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Eberhard Karls Universität Tübingen Kunsthistorisches Institut
Dieter Roths Schimmelmuseum:
Installation als Künstlerinszenierung
Schriftliche Arbeit zur Erlangung des Akademischen Grades
„Magistra Artium“ (M.A.) an der Fakultät für Kulturwissenschaften der
Eberhard Karls Universität Tübingen
Tübingen, August 2008
Vorgelegt von: Désirée Lempart
Schillerstraße 12, 73765 Neuhausen
1. Gutachterin: Professorin Dr. Barbara Lange
2. Gutachterin: Professorin Dr. Bettina Gockel
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung ......................................................................................................... 3
2. Schimmelmuseum ...........................................................................................10
2.1. Aus dem Kutscherhäuschen entsteht das Schimmelmuseum.................... 10
2.2. Werkbeschreibung ...................................................................................... 12
2.2.1. Außenansicht ...................................................................................... 12
2.2.2. Parterre ............................................................................................... 13
2.2.3. Erster Stock ......................................................................................... 16
2.3. Das Schimmelmuseum heute...................................................................... 18
3. Organisches als künstlerisches Material ..........................................................20
3.1. Stellenwert des Materials im Kunstdiskurs................................................. 20
3.2. Dieter Roths Verwendung von organischen Materialien ........................... 25
3.3. Zufall und Prozess ....................................................................................... 37
4. Dieter Roths Inszenierung als Künstler ............................................................44
4.1. Der Künstler im Kunstdiskurs der Moderne................................................ 44
4.2. Dieter Roths Inszenierung als Erfahrungsgestalter: Schöpfer und
Organisator künstlerischer Prozesse........................................................... 51
4.3. Das Atelier als Darstellung von Authentizität des Künstlers....................... 57
4.4. Dieter Roths Inszenierung durch Selbstmusealisierung ............................. 61
5. Zusammenfassung...........................................................................................65
6. Anhang ............................................................................................................69
6.1. Bibliographie ............................................................................................... 69
6.2. Abbildungsverzeichnis................................................................................. 80
6.3. Abbildungen ................................................................................................ 85
Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung
‐3‐
1. Einleitung
Es riecht. Und kitzelt in der Nase. Es klebt unter den Schuhen, es fliegt einem ins Gesicht. Noch Stunden später scheint es irgendwo zwischen Socke und Bein zu krabbeln. Der Gestank hängt in den Kleidern. So duftet Kunst.1
So beschreibt Silke Müller den die Besucher umfangenden Eindruck im Schimmelmu‐
seums des Schweizer Künstlers Dieter Roth2 (1930−1998). Ihr Bericht erschien ein
Jahr nach dem Tod des Künstlers in der Kunstzeitung art, und rückte das bis dahin
weitgehend unbeachtete, „geheime“3 Schimmelmuseum in den Fokus der Öffent‐
lichkeit. In der Nähe der Hamburger Außenalster entstand im Zuge der Gründung
des Dieter Roth Museums von Dieter Roth und Philipp Buse zu Beginn der 1990er
Jahre das heute nicht mehr existente Schimmelmuseum4. Die Installation besteht
aus einer alten, verfallenen Remise, in der sich über zwei Stockwerke die Werke
Roths verteilen. Diese bestehen aus organischen Materialien wie Zucker, Schokola‐
de, Obst oder Gemüse, die, wie der Name Schimmelmuseum bereits anklingen lässt,
schimmeln und verfallen. Roth, der heute vornehmlich durch seine Lebensmittelar‐
beiten und großformatigen Assemblagen, die er gegen Ende seines Lebens geschaf‐
fen hat, bekannt ist5, griff mit der Verwendung von organischen Materialien auf die
wichtige Phase seiner künstlerischen Arbeit der 1960er Jahre zurück und inszenierte
die Remakes dieser Arbeiten im Schimmelmuseum neu. Diese wurden von Roth in
1 Müller, Silke: „Das Zucker‐ Schoko‐Schimmelreich“ In: art‐Das Kunstmagazin, Nr. 8, 1999, S. 36−47, hier S. 42.
2 Dieter (eigentlich Karl‐Dietrich) Roth führte im Laufe seiner künstlerischen Tätigkeit immer wieder neue Schreibweisen seines Namens ein (diter rot, Dieter Rot und Diter Roth). Die Verfasserin ver‐wendet im Folgenden die von Roth zu Ende seines Schaffens selbst verwendet Form „Dieter Roth“. Vgl. Ausst. Kat. Basel Schaulager 2003: Roth‐Zeit. Eine Dieter Roth Retrospektive, herausgegeben von Theodore Fischer u. Bernadette Walter, Texte von Dirk Dobke u. Bernadette Walter, Baden 2003, S. 42.
3 art‐Das Kunstmagazin, Nr. 8, 1999, Titelblatt. Das Schimmelmuseum war zunächst nur einem ein‐geweihten Kreis bekannt. Erst im Januar 1998 im Zuge der Gründung der Dieter Roth Foundation wurde es auch für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
4 Im Frühjahr des Jahres 2004 wurde das Schimmelmuseum abgerissen. Im Internet besteht die Möglichkeit einen virtuellen Rundgang durch das ehemalige Schimmelmuseum zu machen. URL: ‹http://www. dieter‐roth‐museum.de/schimmelmuseum/› [09.07.08].
5 Roth war ein vielseitiger Künstler, der sich gleichzeitig mit unterschiedlichen Gattungen beschäf‐tigte. Er arbeitete mit der Malerei, der Grafik und Plastik, fertigte Auflagenobjekte, beschäftigte sich mit dem Künstlerbuch, der Dichtung, Musik und Film. Auch gestaltete er Schmuckobjekte und Teppiche. Vgl. Dobke, Dirk: „Von der Schönheit des Verfalls – Dieter Roths Schimmelmuseum in Hamburg“ In: Kunst + Architektur in der Schweiz, Heft 4, 2001, S. 54−57, hier S. 54.
Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung
‐4‐
den Kontext von musealer Präsentation und Ateliersituation gestellt: Alle Werke
wurden vor Ort zum Beispiel in der Schokoladen‐ und Zuckerküche produziert und
werden mit den Materialien ihres Schaffungsprozesses, wie Gussformen, kombiniert
und museal präsentiert.
Die Installation Schimmelmuseum, mit der sich Roth zu Ende seines Lebens noch
einmal als Künstler positioniert und inszeniert, soll im Zentrum der vorliegenden
Betrachtung liegen. Ziel ist es, das Schimmelmuseum auf Roths künstlerische Insze‐
nierung hin zu untersuchen und aufzuzeigen, welche Rolle vom Künstlersein er hier‐
bei von sich entwirft. Durch die besondere Präsentationsform des Schimmelmuse‐
ums äußert sich die Selbstinszenierung in verschiedenen Formen: Roth nimmt nicht
nur über seine ausgestellten Werke Bestimmungen zu seiner Künstlerrolle vor, son‐
dern auch anhand der Präsentation seines Ateliers, die den Schaffensprozesses ver‐
deutlicht, und den Aspekt der Selbstmusealisierung. Des Weiteren legt er über den
Aspekt der Selbstmusealisierung seine Position als Künstler gegenüber der Öffent‐
lichkeit fest.
Damit schreibt er sich in die Tradition der Moderne ein, in der sich der Künst‐
ler selbst und seine Stellung als Künstler thematisiert. Das kann sich innerhalb eines
Werks geschehen, in der Hervorhebung seines Arbeitskontexts oder seines Auftritts
in der Öffentlichkeit. Im Gegensatz zu vielen anderen Künstlern der Moderne, die
meist nur einen dieser Aspekte hervorheben, bearbeitet Roth alle drei Komponen‐
ten zu seiner künstlerischen Selbstdarstellung in der Installation Schimmelmuseum.
Die Auffassung darüber, was ein Künstler ist, bzw. wie und wo er sich selbst
inszeniert und positioniert, hat sich im Verlauf der Moderne gewandelt. Herrschte
anfangs der Typus des klassischen Künstlers, des autonomen Schöpfergenies, vor, so
veränderte sich dies mit dem beginnenden 20. Jahrhundert. Die Avantgarden atta‐
ckierten dieses Künstlerbild und unterzogen es einer kritischen Auseinandersetzung,
die mit dem von den Poststrukturalisten postulierten „Tod des Autors“6 eine theore‐
tische Auseinandersetzung fand. Die Auffassung vom Künstlertum hatte sich grund‐
6 Barthes, Roland: „Der Tod des Autors“ In: Texte zur Theorie der Autorschaft, herausgegeben und kommentiert von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez und Simone Winko, Stuttgart 2000, S. 185−193; Foucault, Michel: „Was ist ein Autor?“ In: Ebd., S. 198−233.
Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung
‐5‐
legend verändert und bis heute ist die Diskussion „durch eine radikale Hinterfragung
dieser metaphysischen Position von Autor und Künstler gekennzeichnet […]“7, in der
Künstler neue Wege finden, sich im Kunstsystem zu inszenieren und zu positionie‐
ren.
Ausgehend davon wird in der Magistraarbeit gefragt, wie sich Roth in einer
Zeit, die von der kritischen Auseinandersetzung mit dem Künstlersubjekt geprägt ist,
als Künstler verortet. Wie inszeniert er sich über sein Werkverständnis, indem er
organische Materialien verwendet und diese verschimmeln und vergammeln lässt?
Wie legt er seine Rolle als Künstler durch das Ausstellen seiner Arbeitsmaterialien
und des Ortes der Werkherstellung fest? Wie verwirklicht er sich innerhalb der In‐
stallation Schimmelmuseum, die durch die Erzeugung eines musealen Kontexts
gleichzeitig den Aspekt der Selbstmusealisierung erfüllt?
Um zu einer Antwort zu gelangen und Roth anhand des Schimmelmuseums als
Künstler positionieren zu können, ist die Arbeit wie folgt aufgebaut: Im ersten Teil
der Arbeit soll ein beschreibender Überblick über die zu analysierende Installation
gegeben werden. Dabei wird zum einen die Entstehungsgeschichte des Schimmel‐
museums in den Blick genommen, zum anderen wird eine Übersicht über Anordnung
und Darstellung der Werke in der Installation gegeben. In einem kurzen Exkurs wird
aufgezeigt, wie sich die heutige Situation darstellt, nachdem das Gebäude des
Schimmelmuseum 2004 abgerissen wurde. (Kapitel 2)
Der zweite Teil der Arbeit widmet sich der konkreten Analyse der organi‐
schen Werke im Schimmelmuseum. (Kapitel 3) Ziel ist es, Roths Umgang und Ver‐
wendung der organischen Materialien zu beleuchten, um sein Werkverständnis
deutlich zu machen. Vorab wird in einem materialgeschichtlichen Überblick betrach‐
tet, wie sich die Bedeutung und die Art der Materialien im Verlauf der Moderne än‐
derten und es möglich wurde, organische Materialien wie Lebensmittel in der Kunst
einzusetzen. Damit soll Roths Materialverwendung in einen größeren Kontext ge‐
stellt und gezeigt werden, inwieweit er aktuelle Materialdiskussionen aufgreift und
welchen Stellenwert er seinen Materialien einräumt. Daraufhin werden die organi‐
7 Wetzel, Michael: „Autor/Künstler“ In: Barck, Karlheinz u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe. His‐torisches Wörterbuch in 7 Bänden, 7 Bde., 1. Bd., Stuttgart/Weimar 2000, S. 480−544, hier S. 481.
Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung
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schen Arbeiten im Schimmelmuseum untersucht, um Roths Materialverwendung
darzulegen. Anhand dieser werden werkimmanente Konstanten ausgemacht und
beschrieben, die in der Folge der Analyse von Roths Selbstinszenierung anhand sei‐
ner Werke dienen.
Der folgende Teil der Arbeit untersucht die konkrete Inszenierung Roths als
Künstler. (Kapitel 4) Um Roths Positionierung als Künstler vornehmen zu können, ist
es zunächst vonnöten, einen Überblick über die Vorstellung und das Bild des Künst‐
lers im Verlauf der Moderne zu geben. Es wird der klassische Künstlertypus vorge‐
stellt und die Veränderungen, die sich aufgrund der theoretischen Auseinanderset‐
zung der Poststrukturalisten daraus ergeben. Die sich zuvor aus der Werkanalyse
ergebenden Konstanten werden nun genutzt, um eine erste Positionierung Roths als
Künstler durch seine Werke vorzunehmen. Daran anschließend wird Roths Selbstin‐
szenierung anhand der Atelierdarstellung im Schimmelmuseum heraus gearbeitet
und abschließend der Aspekt der Selbstmusealisierung fokussiert.
Danach werden die Ergebnisse zusammengeführt, um Roths Künstlerinszenierung im
Schimmelmuseum zu subsumieren.
Forschungsstand
Insgesamt ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Dieter Roth gering und
sehr übersichtlich. Erst mit der Dissertation Dirk Dobkes Melancholischer Nippes‐
Dieter Roths frühe Objekte und Materialbilder (1960−1975) wurden Teile von Roths
Schaffen zum Gegenstand kunstgeschichtlicher Untersuchungen.8 Dobke untersuch‐
te darin die ephemeren Materialien im Werk Roths in der Zeitspanne von
1960−1975 und setzte sich als Erster mit den frühen Material‐ und Schimmelbildern
auseinander. In dieser Arbeit widmet er auch ein Kapitel der Installation Schimmel‐
museum. Aufgrund dieses Bezugs und seiner Ausrichtung auf die Zeitspanne von
8 Dobke, Dirk: Melancholischer Nippes – Dieter Roths frühe Objekte und Materialbilder (1960‐75),
Dissertation 1997, 2001 aktualisiert, mit Anmerkungen und Zeichnungen von Dieter Roth verse‐hen, Köln 2002. Zuvor gab es nur eine wissenschaftliche Untersuchung, die die literarischen Werke Roths in den Blick nimmt. Vgl. Schwarz, Dieter: Auf der Bogen Bahn: Studien zum literarischen Werk von Dieter Roth, Zürich, 1981.
Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung
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1960−1975, auf die in den Werken der Installation des Schimmelmuseums zurück
gegriffen wird, stellt er unabhängig von der Tatsache, dass er mittlerweile gemeinhin
als der „Roth‐Kenner schlechthin international bekannt und gefragt ist“9, für meine
Arbeit eine wichtige Bezugsquelle innerhalb der Forschungsliteratur dar.
Mit der Gründung der Dieter Roth Foundation 1998 unter der Leitung von
Dobke folgten Werkverzeichnisse und Publikationen, die einzelne Werkkomplexe
aus dem Schaffen Roths behandeln.10 Die Ausstellungspublikation zur Dieter Roth
Retrospektive, die im Jahr 2003 im Basler Schaulager stattfand, thematisiert das ge‐
samten Leben und Werk Roths. 11 Schließlich ist auf den Sammelband Über Dieter
Roth ‐ Beiträge und Aufsätze hinzuweisen, der nach einem die Ausstellung beglei‐
tenden Symposium entstand.12 Hervorzuheben sind der Beitrag von Beatrice von
Bismarck „Elend und Beneidenswertes: Das Atelier und seine Ausstellung“13, der sich
der Funktion des Ateliers von Roth widmet, und der Beitrag von Monika Wagner
„Vom Umschmelzen. Plastische Materialien in Kunst und Küche“14, der sich mit
Roths Lebensmittelwerken auseinandersetzt. Die neuesten Publikationen zu Dieter
Roth sind die Monografie von Niels Röller, der Dieter Roth mit Oswald Wiener unter
dem Aspekt des Medienverständnisses vergleicht und die Dissertation von Benjamin
Meyer‐Krahmer, die sich mit dem literarischen Werk Roths, vor allem dem Mundun‐
culum unter den Aspekt der Selbstbeobachtung beschäftigt.15 Die Forschungslage
9 Gardner, Belinda Grace: „Verwalter der Verfallskunst“ In: Kunstzeitung, Mai 2008, S. 22. 10 Dobke, Dirk/Dieter Roth Foundation (Hrsg.): Dieter Roth – Originale, mit Texten von Dirk Dobke
und Laszlo Glozer, London 2002; Dobke, Dirk/Dieter Roth Foundation (Hrsg.): Dieter Roth in Ame‐rika, London 2004; Dobke, Dirk/Dieter Roth Foundation (Hrsg.): Dieter Roth Druckgraphik 1974−1998, London 2003; Dobke, Dirk/Dieter Roth Foundation (Hrsg.): Dieter Roth in Print – Ar‐tist`s Books/Künstlerbücher, New York 2006; Dobke, Dirk/Dieter Roth Foundation (Hrsg.): Dieter Roth: Bücher+Editionen, London 2004.
11 Ausst. Kat. Roth‐Zeit, (wie Anm. 2). 12 Söntgen, Beate/Vischer, Theodora (Hrsg.): Über Roth. Beiträge und Aufsätze, Beiträge des Sympo‐
siums vom 4. und 5. Juli 2003 zur Ausstellung „Roth‐Zeit. Eine Dieter Roth Retrospektive“ im Schaulager Basel, Basel 2004.
13 von Bismarck, Beatrice: „Elend und Beneidenswertes: Das Atelier und seine Ausstellung“ In: Sönt‐gen, Beate/Vischer, Theodora (Hrsg.): Über Dieter Roth. Beiträge und Aufsätze, Beiträge des Sym‐posiums vom 4. und 5. Juli 2003 zur Ausstellung „Roth‐Zeit. Eine Dieter Roth Retrospektive“ im Schaulager Basel, Basel 2004, S. 171−185.
14 Wagner, Monika: „Vom Umschmelzen. Plastische Materialien in Kunst und Küche“ In: Söntgen, Beate/Vischer, Theodora (Hrsg.): Über Dieter Roth. Beiträge und Aufsätze, Beiträge des Symposi‐ums vom 4. und 5. Juli 2003 zur Ausstellung „Roth‐Zeit. Eine Dieter Roth Retrospektive“ im Schau‐lager Basel, Basel 2004, S. 121−135.
15 Röller, Niels: Ahabs Steuer. Navigationen zwischen Kunst und Naturwissenschaft, Berlin 2005; Mey‐er‐Krahmer, Benjamin: Selbstbeobachtung als künstlerischer Schaffensprozess, München 2007.
Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung
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zum Schimmelmuseum stellt ein Forschungsdesiderat dar, eine umfassende wissen‐
schaftliche Untersuchung wurde bisher nicht geleistet. Es gibt keine Monografie da‐
zu und die vorhandene Literatur besteht aus einigen Aufsätzen, kleinen Kapiteln in
verschiedenen Roth‐Publikationen und diversen Zeitschriften‐ und Zeitungsarti‐
keln.16 Diese interpretieren das Schimmelmuseum vor allem hinsichtlich der Materia‐
lien und der besonderen Ausstellungssituation, der Verbindung zwischen Ateliersi‐
tuation und musealer Präsentation. Die künstlerische Strategie wird jedoch nicht in
den Blick genommen und wurde von der Forschung bisher nicht untersucht.
Zu dem umfangreichen Thema Material existieren diverse Standardwerke,
die ich für diese Arbeit zur Kenntnis genommen habe. Im Folgenden werden aber je
nach Kontext nur einzelne Werke heran gezogen werden können.17 Besonders rele‐
vant erscheint mir die Sichtweise von Monika Wagner, deren Arbeit die Grundlage
meines Kapitels 3.1. darstellt.18 Die Publikation von Ralf Beil setzt sich ausschließlich
mit dem Lebensmittel als künstlerischem Material auseinander und widmet Roth
und dessen Materialverwendung ein Kapitel.19 Für die Auseinandersetzung mit dem
Künstlertopos bildet der Aufsatz „Autor/Künstler“20 von Michael Wetzel einen wich‐
tigen Bezugspunkt ebenso wie das Überblickswerk Was ist ein Künstler?21 von Vere‐
na Krieger, die beide die Entwicklung des Künstlerbegriffs im Verlauf der Kunstge‐
16 Die Aufsätze zum Schimmelmuseum wurden alle von Dirk Dobke verfasst. Dobke, Dirk: „Kunst als
Verfallsprozeß – Das Schimmelmuseum von Dieter Roth“ In: VDR (Verband der Restauratoren), Schriftenreihe Band 1, München 2005, S. 114−120; Dobke, (wie Anm. 5); Herstatt, Claudia: „Schim‐melmuseum. Wie konserviert man verwesende Schokolade? Dieter Roths Kunstwerk zieht um“ In: Die Zeit, Nr. 9, 19. Februar 2004; Knöfel, Ulrike: „Klebrige Rebellion“ In: Der Spiegel, Nr. 34, 21.08.2000, S. 204; Neumann, Brigitte: „Kunst die krabbelt, kackt und suppt: über den Maler, Zeichner, Bildhauer und Grafiker Dieter Roth und dessen Schimmelmuseum“ In: Süddeutsche Zei‐tung, 26./27.Februar 2000; Rothe, Susanne: „Ein Paradies zwischen Bröseln und Schoko‐Ruinen“ In: Bonner Generalanzeiger, 15.12.2001; Müller, (wie Anm. 1).
17 Hackenschmidt, Sebastian/Rübel, Dietmar/Wagner, Monika (Hrsg.): Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe der Kunst von Abfall bis Zinn, München 2002; Rübel, Dietmar/Wagner, Mo‐nika (Hrsg.): Material in Kunst und Alltag, Berlin 2002; Rübel, Dietmar/Wagner, Monika/Wolff, Ve‐ra (Hrsg.): Materialästhetik. Quellentexte zu Kunst, Design und Architektur, Berlin 2005; Haus, And‐reas/Hofmann, Franck/Söll, Änne: Material im Prozess. Strategien ästhetischer Produktivität, Berlin 2000; Wagner, Monika: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München 2001; Hoormann, Anne: Medium und Material. Zur Kunst der Moderne und Gegenwart, herausge‐geben von Dieter Burdorf, Mechthild Fend, Bettina Uppenkamp, München 2007.
18 Wagner, Monika: „Material“ In: Barck, Karlheinz u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe. Histori‐sches Wörterbuch in 7 Bänden, 7 Bde., 3. Bd., München/Stuttgart 2001, S. 866−882.
19 Beil, Ralf: „Salami‐Sonnenfett oder: der fröhliche Schimmelpilz“ In: Ders.: Künstlerküche. Lebens‐mittel als Kunstmaterial: von Schiele bis Jason Rhodes, Köln 2002, S. 165−209.
20 Wetzel, (wie Anm. 7). 21 Krieger, Verena: Was ist ein Künstler? Genie‐Heilsbringer‐Antikünstler, Köln 2007.
Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung
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schichte aufzeigen. Wolfgang Rupperts grundlegende Arbeit über die Herausbildung
des modernen Künstlers im 19. und frühen 20. Jahrhunderts22 bildet die Grundlage
für die Herausarbeitung der Figur des klassischen Künstlers der Moderne in meinem
Kapitel 4.1., auf deren Folie, die Einordnung Dieter Roths erfolgt. Die Essays von Ro‐
land Barthes „Tod des Autors“23 und Michel Foucaults „Was ist ein Autor?“24 stellen
einen grundlegenden Paradigmenwechsel innerhalb des kunsttheoretischen Diskur‐
ses der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar, weswegen ich ihnen eine ausführli‐
che Betrachtung widme.
22 Ruppert, Wolfgang: Der moderne Künstler. Zur Sozial‐ und Kulturgeschichte der kreativen Individua‐
lität in der kulturellen Moderne im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main 1998. 23 Barthes, (wie Anm. 6). 24 Foucault, Michel: „Was ist ein Autor?“ In: Texte zur Theorie der Autorschaft, herausgegeben und
kommentiert von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez und Simone Winko, Stuttgart 2000, S. 198−233.
Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung
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2. Schimmelmuseum 2.1. Aus dem Kutscherhäuschen entsteht das Schimmelmuseum
Die Installation Schimmelmuseum entstand zu Beginn der 1990er Jahre im Zuge der
Gründung des Dieter Roth Museums. Ende der 1980er Jahre hatten Dieter Roth und
sein langjähriger Förderer, Freund und Sammler Philipp Buse die Idee, für dessen
Sammlung, die ausschließlich aus Werken Roths bestand, in Hamburg ein eigenes
Museum zu errichten. Aus dieser Idee resultierte letztlich nicht nur das Dieter Roth
Museum, sondern auch das Schimmelmuseum.
Buse und Roth lernten sich um 1970 über den Künstler und Drucker Karl
Schulz kennen, mit dem Roth an druckgrafischen Arbeiten zusammenarbeitete. Seit
Beginn ihrer Bekanntschaft kaufte Buse Roth immer wieder Kunstwerke ab und bil‐
dete so den Grundstock für seine anwachsende Sammlung. Gleichzeitig unterstützte
und beriet er Roth beim Verkauf seiner Werke an weitere Sammler und Kunsthänd‐
ler und beide gründeten 1973 den Kunstvertrieb Dieter Roth Pictures25. Als sich Buse
1974 mit einer eigenen Anwaltskanzlei in Hamburg niederließ, stellte er Roth einen
Atelierraum zur Verfügung, den dieser seit den 1970er Jahren regelmäßig nutzte.26
Der Anwalt wurde so immer mehr zum Förderer und Mäzen des Künstlers, dessen
Beziehung in dem zu gründenden Dieter Roth Museum und dem Schimmelmuseum
ihren Höhepunkt finden sollte.27
Mit der Sammlung Buse, die heute eine der größten Roth‐Sammlungen
weltweit darstellt28, wurde sukzessive ein Ort geschaffen, der einen repräsentativen
Querschnitt durch das künstlerische Œuvre Roths darstellt. Buse, der sich als Samm‐
ler ausschließlich für Roth engagierte, besaß gegen Ende der 1980er Jahre bereits
große Teile des Rothschen Werks. Da sich beide aber erst in den 1970er Jahren ken‐
25 Buse organisierte den Direktvertrieb von Roths Arbeiten, der damit „den [von ihm] stets mit Miss‐
trauen und Skepsis bedachten Kunsthandel umging“. Ausst. Kat. Roth‐Zeit, (wie Anm. 2), S. 150. 26 Roth unterhielt mehrere Ateliers gleichzeitig, darunter eins in Island, Basel, Stuttgart und Hamburg.
Vgl. Dobke, Dirk: „Die Dieter Roth Foundation. Ein Künstlermuseum.“ In: Ders./Dieter Roth Foun‐dation (Hrsg.): Dieter Roth‐ Originale, mit Texten von Dirk Dobke und Laszlo Glozer, Ham‐burg/London 2002, S. 195−215, hier S. 196.
27 Vgl. ebd., S. 195. 28 Die Sammlung Buse stellt neben der Sammlung Sohm, die sich im Archiv Sohm in der Staatsgalerie
Stuttgart befindet, die umfangreichste Roth‐Sammlung dar. Heute besitzt das Dieter Roth Museum rund 500 Gemälde, Skulpturen und Installationen, etwa 1400 Druckgraphiken, circa 250 Künstler‐bücher sowie sämtliche Multiples und Schmuckeditionen des Künstlers. Vgl. ebd., S. 195.
Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung
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nen lernten, fehlten wichtige Werke aus den 1950er und 1960er Jahren in der
Sammlung. Buse begann mit Hilfe Roths den Bestand mit dessen Frühwerken zu
komplettieren, indem er in den 1980er Jahren von ehemaligen Sammlerinnen und
Sammlern über 2.000 Roth‐Arbeiten abkaufte. Der Künstler selbst steuerte Werke
aus früheren Werkphasen bei, die sich in seinem Besitz befanden, und rekonstruier‐
te verschollene kinetische Objekte.29
Anfang der 1990er Jahre erwarb Buse für den mittlerweile umfangreichen
Bestand seiner Sammlung in Hamburg ein Grundstück in der Nähe der Außenalster,
um darauf das Privatmuseum für Roth zu errichten. Darauf befand sich ein leer ste‐
hendes Häuschen, das früher von einem Hausmeister oder Chauffeur einer reichen
hanseatischen Familie genutzt wurde und nun dem Neubau des Museums weichen
sollte. Das so genannte Kutscherhäuschen war in einem baufälligen Zustand, es hat‐
te feuchte und schimmlige Wände, von denen sich bereits die Tapeten lösten. Im
Parterre befanden sich zwei nebeneinander liegende Garagen, einschließlich eines in
Autowerkstätten üblichen Arbeitsgrabens, mit dessen Hilfe Autos von unten repa‐
riert werden konnten. Hinter den Garagen erstreckten sich zwei weitere hinterein‐
ander liegende Räume. Im ersten Stock befand sich die dazugehörige Wohnung.30
Als Roth das vorgefundene Gebäude mit seinen Altersspuren sah, entschied
er sich, es nicht abreißen zu lassen. Das Kutscherhäuschen sollte keinem Neubau
weichen, sondern Teil einer Installation werden – des Schimmelmuseums – und bil‐
det somit dessen architektonischen Rahmen. Buse stoppte daraufhin die Neubau‐
pläne und Roth nahm stattdessen die Hängung seiner Werke in der Stadtvilla Buses,
im Kanzleigebäude wie auch den Privaträumen31 vor, die somit zum retrospektiven
Dieter Roth Museum wurden.32
Roth begann im Frühjahr 1991 mit der Arbeit am Schimmelmuseum und
kennzeichnete mit seinem Sohn Björn die Stellen, an denen Veränderungen vorge‐
29 Vgl. Ausst. Kat. Roth‐Zeit, (wie Anm. 2), S. 252. 30 Vgl. Dobke, (wie Anm. 8), S. 124. 31 Nach dem Tod Roths im Jahr 1998 und dem öffentlichen Interesse am Dieter Roth Museum gab
Buse die Wohnräume auf und überließ sie der Dieter Roth Foundation fortan als Museum. Nur die Kanzleiräume im Erdgeschoss, die auch zum Museum gehören, werden noch heute in ihrem ur‐sprünglichen Zweck verwendet. Vgl. Dobke, (wie Anm. 26), S. 211.
32 Vgl. Dobke, (wie Anm. 8), S. 55. Die Idee eines Museumsneubaus wurde von beiden nicht verwor‐fen, sondern erstmal nur zurück gestellt. Bei Baufälligkeit des bestehenden Gebäudes, sollte mit einem Neubau begonnen werden. Vgl. Dobke, (wie Anm. 26), S. 202.
Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung
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nommen werden sollten. Es wurden Markierungen für neue Türen getroffen, alte
Türen verbreitert oder Zwischenwände heraus gebrochen und die Raumaufteilung
der beiden Etagen im Sinne einer geplanten Präsentation Roths verändert. Die un‐
verputzten Bruchkanten der Wände ließ er stehen und fixierte diese mit Klarlack, um
die Eingriffe am Haus erkennbar bleiben zu lassen. Die handwerklichen Arbeiten
übernahmen Björn Roth und isländische Freunde, die auch bei weiteren großen Aus‐
stellungsprojekten Roths für ihn tätig waren.33
2.2. Werkbeschreibung34
Anhand der räumlichen Aufteilung wird im Folgenden ein Eindruck des Schimmelmu‐
seums gegeben. Bei der sich über zwei Etagen (Abb. 1 u. 2) erstreckenden Installati‐
on soll der Blick des Betrachters nachgezeichnet und die sich ihm darbietende Situa‐
tion aufgezeigt werden. Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Positionsbestimmung
und Anordnung der Werke. Eine ausführliche Beschreibung einzelner Werke und
deren Analyse erfolgt in Kapitel 3.2.
2.2.1. Außenansicht
Auch die Außenfassade und den Garten bezog Roth in die Installation Schimmelmu‐
seum mit ein. Geplant war die alte Remise von außen zuwachsen und den Vorgarten
im Laufe der Zeit verwildern zu lassen. Dazu hatte er auf dem Balkon und an der
Mauer Efeu und Wein anpflanzen lassen, die das Gebäude einwuchern sollten. Der
Vorgarten wurde ebenfalls bepflanzt und kleine (Abfall‐) Plastiken in ihm arrangiert.
33 Vgl. Dobke, (wie Anm. 26), S. 204. 34 Da das Schimmelmuseum heute nicht mehr existent ist, beziehe ich mich in meiner Beschreibung
auf folgende Quellen: virtueller Rundgang im Internet, Abbildungen einzelner Werke, DVD zu Die‐ter Roth und die Beschreibungen in den Aufsätzen zum Schimmelmuseum. Diese können aufgrund des ephemeren Charakters der Installation ebenfalls nur einen bestimmten Zustand wiedergeben, da das Schimmelmuseum einem kontinuierlichen Verfallsprozess unterliegt. Vgl. ‹http://www. die‐ter‐roth‐museum.de/schimmelmuseum/› [09.07.08]; Jud, Edith: Dieter Roth, DVD, Zürich 2004, 115 min.; Dobke, Dirk: „Von der Schönheit des Verfalls – Dieter Roths Schimmelmuseum in Ham‐burg“ In: VDR (Verband der Restauratoren), Schriftenreihe Band 1, München 2005, S. 114−120; Dobke, (wie Anm. 8), S. 124−134.
Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung
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Bereits nach kurzer Zeit musste der Bewuchs des Hauses allerdings wieder entfernt
werden, da eine Mahnung vom Bezirksamt den Eigentümer Buse dazu aufforderte,
das Haus in einen den umstehenden Häusern entsprechenden Zustand zu bringen.
Das Bezirksamt berief sich auf die bestehende Außenalsterverordnung, die „für die
Wohnbezirke um die Alster einen gewissen baulichen status quo vorschreibe“35.
Buse ließ daraufhin im Frühjahr 1996 alle Pflanzen entfernen, den Vorgarten roden,
mit Kies aufschütten und das Gebäude weiß streichen.36 (Abb. 3)
2.2.2. Parterre
Durch eine Eingangstür tritt der Besucher in einen schmalen Korridor. An dessen
Wand befinden sich farbige, kristallen leuchtende Zuckerreliefs (Abb. 4) auf Grau‐
pappen, die auf Holplatten aufgezogen sind. Sie weisen eine bunte Farbigkeit auf,
und die einzelnen farblichen Zuckerreste bilden abstrakte Strukturen. Diese Materi‐
albilder stellen ein Nebenprodukt des Gießens der Zuckerfiguren aus dem Haupt‐
raum dar. Auf den sich mitten im Raum befindenden Arbeitstischen zum Gießen der
Zuckerfiguren liegen die Graupappen unter den Gießformen, die so beim Gießen mit
den Zuckerresten überzogen werden. Roth entfernte die überzuckerten Pappen, zog
sie auf Holzplatten auf und hängte sie als Tafelbilder an die Wand, was ihnen den
Charakter von eigenständigen Kunstwerken verleiht. Am Ende des Korridors führt
eine geschwungene Treppe in die obere Etage und in den hinteren Teil des Kut‐
scherhäuschens in die Küchenzeile für den alltäglichen Gebrauch und in die Schoko‐
ladenküche.
Rechts von der Treppe gelangt man in den Hauptraum der Installation mit
dem für Autowerkstätten üblichen Arbeitsgraben. In der linken Raumhälfte stehen
mit dem Selbstturm und dem Zuckerturm zwei zentrale Arbeiten der Installation, die
den Raum dominieren. Aus dem Arbeitsgraben heraus wächst der Selbstturm (Abb.
5), für den die Decke durchbrochen wurde und der sich über zwei Etagen auf einer
35 Dobke, (wie Anm. 26), S. 209. Hervorhebung im Original. 36 Vgl. ebd., S. 209f.
Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung
‐14‐
Gesamthöhe von zehn Metern erstreckt. Er besteht aus kleinen in weißer, Vollmilch‐
und Zartbitter‐Schokolade gegossenen Multiples, die die Physiognomie eines alten
Mannes mit großen Ohren, einem hervorkragendem Kinn und einer langen Haken‐
nase zeigen und die Selbstbildnisbüsten Roths sind. Sie sind mit kleinen Löchern
durchsetzt und an ihrer Oberfläche mit Motten‐ und Spinnweben behangen. Die
einzelnen Selbstbildnisse sind auf übereinander liegenden Glasplatten angeordnet,
die seitlich von einem Metallgestell gerahmt werden. Die Figuren stehen in strenger
und geschlossener Anordnung und blicken alle in dieselbe Richtung. Teilweise sind
sie von der Last der oberen Etagen bereits eingedrückt worden und an den Außen‐
seiten des Turmes herausgepresst.
Direkt neben dem Selbstturm ist der Zuckerturm (Abb. 6) aufgebaut. Dieser
steht zur einen Hälfte im ehemaligen Arbeitsgraben, zur anderen auf dem Fußbo‐
den, und reicht bis an die Zimmerdecke des unteren Geschosses. Er besteht aus mit
Lebensmittelfarbe, Acrylfarbe, Tusche oder Tinte bunt eingefärbten Zuckerfiguren.
Diese stellen das Selbstporträt Roths, das so genannte Löwenselbst, ein Selbstport‐
rät des Künstlers in Form eines Löwenkopfes, und zwei Mischwesen daraus dar. Die
Figuren sind auf runden Glasplatten aufgestellt, die seitlich von einem Holzgestell
gestützt werden. Sie sind in einer runden Formation aufgestellt und die Vorderseiten
der Büsten weisen nach außen.
In der Mitte des Hauptraumes ist ein Arbeitstisch (Abb. 7) aufgestellt, auf
dem die Silikon‐Gussformen zum Gießen der Zucker‐ und Schokoladenplastiken ste‐
hen. Dahinter befindet sich die so genannte Zuckerküche (Abb. 8) mit Herdplatten
und Töpfen zum Erhitzen des Zuckers, Farben zum Einfärben der Zuckermasse und
den dazu erforderlichen Arbeitsgeräten. Eine weitere Holzstellage auf Rädern, auf
der dicht aneinandergereiht Schokoladenlöwen aufgestellt sind, befindet sich rechts
vom Eingang des Hauptraumes. Der Schokoladenlöwenturm (Abb. 9) ist wie der
Selbstturm aufgebaut: die löwenartigen Multiples tragen sich durch die auf ihren
Köpfen platzierte Glasplatte selbst. An der Wand hinter der Stellage hängt eine Blei‐
stiftzeichnung Roths, welche die Anordnung der Löwen anzeigt.
Links davon, frei im Raum stehend, befindet sich ein Block mit in Schokolade
eingegossenen Gartenzwergen mit dem Titel Coquillen‐Zwerge (Abb. 10) aus dem
Jahr 1994. Der Block besteht aus zwölf aufeinander gestapelten Gartenzwergen, die
Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung
‐15‐
jeweils einzeln in Schokolade versenkt wurden. Die Ummantelungen aus Schokolade
haben eine sich verjüngende Quaderform mit abgerundeten Ecken. Die Trichter‐
form, die der schokoladigen Ummantelung ihre Form gibt, steht neben dem Objekt.
Von den Gartenzwergen sind nur noch ihre roten Zipfelmützen zu erkennen, die als
signifikantes Zeichen der versteckten Figur aus der Schokolade herausragen. Die
zwölf Zwerge sind gegenläufig aufeinander gestapelt und bilden somit in ihrer Ge‐
samtheit einen großen Schokoladenquader.
Eine weitere große Arbeit, Obstfenster (Abb. 11), die sich rechts neben dem
Löwenselbstturm befindet, besteht aus sechs doppelt verglasten Holzrahmen, die
von Roth mit verschiedenen Obstsorten gefüllt wurden. Von dem sich mit der Zeit
zersetzenden Obst ist nur noch ein dunkler Bodensatz übrig, der in den einzelnen
Rahmen unterschiedliche Formen angenommen hat. Auf dem Regal über den Coquil‐
len‐Zwergen befinden sich verschiedene Einmachgläser in einer Reihe, die mit einer
Flüssigkeit gefüllt sind. Diese ist die beim Zersetzungsprozess des Obsts austretende
Flüssigkeit, die in Blumenkästen aufgefangen und von Roth abgekocht wurde (Abb.
12). Hinter der Arbeit Coquillen‐Zwerge lehnt an der Wand eine weitere Arbeit, die
den Titel Flacher Behälter (Abb. 13) trägt. Sie besteht aus einer Metallkonstruktion
in Form eines Fensters, die an Vorder‐ und Rückseite verglast ist. Zwischen den Glas‐
scheiben befindet sich ein hölzerner trichterförmiger Einsatz zum Befüllen des Ob‐
jekts sowie ein Metallgriff zum Öffnen. Auch hier ist vom ursprünglichen Inhalt, Do‐
sengemüse, nur mehr ein dunkler Bodensatz zu erkennen.
Vom Hauptraum aus gelangt man durch einen Durchbruch in der Wand in
zwei tiefer liegende Räume. Hier befinden sich Roths Gewürzobjekte. Alle Arbeiten,
bis auf drei an der Wand gelehnte Gewürzfenster (Abb. 14), sind frei im Raum ste‐
hend. Sie sind nach einem ähnlichen Prinzip konzipiert und bestehen aus mehreren
aneinander gereihten Holzrahmen, die auf beiden Seiten verglast sind. Jeder Rah‐
men ist mit mindestens einem Gewürz gefüllt, teilweise auch mit mehreren Gewürz‐
schichten übereinander. Einige Objekte lassen sich durch einen Metallgriff an der
oberen Seite des Rahmens öffnen, um daran zu riechen. Das Gewürzkubikel (Abb.
15) besteht aus mehreren kleineren Kuben, in denen sich die unterschiedlichen Ge‐
würze auftürmen. Die Tripleanisuhr (Abb. 16) und die Knoblauchtruhe (Abb. 17) be‐
stehen jeweils nur aus den im Titel benannten Gewürzen Anis und Knoblauch.
Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung
‐16‐
An der Rückwand des hinteren Raumes befindet sich senkrecht an der Wand
befestigt ein großes Inselbild aus Lebensmitteln: die Große Insel Nr. 2 (Abb. 18). Auf
einer zwei mal zwei Meter messenden blau bemalten Holzplatte ist ein undefinier‐
barer Schimmelhaufen entstanden, dessen Materialien sich zu einer unbestimmba‐
ren Masse zersetzt haben. Zu erkennen sind noch einige Kunststoffteile, Plastikbe‐
cher und Deckel sowie Gips und metallene Bestückungen. Überdeckt wird der Hau‐
fen mit einer durchsichtigen Kuppe aus Plexiglas, in die mehrere Löcher hinein ge‐
bohrt wurden.
Neben der Arbeit befindet sich, über zwei Stufen zu erreichen, die etwas hö‐
her gelegene Schokoladenküche (Abb. 19), in der alle aus Schokolade gegossenen
Arbeiten des Schimmelmuseums entstanden sind. Auf die schokoladeverschmierten
Kochplatten hat sich eine dicke Schicht aus Schokolade gelegt, und die auf den Koch‐
platten stehenden Kochtöpfe zum Erhitzen des Materials sind ebenfalls mit Schoko‐
lade überzogen. Neben den Silikongussformen zum Gießen der Schokoladenfiguren
finden sich in der Schokoladenküche weitere Utensilien, die zum Gießen erforderlich
sind. Die komplette Küchenzeile ist mit einem Film aus Schokolade überzogen.
2.2.3. Erster Stock
Über eine Treppe im Eingangsbereich gelangt man in den ersten Stock. Die Wände,
die noch Reste der ursprünglichen Bekachelung, der Tapeten oder Bemalungen zei‐
gen, sind in verschiedene Abschnitte gegliedert und jeweils hinter Plexiglas gerahmt.
Die ungerahmte Fläche zwischen den Rahmen ist grau oder gelb bemalt, wodurch
die bildhafte Struktur des gerahmten Bereiches betont wird. Roth präsentiert die
Verfallsspuren der letzten Jahre als gefasste Kunstwerke und bezeichnet sie als
Fundbilder (Abb. 20). Vor den gerahmten Wandflächen befinden sich in der Nähe
des Treppenaufgangs mehrere gegossene Schokoladenfiguren auf dem Fußboden.
Links davon vor dem Fenster steht die Plastik Große Dame (Abb. 21), ein längs
durchgeschnittener Haufen Abfälle. Auf einer Tischplatte wurden die Abfälle aufge‐
türmt und anschließend mit mehreren Schichten Acrylfarbe, Zucker und Schokolade
Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung
‐17‐
übergossen. Die längs zerteilten Hälften wurden aufrecht aufgebaut und auf einen
hölzernen Fuß aufgestellt. Einige Teile der Plastik sind bereits herab gefallen und
befinden sich eingesammelt in einem Karton neben der Plastik oder daneben auf
dem Boden liegend. Links von der Großen Dame setzt sich der Selbstturm durch den
Deckendurchbruch ins Obergeschoss fort. Seine rahmende Metallkonstruktion reicht
bis an die Decke, jedoch sind die einzelnen Schichten der Schokoladenselbstbildnisse
nur bis zu drei Viertel der Raumhöhe aufgetürmt.
In der Raummitte befindet sich das Büro des Künstlers mit Schreibtisch, Tele‐
fon und Arbeitsmaterialien. Auf einem in die Trennwand eingelassenen Regal hinter
dem Schreibtisch stehen die Prototypen der später aus Schokolade und Zucker ge‐
gossenen Objekte in Gips. Im dahinter liegenden Raum befinden sich auf einem
Glasregal weitere Variationen von in Schokolade eingegossenen Gartenzwergen,
darunter ein Gartenzwerg, der in einem blauen Eimer samt Kelle in der Schokolade
versenkt worden ist (Abb. 22), und die Arbeit Gartenzwerg mit Laterne (Abb. 23), die
einen Gartenzwerg zeigt, der samt einer elektrischen Laterne von der Schokolade
umfangen wird. Auf der obersten Regaletage steht das Käseobjekt Wolken (Abb. 24),
bei dem es sich um blau bemalte Käsestücke handelt, die unter einer Käseglocke aus
Glas arrangiert sind. Im hinteren Teil des Obergeschosses befindet sich eine weitere
große Arbeit mit dem Titel Vom Rhein (Abb. 25). Das Objekt besteht aus vier Zink‐
wannen, die mit buntem Zucker und Spielzeugfiguren gefüllt sind. Die Arbeit stellt
eine große Zuckerlandschaft mit einer blau eingefärbten S‐Kurve dar, die dem Titel
nach wohl auf den Fluss Rhein verweist. In die eingefärbte Zuckermasse sind Spiel‐
zeuge wie kleine Spielzeugautos oder Schiffe versenkt, die zum Teil aus dem Zucker
heraus schauen und teilweise ganz darin eingeschlossen sind. Links davon in einer
kleinen Nische hängt eine Photografie der Arbeit Landschaft mit Turm (Abb. 26) an
der Wand. Die Arbeit setzt sich aus drei Eisenblechwannen zusammen, die mit Abfäl‐
len, Spielzeug, Farbdosen und weiteren Malutensilien gefüllt sind. Diese von Roth
verwendeten Materialien sind in den Wannen fixiert und größtenteils mit Farbe
übergossen.
Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung
‐18‐
2.3. Das Schimmelmuseum heute
Im Folgenden soll in einem kurzen Exkurs ein Blick darauf geworfen werden, was
nach dem Abriss des Schimmelmuseum‐Gebäudes mit der Installation und den sich
darin befindenden Werken passiert ist.
In Frühjahr 2004 beschloss Buse das Schimmelmuseum abreißen zu lassen.
Hintergrund waren Klagen von Anwohnern, die sich Sorgen um ihre Gesundheit
machten. „Es gab Ärger mit den Nachbarn, die das Übergreifen von Keimen befürch‐
teten und geklagt haben.“37 Die Werke der Installation wurden zuvor geborgen und
auch die von Roth als Fundbilder bezeichneten gerahmten Wandstücke wurden aus
der Wand heraus geschnitten und konnten so vor der Vernichtung bewahrt werden.
Bis über die weitere Aufstellung der Werke Klarheit herrschte, wurden für alle Ein‐
zelobjekte Transportkisten gebaut und bei der Kunstspedition Hasenkamp klimati‐
siert eingelagert. Die Figuren des Selbst‐ und Zuckerturms und des Löwenselbsttur‐
mes wurden einzeln in Plastiktüten verpackt und den Etagen der Türme entspre‐
chend in Bücherkisten im Keller der Dieter Roth Foundation verwahrt.
Heute stellt sich die Situation so dar, dass es kein Remake unter dem Namen
Schimmelmuseum gibt und auch nicht geben wird. Laut Dirk Dobke soll so vermie‐
den werden, dass der Anschein erweckt wird, das Schimmelmuseum sei einfach um‐
gesiedelt worden. Dies würde die Intention des Schimmelmuseums verfälschen.38
Auf dem Grundstück des ehemaligen Schimmelmuseums ist ein Neubau entstanden,
der so genannte „Dieter Roth Pavillon“. Ein Teil der Arbeiten aus dem Schimmelmu‐
seum wird nun zusammenhängend dort präsentiert, aber nicht mehr unter dem
Namen Schimmelmuseum. Ausgestellt werden hier Materialgrafiken der 1960er Jah‐
re, die allerdings nicht aus dem Bestand des Schimmelmuseums stammen sowie
Roths so genannte Fundbilder. Im Keller des Pavillons wird bis zu Beginn des Jahres
2009 ein extra abgedichteter und klimatisierter Raum entstehen, in dem die frei ste‐
henden Schokoladenarbeiten wie die Coquillen‐Zwerge und der Selbstturm gezeigt
werden sollen. Weiter sind Werke wie der Zuckerturm, die Große Insel No.2, die Zu‐
37 Dobke zitiert nach URL: ‹http://www.news.ch/Schimmelmuseum+wird+abgerissen/
166117/detail.htm› [30.06.2008]. 38 Vgl. Dobke, Dirk: Das Schimmelmuseum von Dieter Roth – künstlerische Installation oder Künstler‐
museum?, unveröffentlichtes Vortragsmanuskript, August 2007.
Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung
‐19‐
ckerlandschaft Am Rhein und die gesamten Gewürzarbeiten in das Dieter Roth Mu‐
seums aufgenommen und in die chronologische Hängung des Museums integriert
worden.39
39 Vgl. Dobke, (wie Anm. 38), o. S; Telefonat der Verfasserin mit Dirk Dobke [05.05.08].
Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung
‐20‐
3. Organisches als künstlerisches Material
In diesem Kapitel wird Roths Materialverwendung im Schimmelmuseum einer ein‐
gehenden Analyse unterzogen. Mit der Verwendung von organischen Materialien
greift Roth auf seine Werkphase der 1960er Jahre zurück, die er im Schimmelmuse‐
um neu inszeniert. Mit einem allgemeineren Blick auf die Entwicklung der künstleri‐
schen Materialverwendung im Verlauf der Moderne soll deutlich gemacht werden,
dass Roth mit der Verwendung von vergänglichen Materialien zeitgenössische Dis‐
kussionen aufgriff, die es möglich gemacht haben, organische Materialien wie Le‐
bensmittel in der Kunst einzusetzen und deren eigene semantische Qualität nutzbar
zu machen.
3.1. Stellenwert des Materials im Kunstdiskurs
Der lateinische Begriff materia, von dem die Bezeichnung Material abgeleitet ist,
bezeichnete ursprünglich Bauholz, Nutzholz, Vorrat und Rohstoff. Allgemein charak‐
terisiert Material im Sinne von Werkstoff artifizielle und natürliche Materialien, die
der Weiterverarbeitung dienen und somit eine Veränderung erfahren.40 „Material
im engeren Sinne ist der Werkstoff der Künste, im erweiterten Sinne alles, was Wi‐
der‐ und Gegenstand der künstlerischen Gestaltung ist“, konstatiert Wolfhart
Henckmann.41
Material nimmt im Verlauf der Kunstgeschichte einen unterschiedlichen Stel‐
lenwert ein und bildet einen Korrespondenzbegriff zu Form und Idee, die mit dem
Material in einer Wechselbeziehung stehen. Nicht immer wurde dem Material der‐
selbe Bedeutungsgehalt im Verhältnis zur Form zugesprochen und auch nicht jedes
Material wurde zu jeder Zeit als kunstwürdig empfunden. Monika Wagner konsta‐
40 Im deutschen Sprachgebrauch hat sich der Begriff des Materials erst in der Neuzeit von dem physi‐
kalisch und philosophisch beanspruchten Materiebegriff gelöst. Vgl. Wagner, Monika: „Material“ In: Pfisterer, Ulrich (Hrsg.): Metzler Lexikon Kunstwissenschaft, Ideen, Methoden, Begriffe, Stutt‐gart 2003, S. 230−233 , hier S. 230; Wagner, (wie Anm. 18), S. 867; Rübel, Dietmar/Wagner, Moni‐ka (Hrsg.): Material in Kunst und Alltag, Berlin 2002, S. VII.
41 Henckmann, Wolfhart: „Material“ In: Henckmann, Wolfhart/Lotter, Konrad (Hrsg.): Lexikon der Ästhetik, München 1992, S. 157−158, hier S. 157.
Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung
‐21‐
tiert, dass von der Antike bis in das 19. Jahrhundert eine Marginalisierung des Mate‐
rials zugunsten der Form statt fand. Dies ändert sich erst zum Beginn der Moderne.42
Herrschten in den Künsten bis ins 19. Jahrhundert vor allem Materialien wie
Bronze, Stein, Holz und Farbe vor, so veränderte sich mit der Industrialisierung und
der Entwicklung von Kunststoffen die Auseinandersetzung mit den Materialien der
Kunst. Die neuen Materialien wie Gusseisen, Aluminium, Kautschuk, Plexiglas oder
Zelluloid sorgten für kontroverse Diskussionen in Bezug auf ihre angemessene Nut‐
zung und Formgebung. Dies führte zu grundlegenden Neubestimmungen des Mate‐
rials: Zum einen wurde zwar weiterhin für eine immer bessere Unterwerfung der
Materialien plädiert, die im Zusammenhang mit der Erschließung neuer Materialien
stand und zum „Signum des Industriezeitalters“43 wurde. Zum anderen entstand das
Konzept der Materialgerechtigkeit, bei dem Fragen um die materialgerechte Form
und funktionsgerechte Materialien diskutiert wurden. Die Vorstellung einer dem
Material gerechten Form bezog sich vor allem auf Naturstoffe und deren natürliche
Form, im Gegensatz zu den neuen künstlichen Stoffen der Industrieproduktion, die
alle Formen annehmen können und keine eigene natürliche Form besitzen.
Je umfangreicher der durch die industrielle Revolution erschlossene Kosmos neuer Stoffe und neu entdeckter Elemente wurde, welche die Herstellung syn‐thetischer Materialien versprachen, desto stärker diente das Argument der dem Material angemessenen Form als Instrument der ästhetischen Kontrolle gegenüber dem Kitsch industrieller Produktion.44
Besonders in England mit John Ruskins (1819−1900) Ästhetik und der Arts and Crafts
Bewegung nahm dies industriefeindliche Formen an. Gottried Semper (1803−1897)
entwickelte in seinem Werk Der Stil (1860−1863) eine Theorie, in der er das Material
und den Zweck als ausschlaggebend für die Form in der angewandten Kunst betrach‐
tete und somit dem Material eine zentrale Stellung in der Bildung von Stil zu
42 Seit der Antike herrschten die Vorstellungen vom geringen Rang des Materials vor. Das Kunstwerk
sollte sich nicht durch seine Materialien auszeichnen, sondern durch die künstlerische Form. „Bis um 1800 […] gehörte [Material] der niederen Sphäre des Alltags an, die in der künstlerischen Ges‐taltung zum Verschwinden gebracht werden sollte.“ Zu den Marginalisierungsstrategien von der Antike bis ins 19. Jahrhundert siehe Wagner, (wie Anm. 18), S. 871−873.
43 Ebd., S. 874. 44 Ebd., S. 874.
Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung
‐22‐
sprach.45 Semper, der „zum Kronzeugen des ‚Materialstils’ und der ‚Materialgerech‐
tigkeit’“46 wurde, löste damit eine breite Auseinandersetzung um das Material aus,
die auch bei den Kritikern des Materialstils zu einer Aufwertung des Materials bei‐
trug.47
‚Materialgerechtigkeit’ wurde in Deutschland einerseits zum Synonym für die ‚gute Form’, wie sie volkserzieherisch von Gebrauchsgegenständen für die In‐dustriegesellschaft gefordert worden war. Die entgegengesetzte Ideologisie‐rung des Begriffsfelds führte in der Verbindung mit ‚heimischem’ Material zum Heimatstil und schließlich zum völkisch gegründeten Kunsthandwerk.48
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat sich die Materialverwendung in den Bildkünsten
gegenüber den vorausgehenden Jahrhunderten grundlegend verändert. Die Aufwer‐
tung des Materials gegenüber der Form nahm im ersten Jahrzehnt unterschiedliche
Formen an; sie war ideologisch konträr ausgerichtet und verschiedene Strömungen
setzten sich mit den neuen Materialien der Industriegesellschaft und deren Rolle
auseinander. Die Futuristen und Dadaisten forderten in ihren Manifesten eine neue
Kunst aus alltäglichen und ephemeren Materialien, erprobten neue Materialien und
entzogen ihnen den Nützlichkeitscharakter. Verbanden diese eine mit der Aufwer‐
tung des Materials verbundene Gesellschaftskritik, äußerte sich dies bei den russi‐
schen Konstruktivisten in einem „Fortschrittsoptimismus“, indem sie dem Material
„vor allem in der Produktion von Alltagsgegenständen eine Schlüsselbedeutung für
die neue Gesellschaft“49 zuwiesen, bei der sich Kunst und Alltagsproduktion verzah‐
nen sollten. Auch am Bauhaus bildete das Material eine verbindende Funktion zwi‐
schen Kunst und Industrie und somit eine Annäherung von Kunst und Alltagskultur.50
Eine zur Materialaufwertung gegenläufige Tendenz in Form eines Plädoyers
zur Materialüberwindung zeigte sich in der abstrakten Kunst mit Wassiliy Kandinskys
(1866−1944) programmatischer Schrift Über das Geistige in der Kunst von 1913.
Wagner hält dazu fest:
45 Die Debatten entfachten sich zunächst in Bezug auf Architektur und Gebrauchsgegenstände. Das
Material der bildenden Kunst wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts ins Blickfeld gerückt. Vgl. Rü‐bel, Dietmar/Wagner, Monika/Wolff, Vera (Hrsg.): Materialästhetik. Quellentexte zu Kunst, Design und Architektur, Berlin 2005, S. S. 10f.
46 Wagner, (wie Anm. 18), S. 874. 47 Vgl. ebd., S. 873−875; Wagner, (wie Anm. 40), S. 231f; Rübel/Wagner/Wolff, (wie Anm. 45), S. 10. 48 Rübel/Wagner/Wolff, (wie Anm. 45), S. 10. 49 Wagner, (wie Anm. 18), S. 876. 50 Vgl. ebd., S. 876.
Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung
‐23‐
Für Kandinsky folgte aus der durch die naturwissenschaftliche Forschung aus‐gelösten Verunsicherung der zuvor in ihrer Materialität stabil geglaubten Welt die Abstraktion. Sie ist ihm Ausdruck der Überwindung des Materials, d.h. seiner Vergeistigung.51
Innerhalb der russischen Avantgarde gab es weitere Künstler, die Utopien von der
Überwindung des Materials entwickelten, um so zu amateriellen oder immateriellen
Materialien zu gelangen.52
Im Gegensatz zur Wertschätzung neuer Stoffe in der Weimarer Republik be‐
kamen zur Zeit des Nationalsozialismus Materialien, denen die Eigenschaften von
Härte, Dauerhaftigkeit und Reinheit zugesprochen wurden, einen hohen Stellenwert,
und das Material wurde vor allem in der Architektur und Skulptur zugunsten der
nationalsozialistischen Ideologie eingesetzt.53 Nach dem Zweiten Weltkrieg reagier‐
ten die Künste auf die nationalistische Staatskunst und die Propaganda vom schwe‐
ren, harten und dauerhaften Material mit dem Informel und der Abwertung der
Form, während dem Material ein neuer Stellenwert zugesprochen und einfache und
niedere Materialien betont wurden. Im Industriedesign wurde als Reaktion auf die
nationalistische Staatskunst die Verwendung von Kunststoffen bevorzugt.54
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der bis dahin bestehende
Kanon der kunstwürdigen Stoffe immer häufiger gesprengt und das Spektrum der
Materialien in unüberschaubarer Weise erweitert. Eine Vielzahl von kunstfremden
Materialien löste die klassischen Materialien wie Ölfarbe, Stein oder Bronze ab, und
„wie nie zuvor haben alltägliche und organische Materialien Einzug in die westliche
Kunst gehalten“55. Mit der Pop Art hielten nicht nur Themen des Alltags Einzug in die
Kunst, sondern auch in Form von industriell gefertigten Gegenständen. Die Künstler
des Nouveau Réalisme entgegneten „mit den entwerteten Materialien, dem Abfall
der Konsumgesellschaft“56 und Künstler der Land Art und Arte Povera mit unbear‐
51 Wagner, (wie Anm. 18), S. 881. 52 Wagner nennt hier beispielhaft El Lissitzky, der es als Aufgabe der Kunst ansah, „durch einen mate‐
riellen Gegenstand den imaginären Raum zu gestalten, um so zu einer amateriellen Materialität zu gelangen.“ Ebd., S. 881; Wagner, (wie Anm. 40), S. 231.
53 „Vor allem Granit als eines der beständigsten und härtesten Gesteine wurde zum Ewigkeitsgaran‐ten des ‘Dritten Reiches’”. Wagner, (wie Anm. 18), S. 877f.
54 Vgl. ebd., S. 878f. 55 Hackenschmidt, Sebastian/Rübel, Dietmar/Wagner, Monika (Hrsg.): Lexikon des künstlerischen
Materials. Werkstoffe der Kunst von Abfall bis Zinn, München 2002, S. 7. 56 Wagner, (wie Anm. 18), S. 879.
Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung
‐24‐
beiteten Naturstoffen. Man griff unterschiedlichste Materialien auf: organische, an‐
organische, haltbare oder vergängliche, ungeformte oder geformte, die alle sich
selbst und ihre eigene Sprache zum Ausdruck brachten.
Der Aufstieg des Materials als ästhetische Kategorie geht einerseits einher mit dem Versuch, die Grenzen zwischen Kunst und Nichtkunst durch serielle Produktionsverfahren und industrielle Materialien aufzuheben. Andererseits kommt es zu einer radikalen Infragestellung der Form als des tradierten Kont‐rahenten des Material.57
Das traditionelle Verhältnis von Form und Material wurde umgekehrt: Material war
nicht mehr nur Mittel zur Kunst, sondern selbst dessen Thema mit eigener ästheti‐
scher Qualität. Die Form wurde nicht mehr selbstverständlich als unveränderliches
Ergebnis gestalterischer Arbeit am Material betrachtet, sondern als variable Größe
und Resultat von Materialeigenschaften.58 Auch die Faszination des immateriellen
Materials, wie sie bereits ein Teil der russischen Konstruktivisten postulierten, fand
nach 1945 ihren Ausdruck beispielsweise in Yves Kleins (1928−1962) Immaterialitä‐
ten oder in Licht‐ und Farbinstallationen, die die Materialien in Schwerelosigkeit
oder umgekehrt in materiale Dimensionen überführten.59
Dem Material als Ausgangsstoff künstlerischer Tätigkeit sind heute keine
Grenzen gesetzt: Rohstoffe, industriell produzierte Ware, organische Materialien,
Tiere und Menschen, Körper genauso wie Energie gehören dazu.60 Es stehen jene
Materialien im Vordergrund, „die die Künstler heute als Medien mit eigener seman‐
tischer Qualität nutzen“61 . Wagner fasst zusammen, dass
auf der einen Seite […] Material […] gegenwärtig auf Grundlage der Vorstel‐lung von seiner Aufhebung in so genannte Immaterialitäten neuer Technolo‐gien diskutiert [wird – d. Verf.], während sich auf den anderen Seite – von den Rändern her – eine Stärkung des Materials als eigene Kategorie ebenso verzeichnen lässt wie deren kritische Durchleuchtung.62
57 Wagner, (wie Anm. 18), S. 880. 58 Vgl. ebd., S. 880. 59 Auch die technischen Medien förderten das Interesse an immateriellen Bildern und „mit der Ent‐
wicklung digitaler Medien sind grundsätzliche Fragen nach der Materialität optischer Welten auf‐getaucht“. Ebd., S. 882.
60 Vgl. Wagner, Monika: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München 2002, S. 12.
61 Hackenschmidt/Rübel/Wagner, (wie Anm. 55), S. 7. 62 Wagner, (wie Anm. 18), S. 870.
Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung
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3.2. Dieter Roths Verwendung von organischen Materialien
Dieter Roths Verwendung von organischen Materialien als künstlerisches Material
bei der Gestaltung des Schimmelmuseums stellt einen Rückgriff auf seine Werkphase
von 1964 bis 1971 dar.63 In den 1990er Jahren greift Roth diese Phase unter der
Verwendung von organischen Materialien nochmals auf und fertigt Remakes dieser
Arbeiten, die er im Schimmelmuseum herstellt und neu inszeniert.
Roth nimmt bei seiner Materialwahl die aktuellen Materialdiskussionen der
1960er Jahre auf und erweitert seine künstlerische Palette um das Organische,
gleichzeitig nutzte er die Materialeigenschaften und setzte ihren Verfall und die Ver‐
derblichkeit programmatisch und systematisch in seiner Kunst ein.64 Anstatt mit
Farbpigmenten, Bronze, Holz oder ähnlichen klassischen künstlerischen Materialien
zu arbeiten, setzt er sich mit Abfällen und organischen Stoffen, vornehmlich Le‐
bensmitteln, auseinander. Es entstehen unterschiedliche Arbeiten, bei denen Roth
verschiedenste Lebensmittel zum Ausgangspunkt seiner Werke bestimmt. Seine Pa‐
lette der verwendeten Lebensmittel umfasst Obst und Gemüse, Brot, Hackfleisch,
Pralinen, Mehl, Dickmilch, Milch, Joghurt, Käse, Kaffee, Kakaopulver, Fett, Bonbons,
Bier, Schokolade und Zucker sowie verschiedene Gewürze. Ralf Beil verweist darauf,
dass außer Roth nur Joseph Beuys (1921−1986) eine ähnliche Bandbreite an organi‐
schen Lebensmitteln in seiner Kunst einsetzte.65
Über die Entstehung seiner ersten vergänglichen Kunstwerke verbreitete
Roth selbst zwei unterschiedliche Versionen: Zum einen nennt er das mit Schmelzkä‐
se gemalte Porträt des Kunsthändlers und Sammlers Carl Laszlo von 1964 als Initial
63 Die Werkphase mit der Verwendung von ephemeren Materialien findet zu Beginn der 1970er Jahre
ihr Ende und Roth wendet sich danach wieder der Malerei und der Zeichnung zu. In den 1980er und 1990er Jahren entstehen hauptsächlich großformatige Assemblagen und Collagen. Vgl. Dobke, (wie Anm. 34), S. 116.
64 Vgl. Beil, (wie Anm. 19), S. 168. 65 Vgl. ebd., S. 167. Bei beiden Künstlern lässt sich jedoch eine unterschiedliche Verwendung und
Bedeutungszuschreibung der organischen Materialien ausmachen. Lädt Beuys die einzelnen Mate‐rialien bedeutungsvoll auf und sah sie als Energieträger an, nutzte Roth stattdessen die spezifi‐schen Verfallseigenschaften der organischen Materialien. Siehe dazu Schneede, Uwe M.: „Roth und Beuys“ In: Söntgen, Beate/Vischer, Theodora: Über Roth. Beiträge und Aufsätze, Beiträge des Symposiums vom 4. und 5. Juli 2003 zur Ausstellung „Roth‐Zeit. Eine Dieter Roth Retrospektive“ im Schaulager Basel, Basel 2004, S. 136−150, hier vor allem S. 142−146.
Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung
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für diese Arbeiten (Abb. 27).66 Der Schweizer Kunsthändler und Sammler wendete
sich mit der Bitte an Roth ein Bildnis von ihm anzufertigen. Roth, der sich mit ihm
entzweit hatte, wollte ihn mit seiner Ausführung provozieren und verwendete für
diese Auftragsarbeit ein Schwarz‐Weiß‐Foto Laszlos, das er solarisiert abziehen ließ
und dann mit Streichkäse bemalte. Was für ihn zunächst Provokation darstellte ‐„Ich
habe gedacht, der wird grün und blau wie’n Käse“67‐, entwickelte er weiter zur ge‐
stalterischen Methode. „Da habe ich angefangen, [Arbeiten] mit Schimmel zu ma‐
chen.“68 In der anderen Version der neuen Verwendung von verderblichen Substan‐
zen zur Kunstherstellung erklärt Roth diese mit seiner Wut über das Misslingen sei‐
ner Arbeiten, die ihn veranlasste, diese mit organischen Materialien zu übergießen:
Nach [dem] Umweg über neorealistisch Angehauchtes gab’s ungef. 1962 Bil‐der unter’m Einfluss Bellmers, die mir zu deutlich Bellmer waren und ich schüttete schlechtgewordene Milch darüber (die stand umher). Nachdem ich gesehen hatte, dass Fäulniss und Verschimmeln fast Ornamente liefern und überraschende Veränderungen abgeben, benutzte ich nichthaltbares Material mehrere Jahre hauptsächlich.69
Es lässt sich feststellen, dass Roth seit Beginn der 1960er Jahre in verschiedenen
Arbeiten immer wieder organische Materialien erprobte. Zu nennen sind hier seine
Buchobjekte und seine Auflagenobjekte, bei denen er Esswaren auf die Druckerpres‐
se legte, die den Einsatz von Lebensmitteln in seinem Œuvre antizipieren. Das erste
Buchobjekt mit Verwendung von Lebensmitteln stellt die Literaturwurst70 (Abb. 28)
von 1961 dar. Hierzu häckselte er verschiedene Romane und Zeitschriften in kleine
Papierschnipsel und vermischte diese mit Gewürzen und Fett nach originalem
Wurstrezept, wobei die Fleischanteile durch die Papierschnipsel ersetzt wurden. Der
zuvor ausgeschnittene Titel wird als Etikett auf die Wursthaut appliziert. Roth arbei‐
tet damit gleichzeitig auf sprachlicher Ebene, da er die umgangssprachliche Bezeich‐
66 Vgl. Dobke, (wie Anm. 8), S. 54. 67 Roth zitiert nach Irmelin Lebeer‐Hossmann, Dieter Roth Interview September 1976 In: Wien, Barba‐
ra (Hrsg.): Dieter Roth. Gesammelte Interviews, London 2002, S. 46. 68 Roth zitiert nach Dobke, (wie Anm. 8), S. 55; Wien, (wie Anm. 67), S. 46. 69 Roth zitiert nach Dobke, (wie Anm. 8), S. 55. 70 Ende der 1960er Jahre entstanden 25 weitere Literaturwürste aus Romanen wie Die Blechtrommel
(G. Grass), Die Rote (A. Andersch), Suche nach der neuen Welt (R. Kennedy), und ab 1970 setzt er die Verwurstungsserie mit deutschen Illustrierten und Zeitschriften wie Bunte, Spiegel und Stern fort. Den Abschluss und das umfangreichste Werk dieser Gruppe bildet die Hegel‐Gesamtausgabe: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden. Vgl. Ausst. Kat. Roth‐Zeit, (wie Anm. 2) S. 74; Beil, (wie Anm. 19), S. 180.
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nung „Schinken“ für einen gewichtigen Klassiker wörtlich nimmt.71 Bei den Aufla‐
genobjekten, die vor allem während seines Lehrauftrags an der Rhode Island School
of Design in Providence im Jahr 1965 entstanden, kamen Bananen, Pralinen und
Kekse zum Einsatz, die Roth durch die Druckerpresse walzte. Roth revolutionierte
die traditionelle Druckgrafik, indem er auf Kaltnadelradierungen im zweiten Durch‐
gang die Lebensmittel auswalzte. Bei der Arbeit Banana Print (Abb. 29) von 1966
hinterließen mehrere Bananen eine lange bräunliche Spur, und bei der Arbeit Rakete
(Abb. 30) drückte er eine gesamte Pralinenschachtel in Form einer Rakete durch die
Druckerpresse. Diese Arbeiten, bei denen die Lebensmittel auf Bildniveau gepresst
werden, bezeichnete Roth als „Pressungen“ und „Quetschungen“.72
In den 1990er Jahren greift Roth die Verwendung von organischen Materialen
nochmals auf und fertigt Remakes von Werken aus dieser Arbeitsphase, die in der
Installation Schimmelmuseum hergestellt und neu inszeniert werden. Mit dem
Selbst‐ und dem Zuckerturm wurden bereits zwei wesentliche Arbeiten der Installa‐
tion benannt. Die für den Selbstturm seriell gegossenen Schokoladen73‐
Selbstbildnisse in Form von Büsten stellen einen Rückgriff auf die Figur Portrait of
the Artist as Vogelfutterbüste (Abb. 31) aus dem Jahr 1968 dar. Roth parodiert damit
den Titel des autobiografischen Romans A Portrait of the Artist as a Young Man74
von James Joyce, indem er sich als einen alten Mann mit kahlem Schädel, großen
Ohren, spitzem Kinn und einer langen Nase in Schokolade porträtiert.75 Der 20 Zen‐
timeter hohen Figur wurde im flüssigen Zustand Vogelfutter beigemischt, und sie
71 Vgl. Beil, (wie Anm. 18), S. 179; Ausst. Kat. Roth‐Zeit, (wie Anm. 2), S. 74; Dobke, (wie Anm. 8), S.
54. 72 In den folgenden Jahren setzte Roth seine Experimente mit den „Pressungen“ und „Quetschungen“
unter der Verwendung von weiteren Lebensmitteln wie Wurst, Käse, Milch, Schokolade und Fruchtsäften fort. Vgl. Ausst. Kat. Roth‐Zeit, (wie Anm. 2), S. 95, 116; Dobke, (wie Anm. 8), S. 71.
73 Schokolade stellt ein häufig verwendetes Material Roths dar, das er in vielfältiger Form einsetzte. Die Schokoladenarbeiten bilden neben den Gewürzarbeiten eine der größten Werkgruppen. Vgl. Dobke, (wie Anm. 8), S. 69.
74 Portrait of the Artist as a Young Man ist ein 1916 erschienener autobiografischer Roman des iri‐schen Schriftstellers James Joyce (1882−1941), der die intellektuelle und emotionale Entwicklung seines Alter Egos Stephen Dedalus darstellt. Vgl. Joyce, James: Portrait of the Artist as a Young Man, New York 1916.
75 Beil bemerkt, dass „die verzerrte Physiognomie, ja Grimasse, […] [als] ironische Hommage oder Persiflage auf die aus physiognomisch‐mimischen Studien hervorgegangene[n] Charakterkopf‐Büsten des im 18. Jahrhundert in Wien tätigen Franz Xaver Messerschmidt (1736−1783)“ erschei‐nen. Beil, (wie Anm. 19), S. 198.
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wurde in einer Auflage von 30 Stück hergestellt. Auf einem Holzbrett montiert und
mit einer Holzstange als Ständer, ist die Figur für die Aufstellung im Freien konzi‐
piert, wo sie allen erdenklichen Witterungen ausgesetzt ist und von Vögeln aufge‐
fressen werden soll.76 Bei den für den Selbstturm gegossenen Multiples bezieht sich
Roth auf die Form dieser Arbeit. Für das Schimmelmuseum sind die Büsten jedoch
ohne Vogelfutter gegossen und für den Innenraum in der Aufstellung eines Turmes
konzipiert. Gleichzeitig stellt der Selbstturm, wie auch der Zuckerturm, einen Rück‐
griff auf einen der zwei Ende der 1960er Jahre hergestellte Türme aus Schokoladen‐
und Zuckerbüsten dar, die sich im Roth‐Raum77 des Museums für Gegenwartskunst
in Basel befinden: der Selbstturm und der Löwenturm (Abb. 32). Der Rückgriff des
Selbstturmes aus dem Schimmelmuseum auf den Selbstturm in Basel wird zum einen
durch die Adaption des Namens – Selbstturm – deutlich, zum anderen auch durch
die formale Gestaltung des Turmes. Der Selbstturm im Schimmelmuseum ist nach
demselben Prinzip wie die beiden Türme in Basel aufgebaut, dessen Gestalt Roth in
den beiden Türmen antizipiert und zum ersten Mal die Skulpturen nach und nach zu
zwei Türmen hoch wachsen lässt. Wie der Selbstturm in Basel besteht derjenige im
Schimmelmuseum nur aus Selbstbildnisbüsten des Künstlers in Form eines alten
Mannes. Während Roth in Basel die Schokoladen‐ und Zuckerplastiken in den beiden
Türmen kombiniert, weist er den Materialien im Schimmelmuseum jeweils einen
eigenen Turm zu. So besteht der Selbstturm nur aus Schokoladenbüsten und der
Zuckerturm, wie noch zu zeigen sein wird, aus Zuckerbüsten.78 Sollte der bei
P.O.TH.A.A.VFB., so die von Roth selbst verwendete Abkürzung für Portrait of the
Artist as Vogelfutterbüste, intendierte Verfall vor allem durch Vögel herbei geführt
werden, fallen die Schokoladenbüsten im Schimmelmuseum wie die beiden Türmen
in Basel der Zeit, den klimatischen Bedingungen, aber auch Tieren wie Würmern und
Motten und den organischen Zerfallsprozessen der Schokolade zum Opfer: sie wer‐
76 Vgl. Ausst. Kat. Roth‐Zeit, (wie Anm. 2), S. 116. 77 Roth begann die Arbeit an den beiden Türmen in seinem Privatatelier. Nach dem Ankauf der Türme
1989 durch die Emmanuel Hoffmann Stiftung, kamen sie in den heutigen Roth‐Raum, der eigens für die Weiterführung der Arbeit angemietet wurde. Der Raum befindet sich in einem Gebäude gegenüber dem Museum für Gegenwartskunst, das seit 1980 Werke der Stiftung beherbergt. Vgl. Berkes, Peter: „Die Kunst und die Würmer – Dieter Roths verderbliche Ware“ In: Nike Bulletin, 3, Bern 1997, S. 8–11, hier S. 8 und 11.
78 Vgl. ebd., S. 9; Beil, (wie Anm. 19), S. 193−200.
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den mit der Zeit immer poröser, rissiger und brüchiger, sind mit Spinnweben und
Madenfäden behangen bis sie letztlich auseinander fallen. Durch die Luftfeuchtigkeit
wird die Schokolade heller und durch chemische Prozesse bildet sich der so genann‐
te Zucker‐ und Fettreif aus, der die Oberflächen der einzelnen Figuren strukturiert.79
Gleichzeitig kommt durch die turmartige Aufstellung ein neuer Aspekt hinzu und die
Figuren zerdrücken sich durch das enorme Gewicht, das auf ihnen lastet, mit der Zeit
gegenseitig. Die verschiedenen im Selbstturm verwendeten Schokoladensorten er‐
weisen sich dabei als unterschiedlich stabil. Je mehr Kakao die Schokoladensorte
enthält, desto haltbarer sind die Figuren: so sind die Büsten aus weißer Schokolade
fragiler als die aus dunkler.80 Die Anordnung der unterschiedlichen Schokoladensor‐
ten ist auf die einzelnen Etagen verteilt, jedoch sind sie nicht immer konstant ge‐
trennt und vermischen sich teilweise. Durch die temporären Einwirkungen, die Ver‐
änderungen des Materials durch organische Zerfallsprozesse sowie den unterschied‐
lichen Tierbefall variieren die Oberflächen bei jeder einzelnen Figur, so dass aus den
einheitlichen Multiples über die Zeit Unikate geworden sind, da sich kein Stück wie
das andere entwickelt respektive zersetzt. Roth greift bei den Einzelfiguren den Ty‐
pus der klassischen Porträtbüste mit ihrem inhärenten Ewigkeitsanspruch auf.
Gleichzeitig setzt er den Figuren das Altern und Vergehen gegenüber: so konstatiert
Wagner, dass dies zum einen das Altern und Vergehen des Materials betrifft und
zum anderen die Gestalt des Porträts, verdeutlicht durch die Physiognomie eines
alten Mannes. Es verbindet sich prozessuales Altern des Materials mit dem Altern
des Menschen.81
Der Zuckerturm, der nach einem ähnlichen Prinzip wie der Selbstturm aufgebaut ist,
besteht aus vers