8
Nr. 1 | 31. Jahrgang 2002 | Pharmazie in unserer Zeit | 23 PHYSIOLOGIE DES SCHMERZES | PHYSIOLOGIE Analgesie — Algesie Die Physiologie des Schmerzes ROBERT F. S CHMIDT Nozizeption und Schmerz: Konzepte und Hypothesen Die Spezifitätstheorie des Schmerzes Die heutigen Vorstellungen zur Schmerzentstehung im Ge- webe gehen davon aus, dass der Schmerz eine selbst- ständige Sinnesempfindung mit einem dafür speziellen nervösen Apparat von Sinnesrezeptoren (Sensoren), Lei- tungsbahnen und Zentren ist. Der Vorreiter dieser Idee war um die Mitte des 19. Jahrhunderts der Physiologe Johannes Müller. Nach seiner Ansicht kann jedes Sinnessystem im- mer nur eine Art von Sinnesempfindung auslösen, gleich- gültig, auf welche Weise es gereizt wird. Diese Regel wur- de das «Gesetz der spezifischen Sinnesenergien» genannt. Das Konzept funktionsspezifischer Sinneskanäle wurde für die speziellen Sinne Gehör, Gesicht, Geruch und Geschmack rasch akzeptiert. Für die Sinne der Haut und der tiefer liegenden Gewebe dauerte es aber noch bis weit in das 20. Jahrhundert, bis die Mehrzahl der Wissenschaftler davon überzeugt war, dass auch in diesen Strukturen spe- zielle Sensoren, beispielsweise für den Tastsinn, den Tem- peratursinn und vor allem den Schmerzsinn vorhanden sind. Zur endgültigen Durchsetzung dieser Idee hat am meisten der Physiologe Max von Frey (Ordinarius in Würzburg 1900 – 1932) beigetragen. Das nozizeptive System vermittelt die Schmerzempfindung als eigenständige Sin- neswahrnehmung, die meist von Noxen aus- gelöst wird. Eine kausale Therapie des Schmerzes ist oft schwierig, allerdings bietet das nozizeptive System zahlreiche Angriffs- punkte für eine symptomatische Schmerz- therapie. Das Ausgangspostulat der Spezifitätstheorie des Schmer- zes, dass nämlich praktisch jedes menschliche Gewebe über spezielle Sensoren verfügt, die eine so hohe Schwelle ha- ben, dass sie nur durch gewebsschädigende oder potenzi- ell gewebsschädigende Reize (Noxen von lat. Noxa = der Schaden) erregt werden, gilt heute als allgemein anerkannt. Diese Sensoren werden als Nozizeptoren (syn. Nozisen- soren) bezeichnet. Ihre Erregung löst in der Regel Schmer- zen aus, die wiederum signalisieren, dass entweder von außen oder von innen kommende Noxen dem Körper Scha- den zuzufügen drohen. Abgrenzung von Nozizeption und Schmerz Die Aufnahme, Weiterleitung und zentralnervöse Verarbei- tung noxischer Signale bezeichnen wir als Nozizeption, die mit diesen Vorgängen befassten Strukturen als das nozi- zeptive oder nozifensive System. Die subjektive Empfin- dung Schmerz ist zwar, wie eben schon erwähnt, häufig eine Folge der Erregung von Nozizeptoren samt der an- schließenden Aktivierung des nozizeptiven Systems, aber nicht jede Erregung von Nozizeptoren ist zwangsläufig von Schmerzen gefolgt. Umgekehrt kennen wir zahlreiche Schmerzarten, an denen die Erregung von Nozizeptoren Noxischer Reiz direkt Aufnahme Weiterleitung und Verarbeitung noxischer Signale Periphere Sensibilisierung Nozizeptoren indirekt Zentrale Sensibilisierung Schmerz- komponenten sensorisch- diskriminative affektive (emotionale) motorische vegetative (autonome) Schmerz- gedächtnis Schmerz- äußerung (psycho- motorische Komponente) Schmerz- bewertung (kognitive Komponente) ABB. 1 | SCHMERZENTSTEHUNG Schematische Darstellung der Schmerzentstehung über eine Aktivierung des nozizeptiven Systems durch noxi- sche Reize. Diese können entweder direkt auf Nozizep- toren einwirken oder indirekt aus dem umliegenden Gewebe noxische Reize, d.h. algetische Substanzen freisetzen. Die Aufnahme, Weiterleitung und Verarbei- tung noxischer Signale erfolgt auf allen Ebenen des Zentralnervensystems. In die resultierende Schmerzbe- wertung, an der das Schmerzgedächtnis entscheidend beteiligt ist (s. Text), gehen die verschiedenen Schmerz- komponenten je nach Art des Schmerzes in unter- schiedlichem Ausmaß ein. Das Schema gilt auch für Schmerzen, die nicht durch Nozizeptoren oder neural- gische Erregungen bedingt sind. Wie im Text darge- stellt, können periphere und zentrale Sensibilisierung die Aufnahme und Verarbeitung noxischer Signale erheblich verändern.

Die Physiologie des Schmerzes: Analgesie — Algesie

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Die Physiologie des Schmerzes: Analgesie — Algesie

Nr. 1 | 31. Jahrgang 2002 | Pharmazie in unserer Zeit | 23

P H Y S I O L O G I E D E S S C H M E R Z E S | PH YS I O LO G I E

Analgesie — Algesie

Die Physiologiedes SchmerzesROBERT F. SCHMIDT

Nozizeption und Schmerz: Konzepte undHypothesenDie Spezifitätstheorie des Schmerzes

Die heutigen Vorstellungen zur Schmerzentstehung im Ge-webe gehen davon aus, dass der Schmerz eine selbst-ständige Sinnesempfindung mit einem dafür speziellennervösen Apparat von Sinnesrezeptoren (Sensoren), Lei-tungsbahnen und Zentren ist. Der Vorreiter dieser Idee warum die Mitte des 19. Jahrhunderts der Physiologe JohannesMüller. Nach seiner Ansicht kann jedes Sinnessystem im-mer nur eine Art von Sinnesempfindung auslösen, gleich-gültig, auf welche Weise es gereizt wird. Diese Regel wur-de das «Gesetz der spezifischen Sinnesenergien» genannt.

Das Konzept funktionsspezifischer Sinneskanälewurde für die speziellen Sinne Gehör, Gesicht, Geruch undGeschmack rasch akzeptiert. Für die Sinne der Haut und dertiefer liegenden Gewebe dauerte es aber noch bis weit indas 20. Jahrhundert, bis die Mehrzahl der Wissenschaftlerdavon überzeugt war, dass auch in diesen Strukturen spe-zielle Sensoren, beispielsweise für den Tastsinn, den Tem-peratursinn und vor allem den Schmerzsinn vorhanden sind.Zur endgültigen Durchsetzung dieser Idee hat am meistender Physiologe Max von Frey (Ordinarius in Würzburg 1900– 1932) beigetragen.

Das nozizeptive System vermittelt dieSchmerzempfindung als eigenständige Sin-neswahrnehmung, die meist von Noxen aus-gelöst wird. Eine kausale Therapie desSchmerzes ist oft schwierig, allerdings bietetdas nozizeptive System zahlreiche Angriffs-punkte für eine symptomatische Schmerz-therapie.

Das Ausgangspostulat der Spezifitätstheorie des Schmer-zes, dass nämlich praktisch jedes menschliche Gewebe überspezielle Sensoren verfügt, die eine so hohe Schwelle ha-ben, dass sie nur durch gewebsschädigende oder potenzi-ell gewebsschädigende Reize (Noxen von lat. Noxa = derSchaden) erregt werden, gilt heute als allgemein anerkannt.Diese Sensoren werden als Nozizeptoren (syn. Nozisen-soren) bezeichnet. Ihre Erregung löst in der Regel Schmer-zen aus, die wiederum signalisieren, dass entweder vonaußen oder von innen kommende Noxen dem Körper Scha-den zuzufügen drohen.

Abgrenzung von Nozizeption und SchmerzDie Aufnahme, Weiterleitung und zentralnervöse Verarbei-tung noxischer Signale bezeichnen wir als Nozizeption,die mit diesen Vorgängen befassten Strukturen als das nozi-zeptive oder nozifensive System. Die subjektive Empfin-dung Schmerz ist zwar, wie eben schon erwähnt, häufigeine Folge der Erregung von Nozizeptoren samt der an-schließenden Aktivierung des nozizeptiven Systems, abernicht jede Erregung von Nozizeptoren ist zwangsläufig vonSchmerzen gefolgt. Umgekehrt kennen wir zahlreicheSchmerzarten, an denen die Erregung von Nozizeptoren

NoxischerReiz

direkt

Aufnahme

Weiterleitung

und

Verarbeitung

noxischer

Signale

PeriphereSensibilisierung

Nozizeptoren

indirekt

ZentraleSensibilisierung

Schmerz-komponenten

sensorisch-diskriminative

affektive(emotionale)

motorische

vegetative(autonome)

Schmerz-gedächtnis

Schmerz-äußerung(psycho-

motorischeKomponente)

Schmerz-bewertung(kognitive

Komponente)

A B B . 1 | S C H M E R Z E N T S T E H U N G

Schematische Darstellung der Schmerzentstehung übereine Aktivierung des nozizeptiven Systems durch noxi-sche Reize. Diese können entweder direkt auf Nozizep-toren einwirken oder indirekt aus dem umliegendenGewebe noxische Reize, d.h. algetische Substanzen freisetzen. Die Aufnahme, Weiterleitung und Verarbei-tung noxischer Signale erfolgt auf allen Ebenen desZentralnervensystems. In die resultierende Schmerzbe-wertung, an der das Schmerzgedächtnis entscheidendbeteiligt ist (s. Text), gehen die verschiedenen Schmerz-komponenten je nach Art des Schmerzes in unter-schiedlichem Ausmaß ein. Das Schema gilt auch fürSchmerzen, die nicht durch Nozizeptoren oder neural-gische Erregungen bedingt sind. Wie im Text darge-stellt, können periphere und zentrale Sensibilisierungdie Aufnahme und Verarbeitung noxischer Signale erheblich verändern.

Page 2: Die Physiologie des Schmerzes: Analgesie — Algesie

24 | Pharmazie in unserer Zeit | 31. Jahrgang 2002 | Nr. 1

fassen wir zusammen, dass noxische Reize Flucht- undSchutzreflexe ebenso auslösen können wie langanhaltendeMuskelverspannungen. Vergleichbares gilt für die von noxi-schen Reizen ausgelösten Reaktionen, die über das vegeta-tive Nervensystem abgewickelt werden.

Was die affektive Komponente angeht, so liegt das Be-sondere des Schmerzes im Vergleich zu den anderen Sinnes-modalitäten darin, dass der Schmerz fast immer nur unlust-betonte Gefühle, also negativ getönte Emotionen in unsauslöst. Der Schmerz tut weh, wir leiden an ihm und erwirkt daher fast immer als ein Antrieb zur Vermeidung. Die-se stark negative motivational-emotionale Komponenteunterscheidet ihn fundamental von anderen Sinnessyste-

nicht beteiligt ist, wie z.B. viele Formen neuralgischer undanderer chronischer Schmerzen (s. unten) [1 – 4].

SchmerzcharakterisierungSchmerzkomponenten

Zur Schmerzempfindung tragen, wie in Abb. 1 zu sehen,sensorische, affektive, vegetative und motorischeKomponenten bei [1, 4]. Unter der sensorisch-diskrimina-tiven Komponente verstehen wir dabei die Tatsache, dassbeim Schmerz, wie bei den anderen Sinnesempfindungenauch, die verschiedenen Aspekte eines noxischen Reizes(Lokalisation, Beginn und Ende, Intensität etc.) bewusstempfunden werden. Unter der motorischen Komponente

A B B . 2 Ultrastruktur von Nozizeptoren. Schematische Darstellung nach elektronenmikroskopischen Studien mit Serien vonUltra- und Semidünnschnitten der Kniegelenkskapsel und der Gelenkligamente der Katze am Lehrstuhl II des PhysiologischenInstituts der Universität Würzburg. Die afferenten Nervenfasern von Nozizeptoren sind teils dünn myelinisiert (Gruppe III- oderAδ-Fasern), teils unmyelinisiert (Gruppe IV- oder C-Fasern). Links ist zu sehen, dass sich die Terminalen nach Austritt aus dem Perineurium vielfach im Gewebe verzweigen. Jede Endigung bildet in regelmässigen Abständen perlschnurartige Verdickungenaus. Die vergrösserten Ausschnitte rechts im Bild zeigen, dass die umgebenden Schwann-Zellen (gelb gefärbt) an den „Perlen“und der jeweiligen Endknospe Membranareale der Nozizeptoren frei lassen, so dass diese in unmittelbaren Kontakt mit derUmgebung treten können. Diese freien Areale bilden wahrscheinlich die reizaufnehmenden Strukturen (Transduktionsareale)der Nozizeptoren, die in der nachfolgenden Abbildung dargestellt sind.

Page 3: Die Physiologie des Schmerzes: Analgesie — Algesie

Nr. 1 | 31. Jahrgang 2002 | Pharmazie in unserer Zeit | 25

P H Y S I O L O G I E D E S S C H M E R Z E S | PH YS I O LO G I E

men (unter seltenen, meist eher pathologischen Be-dingungen können Schmerzen auch lustvolle Affekte aus-lösen).

SchmerzbewertungEntscheidend für die Schmerzbewertung ist v.a., dass der ak-tuelle Schmerz an den im Kurz- und Langzeitgedächtnis ge-speicherten Schmerzerfahrungen gemessen und entspre-chend diesen Erfahrungen bewertet wird. Die Schmerzbe-wertung kann daher als die erkennende oder kognitiveKomponente des Schmerzes bezeichnet werden (rechts inAbb. 1). Sie geschieht zeitlich parallel mit der Verarbeitungder oben beschriebenen 4 Schmerzkomponenten. Sie kanndaher sehr schnell vorbewusst wie auch langsam bewussterfolgen.

An der Bewertung eines Schmerzes, also ob wir ihn bei-spielsweise als mild, unangenehm, beunruhigend, heftigoder unerträglich empfinden, haben die sensorischen, af-fektiven und vegetativen Komponenten des Schmerzes inje nach Schmerzursache und Begleitumständen variieren-dem Ausmaß ihren Anteil. Beispielsweise wird bei akutenOberflächenschmerzen häufig die sensorische Komponen-te im Vordergrund stehen, bei akuten viszeralen Schmerzenwird die vegetative Komponente eine große Rolle spielenund bei chronischen Schmerzen wird die affektive Kom-ponente für die Schmerzbewertung oft ausschlaggebendsein.

Der Nozizeptor als Ausgangspunkt akuter Schmerzen

Nozizeptoren kommen praktisch in allen Körpergewebenvor. Es handelt sich um vielfach verzweigte Endigungen vonsehr dünnen Nervenfasern, die lediglich einen durch-schnittlichen Durchmesser von 1 µm (1/1000 mm) haben.Sie sind im Lichtmikroskop kaum sichtbar, deswegen konn-ten sie erst mit Hilfe des Elektronenmikroskops dargestelltwerden (Abb. 2).

Funktionell gesehen ist der häufigste Typ des Nozizep-tors derjenige, der sowohl auf intensive mechanische, wieauf thermische (Hitze, Kälte), wie auf chemische noxischeReize (z.B. starke Säuren oder Bienengift) anspricht und da-her polymodal genannt wird. Daneben gibt es in kleine-rer Zahl unimodale Nozizeptoren, die lediglich auf eineReizart, also z.B. intensive mechanische Reize oder Hitze-reize empfindlich sind. Auch der Juckreiz wird anscheinenddurch eine besondere Nozizeptorform übertragen [5 – 7].

So winzig sie auch sind, so besitzen die Nozizeptorendoch ein Fülle von „Empfangsstationen“ für noxische Rei-ze. Dabei handelt es sich, wie Abb. 3 zeigt, zum einen umMembranrezeptoren, an die algetische Moleküle „an-docken“ können, um dann über intrazelluläre chemischeReaktionsketten den Nozizeptor zu erregen. So sind rechtsoben in Abb. 3 für den Schmerzstoff Bradykinin zwei Rezep-toren, nämlich B1 und B2 eingezeichnet. Bradykinin wird imKörper bei Entzündungen gebildet und ist eines der haupt-verantwortlichen Moleküle für den Entzündungsschmerz.

Andere Membranstrukturen sind auf mechanische Reizeempfindlich, d.h. sie öffnen auf Druck oder Dehnung Ionen-kanäle, über die aus dem extrazellulären Milieu Calcium-und Natrium-Ionen in den Nozizeptor einströmen und ihnüber die mitgebrachte positive Ladung zur Erregung brin-gen. Ähnlich verhalten sich andere Ionenkanäle, die durchHitze geöffnet werden. Die Erregung von Kaltnozizeptorenerfolgt dadurch, dass sich bei Abkühlung bestimmte Kali-umkanäle schließen, wodurch das Membranpotenzial de-polarisiert, d.h. zur Erregungsschwelle hin verschobenwird.

Schließlich sei noch erwähnt, wie rechts unten in Abb.3 gezeigt, dass eine Reihe von Membranrezeptoren, so diefür Opioide (s. unten) und für einige Neuropeptide, wie dasSomatostatin und das Galanin, bei ihrer Aktivierung durch

A B B . 3 Transduktion mechanischer, chemischer und ther-mischer noxischer Reize an polymodalen Nozizeptoren. Es istnur die letzte „Perle“ und die Terminalknospe eines Nozizep-tors skizziert. Diese synoptische Darstellung enthält die mei-sten der derzeit bekannten Transduktionsmechanismeneinschließlich der Möglichkeiten der Sensibilisierung und De-sensibilisierung. Individuelle Nozizeptoren enthalten jeweilsnur einen größeren oder kleinerer Teil der Membrankanäleund -rezeptoren. Weitere Besprechung im Text. Die Mehrzahlder Befunde wurde mit der in Abb. 4 a gezeigten Technik era-beitet. Zusammengestellt nach den Ergebnissen zahlreicherArbeitsgruppen. Quellen in [3, 5, 6, 13]

cAMP

PKA

–++

+ ––

Nozizeptor

G

Opioid

µ-, δ-, κ-Rezeptoren

SomatostatinSST3-Rezeptoren

Galaninp75-Rezeptoren

NGF, GDNFNa+, Ca2+

(unspezifisch)

Serotonin

PGE2

Adenosin

TTX-empfindlich(Erregung)

Na+

TTX-resistent(Sensibilisierung)

Na+

Dehnungs-empfindlicher

Kanal

EP2-Rezeptor

CapsaicinHitze, H+

VR1-Rezeptor

GSP

Neurokinin A

NK1-/NK2-Rezeptor Na+

trkA-RezeptorNGF

PurinergerRezeptor P2X

ATP

G

Bradykinin B1-

RezeptorSPCGRP

NeurogeneEntzündung

PLC

DAG

PKC

IP3

B2-Rezeptor

Ca2+

Page 4: Die Physiologie des Schmerzes: Analgesie — Algesie

26 | Pharmazie in unserer Zeit | 31. Jahrgang 2002 | Nr. 1

die entsprechenden Liganden zu einer Erregungsdämpfungder Signalketten in den Nozizeptoren führen [8, 9]. Dies istin der Abbildung durch Minus-Zeichen symbolisiert.

Die meisten Nozizeptoren produzieren und speichernNeuropeptide, besonders die Neuropeptide Calcitonin gene-related peptide (CGRP) und die Substanz P (SP) (linksoben in Abb. 3). Diese Peptide werden bei Erregung derNozizeptoren aus ihren Speichern in den Terminalstruktu-ren freigesetzt. CGRP und SP wirken vor allem auf diebenachbarten kleinen Blutgefäße ein und lösen dort einedeutliche Gefäßerweiterung und den Austritt von Blutplas-ma in das umliegende Gewebe aus. Diese Reaktionen, neu-rogene Entzündung genannt, tragen zur Rötung undSchwellung entzündeter Gewebe bei, was nicht nur nega-

tiv zu sehen ist, denn durch die vermehrte Durchblutungund die „Durchwässerung“ des entzündeten Gewebes kön-nen eventuelle Toxine schneller abgebaut und abge-schwemmt werden [7, 8].

Plastizität im nozizeptiven SystemExperimentelle Bestimmung der Eigenschaftenvon Nozizeptoren

Wie in der Abb. 4 a am Beispiel einer Untersuchung von Ge-lenknozizeptoren illustriert, kann das Antwortverhalten ein-zelner Nozizeptoren auf noxische Reize aller Art mit elek-trophysiologischen Methoden untersucht werden. SolcheMessungen wurden und werden in großer Zahl nicht nuran Gelenknozizeptoren, sondern auch an Nozizeptoren der

0

20

40

60

80

100

120

5 min

Synvisc®

Indomethacin

Applikation%

c

0

5

10

15

20

25

30

60 min

Entzündung

Gruppe-III-Faser, Imp/minGruppe-IV-Faser,Antworten auf Flexion,Imp/Antwort

b

AbleitelektrodeGriff

Nervusarticularismedialis

Arteriasaphena

Nervussaphenus

i.a.-Injektion

Hebel

Kraftmessgerät

20 / 60 mNm

a

A B B . 4 Sensibilisierung und Desensibilisierung von Nozizeptoren des Kniegelenks bei Katzen und Ratten.a) Schema des Versuchsaufbaus und der Ableitmethodik am Beispiel eines Kniegelenks der Ratte. Die Ableitung der Aktionspo-tenziale (Impulse) erfolgt von einzelnen, unter dem Präpariermikroskop aus dem N. saphenus freigelegten dünnen Afferenzen.Die Ableitelektrode ist ein dünner Platindraht. b) Zeitverlauf der Sensibilisierung nozizeptiver Afferenzen aus dem Kniegelenkder Katze nach Setzen einer experimentellen Entzündung (Pfeil). Grüne Kurve: Anstieg der Spontanaktivität, rote Kurve: ErstesAuftreten von Aktionspotenzialen nach ca. 90 min und weitere Zunahme der Entladungen über die nächsten 3 h bei einem ur-sprünglich „schlafenden“ Nozizeptor auf eine Beugebewegung. Modifiziert aus [10]. c) Abnahme der Anzahl der Entladungenvon Nozizeptoren aus experimentell entzündeten Kniegelenken bei systemischer Gabe von Indomethacin (ockerfarbene Kurve)und bei intraartikulärer Applikation von hochvisköser Hyaluronsäure (grüne Kurve). Unpublizierte Messungen aus dem Labo-ratorium des Autors.

Page 5: Die Physiologie des Schmerzes: Analgesie — Algesie

P H Y S I O L O G I E D E S S C H M E R Z E S | PH YS I O LO G I E

Haut, der Muskulatur und der Eingeweide durchgeführt.Neben Messungen an Versuchtieren, v.a. Ratten, sind auchMessungen an menschlichen Nozizeptoren möglich. Dazuwerden Metallmikroelektroden durch die Haut in Nerveneingestochen und die Impulse einzelner nozizeptiver Ner-venfasern „abgehört“ [3].

Periphere SensibilisierungEs gehört zu den wichtigsten Einsichten der letzten Jahre,dass die Schwelle für noxische Reize weder für alle Nozi-zeptoren einheitlich ist, noch dass sie für einen gegebenenNozizeptor konstant ist, d.h. Nozizeptoren können sensi-bilisiert oder desensibilisiert werden. Im gesunden Gewe-be finden sich Nozizeptoren mit recht unterschiedlichenSchwellen auf noxische Reize, die z.T. so hoch liegen können, dass die Nozizeptoren nicht zu erregen sind(„schlafende“ Nozizeptoren). Ist aber das Gewebe pa-thophysiologisch verändert, z.B. durch eine Entzündung,werden alle Nozizeptoren sensibilisiert, d.h. ihre Schwellenwerden abgesenkt, und zwar z.T. so weit, dass selbst nor-malerweise nicht-noxische Reize jetzt zur Erregung der No-zizeptoren führen. Dabei werden auch die „schlafenden“Nozizeptoren „aufgeweckt“ (rote Kurve Abb. 4 b). Die Sen-sibilisierung hat einen raschen Zeitverlauf (Abb. 4 b) [10].Sie erfolgt wahrscheinlich durch algetische Substanzen, wiedie Prostaglandine (z.B. PGE2 in Abb. 3, wirkt auf den EP2-Rezeptor). Diese Sensibilisierungen sind der Grund für diestarken Schmerzen, z.B. arthritischer Gelenke, in Ruhe (Zu-nahme der Spontanaktivität, dunkelgrüne Kurve in Abb. 4b) und v.a. bei Bewegungen (auch die Überempfindlichkeitder Haut bei Sonnenbrand ist, um ein einfaches Beispiel zunennen, auf die entzündungsbedingte Sensibilisierung derHautnozizeptoren zurückzuführen) [11].

Periphere DesensibilisierungAuch Schwellenerhöhungen, also Desensibilisierungen vonNozizeptoren lassen sich beobachten. So greifen einigeSchmerzmittel in der Peripherie an und erhöhen dort dieSchwelle der Nozizeptoren für noxische Reize. Mehr als100 Jahre alt ist z.B. die Anwendung von Acetylsalicylsäure(Aspirin ) als Schmerzmittel. Diese und verwandte Substan-zen hemmen die Produktion der Prostaglandine, wodurchsozusagen indirekt, durch Wegnahme von Sensibilisierung,die Nozizeptoren unerregbarer gemacht werden. Der Zeit-verlauf einer solchen Desensibilisierung durch Indometha-cin ist in Abb. 4 c, orange Kurve, zu sehen.

Vor einigen Jahren wurde durch Tierexperimente in derGrundlagenforschung bekannt, dass es periphere Opiat-rezeptoren gibt, deren Aktivierung durch endogene, also imKörper erzeugte, und exogene, also therapeutisch zuge-führte Opiate (Syn.: Opioide) zu Desensibilisierung des Nozizeptors führt (s. die Opiatrezeptoren in Abb. 3). Dieseperipheren Opiatwirkungen werden unterdessen schonvielfach klinisch genutzt [9, 12].

Die Empfindlichkeit eines Nozizeptors für mechanischeoder auch andere noxische Reize hängt auch davon ab, wie

die Umgebung des Nozizeptors be-schaffen ist. Ist der Nozizeptor bei-spielsweise in dichtes Bindegewebeeingebettet, so können ihn chemischeReizstoffe nur schwer erreichen,während mechanische Reize gut anihn übertragen werden. Umgekehrtkann eine elastische mechanische Um-gebung auch protektiv für mechani-sche Reize wirken. So zeigt die grüneKurve der Abb. 4 c die Desensibilisie-rung eines entzündeten Gelenknozi-zeptors durch intraartikuläre Applikation von hochvisköserHyaluronsäure (Synvisc®), einem Hauptbestandteil der Sy-novialflüssigkeit.

Zentrale SensibilisierungNozizeptive Neurone im Rückenmark, die die nozizeptivenSignale aus der Peripherie aufnehmen und zum Großhirnweiterbefördern, zeigen bei Entzündungen und anderenschmerzhaften Gewebsschädigungen erheblich gesteigerteAktivität. Diese Aktivierung kommt einerseits über die ver-mehrte Erregung durch die sensibilisierten Nozizeptorenzustande, andererseits besitzt das Zentralnervensystem(ZNS) auf der Ebene des Rückenmarks und den darüberangeordneten „supraspinalen“ Strukturen Mechanismen,die die Nervenzellen übererregbar machen. Diese Mecha-nismen werden unter dem Begriff zentrale Sensibilisie-rung zusammengefasst. Sie spielen, wie nachfolgend dar-gestellt wird, eine wichtige Rolle bei der Entwicklung undAufrechterhaltung chronischer Schmerzen [7].

Chronische SchmerzenDefinition, Vorkommen und Kosten chronischer Schmerzen

Besteht Schmerz über mehr als 6 Monate ununterbrochenfort, so wird er nach internationaler Übereinkunft als chro-nisch bezeichnet.

Die meisten Schmerzpatienten klagen über Kopf-, Ge-sichts- oder Rückenschmerzen. Fast alle sind mehrfach me-dizinisch untersucht, ohne dass ein kausaler Zusammen-hang zwischen Organbefund und Schmerzzustand gefun-den werden konnte. Selbst bei klarphysiologisch bedingten Schmerzenwie tumorbedingten Schmerzen, aufdie nur ein kleiner Anteil der Behand-lungskosten fällt, kann sich derSchmerz von seiner ursprünglichenUrsache, der Gewebszerstörung, lösenund sich verselbstständigen, d.h. trotzvölliger Ausschaltung der nozizeptivenReizung aus den entsprechendenKörperregionen weiter bestehen [1].

Ähnlich ist die Situation bei soge-nannten neuropathischen Schmer-zen, die nach einer Verletzung von pe-

KOS T E N D E S C H RO N I S C H E N S C H M E R Z E S |

Chronische Schmerzen sind die „Toten-gräber“ unseres Gesundheitssystems:nur 10 % aller Klinikpatienten sindSchmerzpatienten, diese 10 % ver-schlingen mehr als 65 % aller Behand-lungskosten.

S C H M E R Z PRO PH Y L A X E |In dieser Hinsicht wichtig ist auch dieVermeidung von Schmerz durch Schon-haltungen, die selbst wieder verstär-kend auf Schmerz wirken; die subjekti-ve Erleichterung durch die Schonhal-tung stellt eine positive Konsequenz darund verstärkt häufig solche Schonhal-tungen, die selbst wieder zu Schmerzführen.

Nr. 1 | 31. Jahrgang 2002 | Pharmazie in unserer Zeit | 27

Page 6: Die Physiologie des Schmerzes: Analgesie — Algesie

28 | Pharmazie in unserer Zeit | 31. Jahrgang 2002 | Nr. 1

ripheren Nerven, z.B. nach Amputation, Unfällen, Ner-venausrissen und Entzündungen auch nach Heilung der Lä-sion wegen ihrer Intensität großes Leiden verursachen kön-nen. Für die meisten chronischen Schmerzen gilt darüberhinaus, dass die Erfolge oder Misserfolge der verschiede-nen Schmerztherapien – seien sie nun medizinische oderpsychologische – unabhängig vom Organbefund sind. Soklagen beispielsweise Personen über Rückenschmerzen, oh-ne dass pathologische Veränderungen vorhanden sind, undumgekehrt finden sich Personen mit starken pathologischenVeränderungen an der Wirbelsäule, die über keinerlei Be-schwerden klagen.

Sensibilisierung und Lernprozesse als Ursache der Chronifizierung

Wie schon oben beschrieben, zeichnen sich die meistenNervenzellen des nozizeptiven Systems vom Erfolgsorgan,bis zur Empfangsstation im Großhirn und limbischen Sy-stem durch ein hohes Ausmaß an Plastizität und damitModifizierbarkeit in allen Altersstufen, nicht nur im Ent-wicklungsstadium aus. Dabei gibt es Zellsysteme des nozi-zeptiven Systems, die nach intensiven Schmerzreizen ihreAktivität dauerhaft erhöhen können (z.B. „schlafende“ Nozi-zeptoren werden durch Mikroentzündungen in Gelenkengeweckt und bleiben danach „wach“). Im Zentralnerven-system (Rückenmark und Gehirn) kommen dann noch Zell-systeme hinzu, die nur bei assoziativ dargebotenenSchmerzreizen dauerhaft verändert aktiv sind und zu ei-ner Ausbreitung der Schmerzreaktion in weite Teile des ZNSführen können. Der Schmerz ändert sodann im Lauf derZeit Ort, Verteilung und Intensität je nach den assoziativ ver-änderten Hirn- oder Rückenmarksteilen, unabhängig vomursprünglich vorhandenen Schmerz. Beispiele für assozia-tiv gelernte Schmerzen sind Rücken- und Spannungskopf-schmerzen, ein Beispiel für primär nicht-assoziative Sensibi-lisierung ist Phantomschmerz nach Amputation. Dazwi-

schen gibt es viele Übergänge zwischen beiden, z.B. neu-ropathische Schmerzen nach Nervenverletzungen, die so-wohl entzündliche, sensibilisierende und assoziativ gelern-te Elemente verbinden.

Es ist also so, dass unmittelbare Konsequenzen vonSchmerz mitbestimmen, ob der Schmerz bestehen bleibt,verschwindet oder wiederkommt. Man spricht in Anleh-nung an die Lernpsychologie auch von der operantenSchmerzkomponente. Operantes Lernen im Zusammen-hang mit Schmerz bedeutet, dass positive (verstärkende)oder negative (bestrafende) Konsequenzen die Auftritts-wahrscheinlichkeit des vorangegangenen Schmerzverhal-tens erhöhen oder erniedrigen können. Die häufigsten po-sitiven Konsequenzen sind soziale Zuwendung innerhalbder Familie oder durch Angehörige der Heilberufe undschmerzlindernde Medikamente. So gesehen stellt be-dauerlicherweise unser medizinisches Versorgungssystemvermutlich eine der wichtigsten Ursachen der Chronifizie-rung von Schmerzen dar [1].

Angriffspunkte pharmakologischer TherapieVon der Noxe zum Schmerz

Einen Überblick über die bei Nozisensorschmerzen beteilig-ten Strukturen und Substrate gibt Abb. 5. Am Anfang der ge-samten Kette steht immer das Auftauchen einer „Noxe“(von lat: noxa = Schaden), die die normale Gewebsfunkti-on bedroht. Solche „Noxen“ können beispielsweise Bakte-rien sein, die in ein Gelenk eindringen, aber auch dieMangeldurchblutung von Herzmuskelgewebe oder die Frei-setzung eines (hypothetischen) Migränefaktors. Auch me-chanische Gewalteinwirkung, Hitze oder große Kälte stel-len derartige Noxen dar.

Die Noxen können zu einer direkten Reizung und Er-regung von Nozizeptoren führen wie etwa während einermechanischen Gewalteinwirkung. Häufig ist es aber so, dassdurch sie eine Kette von Zell- und Gewebsreaktionen ausge-

löst wird, an deren En-de die Freisetzung voneinem oder mehrerenStoffen steht, bei einerGelenksentzündungbeispielsweise vonProstaglandinen, Brady-kinin, Serotonin u. a.,die dann als Noxen er-regend und sensibilisie-rend auf die Nozizep-toren einwirken. No-xen können also direktoder indirekt zur Erre-gung von Nozizeptorenführen (Abb. 5, links imBild) [13].

Die Nozisensorenals die vorderstenStrukturen des nozi-

Noxe

z.B. bakt.Infektion

Reaktions-kette

Bildungalgogener

Substanzen

Nozizeptor

(Nozisensor)

AfferenteNerven-

faser

Aδ, C

Rücken-mark

Supra-spinales

ZNS

Bildung und Freisetzungvon Noxen

Zentrale VerarbeitungTransduktion

undTransformation

Konduktion

Symptomatische SchmerztherapieKausale undquasikausale Therapie

A B B . 5 Angriffspunkte bei einer Schmerztherapie. Übersicht über mögliche pharmakologischeAngriffspunkte auf peripherer, spinaler und supraspinaler Ebene bei akuten und chronischenSchmerzen. Oben ist der Entstehungsweg von Nozizeptorschmerzen zu sehen, in der Mitte die betei-ligten Verarbeitungsprozesse. Unten ist gezeigt, dass eine kausale und quasikausale Therapie vonSchmerzen aus Nozizeptorerregung nur im peripheren Gewebe möglich ist. Nach R.F. Schmidt aus[13]

Page 7: Die Physiologie des Schmerzes: Analgesie — Algesie

Nr. 1 | 31. Jahrgang 2002 | Pharmazie in unserer Zeit | 29

P H Y S I O L O G I E D E S S C H M E R Z E S | PH YS I O LO G I E

zeptiven Systems achten als „Horchposten“ auf Anomaliender Gewebsfunktion. Sie sind, wie oben dargestellt und inAbb. 6 schematisch gezeigt, über feine Nervenfasern mitden ersten zentralen Neuronen der aufsteigenden nozizep-tiven Bahnen in Rückenmark (Körperinnervation) und Hirn-stamm (Kopfinnervation) verknüpft. Von dort ziehen dienozizeptiven Bahnen nicht nur zu Thalamus und Kortex,sondern in einer bis vor kurzem kaum geahnten Fülle auchzu anderen zentralnervösen Strukturen und Zentren, mitdenen sie in vielfältige Wechselwirkung treten. Die Abb. 6zeigt auch, dass die nozizeptive Verabeitung schon auf spi-naler Ebene durch absteigende, hemmend wirkende Bah-nen moduliert werden kann. Solche Bahnen werden u.a.durch endogene und exogene Opioide aktiviert.

Bei der zentralen Verarbeitung der nozizeptivenInformation wird diese mehrfach aus elektrischen Signalenin chemische und wieder in elektrische umcodiert, nämlichan allen chemischen Synapsen des nozizeptiven Systems.Die ankommenden Impulse setzen an den präsynaptischenEndigungen Überträgersubstanzen frei, die an der post-synaptischen Seite zu erregenden oder hemmenden synaptischen Potenzialen führen. Die erregenden post-synaptischen Potenziale führen zur Generierung weitererImpulse, die hemmenden postsynaptischen Potenziale set-zen die Erregbarkeit des postsynaptischen Neurons herab.Am Schluss dieser Informationskette führen alle diese bio-elektrischen und biochemischen Vorgänge in einem eben-so rätselhaften wie faszinierenden Prozess zur subjektivenSchmerzempfindung [2, 4, 13].

Kausale, quasikausale und symptomatischeSchmerztherapie

Die Beseitigung oder Inaktivierung der primären Noxen alskausale und damit ideale Therapie lässt sich bekanntlichnicht immer verwirklichen. Gleiches gilt für die Bemühun-gen, die anschließenden Reaktionsketten an ihrer Ent-wicklung zu hindern und damit in einer quasikausalen The-rapie die Freisetzung der eigentlichen Noxen zu hemmenoder diese wenigstens nach ihrer Freisetzung unschädlichzu machen.

Der symptomatischen Therapie des Nozizeptorschmer-zes kommt daher nach wie vor die größte Bedeutung zu[13]. Pharmakologisch bietet sich als erstes die Abschir-mung des Nozizeptors gegen die Noxen an, ähnlich wieCurare die postsynaptischen Membranrezeptoren der neu-romuskulären Endplatte gegen das Acetylcholin abschirmt.Auch die Hemmung oder Inaktivierung von Transduktionund Transformation in den nozizeptiven Endigungen stellentheoretisch attraktive Konzepte zur Schmerztherapie dar.Alle diese Wege werden aber derzeit noch nicht ausrei-chend genutzt. Auch sind die Angriffspunkte der derzeitverwendeten peripher wirkenden Analgetika noch nichtfür alle Pharmaka eindeutig auszumachen.

Ein Beispiel einer nicht-pharmakologischen Ab-schirmung eines Nozizeptors aus einem entzündetenRattengelenk ist in Abb. 4c in der grünen Kurve illustriert.

Hier wurde hochvernetzteHyaluronsäure zur viskösenund elastischen Verdichtungder Synovialflüssigkeit inden Gelenkspalt appliziert.Dadurch kommt es anschei-nend zu einer gewissen Ab-schirmung des Nozizeptorsvon mechanischen Reizen.Er wird dadurch weniger er-regbar, ohne dass die durchdie Entzündung entstandeneSensibilisierung sich verän-dert hätte. Wie der Vergleichder beiden Kurven in Abb.4c zeigt, kann diese mecha-noprotektive Wirkung, dieauch schon klinisch genutztwird, ähnlich effektiv wiedie systemische Applikationeines nichtsteroidalen Anal-getikas sein.

Auch die Impulsfortlei-tung in den nozizeptivenAfferenzen der peripherenNerven bietet sich für eine pharmakologische Blockade an.Sie ist derzeit nur um den Preis eines Leitungsblocks der ge-samten Nerven und immer nur für begrenzte Zeit realisier-bar. Ist die nozizeptive Information erst einmal auf die zen-tralen Neurone des nozizeptiven Systems aufgeschal-tet worden, so wird ihre pharmakologische “Eindämmung”zunehmend schwieriger – aber nicht unmöglich. Neben derdirekten hemmenden Einwirkung auf erregende Synapsenund der direkten Verstärkung der Hemmung hemmenderSynapsen (beides bisher kaum verwirklichte Therapieprin-zipien), bietet sich auch an, endogene hemmende Modula-toren des nozizeptiven Systems, wie beispielsweise die En-dorphine, pharmakologisch zur erhöhten Produktion undFreisetzung zu bringen. Eine Teilwirkung der Opiate magauf diesem Mechanismus beruhen.

Eine im weiteren Sinne symptomatische pharmakolo-gische Schmerztherapie ist schließlich jede Maßnahme, dienicht die nozizeptive Information und damit die sensori-sche Komponente des subjektiven SinneserlebnissesSchmerz mindert, sondern dazu beiträgt, die affektive Kom-ponente zu reduzieren, also den Schmerz leichter ertragenzu lassen. Ein Teil der Opiatwirkung geht in diese Richtungund die Verschreibung von Antidepressiva oder Anxiolytikahat hier ihre Begründung [12,13] .

ZusammenfassungDer Schmerz ist eine eigenständige Sinnesempfindung, dieüber spezielle, peripher- und zentralnervöse Strukturen, näm-lich das nozizeptive System, vermittelt wird. Akute Schmer-zen nehmen meist von Noxen (gewebsbedrohenden und-schädigenden Reize) ihren Ausgang, während sich bei chro-

A B B . 6 Ver-schiedene An-griffspunkte fürTherapeutika bie-tet die Signalwei-terleitung vomgeschädigten Ge-webe über dasRückenmark zumGehirn.

Page 8: Die Physiologie des Schmerzes: Analgesie — Algesie

30 | Pharmazie in unserer Zeit | 31. Jahrgang 2002 | Nr. 1

nischen Schmerzen der Schmerz häufig von seiner ursprüng-lichen Ursache, also der Gewebsschädigung, löst und sich ver-selbstständigt. Ursachen der Chronifizierung sind Sensibili-sierung und Lernprozesse. Eine kausale Schmerztherapie istnicht immer zu verwirklichen, aber das nozizeptive Systembietet zahlreiche, noch immer nicht ausreichend genutzte An-griffspunkte für eine quasikausale oder symptomatische phar-makologische Schmerztherapie.

Zitierte Literatur[1] Birbaumer,N. and Schmidt,R.F., Biologische Psychologie, 4. Auflage,

Springer Verlag, Heidelberg, Berlin, New York, Tokyo (1999), 1-759 [2] Fölsch, Kochsiek,K,. Schmidt,R.F.(Hrs) Pathophysiologie, Springer

Verlag, Berlin Heidelberg New York Tokyo (2000)[3] Handwerker,H.O., Einführung in die Pathophysiologie des Schmer-

zes, Springer Verlag, Berlin Heidelberg New York Tokyo (1999), 1-173[4] Schmidt, R.F. Thews, G. and Lang, F., Physiologie des Menschen, 28.

Aufl. Springer, Berlin, Heidelberg, New York, Tokio (1999)[5] Cervero,F., Belmonte,C., (eds), Neurobiology of Nociceptors, Oxford

Univ. Press, Oxford, New York, Tokyo (1996)[6] Kumazawa,T., Kruger,L., Mizumura,K., and (eds), The Polymodal Re-

ceptor. Progress in Brain Research, Vol 112, Elsevier, Amsterdam(1996)

[7] Schaible, H.-G. and Grubb, B.D.: Afferent and spinal mechanisms ofjoint pain, Pain 5555 (1993), 5-54.

[8] Hökfelt,T., Schaible,H.-G., Schmidt,R.F. (eds.), Neuropeptides, Noci-ception and Pain, Chapman & Hall, London/Glasgow/Weinheim(1994), 1-427

[9] Russell, N.J.W., Schaible, H.-G., and Schmidt, R.F.: Opiates inhibit the discharges of fine afferent units from inflamed knee joint of thecat, Neurosci. Lett. 7766 (1987), 107-112.

[10] Schaible, H.-G. and Schmidt, R.F.: Time course of mechanosensitivi-ty changes in articular afferents during a developing experimentalarthritis, J. Neurophysiol. 6600 (1988), 2180-2195.

[11] Schmidt, RF, Schaible, H-G, Meblinger, K, Heppelmann, B, Hanesch,U, Pawlak, M: Silent and active nociceptors: structure, functions,and clinical implications. In: Gebhart GF, Hammond DL, Jensen TS(eds) Proceedings of the 7th World Congress on Pain. IASP, Seattle(1994), 213-250

[12] Stein,C. (ed.), Opioids in Pain Control, Cambridge University Press,Cambridge (1999), 1-359

[13] Wörz,R. (Hrs) Differenzierte medikamentöse Schmerztherapie. 2.Auflage. Urban & Fischer, München, Jena (2001), 1-376

Der AutorProf. Dr. med. Dr. h.c. Robert F. Schmidt (geb. 1932);Studium der Humanmedizin in Heidelberg; 1959Promotion; anschließend klinische Tätigkeit; 1960 –1962 Forschungsaufenthalt (Promotion Ph. D.1963) im neurophysiologischen Labor des Nobel-preisträgers John C. Eccles in Australien; nach eini-gen Jahren als Dozent in Heidelberg leitete er von1971 bis 1982 das Physiologische Institut der Uni-versität Kiel; von 1982 bis zu seiner Emeritierung2000 war er Vorstand des Physiologischen Institutsder Universität Würzburg. Er ist Autor, Herausgeberund Mitherausgeber mehrerer Lehrbücher seinesFachs. Seine wissenschaftliche Arbeit der letztenJahrzehnte galt und gilt vor allem der Aufklärungder peripheren und spinalen Mechanismen von Nozizeption und Schmerz.

AnschriftProf. Dr. med. Dr. h.c. Robert F. Schmidt, Physiologisches Institut der Univer-sität, Röntgenring 9, D-97070 Würzburg, e-mail: [email protected]