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Dokumentation und Information 51 Die Natur des Menschen Probleme der Physischen Anthropologie und Rassenkunde (1750- 1850) Internationales Symposium der Akademie der Wissenschaften und Literatur, Mainz, und des Medizinhistorischen Institutes der Johannes Gutenberg-Universi- tat, Mainz, vom 10. bis 12. Juni 1987 in Mainz Anthropologie fragt nach der Wirklicbkeit des Menschen, die Teilnehmer des Sym- posion frugen, Positionen des 18. und be- ginnenden 19. Jahrhunderts einnehmend, nach der Natur des Menschen. Im Jersuch einer physischen Anthropologie" behan- delt Christoph Bernoulli 1804, damals Leh- rer am Padagogium zu Halle, die ,,Natur- geschichte des Menschen", der Menschen- gattung. Klima, Licht und Warme, Nah- rung, Kultur und Sitten, die geographische Lage, selbst kosmische Elektrizitat werden von ihm als menschenformende Einflufi- faktoren, wie es zeitublich ist, untersucht und bestimmt. ,,Die letzten Gegenstande" heifit es da weiter, ,,der Naturgeschichte des Menschen sind die Vergleichungen der Nazionalorganisationen und die ErkLa- rung der nacbartenden individuellen A heicbungen ." Dies ist nur ein erster Hinweis zur Or- tung unserer Thematik. Aus der Vielfalt von Bemuhungen der Naturgelehrten wie Buffon, Camper, Cuvier, Blumenbach, Soemmerring, Georg Forster, Franz Joseph Gall, Christoph Meiners und anderen, aber auch Mannern wie Kant und Herder, wur- den Sachverhalte, Differenzierungen und Perspektiven gewonnen. Freilich, auch viele zeitgenossische Quellenmaterialien in Zeitungen und Zeitschriften, in Reisebe- richten, in Briefen und Tagebuchern, urn nur einiges zu nennen, wurden ausgewer- tet. Selbstverstandlich kreuzen sich in die- sen Distrikten etliche Entwicklungslinien, die zu einer Ethnologie, zu einer Verhal- tensbiologie, einer Volkerpsychologie etwa hinfuhren. Sie und andere blieben nicht unbeachtet, wenngleich sie bei unserem diesmaligen Vorhaben nicht im Mittel- punkt standen. Unter den verschiedenen Moglichkeiten einer Lehre vom Menschen, 0 VCH Verlagsgesellschaft mbH, D-6940 Weinheim 1989 die eine Zeit zulafit, wendeten wir uns vor- nehmlich seinen physischen Bereichen zu, wohl wissend und vielfaltig erlebend, wie schwer und unzulanglich mitunter den Na- turgelehrten Abgrenzungen gelingen, wie korperliche und geistige Wertungen in die nuchternen Deskriptionen einbezogen werden, wie unter bestimmten theoreti- schen Voraussetzungen das eine auch das andere bedingt, wie aber schon Gefahren von Qualifizierungen dieser Art hervor- treten. Es wurde bewufit nicht versucht, voreilig zu periodisieren. Es wird nicht von einer Anthropologie der klassischen Periode, der Goethezeit oder der Aufklarung gespro- chen. Wir wollten allein und vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der ,,Natur des Menschen" sehen, wie sich Naturgelehrte urn sie bemuhen, sie erfassen und darstel- len. Trotz etlicher Einzelarbeiten und einer Reihe von systematischen Darstellungen, etwa von Urs Bitterli, Jacques Roger, Wer- ner Krauss, Werner Conze und Antje Som- mer, Wolf Lepenies oder kurzlich erst wie- der von Hans Querner, ist, wie allein die VortAge zeigten, erhebliche weitere Arbeit zu leisten. Wir haben deshalb im Rahmen unserer Bemuhungen urn die Wissen- schaftsgeschichte der Goethezeit des 18. und friihen 19. Jahrhunderts bewufit uns dem genannten Thema zugewendet, nicht um dieses fur sich zu nehmen, sondern urn Bausteine der Wissenschaftsgeschichte fur den angezeigten Zeitabschnitt zu gewin- nen. So ist dieses Symposion zwar als we- sentliche wissenschaftsgeschichtliche Auf- gabe, aber doch als Teilstuck fur weitere Arbeiten zu einem grofleren Ganzen zu sehen. Die Einzelbeitriige werden Ende 1988 als Band 6 unserer ,,Soemmerring-Forschun- 0170-6233/89/0105-005 1 $02.50/0

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Dokumentation und Information 51

Die Natur des Menschen Probleme der Physischen Anthropologie und Rassenkunde (1750- 1850)

Internationales Symposium der Akademie der Wissenschaften und Literatur, Mainz, und des Medizinhistorischen Institutes der Johannes Gutenberg-Universi- tat, Mainz, vom 10. bis 12. Juni 1987 in Mainz

Anthropologie fragt nach der Wirklicbkeit des Menschen, die Teilnehmer des Sym- posion frugen, Positionen des 18. und be- ginnenden 19. Jahrhunderts einnehmend, nach der Natur des Menschen. Im Jersuch einer physischen Anthropologie" behan- delt Christoph Bernoulli 1804, damals Leh- rer am Padagogium zu Halle, die ,,Natur- geschichte des Menschen", der Menschen- gattung. Klima, Licht und Warme, Nah- rung, Kultur und Sitten, die geographische Lage, selbst kosmische Elektrizitat werden von ihm als menschenformende Einflufi- faktoren, wie es zeitublich ist, untersucht und bestimmt. ,,Die letzten Gegenstande" heifit es da weiter, ,,der Naturgeschichte des Menschen sind die Vergleichungen der Nazionalorganisationen und die ErkLa- rung der nacbartenden individuellen A heicbungen ."

Dies ist nur ein erster Hinweis zur Or- tung unserer Thematik. Aus der Vielfalt von Bemuhungen der Naturgelehrten wie Buffon, Camper, Cuvier, Blumenbach, Soemmerring, Georg Forster, Franz Joseph Gall, Christoph Meiners und anderen, aber auch Mannern wie Kant und Herder, wur- den Sachverhalte, Differenzierungen und Perspektiven gewonnen. Freilich, auch viele zeitgenossische Quellenmaterialien in Zeitungen und Zeitschriften, in Reisebe- richten, in Briefen und Tagebuchern, urn nur einiges zu nennen, wurden ausgewer- tet. Selbstverstandlich kreuzen sich in die- sen Distrikten etliche Entwicklungslinien, die zu einer Ethnologie, zu einer Verhal- tensbiologie, einer Volkerpsychologie etwa hinfuhren. Sie und andere blieben nicht unbeachtet, wenngleich sie bei unserem diesmaligen Vorhaben nicht im Mittel- punkt standen. Unter den verschiedenen Moglichkeiten einer Lehre vom Menschen,

0 VCH Verlagsgesellschaft mbH, D-6940 Weinheim 1989

die eine Zeit zulafit, wendeten wir uns vor- nehmlich seinen physischen Bereichen zu, wohl wissend und vielfaltig erlebend, wie schwer und unzulanglich mitunter den Na- turgelehrten Abgrenzungen gelingen, wie korperliche und geistige Wertungen in die nuchternen Deskriptionen einbezogen werden, wie unter bestimmten theoreti- schen Voraussetzungen das eine auch das andere bedingt, wie aber schon Gefahren von Qualifizierungen dieser Art hervor- treten.

Es wurde bewufit nicht versucht, voreilig zu periodisieren. Es wird nicht von einer Anthropologie der klassischen Periode, der Goethezeit oder der Aufklarung gespro- chen. Wir wollten allein und vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der ,,Natur des Menschen" sehen, wie sich Naturgelehrte urn sie bemuhen, sie erfassen und darstel- len. Trotz etlicher Einzelarbeiten und einer Reihe von systematischen Darstellungen, etwa von Urs Bitterli, Jacques Roger, Wer- ner Krauss, Werner Conze und Antje Som- mer, Wolf Lepenies oder kurzlich erst wie- der von Hans Querner, ist, wie allein die VortAge zeigten, erhebliche weitere Arbeit zu leisten. Wir haben deshalb im Rahmen unserer Bemuhungen urn die Wissen- schaftsgeschichte der Goethezeit des 18. und friihen 19. Jahrhunderts bewufit uns dem genannten Thema zugewendet, nicht um dieses fur sich zu nehmen, sondern urn Bausteine der Wissenschaftsgeschichte fur den angezeigten Zeitabschnitt zu gewin- nen. So ist dieses Symposion zwar als we- sentliche wissenschaftsgeschichtliche Auf- gabe, aber doch als Teilstuck fur weitere Arbeiten zu einem grofleren Ganzen zu sehen.

Die Einzelbeitriige werden Ende 1988 als Band 6 unserer ,,Soemmerring-Forschun-

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gen", die im Verlag Gustav Fischer erschei- nen, herauskommen: ,,Die Natur des Men- schen". Probleme der Physischen Anthropo- logie und Rassenkunde 1750-1850. Es wur- den folgende Vortriige gehalten:

Frank W. P. Dougherty, Montreal: ,,Ge- orges Louis Leclerc Comte de Buffons Be- deutung fur die Entwicklung der Anthro- pologie in Deutschland des spaten 18. Jahrhunderts". Die im Jahre 1749 er- schienene Abhandlung uber die hriations de l'espkce humaine von Buffon wurde unter dem Aspekt der neuen Methode dar- gestellt, die der beriihmte franzosische Na- turforscher fur die Histoire naturelle ent- wickelt hatte. Dabei wurde die geschichtli- che Wirkung des von ihm aufgestellten Kriteriums der genetischen Verwandtschaft fur die Begriindung sowohl der physischen Anthropologie als auch der Geschichte er- ortert. Das Modell der Abstammung und der Abanderungen aufgrund des klimati- schen Einflusses fuhrte zur Frage, inwie- fern die Problemstellung ,,Mensch" in der Spataufklarung in Deutschland ein Erbe der Buffonschen Anthropologie ist. - Irmgard Muller, Bochum: ,,L'homme fos- sile n'existe pas. Cuviers Hypothese von der Nicht-Existenz fossiler bzw. vorsint- flutlicher Menschen und ihre Konsequen- Zen fur die palaoanthropologische For- schung". Cuvier proklamierte 1812 als Re- sultat seiner Fossilienstudien und auf der Grundlage seiner Lehre von der Artenkon- stanz die Nicht-Existenz eines priihistori- schen Menschen. Er hielt zeitlebens an die- ser These fest und modifizierte sie auch dann nicht, als den franzosischen For- schern Tournal und De Serres 1829 sowie dem Belgier Schmerling im selben Jahr die spektakulare Entdeckung fossiler Men- schenknochen gelang. Obwohl die anthro- pologischen Studien Cuviers nicht den Mittelpunkt, eher ein Nebenprodukt, sei- nes Forschungsinteresses darstellten, be- wirkte seine politische Stellung sowie seine wissenschaftliche Autoritat der verglei- chenden Anatomie und Fossilienkunde, dai3 sich seine mit den Lehren der Kirche ubereinstirnmende Feststellung uber die Menschheitsgeschichte als unumstoflliches

Dogma in der anthropologischen For- schung behauptete. Es lafit sich zeigen, dai3 die oberste wissenschaftliche Instanz - nicht nur fur Frankreich - , die Acadkmie des Sciences in Paris, rigoros Publikatio- nen, die Cuviers Behauptungen widerspra- chen, unterdriickte und damit die Verbrei- tung der entscheidenden Fakten, die zur Idee der Entwicklung der Lebewesen beige- tragen haben, systematisch verhinderte. - P. W. Visser, Utrecht: ,,Pieter Campers An- thropologie und die deutschen Gelehrten des 18. Jahrhunderts". Camper galt als einer der fuhrenden Anatomen und An- thropologen des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts. Viele europaische, vor allem deutsche Gelehrte besuchten ihn und sahen ihn als den unmittelbaren Lehrmei- ster an. Er war ein uberzeugter Monoge- nist, glaubte an die ganzliche Gleichwertig- keit der Rassen, deren Modifikationen al- lein durch aui3ere Lebensbedingungen be- wirkt werden sollten. Seine Studien iiber die Bedeutung des Gesichtswinkels, viel- fach mii3braucht und verkannt, zeigten ihm, daB dieser kein spezifisches Rassen- kriterium sein konnte. Gesichtswinkel und GehirngroBen wurden vielfach in der Ras- senbeurteilung falsch eingesetzt und fehlge- deutet. Die Schadelmessungen Campers spielten auch in der Kunstleranatomie eine besondere Rolle. - Frank W. I? Doug- herty, Montreal: .Christoph Meiners und Johann Friedrich Blumenbach im Streit um einen Begriff der ,Menschenrasse'". Der im Jahre 1790 entfachte Streit beziig- lich der Erorterung des Begriffs der Men- schenrasse zwischen den beiden Gottinger Professoren Meiners und Blumenbach er- halt seine Bedeutung dadurch, dai3 in ihm ein wissenschaftlicher Laie gegen einen physischen Anthropologen auftritt. Hier zeigte sich im Ansatz die Aufspaltung der Anthropologie in die Gebiete der Ge- schichte und der Physiologie, die aber erst im 19. Jahrhundert ihre Konsequenzen voll entfalten sollte.

R. Malter, Mainz: ,,Der Rassenbegriff in Immanuel Kants Anthropologie". Kant hat versucht, den Begriff Rasse in anthro- pologischer und ethnologischer Grundle-

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gung zu bestimmen. Herausgearbeitet wurde vor allem Kants Abgrenzung des Rassebegriffs vom Begriff der Menschen- gattung. Schliei3lich wurde ausgehend von Georg Forsters Einwanden gegen Kant des- sen Reflexion auf den Rassebegriff im Rah- men der Teleologieproblematik erortert. Mit Hilfe von Gedanken aus der Kritik der teleologischen Urteilskraft wurde gezeigt, welche systematische Bedeutung die Ras- sethematik in Kants philosophischer Men- schenlehre und in seinen wissenschafts- theoretischen Uberlegungen gewann. Schliefilich wurde auf den aufklarerischen Charakter der Kantischen Rassenkonzep- tion und auf ihre Inkompatibilitat mit ras- sischen Ideologien in der Folgezeit hinge- wiesen. - Hans Querner, Laase: ,,Chri- stoph Girtanner und seine Anwendung Kantischer Prinzipien in der Bestimmung des Menschen". Girtanner ubernahm Kantsche Vorstellungen in bezug auf Stammgattung und Abartung, auf Art und Naturgattung, um Klarheit in zoologi- schen und anthropologischen Distrikten zu erreichen. Abartungen sollten sich als bestandig erweisen. Gattungen wie Abar- tungen schienen ihm von naturlichen An- lagen bestimmt, die unterschiedlich ent- wickelt wurden. Der Bildungstrieb be- stimmte die Ausbildungsrichtung, das Klima die Entwicklung der Anlagen. Man hat das Einfache, ein typisch aufklareri- sches Prinzip, im Mannigfaltigen zu su- chen sich bemuht. Der Mensch ist be- stimmt, in allen Erdgegenden zu wohnen. Die Merkmale von Mensch und Tier in den einzelnen Regionen wurden sorgfiltig beschrieben. Girtanner nahm einen ge- meinsamen Ursprung der Menschengat- tung an. Erblichkeit der Anlagen wurde vorausgesetzt.

Georg Lilienthal, Mainz: ,,Samuel Tho- mas Soemmerring und seine Vorstellungen uber Rassenunterschiede". Soemmerrings Hauptwerk zu diesem Thema erschien zu- erst 1784, dann in zweiter epveiterter Auf- lage 1785 unter dem Titel Uber die korper- Licbe Verscbiedenbeit des Negers vom Euro- puer. Spatere Schriften, in denen Soemmer- ring wiederholt den unterschiedlichen

Korperbau von Neger und Europaer streifte, belegen, dai3 ihn diese Frage zeit seines Lebens beschaftigte. Ausgehend von dem Stufenleiter-Model1 wollte er priifen, wo zwischen Europaer und Affe der Neger einzuordnen sei. Seine Antwort ist wider- spriichlich: Der Neger steht zwar dem Affen naher als der Europaer, er ist aber dennoch Mensch wie dieser. Die Ambiva- lenz dieser Aussage ist bedingt durch Soemmerrings Ehrgeiz, aus anatomischen Gegebenheiten, besonders des Schadels, auf die geistigen Fahigkeiten und die Wesensart ganzer Menschengruppen schliei3en zu konnen und damit Kriterien fur eine Stu- fenfolge der Menschenrasen zu besitzen. Er gelangte zu dieser Uberzeugung, ob- wohl er mit den fuhrenden Anthropologen seiner Zeit einer Meinung war, dai3 die Menschheit eine Gattung bildet, die sich durch einen definierten Typus (aufrechter Gang und Sprachfahigkeit) von der nach- sten Tiergattung, den Affen, mit weitem Abstand abhebt. Die Unangemessenheit seiner Fragestellung ist Soemmerring nie bewui3t geworden. Von seinen Kritikern, die uneingeschAnkt seine Fahigkeiten als Anatom priesen, legte Blumenbach, der die Stufenleiter als Wertskala fur den Men- schen ablehnte und die verschiedenen Ras- sen als gleichwertige Ausdrucksformen der Gattung betrachtete, auf diese Schwach- stelle seinen Finger. - Sigrid Oehler- Klein, Giei3en: ,,Die Neuroanatomie Samuel Thomas Soemmerrings als Binde- glied zwischen Physiognomie und Anthro- pologie". Es wurde gezeigt, dai3 Soemmer- rings Beitrag zur Entwicklung der natur- wissenschaftlichen Rassenkunde wesent- lich von zeitgenossischen physiognomi- schen Deutungen beeinflufit wurde, fur welche er eine exakte anatomische Grund- lage liefern wollte. Soemmerring interpre- tierte die beschreibenden Studien Pieter Campers zur hierarchischen Differenzie- rung des Gesichtswinkels bei Affen, Negern, Europaern und den antiken Plasti- ken physiognomisch, indem er sie seiner Proportionenlehre zugrunde legte. Diese bezog sich sowohl auf das Verhaltnis von Gehirn- und Gesichtsschadel, als auch auf

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das von Grofle bzw. Leistungsfahigkeit der Sinnesorgane und des Gehirns als des Or- ganes der intellektuellen Vermogen. Die Sinnesorgane - so Soemmerring - seien bei Negern starker ausgep~gt und ebenso die zugehorigen Nerven im Verhaltnis zum Gehirn grofler, weil sie in ihrer Umwelt auf scharfere Wahrnehmungen angewiesen seien, wahrenddessen die Europaer iiber mehr geistige Funktionen, ein umfangrei- cheres Gehirn und weniger grofle Sinnesor- gane verfugen. Abgesehen davon, dai3 Soemmerring - wie aus einem unverof- fentlichten Manuskript hervorging - ein im Tier-Mensch-Vergleich gefundenes Er- gebnis (Relation von Grofle des Hirnes zu den Nerven und des Gesichtsschadels zum Hirnschadel in der Bedeutung fur die Aus- bildung der GeisteskBfte) auf die Rassen- differenzierung iibertrug, ohne den Hypo- thesencharakter der Uberlegungen zur Funktionsweise des Gehirnes zu beachten, so laflt sich aus dem Bezug zur Physiogno- mik und zur Proportionenlehre schlieflen, dai3 es ihm darum ging, diese an der Ge- stalt der aui3eren Korperteile orientierten Lehren durch eine komplementare, auf Hirn, Nerven und Sinnesorgane bezogene Proportionstheorie zu erganzen und zu be- statigen. Weiter wurde gezeigt, dafl auch spatere anthropologische Aussagen - so die Rudolf Virchows aus dem Jahr 1857 - vom Interesse getragen wurden, die Phy- siognomik auf eine exakte Basis zu stellen und das Urteil iiber die geringere geistige Leistungsfahigkeit der Schwarzen neuro- anatomisch zu belegen. - M. Liicke, Lii- beck: ,,Der physische Hintergrund der Physiognomik und ihre Beziehungen zur Anthropologie". Erganzt wurden, in der Nachfolge der Arbeiten Soemmerrings, die Bemiihungen etlicher Gelehrter zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Physiognomik anato- misch zu fundieren und verstandlich zu machen. Der Referent breitete dazu ein ausgedehntes Belegmaterial aus. Physiogno- mik sollte der Rassenkunde dienlich sein. Sie konnte psychische und geistige Fahig- keiten anzeigen. Auch Vergleiche zur Tier- physiognomik wurden hergestellt.

Gunter Mann, Mainz: ,,Franz Joseph

Galls Natur- und Geisteslehre des Men- schen und der Volkerschaften (Lehre von den ,Nationalschadeln')". Die Gehirn-Or- ganenlehre Galls erhielt entscheidende An- stofle bei seinem Besuch Blumenbachs in Gottingen in dem Jahre 1805. Dessen An- schauungsmaterialien, die beachtliche An- zahl von Rassenschadeln seiner Sammlung aus allen Weltteilen, gaben ihm den Mut, nicht nur Individualcharaktere, sondern - in der Summation und der vergleichenden Betrachtung - auch Volkscharaktere zu bestimmen. Er versuchte, Nationalschadel oder Rassenschadel in ihrer integralen Eigenart zu sortieren. Gall und sein Mitar- beiter Johann Kaspar Spurzheim besuch- ten auf ihrer europaischen dreijahrigen Vortragsreise gezielt anthropologische und ethnologische Sammlungen. Sie beschrie- ben unter ihren Blickwinkeln Schadel. Sol- cherart wollten sie die Kranioskopie auch der Anthropologie und Ethnologie dienst- bar machen. - M. Wenzel, Gieflen: ,,Die Anthropologie Johann Gottfried Herders und das klassische Humanitatsideal". Die Anthropologie Herders entzieht sich der Vereinnahmung durch einzelne Fachge- biete. Sie gehort in seine ubergreifende Ge- schichtsphilosophie, die eine vollkommene Humanitat als irdisches Teil- und jenseiti- ges Endziel der Menschheit propagiert, ebenso, wie in das analog strukturierte Konzept seiner Naturphilosophie, die in Anlehnung an Leibniz und Buffon von der Wirksamkeit organischer, naturwissen- schaftlich nicht fai3barer Kfafte ausgeht. Herders Beurteilung einer physisch ver- standenen Anthropologie geht in erster Linie von gesellschaftlichen und politi- schen Priimissen aus. Da alle Menschen sich gleichermaflen zur Humanitat vervoll- kommnen konnen, miissen sie - aufgrund der Analogie von Geschichte und Natur - auch gleiche naturgegebene Vorausset- zungen dafur mitbringen. Verschiedene Menschenrassen sieht Herder als Schattie- rungen eines groflen harmonischen Gemal- des, nicht als systematisch zu trennende Untergruppen des Homo sapiens. Allein die Gefahr einer moglichen Diskriminie- rung fiihrt Herder, vor allem in Auseinan-

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dersetzung rnit Kant und mit Zustimmung zu Forster, zu einer strikten Ablehnung des Rasse-Begriffes. An die Stelle von Analyse, System, Begriff und naturwissenschaftli- chen Verfahren setzt er Anschauung, Be- gegnung, Liebe, Harmonie, Mitleid und Verstandnis. Jedes trennende Systematisie- ren lauft Herders kosmologischer Gesamt- schau zuwider.

A. M. Luyendijk-Elshout, Leiden: ,Jan van der Hoeven (1802-1868) als Spat-Cam- pianer und seine Korrespondenz mit euro- paischen Anthropologen". Hoeven unter- hielt einen ausgedehnten europaischen Briefverkehr (grofle Teile davon befinden sich im Museum Boerhaave, Leiden). Im Anschlufl an die Positionen Herders suchte er die Stellung des Menschen in der Natur zu bestimmen. Er war dabei Monogenist, auch von Camperschen Idealen der Schon- heit und Harmonie mitbestimmt. Zweck- mafligkeit der Korperstrukturen und -funktionen schienen ihm offenkundig. Er war, wie viele Gelehrte seiner Zeit, ein guter Zeichner. Glauben und Naturwissen suchte er zur Einheit einzuschmelzen.

Konrad Schmutz, Winterthur: ,,Fried- rich Tiedemann und Johann Friedrich Blu- menbach: Anthropologie und Sklaven- fmge". U m die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert bluhte noch der Sklaven- handel. Etliche Manner der Aufklarung versuchten dagegen anzukampfen oder we- nigstens ihre Emporungen dariiber kund- zutun. Johann Christoph Hufeland schil- derte etwa in seiner ,,Makrobiotik" das Schicksal brutal verpflanzter Menschen, ihre Beziehungslosigkeit, ihre harten, unge- wohnten Lebenssituationen mit der uner- hort hohen Sterblichkeit. Die Sklavenhal- tung wurde wesentlich von der unter- schiedlichen Rassenwertung mitbestimmt. Afrika wurde als die gemeinsame Heimat dcr ,,Mohren" und Affen bezeichnet. Blu- menbachs Bemuhungen, die Qualitaten der Neger hervorzuheben, wurden vorge- fuhrt, die Schriften der englischen Antis- klavenhalter beschrieben. Tiedemann suchte in seinen anatomischen Gehirnstu- dien die Unterschiedlichkeiten von Neger- und Orang-Utan-Gehirnen deutlich zu ma-

chen. In den Seelenfahigkeiten liei3en sich zwischen Negern und Europaern keine Unterschiede diagnostizieren. Paul Broca tadelte spater Tiedemann. Er war zu deutli- cheren Abstufungen gelangt. - Renato G. Mazzolini, Florenz: ,,Anatomkche Unter- suchungen uber die Haut der Neger (1700- 1800)". Auf der Grundlage von circa 40 Schriften des 18. Jahrhunderts, die sich hauptsachlich mit der Thematik ,Haut- farbe der Neger' beschaftigen, hat der Refe- rent zu zeigen versucht, welche Meinungen vorherrschten a) uber den anatomischen Sitz der Farbe und b) uber die Ursachen der Farbe. Er hat auch die Hypothese auf- gestellt, dai3 die Haut der Neger jenes kon- krete Problem darstellte, das im Laufe des 18. Jahrhunderts mehr als jedes andere zur Entstehung der physischen Anthropologie beitrug. - I? Honigmann, Strasbourg: ,,An der Grenze zwischen anthropologi- schem Interesse und Rassismus: Alexander von Humboldts Auseinandersetzung rnit Gobineau". Sowohl Gobineau als auch sein deutscher Ubersetzer Ludwig Sche- mann beriefen sich bei der Ausarbeitung und Verbreitung ihrer Rassenlehren auf Auflerungen Alexander von Humboldts. Dem stehen ablehnende Stellungnahmen Humboldts bei Erscheinen von Gobineaus Essai sur l'inigaliti des races humaines (1853-1855) gegenuber. Im Kosmos sprach sich Humboldt ganz eindeutig gegen die ,,unerfreuliche Annahme von hoheren und niederen Menschenrassen" aus. Ausgehend von dieser widerspriichlichen Situation wurde versucht zu zeigen, wie sich in der Auseinandersetzung zwischen Humboldt und Gobineau die Grenze zwischen an- thropologischem Interesse und rassistischer Theoriebildung abzeichnet. - M. Kutzer, Mainz: ,,Kakerlaken, Rasse oder Kranke? Die Diskussion der Aetiologie des Albinis- mus". Der Bedeutung entsprechend, die Haut- und Haarfarbe in der rassenkundli- chen Diskussion des 18. Jahrhunderts hat- ten, wurde der Albinismus beim Menschen - auch von den bedeutendsten Gelehrten und Naturforschern (Maupertuis, Voltaire, Linnk, Blumenbach, Buffon, Soemmer- ring) - in diese miteinbezogen. Es fanden

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hierbei zunachst weiflhautige Angehorige farbiger Volker, wie sie in den Reiseberich- ten erwahnt oder vereinzelt als Attraktion in Europa gezeigt wurden, Beachtung; sie klassifizierte man meist als eigene Stamme, Volker, ,,Rassen" in pejorativer Weise (Vol- taire, Linnk). Erst spater beriicksichtigte man auch die Albinos europaischer Ab- stammung (Blumenbach, Buffon). Die ver- gleichende Feststellung der ubereinstim- menden Symptomatik, erste Erkenntnisse uber den Erbgang, genauere Erforschung der pathologischen Anatomie (Le Cat 1765, Buzzi 1784) lieflen erkennen, dai3 die Kriterien fur den im gleichen Zeitraum zu- nehmend genauer definierten Begriff der Menschenrasse (Kant, Blumenbach) fur den Albinismus nicht zutreffen. J. F. Blumen- bachs Bedeutung fur die Bestimmung des menschlichen Albinismus als angeborener (und vererbbarer) Storung, auch sein Enga- gement gegen Vorurteile diesen ,,Kranken" gegenuber, wurden hervosehoben.

Ilse Jahn, Berlin-Ost: ,,Uber die Taxono- mie der ,Rasse' nach dem Briefwechsel zwischen Pastor Christian Ludwig Brehm (1787-1864) und dem Arzt und Zoolo- gen Hinrich Martin Lichtenstein (1780- 1857)". Unter den Zoologen ent- standen in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ebenfalls Kontroversen uber den Rasse- bzw. Subspezies-Begriff, die in unterschiedlichen philosophischen und theoretischen Konzeptionen begriin- det waren. Auf Grund der artenreichen Sammlungen des Zoologischen Museums Berlin stand die Problematik von Art- und Rassenbegriff haufig im Mittelpunkt brief- licher Diskussionen und Vorlesungen durch deren Direktoren Joh. Karl Illiger und Hinrich Lichtenstein. In Illigers Vorle- sungsmanuskript (urn 1810) wurde unter Berufung auf Kant das Fortpflanzungskri- terium zur Bestimmung des Artbegriffs bei Tieren wie bei Menschen zugrunde gelegt, die Rassen des Menschen wie bei Haustie- ren als klimatisch bedingte ,,Ausartungen" betrachtet. Auch Lichtenstein folgte dieser Auffassung und regte Schuler wie Konstan- tin Gloger zu Beobachtungen uber Rassen- bildung durch Klimawirkungen bei Vo-

geln an. Als der Liebhaberornithologe Chr. L. Brehm anhand verschiedener Scha- delmerkmale bei Vogeln auch Unterarten (Rassen) fur erbkonstant und von Anfang an fur geschaffen hielt und sie mit eigenen Binomina belegte, entfachte er eine Diskus- sion uber Abgrenzung und Benennung von Rassen, die sich in den Jahrgangen von Okens Isis 1823-1831 und in dem Brief- wechsel mit Lichtenstein niederschlug. Eine nomenklatorische Losung hatte schon 1829 der Mainzer Naturforscher Carl Friedrich Bruch vorgeschlagen, die dann ab 1844 der Leidener Zoologe Hermann Schlegel durch Einfuhrung der dreifachen Benennung von Rassen realisierte. - Wei- terhin trug Ilse Jahn die ,,Vorlesungen uber ,Anthropologie' durch M. J. Schleiden von 1843 bis 1863 an der Universitat Jena" vor. Der als Botaniker bekannte Schleiden hielt seit 1843 regelmaflig im Wintersemester eine Vorlesung uber ,,Anthropologie", die sich offenbar groi3er Beliebtheit erfreute. Ab 1848 uberstiegen die Horerzahlen die- jenigen in der ,,Allgemeinen Botanik" per- manent um ein Vielfaches; in den letzten Jahren blieb die ,,Anthropologie" sogar die einzige Vorlesung Schleidens. Aus einem Aufsatz von 1863 uber die Bedeutung der Anthropologie als Grundlage fur alle Wis- senschaften geht hervor, dai3 sich Schleiden konzeptionell an die psychologische An- thropologie von Jacob Friedrich Fries an- lehnte.

A. Sommer, Heidelberg: ,,William Frkdi- rik Edwards: Rasse als Grundlage europai- scher Geschichtsdeutung". Fur Frankreich waren es vor allem die Briider Augustin und Amkdke Thierry, die versuchten, die franzosische Volksgeschichte im friihen 19. Jahrhundert aufzuarbeiten. 1829 er- schien die dreibandige Histoire des Gaulois. Ein solcher Zugriff im Zeitalter der Restau- ration der Bourbonenherrschaft zeigt einen auflerst demokratisch-fortschrittli- chen Ansatz, obgleich - in zeitgenossi- scher Wertung jedoch gerade weil - die Briider Thierry ihren Untersuchungsge- genstand mit dem Begriff ,,race" verban- den. Darin unterschieden sie sich bedeut- Sam von vergleichbaren deutschen Darstel-

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lungen, in denen ,,Rasse" bis zur Jahrhun- dertmitte in diesem Zusammenhang nicht gebraucht wurde. In Frankreich jedoch hatte ,,race" schon seit dem 16. Jahr- hundert einen zusatzlichen Stellenwert in der innenpolitischen Auseinandersetzung erlangt. In seiner weiteren Bedeutung als ,,Adelshaus, Herrscherhaus oder -ge- schlecht" war ,,race" zum Kampfbegriff des alten franzosischen Adels, der ,,noblesse d'kpPgeworden, der gegenuber dem zen- tralistischen Konigtum und dem ihm die- nenden Amtsadel, der ,,noblesse de robe", seine Standesprivilegien damit verteidigte, dai3 ihre Rechte direkt auf die Abstam- mung vom franzosischen Eroberer zuriick- zufuhren seien, von dessen ,,race" er sei. Dieses Denkmodell liei3 sich revolutionar wenden und erweitern, um die Rechte des ,,gallischen Volkes" - also der eigentlichen Nation - nicht gegen den Adel als den nicht dazugehorigen Eroberern einzufor- dern. - Benutzten die Geschichtswerke der Briider Thierry noch diesen ,,race"-Be- griff, so kam 1829 durch William Frkdkrik Edwards von naturwissenschaftlicher Seite der entscheidende Vorschlag, die neuge- wonnenen anthropologischen Kenntnisse mit der Geschichtsdarstellung zu verbin- den. Bis heute wird Edwards dafur ange- fuhrt: zum einen als ,,Geburtsurkunde des Rassismus" bei Werner Sombart 1938 be- zeichnet, ist Edwards Vorschlag mit der Erstbenennung dieses unheilvollen Phano- mens ,,Rassismus" behaftet, dagegen wird ihm zum anderen das Verdienst zuteil, als erster die zwei unterschiedlichen Grundty- pen in der franzosischen Bevolkerung er- kannt zu haben, auch wenn er sie zeitlich vollig falsch einordnete und - den Thier- rys folgend - sie als die zwei ,,races" der Gallier und Kymren aufgrund der histori- schen Quellen verstand. Als dritte blei- bende Leistung ging auf Edwards die Griin- dung der ersten ethnologischen Gesell- schaft 1838 in Paris zuriick. - Der Vor- wurf des ,,Rassismus" im heutigen Sinne trifft Edward freilich unverdient. In seinem Vorschlag hatte er nur seine Beobachtung

zweier physisch unterschiedener Merk- malsgruppen in der franzosischen Bevolke- rung an die Historiker weitergegeben und durch detaillierte naturhistorische Beweis- fuhrung zu belegen gesucht, dai3 histori- sche Volker in ihren physischen Merkma- len in den heutigen noch zu erkennen seien. Eine wertende Deutung oder Gegen- uberstellung sowie eine Geschichtsdeutung ihrer Leistungen hat er keineswegs daraus abgeleitet. Die heutige Bedeutung einer verabscheuenswiirdigen Ideologie, die die Unterdriickung und Vernichtung ganzer Menschengruppen aufgrund biologischer Merkmale meint, ist - vergleichbar dem beschreibenden Begriff ,,Semitismus" im 19. Jahrhundert - nicht enthalten. Der Begriff ,,race" hat ahnlich wie der Begriff der Nation einen einschneidenden Wandel seiner politischen Bedeutung erst in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts ange- treten.

Im universitatsoffentlichen Abendvor- trag sprach Urs Bitterli, Zurich, uber: ,,Auch Amerikaner sind Menschen. Das Erscheinungsbild des Indianers in Reisebe- richten und kulturhistorischen Darstellun- gen vom 16.-18. Jahrhundert". Der Ein- tritt Amerikas in den europaischen Ge- sichtskreis, wie er sich im Gefolge der Ent- deckungsreisen des Kolumbus vollzog, ist von den zeitgenossischen Beobachtern friih als eine intellektuelle Herausforderung be- griffen worden, die dazu zwang, den eige- nen kulturellen Standort zu uberdenken. Insbesondere stellte sich die Frage nach dem Platz, den man im eigenen Weltbild dem Indianer zuzuordnen gewillt war, eine Frage, die man bald im Sinne der Integra- tion, bald im Sinne der Ausgrenzung zu losen suchte. Das historische Quellenmate- rial der Reiseberichterstattung liefert die vielfaltigsten Auskunfte uber diesen Pro- zeB der kulturellen Annaherung. Nicht zu- letzt sind diese Auskunfte auch fur die Ge- schichte der physischen Anthropologie be- deutsam, auch wenn sie von den Zeitgenos- sen oft miflverstandlich gedeutet und un- terschiedlich gewertet wurden.

Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. Gunter Mann, Johannes Gutenberg-Universitat Mainz, Medizinhistori- sches Institut, Am Pulverturm 13, D-6500 Mainz.

Ber.Wissenschaftsgesch. 12 (1989) 51-57