht zunichte machen (Western European Union 2006: 3). Versi-cherungsunternehmen sind kaum bereit, die zusätzlichen Risiken durch Satellitenabschüsse und daraus resultierenden Weltraumschrott zu tragen. Jüngst wurde vom Verkauf eines in den falschen Orbit eingebrachten kommerziellen Satelliten an das US Verteidigungsminis-terium berichtet. Die ursprünglichen Versicherer des Satelliten bestanden dabei auf eine Vertragsklausel, die einen etwaigen, zukünftigen Abschuss ausschließt (Center for Defense Information 2008). Die Versicherungskosten betragen bereits jetzt mindestens 15-20% der für neue Hardware aufzuwendenden Summen (Taverna 2002). Die negativen Auswirkun-gen eines Rüstungswettlaufes auf das Raumfahrtgeschäft werden auch von Analysten prog-nostiziert:

„An ASAT weapon race will have the effect of increasing the financial risk of any sat-ellite program, and this will undoubtedly be felt most within the commercial market through decreased investor confidence and (or) high insurance rates“ (Marco Caceres, leading analyst of Teal Group’s World Space Systems Briefing, quoted from Space-war.com 2007).

Fähigkeiten können dann nicht mehr auf dem globalen Markt eingekauft, gemeinsam mit privaten Akteuren erworben oder durch Kommerzialisierung refinanziert werden. Das wür-de vor allem all jene Staaten treffen, die aufgrund ihrer begrenzten finanziellen Mittel und/oder ihrer industriepolitischen Grundsätze mit der höchsten Sensibilität20 auf Verände-rungen der sozioökonomischen Kosten und Gewinne in der Raumfahrt reagieren, d.h., de-ren Status als Weltraummächte an das Engagement privater Akteure gebunden ist. Russ-land, die europäischen Staaten, China, Japan und Indien sind davon allesamt in stärkerem Ausmaß betroffen als die USA. Ein Rückzug privater Akteure würde im Ergebnis bewir-ken, dass die möglichen Konkurrenten der USA aufgrund verminderter eigener Weltraum-fähigkeiten nach wie vor asymmetrische Strategien einsetzen können. Amerikanische Welt-raumfähigkeiten blieben damit hochgradig verwundbar. Andererseits aber wäre dem Trend der Nivellierung amerikanischer Weltraumüberlegenheit durch vergleichbare Fähigkeiten der Aufklärung, Kommunikation und Navigation, also einem Hauptantrieb für die Etablie-rung effektiver Weltraumkontrolle, entgegengewirkt.

19 Die größten wirtschaftlichen Schäden erwarten Satellitenbetreiber von einer deutlichen Zunahme von Störsen-dern gegen die Signale von Kommunikationssatelliten. Denn in diesem Marktsegment werden 90% der Gewinne eingefahren. Entsprechend fordern sie bereits jetzt die Beteiligung der Regierungen an diesbezüglichen Schutz-maßnahmen ein (Morris 2007). Der Einsatz von Weltraumschrott produzierender Waffen könnte allerdings weit drastischere Folgen für die ökonomische Rentabilität haben, indem nämlich der erdnahe Weltraum auf Dauer nur noch mit unkalkulierbaren Risiken nutzbar wäre. 20 Zu staatlichen Sensibilitäten gegenüber sozioökonomischen, politischen und symbolischen Kosten und Gewin-nen vgl. Hansel 2007.

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Diese Schwierigkeiten eines Übergangs von der ersten zur zweiten Phase beiseite lassend, kann eine dritte und vorerst letzte, bestimmbare Zeitphase unterschieden werden: Diese geht aus einer grundlegenden Verschiebung der relativen sozioökonomischen Ressourcen der Weltraummächte hervor. Eine Reihe namhafter Autoren (Kennedy 1989; Gilpin 1981; Organski/Kugler 1980) ist der These nachgegangen, dass die im zwischenstaatlichen Ver-gleich erkennbare Ungleichheit ökonomischer Wachstumsraten und die Ungleichzeitigkeit sozialer Innovationen einen destabilisierenden Einfluss auf hegemoniale Ordnungen in der internationalen Politik ausüben. Ist ein Niedergang der relativen sozioökonomischen Macht eines hegemonialen Staates eingeleitet, so kann er auch das Übergewicht militärischer Macht auf Dauer nicht aufrechterhalten. Auf die gegenwärtigen Machtrelationen bezogen: Werden die USA auf wirtschaftlichem Gebiet von ihren Hauptkonkurrenten – vor allem China und Indien – eingeholt, so entfallen die Voraussetzungen des Rüstungsgefälles. In diesem Fall können die genannten Staaten auch auf dem Feld militärischer Weltraumfähig-keiten symmetrisch mit den USA konkurrieren und in einen klassischen Rüstungswettlauf eintreten. Eine hegemoniale Kontrolle des Weltraums kann dann, wenn überhaupt, nur von den neuen sozioökonomisch führenden Mächten getragen werden. Vorstellbar ist jedoch auch eine allzu bekannte Situation: Weltraummächte in einem intensiven nuklearen Rüs-tungswettbewerb, dessen Kontrolle es erfordert, dass die wechselseitige Garantie ihrer Weltraumfähigkeiten Vorrang vor Ambitionen der Weltraumkontrolle hat.

Vorerst steht ein solches déjà vu Erlebnis in der Weltraumpolitik jedoch nicht in Aus-sicht. „Back to the future“ (Handberg 2000: 249) kennzeichnet die gegenwärtige Situation aber in einem anderen Sinne: Ihre fehlende Erwartungssicherheit erinnert an den Beginn des Raumfahrtzeitalters, als der Weltraum noch als Projektionsfläche diverser Bedrohungs-szenarien diente und keine wechselseitige Zurückhaltung der Supermächte existierte (Werth 2006). Der besondere politische Status, der dem Weltraum vermeintlich endgültig zuge-dacht wurde, scheint nun zusehends wieder umstritten: „We have left the era of strategic stability in the space realm behind for probably a generation at least […] all choices are now again thought to be open for reconsideration“ (Handberg 2000: 249, 253). Die ab-schließenden Überlegungen sollten zeigen, dass ein Ende dieser offenen Situation ange-sichts eines vorerst unentschiedenen Spannungsverhältnisses zwischen den Tendenzen einer hegemonialen Kontrolle und eines umkämpften Raumes diesmal nicht so schnell zu erwarten ist.

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Ungleichzeitige Kriege

Thomas Jäger 1 Einleitung

Als kennzeichnend für eine neue Form der gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen Kriegsparteien gilt der Typus des Selbstmordattentäters.1 In ihm scheint sich die veränderte Form des asymmetrischen, entstaatlichten, gewaltökonomischen, privatisierten, in pa-rastaatlichen Gebieten geführten neuen Krieges2 zu manifestieren. Während moderne Ar-meen unbemannte Flugzeuge einsetzen, um Verluste an Menschenleben zu vermeiden, nutzen Terrororganisationen und andere Kampfverbände Menschen als lebende Bomben und dokumentieren auf diese Weise, dass sie trotz technischer Unterlegenheit zumindest in dieser Hinsicht die Eskalation weitertreiben können und verkünden durch die Manifestation der Tat ihren unbedingten Kampfeswillen.

Sie dringen, so fährt das Argument fort, auf diese Weise in die von ihnen derart be-drohte Gesellschaft geradezu ein, indem niemand mehr sicher sein kann, ob, wann und wo der letzten Tat die nächste folgt und wer die Gewalt im Wortsinn mit sich trägt. Der Angriff kommt dann nicht mehr notwendigerweise erkennbar aus dem Äußeren, sondern aus dem Inneren, das sich selbst als Äußeres versteht. Über diese Psychologie von Selbstmordatten-tätern ist umfangreich geschrieben worden, wobei sie auch häufig zu einer Art quasi-mystischer Figur stilisiert werden (Appadurai 2009: 95).

Damit scheint der Selbstmordattentäter nicht mehr Instrument der Politik im Krieg zu sein, sondern eine diese überhöhende Figur; jemand der außerhalb der weltlichen Ausei-nandersetzungen steht, in die er nur quasi zufällig eingreift, weil seine jenseitige Orientie-rung auf eine weltliche Frage gelenkt wurde. Der Rückzug aus der peinigenden Welt fußt, so die Einschätzung, auf einer paranoiden Einstellung und einer manichäistischen Weltsicht (Pobins/Post 2002: 194). Ein methodisches Grundproblem der Sozialwissenschaften besteht allgemein darin, wie man vom Einzelnen auf die Gesamtheit kommt und speziell in diesem Fall, ob der Blick auf den einzelnen Selbstmordattentäter Aufschluss darüber liefert, wie das soziale und politi-

1 Zur historischen Perspektive vgl. Barlow 2007. Mit Einsichten aus dem palästinensischen Kampf der Zweiten Intifada vgl. Hafez 2006. 2 Diese Aufzählung versammelt einige der derzeitigen Charakterisierungen für die veränderten Erscheinungsfor-men des Krieges, die diskutiert werden, seit nicht mehr – wie in den 1990er Jahren – „humanitäre Interventionen“ das Konzept darstellen, um das das Kriegsgeschehen vorwiegend analysiert wird. Im Übergang zwischen der Zeit dieses ordnungspolitischen Anspruchs und der Phase der verwirrenden Kriegskomplexität entstand das Werk Civil Wars, Insecurity, and Intervention von Barbara F. Walter und Jack Snyder (1999). Den gewandelten Blick auf das Kriegsgeschehen kurze Zeit später dokumentiert William R. Schilling (2002). Die Unterscheidung in zivilisierte und unzivilisierte Kriege bei Martin van Creveld (2009) spare ich hier aus. Zu den zivilisierten Kriegen vgl. Cre-veld 2009: 135-142; zu den unzivilisierten Kriegen 142-147.

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288 Ungleichzeitige Kriege

sche Phänomen zu verstehen ist.3 Carl von Clausewitz (1866) hat in den methodischen Überlegungen in seinem Werk „Vom Kriege“ darauf hingewiesen, dass Analytiker das Einzelne und das Gesamte stets zusammen sehen müssen und nicht strikt das eine aus dem anderen oder gar ohne das andere erklären können. Das Gesamte und das Einzelne stehen in dialektischem Verhältnis zueinander. So lässt sich der einzelne Selbstmordattentäter nicht erklären, ohne das politische Phänomen der Selbstmordattentate zu verstehen und dieses politische Phänomen kann nicht ohne die operative Leistung des Einzelnen erfasst werden. Das erst kann Aufschluss darüber geben, ob dieser Typus des Kämpfers charakteristisch für die neuen, noch nicht umfassend erklärten Kriegsformen ist. Diese etwas umständliche Formulierung versucht, den Begriff des „neuen Krieges“ zu vermeiden. Denn er ist, worauf Herfried Münkler (2002: 9) hingewiesen hat, „unscharf, aber offen“. Das kann für den Beginn einer wissenschaftlichen Debatte ein produktiver Anfang sein, weil es die Phäno-mene nicht hinter früh festgelegten Begriffen verschwinden lässt. Aber zum besseren Ver-ständnis der sich entwickelnden Realität des Krieges gehören dann im Verlauf der Debatte differenzierende Begriffe.

1 Selbstmordattentate gegen Besetzung

Zwei unterschiedlich angelegte Studien, die eine auf der Basis breit recherchierter Selbst-mordattentate seit dem 1. April 1983, die andere auf der Basis von Fallstudien über Auf-standsbewegungen seit dem späten 18. Jahrhundert, gelangen zum gleichen Ergebnis: Die zentrale erklärende Variable für dieses gewaltsame Vorgehen ist die Besetzung des eigenen Landes durch fremde Truppen. „No matter how they differ in form, duration, and intensity, a single thread runs through them all: opposition to foreigners“ (Polk 2008: XIII). Diese Fremden bewegen sich im eigenen Land, das die Gewalttäter zurückgewinnen wollen. Gleichviel welches transzendente Ziel sie auch sonst noch verfolgen mögen, „… the proxi-mate, operational goal of suicide operations is to gain control of territory“ (Pape 2006: 27). Nach den Analysen, die Robert A. Pape auf der Basis seiner Chicagoer Datenbank, die alle Selbstmordattentate seit dem 1. April 1983 dokumentiert hat, erarbeitet hat, stellen Selbst-mordattentate ein Instrument dar, mit dem demokratische Staaten dazu gebracht werden sollen, ihre Truppen von Territorien abzuziehen, die die Terroristen unter ihre eigene politi-sche Gewalt bringen wollen (Pape 2006: 4), denn „… modern suicide terrorism is best understood as an extreme strategy for national liberation against democracies with troops that pose an imminent threat to control the territory the terrorists view as their homeland“ (Pape 2006: 23).

3 Unter diesem Gesichtspunkt kritisch zu lesen ist Christoph Reuter (2002).

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Thomas Jäger 289

2 Krieg der Ideologien?

Diese Einschätzung widerspricht auf den ersten Blick der Interpretation, dass es sich bei dem Krieg gegen den Terrorismus um eine ideologische Auseinandersetzung handelt. Thomas L. Friedman hat diese Position in der aktuellen Debatte um die Intensivierung des amerikanischen Krieges in Afghanistan zu Beginn der Offensive in der Provinz Helmand im Juli 2009 pointiert formuliert:

„…what the essence of the ‚war on terrorism‘ is about. It’s about the war of ideas with Islam – a war between religious zealots who glorify martyrdom and want to keep Islam untouched by modernity and isolated from other faith, with its woman disempowered, and those who want to embrace modernity, open Islam to new ideas and empower Muslim woman as much as men“.

Zwischen der politisch zweckgerichteten Handlungsweise und dem – keinesfalls, wie Friedman vermutet nur ideologischen, sondern ökonomisch und politischen – Konflikt um die Modernisierung von Gesellschaften muss nicht notwendig ein Widerspruch bestehen. Dass Selbstmordattentäter organisiert als Instrument der nationalen Befreiung eingeplant werden, dass sie eine bestimmte Funktion im Krieg und speziell in der Eskalationskommu-nikation einnehmen, steht nicht notwendigerweise der Tatsache entgegen, dass sie aus anti- oder amodernen Motiven handeln oder zum Handeln angehalten werden.

Diese anti- oder amoderne Haltung kommt in einer anderen Form der Gewaltanwen-dung noch spezifischer zum Vorschein, den sogenannten Ehrenmorden. Dabei handelt es sich „… um Tötungsdelikte, die aus vermeintlicher kultureller Verpflichtung heraus inner-halb des eigenen Familienverbandes verübt werden, um der Familienehre gerecht zu wer-den.“4 Die Beschreibung von Ehrenmorden, für die es in Deutschland keine polizeiliche Definition und auch keine gesonderte statistische Erfassung gibt, verortet diese in traditio-nellen patriarchalischen Gesellschaften, insbesondere in ruralen Gegenden, wobei der Ruf der Familie hoch und das Leben eines Mannes höher als das einer Frau gewertet wird. Zent-ral sind traditionelle Wertvorstellungen, wobei die darin hochgeschätzte Familienehre ab-hängig ist vom Verhalten der Frauen in der Familie. Wird die Familienehre durch das Ver-halten einer Frau oder durch andere verletzt, so muss sie durch eine Gewalttat wieder her-gestellt werden. Anders als bei der Blutrache, die an Männern verübt wird und einen Kreis-lauf des gegenseitigen Mordens auslöst, werden bei den Ehrenmorden Frauen oder ihre (zu frühen oder parallelen oder sie zur Trennung bewegenden) Liebhaber umgebracht. In Deutschland wurden zwischen Januar 1996 und Juli 2005 in einer Bund-Länderstudie 70 Opfer dieser Gewaltzahl ermittelt. Das Bundeskriminalamt spricht hierbei vom Hellfeld. Die Dunkelziffer und die im Ausland (etwa bei einer kurzzeitigen Rückkehr in ihr Heimat-land) verübten Verbrechen werden nicht erfasst. 48 Menschen wurden getötet; 22-mal scheiterte der Versuch. Die Opfer sind in der Mehrzahl weiblich; fünf weibliche Opfer waren unter 18 Jahren; zwei männliche waren unter 6 Jahre. Die Täter sind fast ausnahms-los (aber nur fast) männlich und fünfzig der siebzig Täter stammen aus der Türkei. Der häufig in Medienberichten vermittelte Eindruck, dass Jugendliche zu Ehrenmorden ange-

4 Bundeskriminalamt: Presseinformation zu den Ergebnissen einer Bund-Länderabfrage zum Phänomenbereich „Ehrenmorde in Deutschland“, 3; online unter: http://www.bka.de/pressemitteilungen/ 2006/060519_pi_ ehren-morde.pdf (Zugriff 24.7.2009). Im Folgenden wird illustrierend allein beschrieben, welches Vorkommen dieser Gewaltart in Deutschland dokumentiert ist. Alle Zahlen und weitere Fakten sind in der angegebenen Quelle ausge-führt.

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290 Ungleichzeitige Kriege

stiftet werden, um das geringere Strafmaß zu nutzen, konnte in dieser Erhebung nicht sub-stantiiert werden. Die Täter sind in der überwiegenden Mehrzahl Erwachsene.

Sowohl bei den Ehrenmorden als auch bei Selbstmordattentaten spielt die Wiederher-stellung einer kollektiven Ehre, im ersten Fall der Familie, im zweiten einer übergeordneten Gemeinschaft, eine zentrale Rolle. Beide Gewaltformen werden mit der Wiederherstellung von traditionellen Ordnungs- und Wertvorstellungen in ihrem jeweiligen Kollektiv begrün-det und legitimiert. Möglicherweise ist dieser Zugang geeignet, einen spezifischen Aspekt der derzeit zu beobachtenden Konfliktaustragung in kriegerischen Auseinandersetzungen zu erklären. Hierzu scheint es angebracht auf das Konzept der Ungleichzeitigkeit von Ernst Bloch zurückzugreifen.

3 Ungleichzeitigkeit

Der Begriff der Ungleichzeitigkeit hat im Werk von Ernst Bloch vielschichtige Bedeutun-gen. Im Kern sagt er aus, dass Vergangenheit in der Gegenwart weiterwirkt, ohne von die-ser aufgehoben zu sein. Sie ist also noch was sie war, ohne durch die Prägekraft der fort-schrittlicheren, zur Moderne hinführenden Entwicklungen neu formatiert worden zu sein. Aufgehoben ist hier im Sinne von überwunden zu verstehen, die Vergangenheit ist eben nicht überwunden und hinter sich gelassen worden. Die Gegenwart steht zwar entwick-lungsgeschichtlich auf einer höheren Ebene, aber ohne diese spezifische Ausprägung der Vergangenheit in sich zu bewahren. Die in der Gegenwart aus eigener Kraft weiterlebende Vergangenheit konnte sich der Anpassung an die veränderten Umweltbedingungen entzie-hen, sie konnte ihre eigene, territorial und sektoral begrenzte Lebenswelt erhalten. Damit sind diese vergangenen Haltungen und Lebensweisen zwar gegenwärtig in dem Sinn, dass sie in der Gegenwart zu beobachten sind; aber nicht in dem Sinn, dass sie unter die Prinzi-pien der Gegenwart fallen, sie sind „reale Ungleichzeitigkeit“ (Bloch 1977: 113).

Die mit dem Begriff der Ungleichzeitigkeit erfasste Vergangenheit in der Gegenwart reproduziert sich in bewusster Abkehr von dieser oder wurde von den Fortschrittsprozessen nicht erfasst5, wobei dies zwei Formen der Reaktion auf die dominante ökonomische Ent-wicklungsrichtung annehmen kann. Die Vergangenheit zeigt sich entweder in einer amo-dernen oder in einer antimodernen Ausprägung. Die erste Variante bezeichnet Lebenswei-sen, die von Modernisierungsprozessen nicht berührt wurden, ein Phänomen, das Bloch für die frühen Jahre des 20. Jahrhunderts beschreiben konnte, das aber unter den Bedingungen der Globalisierung an Zahl und Größe und deshalb auch an Bedeutung verliert. Die zweite Variante setzt die gegenwärtige Gegenwart voraus, um in Antwort auf diese Veränderun-gen, also antimodern, traditionelle Haltungen und Lebensweisen zu propagieren und zu leben. Beide Formen können sich zudem in ihrer sozialen Organisation verbinden.

Der Widerspruch zwischen den Anforderungen der kapitalistischen Moderne und den zurückgebliebenen Mentalitätsstrukturen stellt so eine Konstellation des Ungleichzeitigen

5 „Gleichzeitige Menschen können trotz aller Mittelstellung [Mittelständigkeit], die ökonomisch dumm hält, trotz allen Scheins, der daran Platz hat, sich nicht großenteils so archaisch verwildern und romantisieren lassen“ (Bloch 1977: 112-113). Vor Augen hat Bloch die deutschen Bauern und Angestellten, die, mit ihm zu sprechen, auf das Verwilderungsangebot der Nationalsozialisten eingingen, statt ihre wirklichen Interessen zu erkennen. Eigentlich müssten sie, den Arbeitern ähnlich, nach Wirrungen auf der linken Seite des politischen Spektrums landen. Aber: „Es wirken … Antriebe und Reserven aus vorkapitalistischen Zeiten und Überbauten, echte Ungleichzeitigkeiten mithin, die eine sinkende Klasse in ihrem Bewusstsein rezent macht und rezent machen lässt“ (Bloch 1977: 113).

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dar. Während soziale und ökonomische Fortschrittsprozesse die eine Seite der Wirklichkeit, nämlich die gegenwärtige Gegenwart, konstituieren, verharren die politischen Mentalitäten in davon unberührter gegenwärtiger Vergangenheit. Bloch hatte dies am Beispiel Deutsch-lands der 1930er Jahre, dem für ihn paradigmatischen Land der Ungleichzeitigkeit de-monstriert, insbesondere daran, dass es nicht gelang, den sozio-ökonomischen Fortschritt in Deutschland im 20. Jahrhundert mit einem politischen Fortschritt zu verbinden, der in einer demokratischen Revolution seinen Ausdruck hätte finden müssen. Grund hierfür waren, seiner Analyse folgend, die Mentalitätsstrukturen, die nicht durch die Entwicklungen der Gegenwart geprägt wurden, sondern in der Vergangenheit „der unüberwundenen Reste älteren ökonomischen Seins und Bewusstseins“ (Bloch 1977: 114) verhaftet blieben.6

Ernst Bloch erweiterte diese Konstellation der Ungleichzeitigkeit noch um die in die Gegenwart hineinragende Zukunft, die bei ihm Übergleichzeitigkeit heißt, und die er als „im Jetzt enthaltene Zukunft…neue Gesellschaft, womit die alte in ihren Produktivkräften schwanger geht, das ‚Morgen in Heute‘“ (Bloch 1977: 122, 213) beschreibt. Ebenso wie Lebensweisen in vergangenen gesellschaftlichen Formationen verhaftet bleiben können, können sie auch die zukünftigen Lebensformen, sie quasi in sich tragend, vorwegnehmen. Sie konstituieren dann die in die Gegenwart hineinragende Zukunft. Allerdings würde man diesen Begriff heute als Zukünfte lesen, weil hier, anders als bei der Vergangenheit, Mög-lichkeitsräume eröffnet, ausgetestet und erst dann im Widerstreit der unterschiedlichen Handlungen konstituiert werden. Die Komplexität der Gegenwart nimmt durch diesen Aus-griff, den notwendigen Ausgriff, auf die unterschiedlichen Optionen zukünftiger Entwick-lungen zu. Arjun Appadurai hat auf diese Bedeutung der Zukunftsoffenheit hingewiesen, ebenso auf die Gefahren, sie semantisch zu ummanteln, denn unter den Bedingungen der Globalisierung, die alles anders werden lässt, besteht höchstens die Chance, mittels histori-scher Analogien „die Bestie der Globalisierung im Gefängnis (oder im Zoo) der Sprache zu zähmen“ (Appadurai 2009: 49).7 In jeder anderen Hinsicht ist dieser historisierende Schachzug zum Scheitern verurteilt. Gegenwart ist also, auf Bloch zurückkommend, nicht nur Gegenwart, sondern ebenso die in ihr noch existierende und nicht aufgehobene Vergan-genheit sowie die im Möglichkeitsraum gesellschaftlicher Entwicklungen sich konstituie-renden Zukünfte. Sie zu verstehen bedarf es Begriffe, die nicht mittels historischer Analo-gien versuchen, die Gegenwart oder gar die in ihr angelegte Zukunft zu beschreiben und zu verstehen.8

4 Drei Ausgestaltungen der gegenwärtigen Kriege

Der Begriff der Ungleichzeitigkeit versucht also zu erfassen, dass Entwicklungen zwar realzeitlich gegenwärtig ablaufen, ihre realweltlichen Bindungen aber in unterschiedlichen ökonomischen und kulturellen Zeiten liegen können. Dieser Begriff kann beitragen, eine Ausdifferenzierung der gegenwärtigen Kriegs- und Gewaltformen zu beschreiben und zu

6 „Mit dem ostelbischen Feudalismus hielt sich jedenfalls ein ganzes Museum deutscher Wechselwirkungen, ein anachronistischer Überbau, der, so ökonomisch überaltert und stützungsbedürftig er ist, dennoch herrscht…“ (Bloch 1977: 114). Anzumerken ist noch, dass unter den Bedingungen der Globalisierung nunmehr das Microsoft Word Korrekturprogramm das Wort „ostelbisch“ nicht kennt. Ein weiterer Hinweis auf Ungleichzeitigkeit. 7 Vom „Turnen in den Ästen semantischer Bäume“ spricht auch Renate Mayntz (1997: 22).8 Herfried Münkler (2002: 13ff.) geht so vor, indem er gleich zu Beginn für Jugoslawien, Afghanistan und ehema-lige Kolonien mit historischen Analogien argumentiert. Vgl. auch die an den Studien von Martin van Creveld ausgerichtete Argumentation bei Münkler 2002: 59ff.

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erklären. Denn die gegenwärtige Ausgestaltung des Chamäleons Krieg9 ist auch von allen drei Zeiten geprägt: Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft.

4.1 Gegenwärtige Gegenwart

So stehen sich, als Ausdruck gegenwärtiger Gegenwart, modern ausgerüstete, teilweise atomar bewaffnete, jedenfalls mit technisch avancierter Schlagkraft und Kommunikations-fähigkeit ausgestattete Streitkräfte gegenüber. Ihre Gestalt hat sich im technologischen und ökonomischen Fortschrittsprozess mehrfach gewandelt, wobei die rasche Umsetzung tech-nologischer Innovationen in Mittel zur Kriegsführung und deren massenhafte Bereitstellung stets Kennzeichen der führenden militärischen Mächte waren (Creveld 2009: 176, 182-184, 198, 202). Staaten, die dies nicht bewerkstelligen konnten, weil ihnen die technologische oder ökonomische Basis fehlte, konnten nie in den Kreis der maßgeblichen Mächte aufstei-gen. Dominanz baute in den internationalen Beziehungen auf der Relation der ökonomi-schen Fähigkeiten und – darauf aufbauend – der militärischen Machtmittel auf.10 Nachhal-tigster Ausdruck dieser technologischen Fortschrittsprozesse sind die Nuklearwaffen, die Staaten mit einer abschreckenden Vergeltungsschlagkraft ausstatten. Die Funktion und Bedeutung von Nuklearwaffen hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich gewandelt und sie sind in Bezug auf die nachrückenden Nuklearwaffenstaaten nochmals anders ausgestal-tet als dies für die beiden auf diesem Gebiet führenden Staaten, die USA und Russland, gilt. Die Relevanz für ordnungspolitische Entscheidungen und insbesondere für die Entschei-dung zum Krieg ist gleichbleibend hoch geblieben.11

Neben den Nuklearwaffen hat sich die Kommunikationsdichte und -schnelligkeit für militärisches Handeln enorm erhöht und wurde von den modernen Armeen zur Organisati-on ihrer Kriegsführungsfähigkeit genutzt. Letzter Ausdruck dieser Entwicklung sind derzeit die Drohnen, unbemannte Flugzeuge, mit deren Hilfe die amerikanischen Streitkräfte in Pakistan Krieg führen. Sie klären auf und vermitteln diese Informationen in Sekunden-schnelle nach Nevada, USA, wo in der Nähe von Las Vegas die einsatzführenden Kräfte diese Informationen erhalten und auswerten, um wiederum in kürzester Zeit den Befehl zum Abschuss von mitgetragenen Raketen geben zu können. Die Drohne ist unbemannt und kann bis zu vierzig Stunden ohne Unterbrechung eingesetzt werden.

Diese Entwicklung verdeutlicht ein in der historischen Betrachtung sehr bekanntes Phänomen, nämlich auf welch vielfältige Weise die technologische Entwicklung der Streit-kräfte mit der gesellschaftlichen Entwicklung verbunden ist (Creveld 2009). Erstens wären die technologischen Innovationen ohne eine entsprechende gesellschaftliche und ökonomi-sche Basis unmöglich. Während lange Zeit die Einsicht galt, dass Innovationen aus dem militärischen Bereich die gesellschaftliche Entwicklung antreiben, ist es heute in den am weitesten entwickelten Gesellschaften so, dass sich das Militär der Übernahme zivilen Fortschritts nicht verschließen kann. Das Internet ist der schlagende Beweis für diese Ent-wicklung. Im militärischen Bereich erfunden, finden die wichtigsten Innovationen heute im zivilen Bereich statt, was nicht heißt, dass es auf deren Basis nicht gleichzeitig einen spezi-fisch militärischen Aufbau gibt. Im Gegenteil haben die Streitkräfte die zivilen Entwick-

9 Diese Charakterisierung findet sich bei Carl von Clausewitz (1866: 110). 10 Eine andere Einschätzung bezüglich Russland formuliert George Friedman (2009). Zum Hintergrund von Fried-mans Analysen vgl. Friedman 2004. 11 Vgl. Sagan/Waltz 2003 und Graham/Talent 2008.

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lungen für ihre Zwecke benutzt und setzen dies auch im nunmehr stärker beachteten Fall des Cyberwar um (Libicki 2007). Jedenfalls kann keine moderne Armee davon Abstand nehmen, sozio-ökonomische und technologische Innovation für die eigenen Fähigkeiten einzusetzen, wenn sie im Vergleich zu anderen entwickelten Streitkräften kriegsführungs-fähig bleiben möchte. Das bedeutet, dass Streitkräfte ein Interesse daran haben müssen, dass die jeweils eigene Gesellschaft im Globalisierungsprozess konkurrenzfähig und inno-vativ ist. Bildung spielt in dieser Hinsicht eine kaum zu überschätzende Rolle. Zweitens spiegelt die Entwicklung unbemannter Flugkörper die Entwicklung postheroischer Gesell-schaften, die zunehmend weniger bereit sind, Verluste an menschlichem Leben hinzuneh-men. Auch diese gesellschaftliche Anforderung ist in der technologischen Entwicklung aufgenommen worden.

Allein an den verwendeten Waffen jedoch lassen sich die Blochschen Zeitzuordnun-gen der miteinander im Konflikt stehenden Parteien nicht feststellen, denn eines der Hor-rorszenarien, das in den staatlichen Sicherheitsorganen des Westens diskutiert und analy-siert wird ist, dass privaten Akteuren Nuklearwaffen in die Hände fallen. Dieses Szenario und andere werden im Abschnitt Gegenwärtige Zukunft aufgegriffen. Jedoch gibt es unter-schiedliche Interpretation der damit von diesen privaten Akteuren verfolgten Zwecke, die ja auch darin bestehen können, in den Besitz eines Staates zu gelangen.

Ob Terroristen etwa einen nahen oder fernen Feind12 besiegen möchten oder ob diese Differenzierung dem umfassenden Kampf gegen die Besetzung des eigenen Territoriums untergeordnet wird (Pape 2006), sind nur zwei mögliche Interpretationen dieses Kampfes, die in der Gegenwärtigen Gegenwart geführt werden. Aber dies muss nicht notwendig die zeitliche Zuordnung sein. Denn dass Terroristen oder Guerilleros in den Besitz eines Staa-tes gelangen wollen, lässt sie allein noch nicht zu Akteuren in der Gegenwärtigen Gegen-wart werden. Vielmehr kommt es, Bloch folgend, auf die politische Ordnung an, die damit realisiert werden soll. So stellt sich auch vor dem Hintergrund der Idee von der „zellularen Organisation transnationaler Beziehungen“ (Appadurai 2009: 149) die Frage, ob mit der umma al-islamiyya, um diese als Beispiel zu wählen, eine Organisationsform für die Ges-taltung der internationalen Ordnung angestrebt wird, die ordnungspolitisch in der Vergan-genheit oder in der Zukunft zu verorten ist. Der Kerngedanke der Kategorie der Ungleich-zeitigen Kriege ist, dass es für die Analyse der Kriegsauseinandersetzungen von Bedeutung ist, ob beide Seiten diesen als Akteure in der gegenwärtigen Gegenwart führen oder ob eine Partei in einer anderen Zeit zu verorten ist, aus der sie ihre Zwecke erhält.

4.2 Gegenwärtige Vergangenheit

Gesellschaften sind unterschiedlich intensiv in den Prozess der Industrialisierung und Mo-dernisierung eingebunden gewesen und der Entwicklungsstand einiger wird im Vergleich zu den am weitesten entwickelten Gesellschaften deshalb auch als Unterentwicklung be-zeichnet. Denn das Maß, die Signatur der internationalen gesellschaftlichen Ordnung, ist die Modernisierung. Organisation und Ausrüstung der Streitkräfte hängen damit eng zu-sammen.

Gleichzeitig ragt die Vergangenheit in diese Gegenwart hinein, indem archaische Kampfformen und die ihnen zugrundeliegenden Haltungen die Konflikte prägen können, in die diese Armeen durch Terroristen, Guerillakämpfer oder Partisanen gezwungen werden.

12 Diese Formulierung wird erläutert von Guido Steinberg (2005).

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Denn Kriegsparteien können aus amodernen oder antimodernen Haltungen heraus zu ande-ren Formen von Gewalt greifen, als sie den modernen Streitkräften zur Verfügung stehen. Ob diese dabei mit traditionellen Waffen oder mit modernen Waffen kämpfen kann zwar einen starken Effekt auf die Feuerkraft und die Wirkung der Gewaltausübung haben. Für die Feststellung, dass Akteure einen Ungleichzeitigen Krieg führen, ist aber entscheidend, mit Blick auf welchen politischen Zweck und auf welchem gesellschaftlichen und ökono-mischen Entwicklungsstand der Krieg geführt wird.

Das führt zu dem ersten Paradoxon, dass unter Zuhilfenahme modernster Kommunika-tionstechnik und massenmedialer Präsentation sowie mit modernen Waffen für ein archai-sches politisches System gekämpft werden kann. Dabei kommt der Zurschaustellung bruta-ler Gewalt, die in den postheroischen Gesellschaften nur in anderer Form akzeptiert wird (Virilio 1997), keine geringe Rolle zu. Vielmehr ist sie ein Weg, die betroffene Bevölke-rung einzuschüchtern und von der Zusammenarbeit mit dem Kriegsgegner bei Strafe der Vergeltung abzuhalten.

Ein zweites Paradox besteht darin, dass diese Gewaltakteure, die einerseits als Kriegs-partei auftreten, andererseits transnational agierende Unternehmer sind, wenn auch häufig mit illegalen Waren. Die territorial begrenzt geführten Ungleichzeitigen Kriege schließen sich hier an offene Gewaltmärkte und den transnationalen Wirtschaftsaustausch an. Kapital und Waren werden weltweit gehandelt. Dies stellt die eigentliche ökonomische Basis dieser Kriegsparteien dar. Die jeweilige ökonomische Basis in ihrem Land wäre für einen länge-ren Krieg größeren Ausmaßes nicht ausreichend.

Diese beiden Paradoxa weisen auf die entscheidenden Charakteristika derjenigen Ak-teure hin, die die Gegenwärtige Vergangenheit bewahren sowie reproduzieren und deshalb den Typ des Ungleichzeitigen Krieges hervorbringen. Dies ist erstens der Mangel an einer entwickelten industriellen Basis, die die entsprechenden Effekte auf die gesellschaftliche Entwicklung, von der Klassenbildung bis zur Individualisierung, ausübt. Die Gesellschaften sind nicht in den globalen Modernisierungsprozess einbezogen gewesen. Sie betrachten ihn jetzt als Gefährdung ihrer Lebensweise, was er objektiv auch ist, nicht anders als in heute modernisierten Gesellschaften Teile derselben diesen Prozess als zerstörerisch ihrer Le-bensweise gegenüber wahrgenommen haben.13 Nun aber steht denjenigen, die sich gegen die Modernisierung wehren wollen oder andere Ziele durch die Mobilisierung dieser Hal-tung verfolgen, (fast) das ganze Arsenal moderner Gewaltmittel zur Verfügung, das von ihnen auch genutzt wird. Damit ist zweitens eine Denkweise verbunden, die auf dem Wert der Ungleichheit aufbaut. Für die frühen zwanziger Jahre, als Ernst Bloch seinen Begriff der Ungleichzeitigkeit am Beispiel Deutschlands entwickelt hat, hat Stefan Breuer unter-sucht und dargestellt, wie die konservative Bewegung um den Wert der Ungleichheit grup-piert wurde. In den ethno-nationalistischen „neuen Kriegen“ (Kaldor 2003) oder in der neueren Politisierung der Religionen zur Rechtfertigung von Gewalt (Juergensmeyer 2004) spielt die Vorstellung von der Ungleichheit der Menschen eine entscheidende Rolle.

Für die gegnerischen Streitkräfte, also die moderne Armee, die einem derartigen Kriegsgegner gegenübersteht, stellt sich die Frage, wie man auf die von ihm angewandten Kampfformen14 antworten kann. Insbesondere dann, wenn diese Auseinandersetzung als eine zentrale sicherheitspolitische Herausforderung seitens der überlegenen Staaten angese-hen wird. Entsprechend breit ist die Literatur, die eine Antwort darauf sucht, wie man die-

13 Zur Bandbreite dieser Erfahrungen vgl. Appadurai 2009: 100, 147. 14 Vgl. Poole 2008.

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sen Feind mittels des Einsatzes von Gewalt und anderer, politischer und ökonomischer Mittel, schlagen kann.15

Parallel hierzu wird eine intensive Diskussion geführt, die auf zwei anderen Wegen die Ungleichzeitigkeit in der Gewaltauseinandersetzung auflösen möchte. Erstens soll in pa-rastaatlichen Gebieten der Staat und damit das Gewaltmonopol wieder hergestellt werden; zweitens sollen zivilgesellschaftliche Entwicklungen angestoßen und unterstützt werden, die zur Modernisierung der jeweiligen Gesellschaft beitragen.16 Beide Ziele, die Rekon-struktion eines modernen Staates und einer governance-fähigen Zivilgesellschaft, sind dar-auf gerichtet, die Gewaltverhältnisse und Kriege in den jeweiligen Gesellschaften so zu verändern, dass den Kriegsherren, die aus der Ungleichzeitigkeit der Verhältnisse ihre Vor-teile ziehen, dies verweigert wird. So ist es nicht erstaunlich, dass diese Maßnahmen ebenso bekämpft werden, wie die militärischen, weil sie Grundlagen und Legitimation der Gewalt-akteure aushöhlen würden.

4.3 Gegenwärtige Zukunft

Schließlich versuchen einige Kriegsakteure die Zukunft schon in die Gegenwart zu holen, indem sie über zukünftige Formen des Kampfes nachdenken, diese zumindest konzeptio-nell vorwegnehmen, damit aber die Grundlagen dafür schaffen, dass sich Kräfte auf diese Auseinandersetzungen vorbereiten und mithin eine Kriegsführungsfähigkeit auf diesem Gebiet gewinnen. Aus der Furcht, die defensive Fähigkeiten hervorbringt, resultiert die Befähigung zum Angriff. Wenn sich beispielsweise ein Staat, der über Satelliten verfügt und dessen gesellschaftliches Leben und dessen Sicherheit wesentlich von ungehinderter Kommunikation abhängt, mit der Frage beschäftigt, wie er verhindern kann, dass ein ande-rer Staat oder privater Akteur diese Kommunikationslinien unterbindet, dann steht er vor einem Problem der Verteidigung. Um diese aber effektiv ausführen zu können, muss die damit beauftragte Organisation, möglicherweise die Streitkräfte, darüber nachdenken, auf welche Weise welche Angriffe ausgeführt werden könnten. Im Zuge dieser Arbeit erlangt der Akteur selbst die Fähigkeit, Satellitenkommunikation zu unterbinden. Da dies im inter-nationalen Umfeld mehrere Staaten gleichzeitig unternehmen, herrscht zudem noch Miss-trauen über die den jeweiligen Staaten zur Verfügung stehenden offensiven Fähigkeiten. Es ist also weniger das Problem, dass sich Streitkräfte auf den letzten Krieg vorbereiten, son-dern dass sie bestimmte politische Vorgaben erhalten.

„Indeed, armies do not prepare for the last war, they frequently prepare fort he wrong one – if for no other reason than that governments will usually fund only against the anticipated primary threat as opposed to risk and the adversary will usually play to his opponents’ weakness rather than strength“ (Smith 2005).

Darüber, welche Risiken und Bedrohungen Priorität erhalten, entscheiden im politischen System die höchsten Amtsträger einerseits, die Bürokratien andererseits, je nachdem, wie weit die ausführenden Organe den ihnen gegebenen Vorgaben folgen.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ist in den USA eine breite Debatte ge-führt worden, warum die Sicherheitsinstitutionen nicht al-Quaida stärker beobachtet und als

15 Vgl. Petraeus/Amos/Nagl 2007; Polk 2008; Kilkullen 2009; Nagl 2005; Hammes 2006. 16 So beispielsweise in unterschiedlichen Beiträgen des Friedensgutachten 2009 von Jochen Hippler (2009).

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vordringliche Bedrohung eingeschätzt hatten.17 Damit ist, nachdem der Anschlag ausge-führt worden war, leichter zu argumentieren als zuvor. Angesichts begrenzter Ressourcen und eingeschränkter Rationalität der Akteure stellt die Identifizierung der vordringlichen Aufgaben eine Dilemmasituation dar. Dies wird rasch deutlich, wenn die Frage gestellt wird, worauf Regierungen heute ihre Ressourcen lenken sollen, weil sie darin die zentrale Herausforderung erkennen.

Am Ende seiner Beschreibung der amerikanischen Außenpolitik unter Präsident Bush beschreibt David E. Sanger drei Szenarien, die sich der Administration Obama als Heraus-forderung stellen (Sanger 2009: 397ff.). Das erste Szenario geht von einem Anschlag in Washington mittels einer nuklearen Bombe aus, deren Einzelteile Terroristen in jahrelanger Vorbereitung auf verschiedenen Wegen in die USA gebracht haben, teilweise über die kanadische Grenze oder durch Pakete aus dem Ausland. Die Regierung hatte keine Kontrol-len aufgebaut, die in der Lage waren, dieses Vorgehen zu entdecken und zu verhindern. Das zweite Szenario spielt einen Angriff mit biologischen Mitteln durch. Viren werden darin über die Druckbehälter von Fanfaren ausgestreut, die bei verschiedenen Demonstrationen eingesetzt wurden – überall im Land und im Abstand von wenigen Tagen. Nach kurzer Zeit brechen Krankheiten aus, ohne dass ein einheitliches geographisches Muster der Erreger erkennbar ist. Das dritte Szenario betrifft die Sicherheit der Kommunikationsnetze und spielt einen Cyberangriff durch, der zeitgleich die Daten mehrerer Banken löscht und über das daraus resultierende wirtschaftliche Chaos die gesellschaftliche Ordnung in den USA erschüttert.

Ohne auf die detailliert ausgearbeiteten Szenarien an dieser Stelle einzugehen, wird angesichts der Bandbreite der abgebildeten Gefahren, die sich mühelos ergänzen ließen, deutlich, dass die Regierung vor der Entscheidung steht, zur Abwehr welcher möglichen Gefahren sie ihre Mittel konzentrieren möchte. Ohne dass jeweils umfassend bekannt wäre, welche Maßnahmen Regierungen auf diesen Gebieten ausführen, ist inzwischen deutlich geworden, dass das dritte Szenario für die Administration Obama große Bedeutung hat und sie sich auf die Abwehr eines Cyberangriffs vorbereitet (Sanger/Shanker 2009: 1, 3). Das kann aber, wie bei politischen Entscheidungen üblich, auch andere als sachliche Gründe haben. Möglicherweise sollen damit Einkommensmöglichkeiten für die Privaten Militär-firmen geschaffen werden, nachdem andere Quellen versiegt sind (Drew/Markoff 2009: 1, 5), oder die Überwachungsmöglichkeiten für die Netzkommunikation der eigenen Gesell-schaft verstärkt werden (Nakashima 2009). Es können bei Entscheidungen von Regierun-gen unterschiedliche Interessen und Verfahren eine bestimmende Rolle spielen und meis-tens ist dies angesichts der Beteiligung unterschiedlicher Akteure und Organisationen auch so. Ihre Angemessenheit gegenüber Risiken, die anders als Bedrohungen in ihrer konkreten Gestalt noch nicht deutlich zu erkennen sind, kann erst im Nachhinein beurteilt werden. Und dies gilt häufig zudem nur für sichtbar gewordene Versäumnisse, weil man für die Felder, auf denen die Sicherheitskräfte vorbereitet sind, nicht schlüssig nachweisen kann, dass ohne diese Vorbereitung eine Bedrohung entstanden wäre. In jedem Fall aber wirken die Vorbereitungen für die unterschiedlichen Zukünfte auf die Gegenwart ein, indem sie Wahrnehmungen prägen und Fähigkeiten konstituieren.

17 Angestoßen wurde diese Diskussion sehr früh durch Vorwürfe des Koordinators für Sicherheit, Infrastruktur-schutz und Antiterrorpolitik der Regierung von Präsident Bush selbst (Clark 2004). Vgl. weiterhin Zegart 2007.

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5 Akteure zwischen den Zeiten

Komplizierter wird diese Unterscheidung in die drei Zeiten der Gegenwart noch dadurch, dass sich einzelne Akteure nicht notwendig nur einer Zeit zuordnen lassen müssen. Eigent-lich würde das nur für amoderne Gruppen zutreffen, die von der Modernisierung anderer Gesellschaften und den Auswirkungen der inter- und transnationalen Beziehungen nicht berührt wurden. Für alle anderen gilt, dass sie in irgendeiner Weise von Modernisierungs-prozessen beeinflusst politisch amoderne Ziele verfolgen, weil sie entweder ökonomisch oder kulturell oder in beiderlei Hinsicht in der Gegenwärtigen Vergangenheit leben. Terroristen beispielsweise können zum gleichen Zeitpunkt mit unterschiedlichen Gegen-wartsformen umgehen. Sie benutzen zur Informationssammlung modernste Technik, eben-so zur Kommunikation, jedenfalls zur Kommunikation mit der Außenwelt, etwa wenn sie Filme von archaischer Gewalt im Internet verbreiten, um dadurch Anhänger zu werben und Schrecken zu verbreiten. Für die Kommunikation zwischen den einzelnen Akteuren gilt die Nutzung moderner Technik nur, solange sie nicht im Blickfeld der Sicherheitsorgane auf-tauchen. Dass die Führung der terroristischen Gruppen zu früheren Formen der Nachrich-tenübermittlung in den eigenen Reihen zurückgreift, auf Boten beispielsweise, unterschei-det sie aber nicht notwendig von anderen Führungskräften, die, sofern sie ihre Telefone nicht wirklich sichern können, ebenfalls diese Formen der Übermittlung wählen. Es kann sehr modern sein, auf Boten oder Brieftauben zurück zu greifen. Terroristen und andere Gewaltakteure können eine tiefe Verflechtung in transnationale ökonomische Strukturen und den Gebrauch modernen Waffen mit vormodernen Einstellungen zur Entwicklung der eigenen Gesellschaft oder des Verhältnisses der Menschen zueinander verbinden. Das Prob-lem der Verschränkung unterschiedlicher Zeiten gilt aber nicht nur für diese Gewaltakteure.

Moderne Streitkräfte können, obwohl sie in moderne Gesellschaften eingebunden sind, über Distanzwaffen und klare Befehlsketten verfügen, im Kampf zu Formen der unmittel-baren physischen Gewalt gegenüber der Zivilbevölkerung greifen (Creveld 2009: 202-203).

Um festzustellen, ob ein bestimmter Krieg als Ungleichzeitiger Krieg bezeichnet wer-den kann, ist es notwendig, für die einzelnen, am Konflikt beteiligten Kriegsparteien fest-zustellen, in welcher Zeit ihre politische, ökonomische, militärische und kulturelle Gegen-wart verortet ist. Damit geht der Begriff über die ökonomische Basis, die Bloch diesem gegeben hat, hinaus. Das kann für Akteure unterschiedliche, über die drei Zeiten hinweg-reichende Ergebnisse liefern. Insbesondere irreguläre Kämpfer – Partisanen, Guerillas und Terroristen – können in zwei oder drei Zeiten leben. Für die Feststellung, dass ein Krieg als Ungleichzeitiger Krieg bezeichnet werden kann, muss nur eine beteiligte Partei diese Vor-aussetzung erfüllen. Denn sie wird die anderen Parteien in den für diesen Kampf charakte-ristischen Austragungsmodus ziehen.

So können für die jeweiligen Kriegsparteien die folgenden Beschreibungen erhoben werden, wobei für die unterschiedlichen Sachbereiche Politik, Militär, Wirtschaft und Kul-tur zu dokumentieren und analysieren ist, welcher Form der Gegenwart die Akteure zuzu-ordnen sind. Gegenwärtige Vergangenheit der politischen Zwecke kann einhergehen mit Gegenwärtiger Gegenwart der Waffenausrüstung und der globalen ökonomischen Aus-tauschprozesse. Moderne Waffen können von Kämpfern bedient werden, deren Motivation in der Verteidigung Gegenwärtiger Vergangenheit wurzelt.

Page 296: Die Komplexitat der Kriege

298 Ungleichzeitige Kriege

Abbildung 1: Schematische Darstellung der Analyse

6 Amodern und antimodern

Die Differenzierung zwischen amodern und antimodern bedeutet jedoch nicht, dass die Akteure realzeitlich in unterschiedlichen Zeiten leben, wie es in den simplifizierenden Hinweisen zum Ausdruck kommt, dass bestimmte Gebiete der Welt eben noch in mittelal-terlichen Entwicklungsstadien steckten. Das ist zwar nicht ganz falsch, weil die amodernen Lebensformen damit erfasst werden, erhält aber schon eine andere Qualität, wenn es um antimoderne Haltungen geht. Denn diese setzen die Moderne voraus und sehr häufig wer-den antimoderne Positionen mit modernen Mitteln verfochten. Es ist also komplizierter, weil die unterschiedlichen Zeiten miteinander in der Gegenwart verstrickt sind. Diese Gegenwart ist zentral von Prozessen der Globalisierung und Transnationalisierung geprägt. Die Revolutionen in der Informations- und Kommunikationstechnologie, die weite Bereiche des menschlichen Handelns so prägen, dass ihre räumliche und zeitliche Ausdeh-nung gegen Null tendiert, haben einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf die Entwick-lung des Krieges. In den Kampfhandlungen selbst herrschen veränderte Bedingungen, weil eine umfassendere Informationslage rascher erarbeitet werden und die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Stellen in Sekundenschnelle verlaufen kann. Der Einfluss der Globalisierung reicht jedoch weiter, weil nicht nur die Bedingungen im Kampf, sondern auch die der Sicherheitsorgane in der jeweiligen Gesellschaft und die der Gesellschaft ins-gesamt verändert werden. Globalisierung ist Umwelt für alle Gewaltakteure, der sie sich nicht entziehen können. Sie müssen diese Prozesse beachten, auch wenn sie konkrete Maß-nahmen treffen, sie zu umgehen. Denn der Gegner kann sie für sein Vorgehen nutzen. E-benso haben Transnationalisierungsprozesse, die zur Emanzipation gesellschaftlicher Ak-teure von staatlicher Kontrolle geführt haben, Einfluss auf die Kriegsentwicklung. Dies gilt für Staaten als Kriegsparteien ebenso wie für private Gruppen. Beide sind von transnationa-len Prozessen abhängig, um die ökonomischen Grundlagen des Krieges aufrecht zu erhal-ten. Dabei können sie selbst als Wirtschaftsakteur auftreten.

Abbildung 2: Kriegstypologie Gegenwärtiger Gegenwart und Gegenwärtiger Vergangenheit für zwei Sachbereiche

Akteurskarte Vergangenheit Gegenwart Zukunft Politisch Ökonomisch Militärisch Kulturell

Ökonomische Zeit Politische Zeit

Gegenwart Vergangenheit

Gegenwart Moderner Staatenkrieg Partisanenkrieg

Vergangenheit Islamischer Terrorismus Geschlossene Gewaltöko-nomie

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7 Asymmetrische Kriege?

Die hier betrachteten Kriegsformen werden in der Literatur häufig auch als asymmetrische Kriege beschrieben.18 Der Begriff wird in zweifacher Bedeutung verwandt. Auf der einen Seite gilt als asymmetrischer Krieg ein Krieg zwischen sehr ungleichen Kriegsparteien, wobei die jeweiligen Fähigkeiten beider Seiten im Vergleich zueinander gemessen werden. Ein Krieg zwischen den USA und einem kleinen Land mit geringer Waffenausstattung und zahlenmäßig kleiner Armee, beispielsweise dem Irak unter Saddam Hussein, würde dann als asymmetrischer Krieg definiert werden. Auf der anderen Seite wird der Begriff benutzt, um gewaltsame Auseinandersetzungen zu beschreiben, in denen staatliche Sicherheitsorga-ne privaten Gruppen gegenüberstehen. Dabei kommt es nicht darauf an, über welche Fä-higkeiten die jeweiligen Kriegsparteien verfügen. Nach dieser Definition würde ein Krieg zwischen einer Armee und einer Guerilla beispielsweise, auch wenn sie der Armee in Aus-stattung und Kampfkraft ebenbürtig ist, als asymmetrischer Krieg beschrieben.

Die uneinheitliche Benutzung des Begriffs kann dabei zu Verwirrung führen. Dies wä-re dann etwa der Fall, wenn gleichstarke Kampftruppen unterschiedlicher Akteursqualität aufeinandertreffen, denn dieser Krieg müsste in der ersten Bedeutung als symmetrischer, in der zweiten als asymmetrischer bezeichnet werden. Zudem hilft der Begriff dann nicht weiter, wenn die Kriegslage nicht so eindeutig ist, dass sich zwei identifizierbare Gegner gegenüberstehen. Der Krieg im Kongo, der über viele Jahre in sehr unterschiedlichen Zu-sammensetzungen geführt wurde, ist zu jedem Zeitpunkt ein asymmetrischer Krieg gewe-sen, weil sowohl unterschiedlich starke als auch unterschiedlich organisierte Akteure daran teilnahmen.19 Doch können mit dem Begriff des asymmetrischen Krieges die Komplexität dieses Krieges sowie seine unterschiedlichen dominanten Konfliktlinien nicht angemessen beschrieben werden. Auch sind die Kongokriege illustrativ dafür, dass die Differenzierung zwischen innerstaatlichem und zwischenstaatlichem Krieg nicht immer hilfreich ist (Clark 2002; Jüssen 2007; Prunier 2008). Prinzipiell ist dies eine weiterführende Unterscheidung, doch kann die Notwendigkeit der Einordnung dazu beitragen, die Komplexität des Gesche-hens zu übersehen. Dann ist die Begriffswahl hinderlich, weil die potentiell zu beobachten-den Phänomene durch sie verdeckt werden und nicht gesehen werden können.

In der Praxis der Kriegsplanung sind wichtige Akteure sich bewusst, dass alle Ausei-nandersetzungen insofern asymmetrisch sind, als sie Akteure unterschiedlicher Organisati-onsformen vereinen. Auf Seiten der Staaten sind private Akteure von ausschlaggebender Bedeutung für die Kriegsführungsfähigkeit. Etwa ein Drittel der amerikanischen Ausrüs-tung – Flugzeuge, Raketen, Schiffe usw. – ist ohne die direkte Beteiligung von privaten Firmen nicht operationsfähig. Im Irak, dem derzeit letzten intensiven Krieg der USA, stell-ten die Privaten Sicherheits- und Militärfirmen20 nach den USA und deutlich vor Großbri-tannien das personenmäßig zweitstärkste Kontingent. Der amerikanische Verteidigungsmi-nister Robert S. Gates (2009) formuliert diese Einsicht in einer Rede zur weiteren Planung des Pentagon, seiner bürokratischen Organisation und der zukünftigen Beschaffungspolitik: „The old paradigm of looking at potential conflict as either regular or irregular war, con-ventional or unconventional, high end or low – is no longer relevant“.

18 Umfassend zum Begriff des asymmetrischen Krieges vgl. Schröfl/Pankratz 2004. 19 Zur Komplexität dieses Krieges vgl. Prunier 2009. 20 Vgl. Jäger/Kümmel 2007.

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300 Ungleichzeitige Kriege

Während der Begriff des asymmetrischen Krieges die Relation der Akteure zum definitori-schen Kriterium wählt, zielt die Unterscheidung zwischen innerstaatlichem und zwischen-staatlichem Krieg auf eine strukturelle Differenz. Hierbei werden Staaten als die zentralen Akteure des Staatensystems betrachtet, deren innere Gewaltauseinandersetzungen einen anderen Charakter haben als diejenigen, die innerhalb der internationalen Beziehungen – also im anarchischen Raum – zwischen ihnen geführt werden. Der Begriff des Ungleichzeitigen Krieges wählt hingegen die Analyse der Kriegsparteien selbst als definitorisches Kriterium und konzentriert sich dabei auch nicht auf die kämpfen-den Truppen, sondern bezieht das gesellschaftliche Umfeld, aus dem die politischen Zwe-cke des Krieges hervorgehen, in die Analyse der Kriegspartei mit ein.

Der Begriff des asymmetrischen Krieges sollte, sofern er zur Beschreibung und Ana-lyse produktiv beitragen soll, hingegen eindeutig definiert werden. Wenn er einen Krieg mit zwei oder mehreren Parteien mit unterschiedlichen Fähigkeiten bezeichnet, ist er zur Be-schreibung von zwischenstaatlichen Kriegen der Mittel- und Kleinstaaten hilfreich, ebenso für Bürgerkriegssituationen, in denen sich quasi gleichstarke Parteien gegenüberstehen.21

Für große Kriege wäre er nur insofern tauglich, als er die Situation identifizieren könnte, in der ein Herausforderer den führenden Staat militärisch angreift.22 Alle anderen Kriege wä-ren asymmetrische Kriege und die Bedeutung des Begriffs wäre zwar diskriminierend, für die sicherheitspolitische Planung aber leer.

Die Unterscheidung zwischen symmetrischen Kriegen als Kriegen zwischen Akteuren gleicher Akteursqualität (Staaten oder Gruppen) und asymmetrischen Kriegen als Kriegen zwischen Akteuren unterschiedlicher Qualität (Staat gegen Gruppe) ist für die Definition des Begriffs notwendig, aber nicht hinreichend. Denn alle Kriege kennen die Beteiligung von privaten Gruppen, seien es begleitende irreguläre Kämpfer oder Private Sicherheits- und Militärfirmen. Zudem würden dann auch Kriege zwischen einem Staat und eigenen gesellschaftlichen Gruppen als asymmetrische Kriege definiert; hier gibt es jedoch den Begriff des Bürgerkrieges, so dass diese Definition nicht weiterführend ist. Deshalb muss zur unterschiedlichen Akteursqualität ein zweites Kriterium treten, das darin besteht, dass eine Regierung außerhalb ihrer territorialen Grenzen Krieg führt. Asymmetrische Kriege sind dann definiert als Kriege eines Staates oder mehrerer Staaten gegen einen privaten Akteur oder mehrere private Akteure jenseits seiner bzw. ihrer territorialen Grenzen, wobei die Staaten auch zivile Mittel zur Durchsetzung ihrer politischen Zwecke nutzen, während der private Akteur insbesondere Gewalt zur Durchsetzung seines Willens einsetzt, und der Staat oder die Staaten keine Absicht haben, das Territorium, auf dem sie Krieg führen, zum Zwecke des Besitzes zu erobern. Diese Definition grenzt sich deutlich von den beiden For-men Bürgerkrieg und Eroberungskrieg ab. Sie ist geeignet, eine Kriegsform zu beschreiben, die von beiden Seiten äußerst unterschiedlich wahrgenommen wird, sodass der asymmetri-sche Krieg auch mit Blick auf die Bewertung seiner Qualität durch die beiden Kriegspartei-en asymmetrisch ist. Während die einen in ihm einen Krieg zum Zwecke von Staatsaufbau oder nation-building sehen können, können ihn die anderen als Kolonisierungskrieg wahr-nehmen. Asymmetrische Kriege können Ungleichzeitige Kriege sein, müssen es aber nicht.

21 Ein Beispiel für die letztgenannte Form wird von Thomas Jäger, Anna Daun, Daniel Lambach, Carmen Lopera, Bea Maass und Britta Margraf (2007) analysiert. Aber auch hier spielen andere staatliche Interessen eine Rolle; vgl. Romero 2009. 22 Vgl. Copeland 2000.

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Es ist sehr wohl möglich, dass beide Parteien moderne Akteure sind, die unterschiedliche politische Zwecke verfolgen. Die beiden Kriege in Afghanistan und Pakistan, so unterschiedlich sie sind, könnten bei-spielsweise beide als asymmetrische Kriege beschrieben werden. Der Begriff des asymmet-rischen Krieges grenzt nur ein kleines Segment kriegerischer Auseinandersetzungen ab, je nachdem in welcher Bedeutung er benutzt wird. Prinzipiell ist er mit dem Begriff des Un-gleichzeitigen Krieges analytisch zu verbinden.

8 Gewaltökonomien

Als Gewaltökonomien werden sozio-ökonomische Ordnungen in parastaatlichen Gebieten bezeichnet, in denen unterschiedliche Akteure mittels der Ausübung von Gewalt erstens dafür sorgen, dass der Zustand der Parastaatlichkeit erhalten bleibt, es also nicht zur Bil-dung eines Staates mit Gewaltmonopol kommt, und zweitens auf diesem Weg ihre ökono-mischen Interessen verfolgen. Zwei Formen werden systematisch unterschieden, je nach-dem, ob allein die Bevölkerung des betreffenden Gebietes ausgebeutet wird, dann ist von einer geschlossenen Gewaltökonomie die Rede, oder ob einAnschluss an den internationa-len Handel, ein Hinweis auf eine offene Gewaltökonomie, vorliegt. Gewaltökonomien können eine Form der Ungleichzeitigen Kriege sein. Bei geschlossenen Gewaltökonomien zielen die Gewaltakteure darauf ab, die bestehende ökonomische Basis für ihre Interessen zu nutzen und gleichzeitig zu erhalten, jedenfalls zu verhindern, dass andere gesellschaftli-che Akteure autonom transnational, also entsprechend dem Status der Modernisierung, agieren können. Denn das würde die bestehende Gewaltordnung unterlaufen. Politisch und ökonomisch versuchen die Akteure gesamtgesellschaftliche Modernisierung zu verhindern, um weiterhin bestimmenden Einfluss über diese gesellschaftliche Entwicklung auszuüben. Bei der offenen Gewaltökonomie ist das Verhältnis komplizierter. Politische Modernisie-rung soll unterbleiben, während die ökonomische Modernisierung, zumindest in den Berei-chen, die als Scharnier zur Weltwirtschaft fungieren und von der eigenen Organisation kontrolliert werden, zugelassen werden muss. Dieser Prozess soll aber, soweit möglich, auf diese Scharnierstellen begrenzt werden, ohne die Gesellschaft, in der sich die Gewaltakteu-re bewegen, insgesamt zu erfassen.

9 Anomische Staatlichkeit

Dem Begriff des Ungleichzeitigen haftet die Beobachtung des Prozesshaften an. Zeitlich-keit ist Entwicklung, diese ist erst erkennbar im zeitlichen Ablauf. Ungleichzeitigkeit ist Zurückbleiben, ist noch nicht da sein, wo die anderen Gesellschaften und Staaten, die den ordnungspolitischen Standard setzen, schon sind. Peter Waldmann hat den Begriff der A-nomie von Emile Durkein und Robert K. Merton auf die Transition von Staaten übertragen (Waldmann 2002: 8ff.). Gemeint ist mit dem anomischen Staat, um seine Überlegungen sehr grob zu umreißen, ein Staat in einem grundlegenden Übergang zwischen unterschied-lichen Staatsverfassungen, der aufgrund von mangelnder Regulierung zu quasi pathologi-schen sozialen Erscheinungen führt, etwa weil die Regelsetzung mit der Entwicklung nicht Schritt halten kann. In die hier skizzierten Überlegungen eingepasst, bleibt die Regulie-rungsleistung des politischen Systems hinter den Notwendigkeiten zurück, die für eine stabile gesellschaftliche Entwicklung gegeben sein müssten. Im Anschluss an Durkheim

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spricht Helmut Thome (2000) den Gedanken vom anomischen Staat diskutierend, vom fatalistischen Selbstmord, wenn Individuen einer Überregulierung, vom anomischen Selbstmord, wenn sie einem Regulationsdefizit gegenüber stehen. In Zeiten rapiden gesell-schaftlichen Wandels, in denen staatliche Regelsysteme die gesellschaftliche Transformati-on nicht auffangen und steuern können, kommt es zu einem „Identitätsverlust durch Ent-grenzung“ (Thome 2000: 8).23

Diesen Gedanken weiterführend kann diese Entgrenzung auch darin bestehen, dass sich zwischen den äußeren Anforderungen der Globalisierung und Transnationalisierung und der Regelentwicklung im jeweiligen Territorium Verwerfungen ausbilden, die in den dort wirksamen Institutionen nicht kompatibel ausgestaltet werden können. So können sich die Widersprüche, die die Ungleichzeitigen Kriege konstituieren, in bestimmten anomi-schen Staaten ausbilden, wobei diese Perspektive deutlich über die analytischen Absichten von Peter Waldmann hinausgehen. Zurück zu Durkheim, kann sich gerade in der Spannung von fatalistischem und anomischen Selbstmord die Realität der Ungleichzeitigen Kriege zeigen. Denn diese sind häufig geprägt von einer zu strikten Regelauslegung in einem Umfeld von Regeldefiziten. Während im engeren Umfeld (Familie, Clan) wegen der strikten Verhaltenserwartungen kein Spielraum für individuelle Handlungen besteht, existiert im erweiterten gesellschaftlichen Umfeld (Staat) kein Raum stabiler Verhaltenserwartungen.

Der Ungleichzeitige Krieg ist von Regelrigorismus und Regeldefiziten gleichermaßen gekennzeichnet. Das erste bezieht sich auf das engere, das letztere auf das weitere Kollek-tiv. Beide Formen des Selbstmords, der fatalistische und anomische, stellen dann keinen notwendigen Widerspruch zueinander dar. Sie können in dieser sozialen Formation Hand in Hand gehen.

10 Privatisierung des Krieges

Der Einsatz Privater Militärfirmen ist eine Möglichkeit, die sich Regierungen eröffnet, um den ungleichen Kampf mit Partisanen, Guerilla und Terroristen zu führen. Der Kampf ist gleich mehrfach ungleich, weil es sich um unterschiedliche Akteure – Staat gegen private Gruppen – handelt, weil die jeweiligen Konfliktparteien unterschiedlich stark sind und drittens auch, weil die Gewaltgruppen nicht den Restriktionen unterliegen, die für Regie-rungen gelten, entweder weil sie kodifiziert sind oder weil Regierungen sich eine breitere gesellschaftliche Legitimationsbasis erhalten müssen. Betrachtet man etwa die Abfolge der Kriege in Afghanistan24, so hat sich stets der brutalste und rücksichtsloseste der Warlords durchgesetzt. Die Bevölkerung wurde auf diese Weise eingeschüchtert und verbündete sich eher mit denjenigen, vor denen niemand wirksamen Schutz bieten konnte. Auf diese Weise bildeten sich politische Gebiete, die einzelnen Herrschern, also den Warlords, zugeschrie-ben werden konnten.

Irreguläre Kräfte lassen sich mit regulären Streitkräften jedoch nicht besiegen (Creveld 2009: 7ff.), weshalb in Kolumbien, Irak und Afghanistan und in vielen anderen Konflikten Private Militärfirmen zum Einsatz kommen. Sie können ohne die regulären Streitkräften auferlegten Beschränkungen, abseits parlamentarischer Kontrolle und größtenteils unter-

23 Im Weiteren formuliert Helmut Thome eine Reihe kritischer Einwände gegen das Konzept. 24 Die Geschichte und entsprechende Portraits finden sich bei Susanne Koelbl und Olaf Ihlau (2009).

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halb der öffentlichen Aufmerksamkeit agieren. Gleichzeitig ermöglichen Private Militär-firmen den staatlichen Sicherheitskräften den verstärkten Zugriff auf bestimmte technologi-sche Entwicklungen, die nicht so rasch in großen Organisationen wie den Streitkräfte zu implementieren sind.

Die Rückseite dieser Vorteile für die Regierungen besteht darin, dass Private Militär-firmen wegen der lukrativen Einsätze zu Beginn des 21. Jahrhunderts inzwischen über Ausrüstungsmaterial und Einsatzkräfte verfügen, die sie zu einer militärisch relevanten Größe in den internationalen Beziehungen werden lassen. Sie können zumindest lokale Konflikte entscheiden, wenn sich keine Großmacht daran beteiligt. Ökonomische Macht, etwa in der Hand von Autokraten, kann in kurzer Frist in militärische Macht transformiert werden. Gleichzeitig ist Profit das vorherrschende Verlangen dieser Firmen, die somit ein grundsätzliches Interesse an der Persistenz von Konflikten haben. Auch wenn es sich dabei nicht um einen einzelnen, quasi homogenen Akteur handelt, sondern um verschiedene Un-ternehmen, die einen Markt für militärische Dienstleistungen konstituieren, so kann die Wirkung auf profitträchtige Konfliktgebiete nicht unterschätzt werden.

In diesem Punkt können sich die Interessen der Privaten Militärfirmen und die von an-deren privaten Gewaltakteuren überschneiden, selbst wenn sie sich im Krieg gegenüberste-hen sollten. Beide können ein Interesse daran haben, dass der Konflikt andauert, dass das entsprechende Gebiet parastaatlich organisiert bleibt, dass es nicht zur Etablierung legitimer staatlicher Strukturen kommt, weil damit die politische Grundlage für ihren ökonomischen Nutzen bestehen bleibt.

11 Fazit

Ungleichzeitige Kriege sind Kriege zwischen Parteien, die politisch, ökonomisch, kulturell oder militärisch aus unterschiedlichen Zeiten ihre Zwecke definieren und miteinander kämpfen. Für die Analyse ist die Betrachtung der Kriegsparteien der Ausgangspunkt. Dabei sollen die Differenzen aufgezeigt werden, die in den Individuen sowie im Kollektiv dieje-nigen Spannungen erzeugen, die sich aus dem Widerstreit unterschiedlicher Dispositionen der Gegenwart ergeben. Erst nach dieser Deskription ist ein Vergleich der Kriegsparteien auf den unterschiedlichen Ebenen – der Politik, des Militärs, der Wirtschaft und der Kultur – sinnvoll. Aufgezeigt werden kann dabei, dass nicht nur zwischen den Kriegsparteien unterschiedliche sozio-politische Zeiten bestimmend sein können, sondern dass dies auch im Binnenverhältnis der Beteiligten vorliegen kann. Diese Analysen könnten einen Beitrag dazu leisten, die Komplexität von Kriegen besser zu verstehen.

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Autorenverzeichnis Eika Auschner, Dipl. Regionalwissenschaftlerin ist Mitglied des Kölner Forums für Internationale Beziehungen und Sicherheitspolitik (KFIBS) und promoviert an der Universität zu Köln. Rasmus Beckmann, M.A. ist Lecturer am Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen der Universität zu Köln. Jan-David Blaese ist Mitglied der Arbeitsgemeinschaft für Internationale Politik und Sicherheit (AGIPS). Dirk Freudenberg, Dr. ist Dozent an der Akademie für Notfallplanung und Zivilschutz sowie Lehrbeauftragter an der Universität Bonn. Lars J. Gerdes, Dr. ist Polizeirat und Leiter der Bundespolizeiinspektion am Flughafen Frankfurt a.M. Mischa Hansel, M.A. ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Internationale Politik und Außenpolitik der Universität zu Köln. Andreas Herberg-Rothe, PD Dr. ist Privatdozent am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt Universität zu Berlin. Thomas Jäger, Prof. Dr. ist Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Politik und Außenpolitik der Universität zu Köln sowie Herausgeber der Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik (ZfAS). Georg Klute, Prof. Dr. ist Professor für afrikanische Ethnologie am Lehrstuhl für Ethnologie an der Universität Bayreuth. Daniel Lambach, Dr. ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Politikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen. Johannes Le Blanc, Dipl. Politikwissenschaftler ist Projektmitarbeiter am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen an der Universität Zü-rich. Carsten Michels, M.A. ist Politikwissenschaftler und promoviert am Institut für Sicherheitspolitik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

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Autorinnen und Autoren 307

Benjamin Teutmeyer, M.A. ist Politikwissenschaftler und promoviert am Institut für Politische Wissenschaft und Sozio-logie der Universität Bonn.

Henrike Viehrig, Dr.ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Internationale Politik und Außenpolitik der Universität zu Köln.

Matthias Vogl, M.A. ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Europäische Integrationsforschung in Bonn.

Corinna Walter, Dipl. Regionalwissenschaftlerin ist Mitglied des Kölner Forums für Internationale Beziehungen und Sicherheitspolitik (KFIBS) und promoviert an der Universität zu Köln.

Matthias Zimmer, PD Dr. ist Privatdozent am Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen an der Universität zu Köln.