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Arch. klin. exp. Ohr.-, Nas.- u. Kehlk.Heilk. 192, 249--257 (1968) Die quantitative Auswertung yon Streptomycinschiiden des vestibul~iren Sinnesepithels beim Meerschweinchen mit Hilfe des Cytovestibulogramms und der calorischen Erregbarkeitspriifung G. LANGE Universit/itsklinik ffir Hats-, Nasen- und Ohrenkranke Freiburg i. Br. (Direktor: Prof. Dr. F. ZOLL~E~) Eingegangen am 5. August 1968 Histological Examination o/ Vestibular Sensory Cells Damaged by Streptomycin Summary. The toxicity of streptomycin on the vestibular sensory cells of the guinea pig has been examined quantitatively in histological preparations. The damaged hair cells were counted by cytovcstibulogramm. The labyrinths showed a decreased excitability with caloric tests. This decreased excitability of the labyrinths was parallel to the increased toxic signs observed in the histological preparations. It depended upon the total dosage of streptomycin used. Ozothin had no influence upon the toxicity of streptomycin in damaging the vestibular cells. The different hehaviour of the cochlear hair cells and the vestibular hair cells against streptomycin under the protection of ozothin may be caused by their different relations to the lymphatic spaces. Zusammen]assung. An histologischen Pr£paraten der Meerschweinchencrista wird durch quantitative Bestimmung die dosisabh/ingige Sch~digungsrate der vestibul~ren Sinneszellen nach Streptomycinvergiftung bestimmt. Die 0rgane wer- den wie H~utchenpr/~parate gewonnen und in Paraffin geschnitten. Die Anzahl der geschadigten Sinneszellcn wird ausgez~hlt (Cytovestibulogramm). Die calorische Erregbarkeit nimmt parallel zu den histologisch sichtbaren Sch~den mit steigender Streptomycindosis ab. Ozothin bietct im Bereich der peripheren Gleichgewichts- organe keinerlei Schutzwirkung gegeniiber Streptomyeinvergiftungen,obwohl es die cochle~ren Haarzellen bci gleieher Versuchsanordnung zu schiitzen vermag. Fiir das unterschiedliehe Verhalten der coehle/iren und vestibul~ren Haarzellen gegeniibcr Streptomycin unter Ozothinschutz wird der verschieden enge Kontakt der beiden Zellsysteme zu den Lymphr~umen verantwortlich gemacht. Einleitung Die Beurteilung yon histologisch fagbaren Ver/inderungen des Sinnes- epithels der peripheren Gleichgewiehtsorgane sttitzte sich bisher auf die Besehreibung und Abbildung der Schiiden. Der einfache Nachweis einer Seh/~digung geniigt nieht mehr, wenn versehiedene Grade einer Intoxika- tion des vestibul/~ren Sinnesepithels geprfift werden sollen oder wenn die 17 Arch.klin. exl~.Ohr.-, Nas.- u. Kehlk.geilk.,Bd. 3192

Die quantitative auswertung von streptomycinschäden des vestibulären sinnesepithels beim Meerschweinchen mit hilfe des cytovestibulogramms und der calorischen Erregbarkeitsprüfung

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Page 1: Die quantitative auswertung von streptomycinschäden des vestibulären sinnesepithels beim Meerschweinchen mit hilfe des cytovestibulogramms und der calorischen Erregbarkeitsprüfung

Arch. klin. exp. Ohr.-, Nas.- u. Kehlk.Heilk. 192, 249--257 (1968)

Die quantitative Auswertung yon Streptomycinschiiden des vestibul~iren Sinnesepithels beim Meerschweinchen

mit Hilfe des Cytovestibulogramms und der calorischen Erregbarkeitspriifung

G. LANGE

Universit/itsklinik ffir Hats-, Nasen- und Ohrenkranke Freiburg i. Br. (Direktor: Prof. Dr. F. ZOLL~E~)

Eingegangen am 5. August 1968

Histological Examination o/ Vestibular Sensory Cells Damaged by Streptomycin

Summary. The toxicity of streptomycin on the vestibular sensory cells of the guinea pig has been examined quantitatively in histological preparations. The damaged hair cells were counted by cytovcstibulogramm. The labyrinths showed a decreased excitability with caloric tests. This decreased excitability of the labyrinths was parallel to the increased toxic signs observed in the histological preparations. It depended upon the total dosage of streptomycin used. Ozothin had no influence upon the toxicity of streptomycin in damaging the vestibular cells. The different hehaviour of the cochlear hair cells and the vestibular hair cells against streptomycin under the protection of ozothin may be caused by their different relations to the lymphatic spaces.

Zusammen]assung. An histologischen Pr£paraten der Meerschweinchencrista wird durch quantitative Bestimmung die dosisabh/ingige Sch~digungsrate der vestibul~ren Sinneszellen nach Streptomycinvergiftung bestimmt. Die 0rgane wer- den wie H~utchenpr/~parate gewonnen und in Paraffin geschnitten. Die Anzahl der geschadigten Sinneszellcn wird ausgez~hlt (Cytovestibulogramm). Die calorische Erregbarkeit nimmt parallel zu den histologisch sichtbaren Sch~den mit steigender Streptomycindosis ab. Ozothin bietct im Bereich der peripheren Gleichgewichts- organe keinerlei Schutzwirkung gegeniiber Streptomyeinvergiftungen, obwohl es die cochle~ren Haarzellen bci gleieher Versuchsanordnung zu schiitzen vermag. Fiir das unterschiedliehe Verhalten der coehle/iren und vestibul~ren Haarzellen gegeniibcr Streptomycin unter Ozothinschutz wird der verschieden enge Kontakt der beiden Zellsysteme zu den Lymphr~umen verantwortlich gemacht.

Einleitung Die Beurte i lung yon histologisch fagbaren Ver/ inderungen des Sinnes-

epithels der per ipheren Gleichgewiehtsorgane sttitzte sich bisher auf die Besehreibung und Abbi ldung der Schiiden. Der einfache Nachweis einer Seh/~digung geniigt n ieht mehr, wenn versehiedene Grade einer In tox ika- t ion des vestibul/~ren Sinnesepithels geprfift werden sollen oder wenn die

17 Arch. klin. exl~. Ohr.-, Nas.- u. Kehlk.geilk., Bd. 3192

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250 G. LA~GE:

Wirksamkeit eines Antidot zur Diskussion steht. So soll in der vorliegen- den Arbeit untersucht werden, ob das Ozothin® aueh im Bereich des peripheren Gleichgewiehtsorgans wie an der Cochlea (ItoLz u. STA~GE, 1966) in der Lage ist, die Gif t~rkung des Streptomycin zu senken. Es wurde deshalb die Seh~digungsrate durch Ausziihlen der ver~nderten Sinneszellen unter dem Liehtmikroskop prozentual festgelegt, wobei sich die vorliegende Arbeit ~uf die Auswertnng der Cristae lateraler und oberer Ampullen besehri~nkt. In Anlehnung an das Cytoeochleogr~mm wird die Methode als Cytovestibulogramm bezeichnet. Ein solehes Vor- gehen erfordert lichtmikroskopische Betraehtung, weft elektronenmikro- skopisehe Techniken einen Uberblick fiber weite Epithelstrecken nicht erm6glichen 1.

Histologisches Bild der Streptomycinsch~digung vestibul~rer Sinneszellen Strcptomycinschi~den der Cristae und der Maculae haben ein charak-

teristisches Bild. Im Lichtmikroskop beurteilt man vor allem den Zell- kern, dessen Auflockerung und Vergr6Berung die kleinste Abweichung sind, die allerdings nicht immer sicher vom Iqormalen abgrenzbar ist. Eine Volumenzunahme der Kerne ist auch am vestibul~ren Sinnesepithel oft nur der Ausdruek erh6hter Aktivitat (MElcKLE, 1958). Ganz selten ist die Volumenzunahme der Kerne so stark, dab die Nuclei mit den Schwel]kerncn der Cochlea (NEuMANN U. iNEUBE~T, 1958; B~Ct~, 1960) vergleichbar wi~ren. An den Kernen der vestibularen Haarzellen ffihrt eine Zunahme des Umfanges schnell zur Karyolyse.

Hi~ufiger sind Kernpyknosen, die selten in Karyorhexis fibergchen. Die pyknotischen Kerne werden meistens aus dem Epithelverband aus- gestoBen (Abb.2). Dieser Vorgang beginnt mit einem AusflieBen des Plasma an der Zelloberflache. Es steht dann dem Rauch eines Schorn- steins/~hnlich fiber der Zelle.

W~SXLL und HAW~NS haben 1964 unter dem Elektronenmikroskop bei Katzen nachgewiesen, dab die vestibularen Typ I-Ze]len eher zu- grunde gehen als die Typ II-Zellen. Bei Meerschweinchen sollen dagegen beide Zelltypen gleieh stark geschadigt werden (DuvALL u. Wv~RSXLL, 1962). Wir sahen im Lichtmikroskop die ersten und st/irksten Schaden immer auf der Kuppe der Cristae, also in einem Bcreieh, in welchem vor allem Typ I-Sinneszellen angesiedelt sind. Die Flanken der Cristae, auf denen vorwiegend Typ II-Zellen stehen, zeigten erst viel sparer Schi~den. Daraus kann man schlieBen, dab auch beim Meerschweinchen die Typ I- Zellen naeh Streptomyeineinwirkung zuerst zugrunde gehen. SAKAMOTO hat diesen Befund inzwisehen unter dem Elektronenmikroskop bestiitigt.

1 Die Medikamente wurden yon der pharmazeutischen Industrie zur Verffigung gestellt (Streptomyeinsu]fat yon der Firma Bayer, Leverkusen; Ozothin yon der Firma Wfilfing, Diisseldorf).

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Quantitative Auswertung yon Streptomycinschgden 251

Die Basalzel len b le iben naeh mi t t l e r en S t r ep tomye indosen erhal ten. N u r bei hohen Gesamtdosen und naeh l~ngerem Uber leben der Tiere sieht m a n deut l iche Li icken in der Basalzel lreihe. A m wenigs ten Veri~nde- rungen m a e h t S t r e p t o m y c i n am St / i tzgewebe (s. Abb. 3).

K u n s t p r o d u k t e s ind sehwer von toxisehen Ver~nderungen zu unter - seheiden. K e r n p y k n o s e n und Pro t rus ionen yon Zel l inhal t lassen sieh aueh in sehleeht f ixier ten P r ~ p a r a t e n beobaehten . Es g ib t aber I t inweise auf das Vorhandense in yon Ar te fak ten . So lassen K e r n p y k n o s e n als Folge ungeni igender F i x a t i o n die Kerne lgngsoval erseheinen, w/~hrend toxiseh ve rgnder te K e r n e eher der S teehapfe l form ghneln. Pro t rus ionen , die durch sehleehte F i x a t i o n en t s t anden sind oder die im R a h m e n des F u n k - t ionswandels des Sinnesepi thels auf t re ten , en tha l t en keine Mitoehon- dr ien und nie den Kern . Durch toxisehe E inwi rkung en t s t andene Zell- ausfliisse en tha l t en dagegen s te ts Mi toehondr ien (SAKA~OTO) und den Kern , de r sieh be im Durch t r e t en dureh die Epi theloberf l~ehe einschni i r t (Abb.2) . Verschiedene Seh/~digungsgrade lassen sich an der Anzah l der ver/~nderten t t a a r ze l l -Ke rne ablesen, wobei n ieh t immer eine genaue Re la t ion zur verabre ieh ten S t rep tomyc indos i s bes teht . Das is t sehon wegen der indiv iduel l verschieden hohen Empf ind l ichke i t der Versuchs- t iere gegeniiber S t r ep tomyc in n ieht der Fal l . Der Unte r seh ied zwisehen den einzelnen I n t o x i k a t i o n s g r a d e n is t abe t bei e inem gr613eren Mater ia l dureh Auszghlen der geseh/~digten Zellen und qua n t i t a t i ve Fes t s t e l lung der Sch/~digungsrate deut l ich zu erkennen.

Unte r suchungsmate r i a l und Methodik

1. Herstellen der histologischen Prgiparate Die Voraussetzung eines Cytovestibulogramms sind artefakffreie histologische

Schnitte. Bei Anwendung yon Techniken, welche das Labyrinth im Knochen fixieren und nach Decalcifikation schneiden, sind Kunstprodukte kaum zu vermeiden. Man muB die Labyrinthe gleich nach Decapitation der Tiere mit Bohrer und feinem ~aspatorium in der Bulla freilegen und sofort in Bouinscher L6sung fixieren (NEu- BERT, 1953; W]~S~LL, 1956). Nach 24 Std werden die jetzt fixierten Ampullen und Maculae herausgehoben und meistens in Chromallaun-GMlocyanin nach EI~A~sso~- gef~rbt oder erst nach dem Anfertigen yon Paraffinschnitten (10 #) mit Farbstoffen behandelt. Die Cupulae gehen bei den Preparations- und Fixationsvorg~ngen meistens verloren.

Die Cristae sollten beim Schneiden quer zu ihrer Achse getroffen werden und es ist deshalb notwendig, die Ampul!en im Paraffin auf eine bestimmte Weise zu lagern. Entweder bel~l~t man deshalb an der vorgef~rbten Ampulle ein Stiick des zugeh6ri- gen Bogenganges und kann sich daran orientieren oder man richter sich bei den ungef~rbten Ampullen nach dem tiefsehwarzen Stratum semilunatum (bei Albinos nicht erkennbar). Die Achse des Bogenganges und die Achse der Cristae entsprechen sich. Wenn die Ampullen so eingelagert werden, da~ man die Bogengangskrfimmung yon oben sieht, liegt der Schnitt in der besten Ebene. Ebenso trifft man die Crista im histologischen Schnitt ideal, wenn am ungefi~rbten Pr~parat einer der beiden Halb- monde des Stratum semilunatum im Aufblick zu erkennen ist.

17"

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252 G. LARGE:

2. Tierversuche In der vorliegenden Arbeit werden die ]~efunde yon 63 Tieren histologisch aus-

gewertet. Ffir die quantitativen ]]estimmungen haben wir bei 42 Meerschweinchen 82 Cristae yon oberen und lateralen Bogeng~ngen befundet. Dazu wurden auf jeder untersuchten Crista 100 Zellen ausgez~hlt. Die Tiere wurden entweder ~ls normale Kontrolltiere aufgearbeitet oder sie erhielten 10 und 30 Tage lang 250 mg/kg wasser- gel6stes Streptomycinsulfat i.m. injiziert und wurden nach Erreichen der erwfinsch- ten Dosis get6tet. Die H~lfte dermit Streptomycin behandelten Tiere bekam vorher i.m. Ozothinl6sung (1,25 ml/kg). I~ur bei 7 Tieren gelang es, sie nach 30t~giger Injektion yon Streptomycininsulfat (4 Tiere) oder yon Streptomycin ~- Ozothin (3 Tiere) noch 3 Monate am Leben zu erhalten. 14 Tiere bekamen zur Kontrolle nur Ozothin. 7 yon ihnen 1,25 ml/kg am Tag, weitere 7 2,5 ml/kg am Tag.

Um neben dem histologischen Befund auch die Funktion der peripheren Gleich- gewichtsorgane zu prfifen, wurden 62 Tiere c~lorisch geprfift. Da Meerschweinchen postrotatoriseh nach Stop aus verschiedenen Geschwindigkeiten (60°/see, 90°/see, 120°/see) nur wenige l~ystagmusschlage (6--10) aufweisen und deshalb bei rotatori- scher Testung eine zunehmende Sch~digung schwerer zu belegen ist, war die calori- sche Prfifung vorteilhafter. Leider zerreii~t das Trommetfell bei der Spiilung leicht, und es kommt vermehrt zu Mittelohrentzfindungen. Auf systematische Verlaufs- untersuchungen muflte deshalb verziehtet werden, und die Tiere der einzelnen Grup- pen wurden nur einmal kurz vor der Decapitation calorisch getestet.

Untersuchungsergebnisse 1. Be]unde tier histologischen Untersuchungen

Bei den nicht behandelten Tieren und bei den Tieren, welche Ozothin in einfacher und doppelter Dosierung bekommen hat ten, war das Sinnes- epithel prakt isch nicht veri~ndert (Abb. 1, Tab. 1). Bei 940/0 der Sinnes- zellen zeigte das Plasma die gewohnte Transparenz, die Zellkerne waren hell und aufgeloekert, sie zeigten deutlich erkennbar ihr Chromatinnetz. Die Basalzellen, das Stiitzgewebe und das S t ra tum semflunatum wiesen keine erkennbaren Veri~nderungen auf. Un te r den ver~nderten Kernen (60/o) waren h~ufiger Kernaufl6sungen als Pyknosen und ganz selten Zell- inhaltsprotrusionen nachweisbar. Auf eine Ausz~hlung der mit alleinigen Ozothininjektionen behandelten Tieren wurde verzichtet, weft die Pr~pa- rate v6llig normal aussahen.

Nach zehnti~giger Streptomycinsul/atmedilcation waren nur noch durch- schnittlich 64°/0 der ausgez~hlten Zellen normal. Unte r den pathologiseh veri~nderten Formen kamen Kernaufl6sungen und Pyknosen etwa gleich h£ufig vor. Deutlieh gr61~er als beim nicht behandelten Tier war die rela- tive Zahl der Zellaussto~ungen (s. Tab. 1). Der Ozothinschutz bewirkte bei den entspreehend behandelten Tieren keine nennenswerte ~__nderung des Befundes. 720/0 der Zellen sahen normal aus. Wieder waren etwa gleich viele Pyknosen und Karyolysen zu sehen (Tab. 1).

Nach 30tiigiger Streptomycinsul/atin]e]ction war nur noeh etwa die H~ffte der vestibul~ren Raarzel len unver~ndert (Tab. 1). Wieder t ra ten gleich viele Pyknosen und Karyolysen auf. Besonders deutlieh zeigten

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Quantitative Auswertung yon Streptomycinschgden 253

Abb. 1. Histologisehes Bild einer normalen Crista ampullaris (Pr/iparat Nr. 0591 li. lat.). Man erkennt in den hellen Kernen der Sinneszellen deutlieh das Chromatinnetz. Zahlreiche Gef/iBe im Stroma des Stiitzgewebes. Das Tier bekam 10 Tage lang 1,25 ml/kg Ozothin. VergrSgerung 400 ×. Kresylviolettf~rbung. (Bei der t~eproduk-

tion auf 5/7 verkleinert)

Tabelle 1. Durchschnittswerte aus Cytovestibulogrammen von 42 Meerschweinchen (82 ausgezghlte Cristae lateraler und oberer Bogengdinge). Mit steigender Streptomycindosi8 nimmt die Zahl pathologisch verdinderter Zellen zu. Ozothinschutz verhindert die Strepto- myeinintoxikation nicht. -- Au / Wunsch stehen die dieser Tabelle zugrundeliegenden

detaillierten Zahlen gern zur Ver/i~gung

Anzahl Anzahl Strepto- Ozothin- NormMe Pathologisch veri~nderte der der aus- mycin- dosierung Sinnes- Sinneszellen Tiere gezghl- dosierung zellen Summe Kern- Py- Zell-

ten Cristae zer- kno- aussto-

fall sen Bung

11 20 -- -- 95 5 2,6 2,2 0,2 9 16 250 mg/kg -- 64 36 19 16 1

10 Tage 12 24 250mg/kg 1,25ml/kg 72 28 15 12 1

10 Tage 10 Tage 6 13 250 mg/kg 55 45 24 19 2

30 Tage 4 9 250 mg/kg 1,25 ml/kg 56 44 24 17 3

30 Tage 30 Tage 42 82

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254 G. LA~cE:

Abb. 2. Deutliche toxische Sch~digung einer Macula utriculi nach 250 mg/kg Strepto- mycinsulfat plus 1,25 ml/kg Ozothin fiber 30 Tage. Man sieht mehrere Kernpyknosen und vor allem mehrere Zellausstol~ungen aus dem Verband des Sinnesepithe]s. Das Ozothin hatte keinen Einflul~ auf die Intensit~t der Streptomycinauswirkung. Ver- gr6Berung 600 ×. Galloey~nin. Pr~parat Nr. V 63 u li. (Bei der Reproduktion auf 2/3

verkleinert)

sich in einigen Priiparaten die bei dieser Dosierung hiiufigen Zellprotrusio- nen (Abb.2). Ozothinpriimedikation gndert auch bei dieser Versuchs- gruppe nichts an der Zerst6rung des Sinnesepithels (Tab. 1): 44°/0 der Sinneszellen wiesen Streptomycinseh~den auf.

Bei den wenigen Tieren, die wir nach 30tagiger Injektion yon Strepto- mycin noch 3 Monate am Leben erhalten konnten, war die Zerst6rung des Sinnesepithe]s vollkommen. Eine quantitat ive Auswertung eriibrigte sich. Auch die Basalzellreihe wies in den Pr/iparationen Liicken auf. Ozothin- gaben veritnderten das histologische Bild bei diesen Langzeitversuehen nieht (Abb. 3).

2. Be/unde der calorischen Labyrinthpri~]ung Die Werte ffir die normale e~lorisehe Erregbarkeit der Meersehwein-

ehen lag bei durchschnittlieh 65 Sehl~gen (s. Tab. 2). Die Sehlagform des Nystagmus war nicht einheit]ieh. Neben dem gewohnten Bild mit deut- lich nntersehiedenen Phasen kam es zu Nystagmuskloni, die erst kurz vor Ende der Antwort in normalen Nystagmus iibergingen.

Unter der Einwirkung yon Streptomyeinsulfat verminderte sieh die Erregbarkeit sehon nach 10 Tagen (Durchschnitt 53 Schlgge). Die Quail- ta t des Nystagmus war nieht ver~ndert. Ozothinsehutz verhinderte die

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Quantitative Auswertung yon Streptomycinschi~den 255

. . . . . . . . . ~::~ ~ " ~ " ~

Abb. 3. Laterale Crista naeh 30tggiger Injektion yon 250 mg/kg Streptomyeinsulfag und dreimonatiger Uberlebenszeit. Das gesamte Sinnesepithel ist zerstSrt. Aueh die Basalzellreihe weist Liieken auf. Prgoparat Nr. V 93 re. lat. VergrSgerung 400 × . (Bei

der l~eproduktion auf 5/~ verkleinert.) Gelloeyanin

Tabelle 2. Durchschnittliche Schlagzahl nach calorischer t~eizung vor und nach Strepto- mycinbelastung. Die Spi~lung er/olgte mit 20 ml Wasser von 20 °. Mit steigender Strepto- mycindosis nimmt die calorische Erregbarlceit der Versuchstiere ab. Ozothinschutz hat

keinen Ein/lufi au] den Verlau/ der Streptomycinvergi/tung

Anz~hl Streptomycin- Ozothin- Calorische Erregbarkeit der Tiere dosierung dosierung (Durehsehnittswerte)

re. Ohr li. Ohr

15 - - -- 64 67

9 250 mg/kg -- 55 50 10 T~ge

9 250 mg/kg 1,25 ml/kg 33 44 10 Tage 10 Tage

18 250 mg/kg -- 13 17 30 Tage

11 250 mg/kg 1,25 ml/kg 10 10 30 Tage 30 T~ge

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256 G. LA~o~:

Abnahme der Reaktionsst~rke nicht (Durchschnitt 36 Schlage). Noch deutlicher wurde die Schadigung nach 30 Tagen. Nur noch die H~lfte der Tiere reagierte auf die Calorisation unabhangig davon, ob nnr Strepto- mycin oder ob Streptomycin-Ozothin gegeben worden war (siehe Tab. 2). Das Ozothin bewirkte eher einen zus~tzlichen Rfickgang der Erregbar- keit, wahrseheinlich als Folge der grol~en Menge injizierter Medikamente. Ozothin wurde ja zusatzlich zur StreptomycinlSsung vorgespritzt.

Besprechung der Ergebnisse 1. Die Sch~digungsrate vestibul~rer Sinncszellen nach Streptomycin-

vergiftung kann im histologischen Pr~parat quantitativ dureh Auszahlen dcr geseh~digten Zellen festgelegt werden. Auf diese Weise werden stufen- weise mit steigender Streptomycindosis zunehmende toxische Ver~nde- rungen erkannt. Die histologisch nachweisbare Intoxikation des vesti- bularen Sinnesorganes ist nach 30t~giger Injektion yon 250 mg/kg Streptomycinsulfat deutlich schwerer als nach 10tagiger Behandlung.

2. Bei der calorischen Priifung der Versuehstiere nimmt parallel zur Zunahme der histologisch nachweisbaren Sch~digung die Erregbarkeit ab. Naeh 30tagiger Streptomycininjektion waren bei der Ha]fte der Meersehweinchen die Labyrinthe calorisch beidseits ausgefallen. Zu diesem Zeitpunkt waren etwa 50°/0 der ttaarzellen siehtbar verandert, w~hrend an den restlichen Haarzellen keine lichtmikroskopisch sieht- baren Schaden vorlagen. Wie an der cochlearen Haarzelle seheint auch an der vestibul£ren Itaarzelle die normale Funktion zu erlSschen, bevor lichtmikroskopisch fal~bare Ver~tnderungen sichtbar werden. Eine Erho- lung der Sinneszellen tri t t nach 30tagiger Vergiftung mit 250 mg/kg Streptomycinsulfat nicht wieder ein: Das vestibul£re Sinnesepithel bei den Tieren, welche fiber diese Zeit hinaus ohne weitere Injektionen am Leben gehalten wurden, war vollkommen zerstSrt.

3. Auch bei Meerschweinchen gehen die Typ I-Sinneszellen der Cristae bei Streptomycinvergiftung zuerst zugrunde. Hohe Toxindosen zerstSren die Basalzellen zu einem Tell, w~hrend alas bindegewebige Stroma des Stfitzgewebes im Lichtmikroskop unverandert bleibt.

4. Ozothin bietet dem peripheren G]eichgewichtsorgan yon Meer- schweinchen keinen Sehutz gegenfiber Streptomycinsulfat, obwohl es am se]ben Tier unter der gleiehen Versuchsanordnung an der Cochlea die toxisehe Wirkung der Streptomycesantibiotiea praktisch verhindert. Sowohl unsere histologischen Untersuehungen als auch die Funktions- prfifung der peripheren Gleichgewichtsorgane haben das deutlieh be- w]escn.

Bisher weil~ man nicht, warum das Ozothin selektiv an der Cochlea entgiftend wirkt. Man ist geneigt, Stoffwechselbesonderheiten daffir ver- antwortlich zu machen. Auf diese Weise erkl£rt sich wahrscheinlich die

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Quantitative Auswertung yon Streptomycinsch~iden 257

untersehiedlich starke Gif twirkung verschiedener Streptomycesant i -

biotica auf die beiden Innenohrante i le .

5. Die Ergebnisse der vorl iegenden histologischen und funkt ionel len Un te r suehungen an Meerschweinchen und die Ergebnisse noch unver- 5ffent]ichter Versuchsreihen an Affen haben uns veranlagt , die Kombina - t ion yon St reptomycin und Ozothin zur selektiven Ausschal tung eines peripheren Gleichgewichtsorgans bei Morbus Menigre anzuwenden. Unsere

Erfolge mi t i n t r a t y m p a n a l e n S t rep tomyein-Ozoth in-Gaben waren der ]~eweis daffir, dab auch beim Menschen das Ozothin in der Lage ist, die coch]eiiren t Iaarzel len gegen die Gif twirkung des St reptomycin zu schiitzen (LAN¢~, 1968).

Fr/~ulein U. FICRTNEn danke ich ffir ihre unermiidliche Mitarbeit.

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Dr. G. LARGE Univ.-H1NO-Klinik 78 Freiburg i. Br., Killianstral]e