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Eberhard Karls Universität Tübingen Kunsthistorisches Institut Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung Schriftliche Arbeit zur Erlangung des Akademischen Grades „Magistra Artium“ (M.A.) an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Eberhard Karls Universität Tübingen Tübingen, August 2008 Vorgelegt von: Désirée Lempart Schillerstraße 12, 73765 Neuhausen 1. Gutachterin: Professorin Dr. Barbara Lange 2. Gutachterin: Professorin Dr. Bettina Gockel

Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als ... · de, Obst oder Gemüse, die, wie der Name Schimmelmuseum bereits anklingen lässt, schimmeln und verfallen. Roth, der heute vornehmlich

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  • Eberhard Karls Universität Tübingen Kunsthistorisches Institut 

     

     

     

    Dieter Roths Schimmelmuseum: 

    Installation als Künstlerinszenierung  

      

    Schriftliche Arbeit zur Erlangung des Akademischen Grades  

    „Magistra Artium“ (M.A.) an der Fakultät für Kulturwissenschaften der  

    Eberhard Karls Universität Tübingen 

     

    Tübingen, August 2008 

     

     

    Vorgelegt von: Désirée Lempart 

    Schillerstraße 12, 73765 Neuhausen 

     

    1. Gutachterin: Professorin Dr. Barbara Lange 

    2. Gutachterin: Professorin Dr. Bettina Gockel 

  • Inhaltsverzeichnis 

    1. Einleitung ......................................................................................................... 3

    2. Schimmelmuseum ...........................................................................................10

    2.1. Aus dem Kutscherhäuschen entsteht das Schimmelmuseum.................... 10

    2.2. Werkbeschreibung ...................................................................................... 12

    2.2.1. Außenansicht ...................................................................................... 12

    2.2.2. Parterre ............................................................................................... 13

    2.2.3. Erster Stock ......................................................................................... 16

    2.3. Das Schimmelmuseum heute...................................................................... 18

    3. Organisches als künstlerisches Material ..........................................................20

    3.1. Stellenwert des Materials im Kunstdiskurs................................................. 20

    3.2. Dieter Roths Verwendung von organischen Materialien ........................... 25

    3.3. Zufall und Prozess ....................................................................................... 37

    4. Dieter Roths Inszenierung als Künstler ............................................................44

    4.1. Der Künstler im Kunstdiskurs der Moderne................................................ 44

    4.2. Dieter Roths Inszenierung als Erfahrungsgestalter:  Schöpfer und 

    Organisator künstlerischer Prozesse........................................................... 51

    4.3. Das Atelier als Darstellung von Authentizität des Künstlers....................... 57

    4.4. Dieter Roths Inszenierung durch Selbstmusealisierung ............................. 61

    5. Zusammenfassung...........................................................................................65

    6. Anhang ............................................................................................................69

    6.1. Bibliographie ............................................................................................... 69

    6.2. Abbildungsverzeichnis................................................................................. 80

    6.3. Abbildungen ................................................................................................ 85

  •       Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung 

    ‐3‐

    1. Einleitung  

    Es riecht. Und kitzelt in der Nase. Es klebt unter den Schuhen, es fliegt einem ins Gesicht. Noch  Stunden  später  scheint  es  irgendwo  zwischen  Socke  und Bein zu krabbeln. Der Gestank hängt in den Kleidern. So duftet Kunst.1 

     

    So beschreibt Silke Müller den die Besucher umfangenden Eindruck im Schimmelmu‐

    seums des  Schweizer Künstlers Dieter Roth2  (1930−1998).  Ihr Bericht erschien ein 

    Jahr nach dem Tod des Künstlers  in der Kunstzeitung art, und rückte das bis dahin 

    weitgehend  unbeachtete,  „geheime“3  Schimmelmuseum  in  den  Fokus  der Öffent‐

    lichkeit.  In der Nähe der Hamburger Außenalster entstand  im Zuge der Gründung 

    des Dieter Roth Museums von Dieter Roth und Philipp Buse zu Beginn der 1990er 

    Jahre  das  heute  nicht mehr  existente  Schimmelmuseum4. Die  Installation  besteht 

    aus  einer  alten,  verfallenen  Remise,  in  der  sich  über  zwei  Stockwerke  die Werke 

    Roths verteilen. Diese bestehen aus organischen Materialien wie Zucker, Schokola‐

    de, Obst oder Gemüse, die, wie der Name Schimmelmuseum bereits anklingen lässt, 

    schimmeln und verfallen. Roth, der heute vornehmlich durch seine Lebensmittelar‐

    beiten und großformatigen Assemblagen, die er gegen Ende seines Lebens geschaf‐

    fen hat, bekannt ist5, griff mit der Verwendung von organischen Materialien auf die 

    wichtige Phase seiner künstlerischen Arbeit der 1960er Jahre zurück und inszenierte 

    die Remakes dieser Arbeiten  im Schimmelmuseum neu. Diese wurden von Roth  in 

    1  Müller, Silke: „Das Zucker‐ Schoko‐Schimmelreich“ In:  art‐Das Kunstmagazin, Nr. 8, 1999, S. 36−47, hier S. 42. 

    2   Dieter (eigentlich Karl‐Dietrich) Roth führte im Laufe seiner künstlerischen Tätigkeit immer wieder neue Schreibweisen seines Namens ein (diter rot, Dieter Rot und Diter Roth). Die Verfasserin ver‐wendet im Folgenden die von Roth zu Ende seines Schaffens selbst verwendet Form „Dieter Roth“. Vgl. Ausst. Kat. Basel Schaulager 2003: Roth‐Zeit. Eine Dieter Roth Retrospektive, herausgegeben von Theodore Fischer u. Bernadette Walter, Texte von Dirk Dobke u. Bernadette Walter, Baden 2003, S. 42.  

    3   art‐Das Kunstmagazin, Nr. 8, 1999, Titelblatt. Das Schimmelmuseum war zunächst nur einem ein‐geweihten Kreis bekannt. Erst im Januar 1998 im Zuge der Gründung der Dieter Roth Foundation  wurde es auch für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht.  

    4   Im  Frühjahr  des  Jahres  2004 wurde  das  Schimmelmuseum  abgerissen.  Im  Internet  besteht  die Möglichkeit einen virtuellen Rundgang durch das ehemalige Schimmelmuseum  zu machen. URL: ‹http://www. dieter‐roth‐museum.de/schimmelmuseum/› [09.07.08]. 

    5   Roth war ein vielseitiger Künstler, der sich gleichzeitig mit unterschiedlichen Gattungen beschäf‐tigte. Er arbeitete mit der Malerei, der Grafik und Plastik,  fertigte Auflagenobjekte, beschäftigte sich mit dem Künstlerbuch, der Dichtung, Musik und Film. Auch gestaltete er Schmuckobjekte und Teppiche. Vgl. Dobke, Dirk: „Von der Schönheit des Verfalls – Dieter Roths Schimmelmuseum  in Hamburg“ In: Kunst + Architektur in der Schweiz, Heft 4, 2001, S. 54−57, hier S. 54. 

  •       Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung 

    ‐4‐

    den  Kontext  von musealer  Präsentation  und  Ateliersituation  gestellt:  Alle Werke 

    wurden vor Ort  zum Beispiel  in der Schokoladen‐ und Zuckerküche produziert und 

    werden mit den Materialien ihres Schaffungsprozesses, wie Gussformen, kombiniert 

    und museal präsentiert.  

     

    Die  Installation  Schimmelmuseum, mit  der  sich  Roth  zu  Ende  seines  Lebens  noch 

    einmal  als  Künstler  positioniert  und  inszeniert,  soll  im  Zentrum  der  vorliegenden 

    Betrachtung  liegen. Ziel  ist es, das Schimmelmuseum auf Roths künstlerische  Insze‐

    nierung hin zu untersuchen und aufzuzeigen, welche Rolle vom Künstlersein er hier‐

    bei von  sich entwirft. Durch die besondere Präsentationsform des Schimmelmuse‐

    ums äußert sich die Selbstinszenierung in verschiedenen Formen: Roth nimmt nicht 

    nur über seine ausgestellten Werke Bestimmungen zu seiner Künstlerrolle vor, son‐

    dern auch anhand der Präsentation seines Ateliers, die den Schaffensprozesses ver‐

    deutlicht, und den Aspekt der Selbstmusealisierung. Des Weiteren  legt er über den 

    Aspekt der Selbstmusealisierung  seine Position als Künstler gegenüber der Öffent‐

    lichkeit fest.  

      Damit schreibt er sich in die Tradition der Moderne ein, in der sich der Künst‐

    ler selbst und seine Stellung als Künstler thematisiert. Das kann sich innerhalb eines 

    Werks geschehen, in der Hervorhebung seines Arbeitskontexts oder seines Auftritts 

    in der Öffentlichkeit.  Im Gegensatz  zu vielen anderen Künstlern der Moderne, die 

    meist nur einen dieser Aspekte hervorheben, bearbeitet Roth alle drei Komponen‐

    ten zu seiner künstlerischen Selbstdarstellung in der Installation Schimmelmuseum.   

    Die Auffassung darüber, was ein Künstler  ist, bzw. wie und wo er sich selbst 

    inszeniert und positioniert, hat  sich  im Verlauf der Moderne gewandelt. Herrschte 

    anfangs der Typus des klassischen Künstlers, des autonomen Schöpfergenies, vor, so 

    veränderte sich dies mit dem beginnenden 20.  Jahrhundert. Die Avantgarden atta‐

    ckierten dieses Künstlerbild und unterzogen es einer kritischen Auseinandersetzung, 

    die mit dem von den Poststrukturalisten postulierten „Tod des Autors“6 eine theore‐

    tische Auseinandersetzung fand. Die Auffassung vom Künstlertum hatte sich grund‐

    6 Barthes, Roland: „Der Tod des Autors“  In: Texte  zur Theorie der Autorschaft, herausgegeben und kommentiert  von  Fotis  Jannidis,  Gerhard  Lauer, Matias Martinez  und  Simone Winko,  Stuttgart 2000, S. 185−193; Foucault, Michel: „Was ist ein Autor?“ In: Ebd., S. 198−233.  

  •       Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung 

    ‐5‐

    legend verändert und bis heute ist die Diskussion „durch eine radikale Hinterfragung 

    dieser metaphysischen Position von Autor und Künstler gekennzeichnet […]“7, in der 

    Künstler neue Wege  finden, sich  im Kunstsystem zu  inszenieren und zu positionie‐

    ren.  

    Ausgehend davon wird  in der Magistraarbeit gefragt, wie sich Roth  in einer 

    Zeit, die von der kritischen Auseinandersetzung mit dem Künstlersubjekt geprägt ist, 

    als  Künstler  verortet. Wie  inszeniert  er  sich  über  sein Werkverständnis,  indem  er 

    organische Materialien verwendet und diese verschimmeln und vergammeln  lässt? 

    Wie  legt er  seine Rolle als Künstler durch das Ausstellen  seiner Arbeitsmaterialien 

    und des Ortes der Werkherstellung  fest? Wie verwirklicht er sich  innerhalb der  In‐

    stallation  Schimmelmuseum,  die  durch  die  Erzeugung  eines  musealen  Kontexts 

    gleichzeitig den Aspekt der Selbstmusealisierung erfüllt? 

     

    Um  zu  einer  Antwort  zu  gelangen  und  Roth  anhand  des  Schimmelmuseums  als 

    Künstler positionieren zu können,  ist die Arbeit wie  folgt aufgebaut:  Im ersten Teil 

    der Arbeit  soll ein beschreibender Überblick über die  zu analysierende  Installation 

    gegeben werden. Dabei wird  zum einen die Entstehungsgeschichte des  Schimmel‐

    museums in den Blick genommen, zum anderen wird eine Übersicht über Anordnung 

    und Darstellung der Werke in der Installation gegeben. In einem kurzen Exkurs wird 

    aufgezeigt,  wie  sich  die  heutige  Situation  darstellt,  nachdem  das  Gebäude  des 

    Schimmelmuseum 2004 abgerissen wurde. (Kapitel 2)  

    Der  zweite  Teil  der  Arbeit widmet  sich  der  konkreten  Analyse  der  organi‐

    schen Werke  im Schimmelmuseum.  (Kapitel 3) Ziel  ist es, Roths Umgang und Ver‐

    wendung  der  organischen  Materialien  zu  beleuchten,  um  sein  Werkverständnis 

    deutlich zu machen. Vorab wird in einem materialgeschichtlichen Überblick betrach‐

    tet, wie sich die Bedeutung und die Art der Materialien im Verlauf der Moderne än‐

    derten und es möglich wurde, organische Materialien wie Lebensmittel in der Kunst 

    einzusetzen. Damit  soll  Roths Materialverwendung  in  einen  größeren  Kontext  ge‐

    stellt und gezeigt werden,  inwieweit er aktuelle Materialdiskussionen aufgreift und 

    welchen Stellenwert er seinen Materialien einräumt. Daraufhin werden die organi‐

    7  Wetzel, Michael: „Autor/Künstler“ In: Barck, Karlheinz u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe. His‐torisches Wörterbuch in 7 Bänden, 7 Bde., 1. Bd., Stuttgart/Weimar 2000, S. 480−544, hier S. 481. 

  •       Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung 

    ‐6‐

    schen  Arbeiten  im  Schimmelmuseum  untersucht,  um  Roths  Materialverwendung 

    darzulegen.  Anhand  dieser  werden  werkimmanente  Konstanten  ausgemacht  und 

    beschrieben, die  in der Folge der Analyse von Roths Selbstinszenierung anhand sei‐

    ner Werke dienen.  

    Der  folgende Teil der Arbeit untersucht die konkrete  Inszenierung Roths als 

    Künstler. (Kapitel 4) Um Roths Positionierung als Künstler vornehmen zu können, ist 

    es zunächst vonnöten, einen Überblick über die Vorstellung und das Bild des Künst‐

    lers  im Verlauf der Moderne zu geben. Es wird der klassische Künstlertypus vorge‐

    stellt und die Veränderungen, die sich aufgrund der theoretischen Auseinanderset‐

    zung  der  Poststrukturalisten  daraus  ergeben. Die  sich  zuvor  aus  der Werkanalyse 

    ergebenden Konstanten werden nun genutzt, um eine erste Positionierung Roths als 

    Künstler durch seine Werke vorzunehmen. Daran anschließend wird Roths Selbstin‐

    szenierung  anhand  der  Atelierdarstellung  im  Schimmelmuseum  heraus  gearbeitet 

    und abschließend der Aspekt der Selbstmusealisierung fokussiert.  

    Danach werden die Ergebnisse zusammengeführt, um Roths Künstlerinszenierung im 

    Schimmelmuseum zu subsumieren. 

     

     

    Forschungsstand  

     

    Insgesamt  ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Dieter Roth gering und 

    sehr  übersichtlich.  Erst mit  der Dissertation Dirk Dobkes Melancholischer Nippes‐ 

    Dieter Roths frühe Objekte und Materialbilder (1960−1975) wurden Teile von Roths 

    Schaffen zum Gegenstand kunstgeschichtlicher Untersuchungen.8 Dobke untersuch‐

    te  darin  die  ephemeren  Materialien  im  Werk  Roths  in  der  Zeitspanne  von 

    1960−1975 und setzte sich als Erster mit den frühen Material‐ und Schimmelbildern 

    auseinander.  In dieser Arbeit widmet er auch ein Kapitel der  Installation Schimmel‐

    museum.  Aufgrund  dieses  Bezugs  und  seiner  Ausrichtung  auf  die  Zeitspanne  von 

    8   Dobke, Dirk: Melancholischer Nippes – Dieter Roths  frühe Objekte und Materialbilder  (1960‐75), 

    Dissertation 1997, 2001 aktualisiert, mit Anmerkungen und Zeichnungen von Dieter Roth verse‐hen, Köln 2002. Zuvor gab es nur eine wissenschaftliche Untersuchung, die die literarischen Werke Roths  in den Blick nimmt. Vgl.  Schwarz, Dieter: Auf  der Bogen Bahn:  Studien  zum  literarischen Werk von Dieter Roth, Zürich, 1981. 

  •       Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung 

    ‐7‐

    1960−1975,  auf  die  in den Werken  der  Installation  des  Schimmelmuseums  zurück 

    gegriffen wird, stellt er unabhängig von der Tatsache, dass er mittlerweile gemeinhin 

    als der „Roth‐Kenner schlechthin  international bekannt und gefragt  ist“9, für meine 

    Arbeit eine wichtige Bezugsquelle innerhalb der Forschungsliteratur dar.  

    Mit der Gründung der Dieter Roth  Foundation 1998 unter der  Leitung  von 

    Dobke  folgten Werkverzeichnisse  und  Publikationen,  die  einzelne Werkkomplexe 

    aus dem  Schaffen Roths behandeln.10 Die Ausstellungspublikation  zur Dieter Roth 

    Retrospektive, die im Jahr 2003 im Basler Schaulager stattfand, thematisiert das ge‐

    samten Leben und Werk Roths.  11 Schließlich  ist auf den Sammelband Über Dieter 

    Roth  ‐ Beiträge und Aufsätze hinzuweisen, der nach einem die Ausstellung beglei‐

    tenden  Symposium  entstand.12  Hervorzuheben  sind  der  Beitrag  von  Beatrice  von 

    Bismarck „Elend und Beneidenswertes: Das Atelier und seine Ausstellung“13, der sich 

    der  Funktion des Ateliers  von Roth widmet, und der Beitrag  von Monika Wagner 

    „Vom  Umschmelzen.  Plastische Materialien  in  Kunst  und  Küche“14,  der  sich  mit 

    Roths Lebensmittelwerken auseinandersetzt. Die neuesten Publikationen  zu Dieter 

    Roth sind die Monografie von Niels Röller, der Dieter Roth mit Oswald Wiener unter 

    dem Aspekt des Medienverständnisses vergleicht und die Dissertation von Benjamin 

    Meyer‐Krahmer, die sich mit dem literarischen Werk Roths, vor allem dem Mundun‐

    culum  unter  den  Aspekt  der  Selbstbeobachtung  beschäftigt.15 Die  Forschungslage 

    9    Gardner, Belinda Grace: „Verwalter der Verfallskunst“ In: Kunstzeitung, Mai 2008, S. 22. 10   Dobke, Dirk/Dieter Roth Foundation  (Hrsg.): Dieter Roth – Originale, mit Texten von Dirk Dobke 

    und Laszlo Glozer, London 2002; Dobke, Dirk/Dieter Roth Foundation (Hrsg.): Dieter Roth in Ame‐rika,  London  2004;  Dobke,  Dirk/Dieter  Roth  Foundation  (Hrsg.):  Dieter  Roth  Druckgraphik 1974−1998, London 2003; Dobke, Dirk/Dieter Roth Foundation  (Hrsg.): Dieter Roth  in Print – Ar‐tist`s Books/Künstlerbücher, New York 2006; Dobke, Dirk/Dieter Roth Foundation  (Hrsg.): Dieter Roth: Bücher+Editionen, London 2004.  

    11  Ausst. Kat. Roth‐Zeit, (wie Anm. 2). 12    Söntgen, Beate/Vischer, Theodora (Hrsg.): Über Roth. Beiträge und Aufsätze, Beiträge des Sympo‐

    siums  vom  4.  und  5.  Juli  2003  zur  Ausstellung  „Roth‐Zeit.  Eine  Dieter  Roth  Retrospektive“  im Schaulager Basel, Basel 2004. 

    13 von Bismarck, Beatrice: „Elend und Beneidenswertes: Das Atelier und seine Ausstellung“ In: Sönt‐gen, Beate/Vischer, Theodora (Hrsg.): Über Dieter Roth. Beiträge und Aufsätze, Beiträge des Sym‐posiums vom 4. und 5.  Juli 2003  zur Ausstellung „Roth‐Zeit. Eine Dieter Roth Retrospektive“  im Schaulager Basel, Basel 2004, S. 171−185. 

    14 Wagner, Monika:  „Vom Umschmelzen.  Plastische Materialien  in  Kunst  und  Küche“  In:  Söntgen, Beate/Vischer, Theodora  (Hrsg.): Über Dieter Roth. Beiträge und Aufsätze, Beiträge des Symposi‐ums vom 4. und 5. Juli 2003 zur Ausstellung „Roth‐Zeit. Eine Dieter Roth Retrospektive“ im Schau‐lager Basel, Basel 2004, S. 121−135.  

    15  Röller, Niels: Ahabs Steuer. Navigationen zwischen Kunst und Naturwissenschaft, Berlin 2005; Mey‐er‐Krahmer, Benjamin: Selbstbeobachtung als künstlerischer Schaffensprozess, München 2007.  

  •       Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung 

    ‐8‐

    zum Schimmelmuseum stellt ein Forschungsdesiderat dar, eine umfassende wissen‐

    schaftliche Untersuchung wurde bisher nicht geleistet. Es gibt keine Monografie da‐

    zu und die vorhandene Literatur besteht aus einigen Aufsätzen, kleinen Kapiteln  in 

    verschiedenen  Roth‐Publikationen  und  diversen  Zeitschriften‐  und  Zeitungsarti‐

    keln.16 Diese interpretieren das Schimmelmuseum vor allem hinsichtlich der Materia‐

    lien und der besonderen Ausstellungssituation, der Verbindung  zwischen Ateliersi‐

    tuation und musealer Präsentation. Die künstlerische Strategie wird  jedoch nicht  in 

    den Blick genommen und wurde von der Forschung bisher nicht untersucht.  

    Zu  dem  umfangreichen  Thema Material  existieren  diverse  Standardwerke, 

    die ich für diese Arbeit zur Kenntnis genommen habe. Im Folgenden werden aber je 

    nach Kontext nur einzelne Werke heran gezogen werden können.17  Besonders rele‐

    vant erscheint mir die Sichtweise von Monika Wagner, deren Arbeit die Grundlage 

    meines Kapitels 3.1. darstellt.18 Die Publikation von Ralf Beil setzt sich ausschließlich 

    mit  dem  Lebensmittel  als  künstlerischem Material  auseinander  und widmet  Roth 

    und dessen Materialverwendung ein Kapitel.19 Für die Auseinandersetzung mit dem 

    Künstlertopos bildet der Aufsatz „Autor/Künstler“20 von Michael Wetzel einen wich‐

    tigen Bezugspunkt ebenso wie das Überblickswerk Was ist ein Künstler?21 von Vere‐

    na Krieger, die beide die Entwicklung des Künstlerbegriffs  im Verlauf der Kunstge‐

    16 Die Aufsätze zum Schimmelmuseum wurden alle von Dirk Dobke verfasst. Dobke, Dirk: „Kunst als 

    Verfallsprozeß  – Das  Schimmelmuseum  von Dieter Roth“  In: VDR  (Verband der Restauratoren), Schriftenreihe Band 1, München 2005, S. 114−120; Dobke, (wie Anm. 5); Herstatt, Claudia: „Schim‐melmuseum. Wie konserviert man verwesende Schokolade? Dieter Roths Kunstwerk zieht um“ In: Die  Zeit,  Nr.  9,  19.  Februar  2004;  Knöfel,  Ulrike:  „Klebrige  Rebellion“  In:  Der  Spiegel,  Nr.  34, 21.08.2000,  S.  204; Neumann,  Brigitte:  „Kunst  die  krabbelt,  kackt  und  suppt:  über  den Maler, Zeichner, Bildhauer und Grafiker Dieter Roth und dessen Schimmelmuseum“ In: Süddeutsche Zei‐tung, 26./27.Februar 2000; Rothe, Susanne: „Ein Paradies zwischen Bröseln und Schoko‐Ruinen“ In: Bonner Generalanzeiger, 15.12.2001; Müller, (wie Anm. 1).   

    17  Hackenschmidt,  Sebastian/Rübel,  Dietmar/Wagner,  Monika  (Hrsg.):  Lexikon  des  künstlerischen Materials. Werkstoffe der Kunst von Abfall bis Zinn, München 2002; Rübel, Dietmar/Wagner, Mo‐nika (Hrsg.): Material in Kunst und Alltag, Berlin 2002; Rübel, Dietmar/Wagner, Monika/Wolff, Ve‐ra (Hrsg.): Materialästhetik. Quellentexte zu Kunst, Design und Architektur, Berlin 2005; Haus, And‐reas/Hofmann, Franck/Söll, Änne: Material im Prozess. Strategien ästhetischer Produktivität, Berlin 2000; Wagner, Monika: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München 2001; Hoormann, Anne: Medium und Material. Zur Kunst der Moderne und Gegenwart, herausge‐geben von Dieter Burdorf, Mechthild Fend, Bettina Uppenkamp, München 2007. 

    18 Wagner, Monika:  „Material“  In: Barck, Karlheinz u. a.  (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe. Histori‐sches Wörterbuch in 7 Bänden, 7 Bde., 3. Bd., München/Stuttgart 2001, S. 866−882.  

    19 Beil, Ralf: „Salami‐Sonnenfett oder: der  fröhliche Schimmelpilz“  In: Ders.: Künstlerküche. Lebens‐mittel als Kunstmaterial: von Schiele bis Jason Rhodes, Köln 2002, S. 165−209. 

    20  Wetzel, (wie Anm. 7). 21  Krieger, Verena: Was ist ein Künstler? Genie‐Heilsbringer‐Antikünstler, Köln 2007.  

  •       Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung 

    ‐9‐

    schichte aufzeigen. Wolfgang Rupperts grundlegende Arbeit über die Herausbildung 

    des modernen Künstlers  im 19. und frühen 20. Jahrhunderts22 bildet die Grundlage 

    für die Herausarbeitung der Figur des klassischen Künstlers der Moderne in meinem 

    Kapitel 4.1., auf deren Folie, die Einordnung Dieter Roths erfolgt. Die Essays von Ro‐

    land Barthes „Tod des Autors“23 und Michel Foucaults „Was ist ein Autor?“24 stellen 

    einen grundlegenden Paradigmenwechsel  innerhalb des kunsttheoretischen Diskur‐

    ses der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar, weswegen ich ihnen eine ausführli‐

    che Betrachtung widme.  

     

    22 Ruppert, Wolfgang: Der moderne Künstler. Zur Sozial‐ und Kulturgeschichte der kreativen Individua‐

    lität in der kulturellen Moderne im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main 1998.  23 Barthes, (wie Anm. 6). 24 Foucault, Michel: „Was  ist ein Autor?“  In: Texte zur Theorie der Autorschaft, herausgegeben und 

    kommentiert  von  Fotis  Jannidis, Gerhard  Lauer, Matias Martinez  und  Simone Winko,  Stuttgart 2000, S. 198−233. 

  •       Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung 

    ‐10‐

    2. Schimmelmuseum 2.1. Aus dem Kutscherhäuschen entsteht das Schimmelmuseum 

     

    Die Installation Schimmelmuseum entstand zu Beginn der 1990er Jahre im Zuge der 

    Gründung des Dieter Roth Museums. Ende der 1980er Jahre hatten Dieter Roth und 

    sein  langjähriger  Förderer,  Freund und  Sammler Philipp Buse die  Idee,  für dessen 

    Sammlung, die  ausschließlich  aus Werken Roths bestand,  in Hamburg ein eigenes 

    Museum zu errichten. Aus dieser Idee resultierte  letztlich nicht nur das Dieter Roth 

    Museum, sondern auch das Schimmelmuseum.  

    Buse  und  Roth  lernten  sich  um  1970  über  den  Künstler  und  Drucker  Karl 

    Schulz kennen, mit dem Roth an druckgrafischen Arbeiten zusammenarbeitete. Seit 

    Beginn  ihrer Bekanntschaft kaufte Buse Roth  immer wieder Kunstwerke ab und bil‐

    dete so den Grundstock für seine anwachsende Sammlung. Gleichzeitig unterstützte 

    und beriet er Roth beim Verkauf seiner Werke an weitere Sammler und Kunsthänd‐

    ler und beide gründeten 1973 den Kunstvertrieb Dieter Roth Pictures25. Als sich Buse 

    1974 mit einer eigenen Anwaltskanzlei  in Hamburg niederließ, stellte er Roth einen 

    Atelierraum zur Verfügung, den dieser seit den 1970er Jahren regelmäßig nutzte.26 

    Der Anwalt wurde so  immer mehr zum Förderer und Mäzen des Künstlers, dessen 

    Beziehung  in dem zu gründenden Dieter Roth Museum und dem Schimmelmuseum 

    ihren Höhepunkt finden sollte.27   

    Mit  der  Sammlung  Buse,  die  heute  eine  der  größten  Roth‐Sammlungen 

    weltweit darstellt28, wurde sukzessive ein Ort geschaffen, der einen repräsentativen 

    Querschnitt durch das künstlerische Œuvre Roths darstellt. Buse, der sich als Samm‐

    ler ausschließlich  für Roth engagierte, besaß gegen Ende der 1980er  Jahre bereits 

    große Teile des Rothschen Werks. Da sich beide aber erst in den 1970er Jahren ken‐

    25 Buse organisierte den Direktvertrieb von Roths Arbeiten, der damit „den [von ihm] stets mit Miss‐

    trauen und Skepsis bedachten Kunsthandel umging“. Ausst. Kat. Roth‐Zeit, (wie Anm. 2), S. 150. 26 Roth unterhielt mehrere Ateliers gleichzeitig, darunter eins in Island, Basel, Stuttgart und Hamburg. 

    Vgl. Dobke, Dirk: „Die Dieter Roth Foundation. Ein Künstlermuseum.“ In: Ders./Dieter Roth Foun‐dation  (Hrsg.):  Dieter  Roth‐  Originale,  mit  Texten  von  Dirk  Dobke  und  Laszlo  Glozer,  Ham‐burg/London 2002, S. 195−215, hier S. 196.  

    27  Vgl. ebd., S. 195. 28 Die Sammlung Buse stellt neben der Sammlung Sohm, die sich im Archiv Sohm in der Staatsgalerie 

    Stuttgart befindet, die umfangreichste Roth‐Sammlung dar. Heute besitzt das Dieter Roth Museum rund 500 Gemälde, Skulpturen und Installationen, etwa 1400 Druckgraphiken, circa 250 Künstler‐bücher sowie sämtliche Multiples und Schmuckeditionen des Künstlers. Vgl. ebd., S. 195.  

  •       Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung 

    ‐11‐

    nen  lernten,  fehlten  wichtige Werke  aus  den  1950er  und  1960er  Jahren  in  der 

    Sammlung.  Buse  begann mit Hilfe  Roths  den  Bestand mit  dessen  Frühwerken  zu 

    komplettieren,  indem er  in den 1980er  Jahren von ehemaligen Sammlerinnen und 

    Sammlern über 2.000 Roth‐Arbeiten abkaufte. Der Künstler  selbst  steuerte Werke 

    aus früheren Werkphasen bei, die sich in seinem Besitz befanden, und rekonstruier‐

    te verschollene kinetische Objekte.29  

    Anfang  der  1990er  Jahre  erwarb  Buse  für  den mittlerweile  umfangreichen 

    Bestand seiner Sammlung in Hamburg ein Grundstück in der Nähe der Außenalster, 

    um darauf das Privatmuseum für Roth zu errichten. Darauf befand sich ein leer ste‐

    hendes Häuschen, das früher von einem Hausmeister oder Chauffeur einer reichen 

    hanseatischen Familie genutzt wurde und nun dem Neubau des Museums weichen 

    sollte. Das so genannte Kutscherhäuschen war in einem baufälligen Zustand, es hat‐

    te  feuchte und  schimmlige Wände, von denen  sich bereits die Tapeten  lösten.  Im 

    Parterre befanden sich zwei nebeneinander liegende Garagen, einschließlich eines in 

    Autowerkstätten üblichen Arbeitsgrabens, mit dessen Hilfe Autos von unten  repa‐

    riert werden konnten. Hinter den Garagen erstreckten sich zwei weitere hinterein‐

    ander liegende Räume. Im ersten Stock befand sich die dazugehörige Wohnung.30  

    Als Roth das vorgefundene Gebäude mit seinen Altersspuren sah, entschied 

    er  sich,  es nicht  abreißen  zu  lassen. Das  Kutscherhäuschen  sollte  keinem Neubau 

    weichen, sondern Teil einer Installation werden – des Schimmelmuseums – und bil‐

    det  somit dessen  architektonischen Rahmen. Buse  stoppte daraufhin die Neubau‐

    pläne und Roth nahm stattdessen die Hängung seiner Werke in der Stadtvilla Buses, 

    im Kanzleigebäude wie auch den Privaträumen31 vor, die somit zum retrospektiven 

    Dieter Roth Museum wurden.32  

      Roth  begann  im  Frühjahr  1991 mit  der  Arbeit  am  Schimmelmuseum  und 

    kennzeichnete mit seinem Sohn Björn die Stellen, an denen Veränderungen vorge‐

    29 Vgl. Ausst. Kat. Roth‐Zeit, (wie Anm. 2), S. 252.  30 Vgl. Dobke, (wie Anm. 8), S. 124. 31 Nach dem Tod Roths  im  Jahr 1998 und dem öffentlichen  Interesse am Dieter Roth Museum gab 

    Buse die Wohnräume auf und überließ sie der Dieter Roth Foundation fortan als Museum. Nur die Kanzleiräume  im Erdgeschoss, die auch zum Museum gehören, werden noch heute  in  ihrem ur‐sprünglichen Zweck verwendet. Vgl. Dobke, (wie Anm. 26), S. 211.  

    32 Vgl. Dobke, (wie Anm. 8), S. 55. Die Idee eines Museumsneubaus wurde von beiden nicht verwor‐fen, sondern erstmal nur zurück gestellt. Bei Baufälligkeit des bestehenden Gebäudes, sollte mit einem Neubau begonnen werden. Vgl. Dobke, (wie Anm. 26), S. 202. 

  •       Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung 

    ‐12‐

    nommen werden  sollten.  Es wurden Markierungen  für neue  Türen  getroffen,  alte 

    Türen verbreitert oder Zwischenwände heraus gebrochen und die Raumaufteilung 

    der beiden Etagen  im Sinne einer geplanten Präsentation Roths verändert. Die un‐

    verputzten Bruchkanten der Wände ließ er stehen und fixierte diese mit Klarlack, um 

    die  Eingriffe  am  Haus  erkennbar  bleiben  zu  lassen.  Die  handwerklichen  Arbeiten 

    übernahmen Björn Roth und isländische Freunde, die auch bei weiteren großen Aus‐

    stellungsprojekten Roths für ihn tätig waren.33  

     

     

    2.2. Werkbeschreibung34 

     

    Anhand der räumlichen Aufteilung wird im Folgenden ein Eindruck des Schimmelmu‐

    seums gegeben. Bei der sich über zwei Etagen (Abb. 1 u. 2) erstreckenden Installati‐

    on soll der Blick des Betrachters nachgezeichnet und die sich ihm darbietende Situa‐

    tion aufgezeigt werden. Hauptaugenmerk  liegt dabei auf der Positionsbestimmung 

    und  Anordnung  der Werke.  Eine  ausführliche  Beschreibung  einzelner Werke  und 

    deren Analyse erfolgt in Kapitel 3.2.  

     

     

    2.2.1. Außenansicht  

    Auch die Außenfassade und den Garten bezog Roth in die Installation Schimmelmu‐

    seum mit ein. Geplant war die alte Remise von außen zuwachsen und den Vorgarten 

    im  Laufe der Zeit verwildern  zu  lassen. Dazu hatte er auf dem Balkon und an der 

    Mauer Efeu und Wein anpflanzen  lassen, die das Gebäude einwuchern sollten. Der 

    Vorgarten wurde ebenfalls bepflanzt und kleine (Abfall‐) Plastiken in ihm arrangiert. 

    33 Vgl. Dobke, (wie Anm. 26), S. 204. 34 Da das Schimmelmuseum heute nicht mehr existent  ist, beziehe  ich mich  in meiner Beschreibung 

    auf folgende Quellen: virtueller Rundgang im Internet, Abbildungen einzelner Werke, DVD zu Die‐ter Roth und die Beschreibungen in den Aufsätzen zum Schimmelmuseum. Diese können aufgrund des ephemeren Charakters der Installation ebenfalls nur einen bestimmten Zustand wiedergeben, da das Schimmelmuseum einem kontinuierlichen Verfallsprozess unterliegt. Vgl. ‹http://www. die‐ter‐roth‐museum.de/schimmelmuseum/›  [09.07.08];  Jud,  Edith:  Dieter  Roth,  DVD,  Zürich  2004, 115 min.; Dobke, Dirk: „Von der Schönheit des Verfalls – Dieter Roths Schimmelmuseum  in Ham‐burg“  In: VDR  (Verband der Restauratoren), Schriftenreihe Band 1, München 2005, S. 114−120; Dobke, (wie Anm. 8),  S. 124−134. 

  •       Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung 

    ‐13‐

    Bereits nach kurzer Zeit musste der Bewuchs des Hauses allerdings wieder entfernt 

    werden, da eine Mahnung vom Bezirksamt den Eigentümer Buse dazu aufforderte, 

    das Haus  in einen den umstehenden Häusern entsprechenden Zustand zu bringen. 

    Das Bezirksamt berief sich auf die bestehende Außenalsterverordnung, die „für die 

    Wohnbezirke  um  die  Alster  einen  gewissen  baulichen  status  quo  vorschreibe“35. 

    Buse ließ daraufhin im Frühjahr 1996 alle Pflanzen entfernen, den Vorgarten roden, 

    mit Kies aufschütten und das Gebäude weiß streichen.36 (Abb. 3) 

     

     

    2.2.2. Parterre   

    Durch  eine  Eingangstür  tritt  der  Besucher  in  einen  schmalen  Korridor. An  dessen 

    Wand befinden  sich  farbige,  kristallen  leuchtende Zuckerreliefs  (Abb. 4) auf Grau‐

    pappen, die auf Holplatten aufgezogen  sind. Sie weisen eine bunte Farbigkeit auf, 

    und die einzelnen farblichen Zuckerreste bilden abstrakte Strukturen. Diese Materi‐

    albilder  stellen  ein Nebenprodukt des Gießens der  Zuckerfiguren  aus dem Haupt‐

    raum dar. Auf den sich mitten im Raum befindenden Arbeitstischen zum Gießen der 

    Zuckerfiguren liegen die Graupappen unter den Gießformen, die so beim Gießen mit 

    den Zuckerresten überzogen werden. Roth entfernte die überzuckerten Pappen, zog 

    sie auf Holzplatten auf und hängte sie als Tafelbilder an die Wand, was  ihnen den 

    Charakter  von  eigenständigen  Kunstwerken  verleiht. Am  Ende  des  Korridors  führt 

    eine  geschwungene  Treppe  in  die  obere  Etage  und  in  den  hinteren  Teil  des  Kut‐

    scherhäuschens in die Küchenzeile für den alltäglichen Gebrauch und in die Schoko‐

    ladenküche.  

    Rechts  von der Treppe gelangt man  in den Hauptraum der  Installation mit 

    dem  für Autowerkstätten üblichen Arbeitsgraben.  In der  linken Raumhälfte stehen 

    mit dem Selbstturm und dem Zuckerturm zwei zentrale Arbeiten der Installation, die 

    den Raum dominieren. Aus dem Arbeitsgraben heraus wächst der Selbstturm (Abb. 

    5), für den die Decke durchbrochen wurde und der sich über zwei Etagen auf einer 

    35 Dobke, (wie Anm. 26), S. 209. Hervorhebung im Original.  36 Vgl. ebd., S. 209f. 

  •       Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung 

    ‐14‐

    Gesamthöhe von zehn Metern erstreckt. Er besteht aus kleinen in weißer, Vollmilch‐ 

    und Zartbitter‐Schokolade gegossenen Multiples, die die Physiognomie eines alten 

    Mannes mit großen Ohren, einem hervorkragendem Kinn und einer  langen Haken‐

    nase  zeigen  und  die  Selbstbildnisbüsten  Roths  sind.  Sie  sind mit  kleinen  Löchern 

    durchsetzt  und  an  ihrer Oberfläche mit Motten‐  und  Spinnweben  behangen.  Die 

    einzelnen Selbstbildnisse  sind auf übereinander  liegenden Glasplatten angeordnet, 

    die seitlich von einem Metallgestell gerahmt werden. Die Figuren stehen in strenger 

    und geschlossener Anordnung und blicken alle  in dieselbe Richtung. Teilweise sind 

    sie von der Last der oberen Etagen bereits eingedrückt worden und an den Außen‐

    seiten des Turmes herausgepresst.  

      Direkt neben dem Selbstturm  ist der Zuckerturm  (Abb. 6) aufgebaut. Dieser 

    steht  zur einen Hälfte  im ehemaligen Arbeitsgraben,  zur anderen auf dem Fußbo‐

    den, und reicht bis an die Zimmerdecke des unteren Geschosses. Er besteht aus mit 

    Lebensmittelfarbe, Acrylfarbe, Tusche oder Tinte bunt eingefärbten Zuckerfiguren. 

    Diese stellen das Selbstporträt Roths, das so genannte Löwenselbst, ein Selbstport‐

    rät des Künstlers in Form eines Löwenkopfes, und zwei Mischwesen daraus dar. Die 

    Figuren  sind  auf  runden Glasplatten  aufgestellt, die  seitlich  von einem Holzgestell 

    gestützt werden. Sie sind in einer runden Formation aufgestellt und die Vorderseiten 

    der Büsten weisen nach außen. 

      In  der Mitte  des Hauptraumes  ist  ein Arbeitstisch  (Abb.  7)  aufgestellt,  auf 

    dem die Silikon‐Gussformen zum Gießen der Zucker‐ und Schokoladenplastiken ste‐

    hen. Dahinter befindet sich die so genannte Zuckerküche  (Abb. 8) mit Herdplatten 

    und Töpfen zum Erhitzen des Zuckers, Farben zum Einfärben der Zuckermasse und 

    den dazu erforderlichen Arbeitsgeräten. Eine weitere Holzstellage  auf Rädern,  auf 

    der dicht aneinandergereiht Schokoladenlöwen aufgestellt sind, befindet sich rechts 

    vom  Eingang  des  Hauptraumes.  Der  Schokoladenlöwenturm  (Abb.  9)  ist  wie  der 

    Selbstturm  aufgebaut:  die  löwenartigen Multiples  tragen  sich  durch  die  auf  ihren 

    Köpfen platzierte Glasplatte selbst. An der Wand hinter der Stellage hängt eine Blei‐

    stiftzeichnung Roths, welche die Anordnung der Löwen anzeigt.  

      Links davon, frei im Raum stehend, befindet sich ein Block mit in Schokolade 

    eingegossenen Gartenzwergen mit  dem  Titel Coquillen‐Zwerge  (Abb.  10)  aus  dem 

    Jahr 1994. Der Block besteht aus zwölf aufeinander gestapelten Gartenzwergen, die 

  •       Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung 

    ‐15‐

    jeweils einzeln in Schokolade versenkt wurden. Die Ummantelungen aus Schokolade 

    haben  eine  sich  verjüngende  Quaderform mit  abgerundeten  Ecken.  Die  Trichter‐

    form, die der schokoladigen Ummantelung ihre Form gibt, steht neben dem Objekt. 

    Von den Gartenzwergen sind nur noch ihre roten Zipfelmützen zu erkennen, die als 

    signifikantes  Zeichen  der  versteckten  Figur  aus  der  Schokolade  herausragen.  Die 

    zwölf Zwerge sind gegenläufig aufeinander gestapelt und bilden somit  in  ihrer Ge‐

    samtheit einen großen Schokoladenquader. 

      Eine weitere große Arbeit, Obstfenster (Abb. 11), die sich rechts neben dem 

    Löwenselbstturm  befindet,  besteht  aus  sechs  doppelt  verglasten Holzrahmen,  die 

    von Roth mit verschiedenen Obstsorten gefüllt wurden. Von dem sich mit der Zeit 

    zersetzenden Obst  ist nur noch ein dunkler Bodensatz übrig, der  in den einzelnen 

    Rahmen unterschiedliche Formen angenommen hat. Auf dem Regal über den Coquil‐

    len‐Zwergen befinden sich verschiedene Einmachgläser in einer Reihe, die mit einer 

    Flüssigkeit gefüllt sind. Diese ist die beim Zersetzungsprozess des Obsts austretende 

    Flüssigkeit, die  in Blumenkästen aufgefangen und von Roth abgekocht wurde (Abb. 

    12). Hinter der Arbeit Coquillen‐Zwerge  lehnt an der Wand eine weitere Arbeit, die 

    den Titel Flacher Behälter (Abb. 13) trägt. Sie besteht aus einer Metallkonstruktion 

    in Form eines Fensters, die an Vorder‐ und Rückseite verglast ist. Zwischen den Glas‐

    scheiben befindet sich ein hölzerner  trichterförmiger Einsatz zum Befüllen des Ob‐

    jekts sowie ein Metallgriff zum Öffnen. Auch hier ist vom ursprünglichen Inhalt, Do‐

    sengemüse, nur mehr ein dunkler Bodensatz zu erkennen.  

      Vom Hauptraum  aus  gelangt man durch einen Durchbruch  in der Wand  in 

    zwei tiefer liegende Räume. Hier befinden sich Roths Gewürzobjekte. Alle Arbeiten, 

    bis auf drei an der Wand gelehnte Gewürzfenster (Abb. 14), sind frei  im Raum ste‐

    hend. Sie sind nach einem ähnlichen Prinzip konzipiert und bestehen aus mehreren 

    aneinander gereihten Holzrahmen, die auf beiden  Seiten  verglast  sind.  Jeder Rah‐

    men ist mit mindestens einem Gewürz gefüllt, teilweise auch mit mehreren Gewürz‐

    schichten übereinander.  Einige Objekte  lassen  sich durch  einen Metallgriff  an der 

    oberen Seite des Rahmens öffnen, um daran  zu  riechen. Das Gewürzkubikel  (Abb. 

    15) besteht aus mehreren kleineren Kuben, in denen sich die unterschiedlichen Ge‐

    würze auftürmen. Die Tripleanisuhr (Abb. 16) und die Knoblauchtruhe (Abb. 17) be‐

    stehen jeweils nur aus den im Titel benannten Gewürzen Anis und Knoblauch.  

  •       Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung 

    ‐16‐

      An der Rückwand des hinteren Raumes befindet sich senkrecht an der Wand 

    befestigt ein großes Inselbild aus Lebensmitteln: die Große Insel Nr. 2 (Abb. 18). Auf 

    einer zwei mal zwei Meter messenden blau bemalten Holzplatte  ist ein undefinier‐

    barer Schimmelhaufen entstanden, dessen Materialien sich zu einer unbestimmba‐

    ren Masse zersetzt haben. Zu erkennen sind noch einige Kunststoffteile, Plastikbe‐

    cher und Deckel sowie Gips und metallene Bestückungen. Überdeckt wird der Hau‐

    fen mit einer durchsichtigen Kuppe aus Plexiglas,  in die mehrere Löcher hinein ge‐

    bohrt wurden.  

    Neben der Arbeit befindet sich, über zwei Stufen zu erreichen, die etwas hö‐

    her  gelegene  Schokoladenküche  (Abb.  19),  in der  alle  aus  Schokolade  gegossenen 

    Arbeiten des Schimmelmuseums entstanden sind. Auf die schokoladeverschmierten 

    Kochplatten hat sich eine dicke Schicht aus Schokolade gelegt, und die auf den Koch‐

    platten stehenden Kochtöpfe zum Erhitzen des Materials sind ebenfalls mit Schoko‐

    lade überzogen. Neben den Silikongussformen zum Gießen der Schokoladenfiguren 

    finden sich in der Schokoladenküche weitere Utensilien, die zum Gießen erforderlich 

    sind. Die komplette Küchenzeile ist mit einem Film aus Schokolade überzogen.  

     

     

    2.2.3. Erster Stock  

    Über eine Treppe im Eingangsbereich gelangt man  in den ersten Stock. Die Wände, 

    die noch Reste der ursprünglichen Bekachelung, der Tapeten oder Bemalungen zei‐

    gen, sind in verschiedene Abschnitte gegliedert und jeweils hinter Plexiglas gerahmt. 

    Die ungerahmte Fläche zwischen den Rahmen  ist grau oder gelb bemalt, wodurch 

    die  bildhafte  Struktur  des  gerahmten  Bereiches  betont wird.  Roth  präsentiert  die 

    Verfallsspuren  der  letzten  Jahre  als  gefasste  Kunstwerke  und  bezeichnet  sie  als 

    Fundbilder  (Abb. 20). Vor den  gerahmten Wandflächen befinden  sich  in der Nähe 

    des  Treppenaufgangs mehrere  gegossene  Schokoladenfiguren  auf dem  Fußboden. 

    Links  davon  vor  dem  Fenster  steht  die  Plastik  Große  Dame  (Abb.  21),  ein  längs 

    durchgeschnittener Haufen Abfälle. Auf einer Tischplatte wurden die Abfälle aufge‐

    türmt und anschließend mit mehreren Schichten Acrylfarbe, Zucker und Schokolade 

  •       Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung 

    ‐17‐

    übergossen. Die  längs zerteilten Hälften wurden aufrecht aufgebaut und auf einen 

    hölzernen  Fuß  aufgestellt.  Einige  Teile  der  Plastik  sind  bereits  herab  gefallen  und 

    befinden  sich eingesammelt  in einem Karton neben der Plastik oder daneben  auf 

    dem Boden liegend. Links von der Großen Dame setzt sich der Selbstturm durch den 

    Deckendurchbruch ins Obergeschoss fort. Seine rahmende Metallkonstruktion reicht 

    bis an die Decke, jedoch sind die einzelnen Schichten der Schokoladenselbstbildnisse 

    nur bis zu drei Viertel der Raumhöhe aufgetürmt.  

      In der Raummitte befindet sich das Büro des Künstlers mit Schreibtisch, Tele‐

    fon und Arbeitsmaterialien. Auf einem in die Trennwand eingelassenen Regal hinter 

    dem Schreibtisch stehen die Prototypen der später aus Schokolade und Zucker ge‐

    gossenen  Objekte  in  Gips.  Im  dahinter  liegenden  Raum  befinden  sich  auf  einem 

    Glasregal  weitere  Variationen  von  in  Schokolade  eingegossenen  Gartenzwergen, 

    darunter ein Gartenzwerg, der  in einem blauen Eimer samt Kelle  in der Schokolade 

    versenkt worden ist (Abb. 22), und die Arbeit Gartenzwerg mit Laterne (Abb. 23), die 

    einen Gartenzwerg  zeigt, der  samt einer elektrischen  Laterne  von der  Schokolade 

    umfangen wird. Auf der obersten Regaletage steht das Käseobjekt Wolken (Abb. 24), 

    bei dem es sich um blau bemalte Käsestücke handelt, die unter einer Käseglocke aus 

    Glas arrangiert sind. Im hinteren Teil des Obergeschosses befindet sich eine weitere 

    große Arbeit mit dem Titel Vom Rhein  (Abb. 25). Das Objekt besteht aus vier Zink‐

    wannen, die mit buntem Zucker und Spielzeugfiguren gefüllt sind. Die Arbeit stellt 

    eine große Zuckerlandschaft mit einer blau eingefärbten S‐Kurve dar, die dem Titel 

    nach wohl auf den Fluss Rhein verweist.  In die eingefärbte Zuckermasse sind Spiel‐

    zeuge wie kleine Spielzeugautos oder Schiffe versenkt, die zum Teil aus dem Zucker 

    heraus schauen und  teilweise ganz darin eingeschlossen sind. Links davon  in einer 

    kleinen Nische hängt eine Photografie der Arbeit Landschaft mit Turm (Abb. 26) an 

    der Wand. Die Arbeit setzt sich aus drei Eisenblechwannen zusammen, die mit Abfäl‐

    len,  Spielzeug,  Farbdosen und weiteren Malutensilien gefüllt  sind. Diese  von Roth 

    verwendeten Materialien  sind  in  den Wannen  fixiert  und  größtenteils mit  Farbe 

    übergossen.  

     

     

  •       Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung 

    ‐18‐

    2.3. Das Schimmelmuseum heute 

     

    Im  Folgenden  soll  in einem  kurzen  Exkurs ein Blick darauf  geworfen werden, was 

    nach dem Abriss des Schimmelmuseum‐Gebäudes mit der  Installation und den sich 

    darin befindenden Werken passiert ist.   

    In  Frühjahr 2004 beschloss Buse das  Schimmelmuseum  abreißen  zu  lassen. 

    Hintergrund  waren  Klagen  von  Anwohnern,  die  sich  Sorgen  um  ihre  Gesundheit 

    machten. „Es gab Ärger mit den Nachbarn, die das Übergreifen von Keimen befürch‐

    teten und geklagt haben.“37 Die Werke der Installation wurden zuvor geborgen und 

    auch die von Roth als Fundbilder bezeichneten gerahmten Wandstücke wurden aus 

    der Wand heraus geschnitten und konnten so vor der Vernichtung bewahrt werden. 

    Bis über die weitere Aufstellung der Werke Klarheit herrschte, wurden für alle Ein‐

    zelobjekte Transportkisten gebaut und bei der Kunstspedition Hasenkamp  klimati‐

    siert eingelagert. Die Figuren des Selbst‐ und Zuckerturms und des Löwenselbsttur‐

    mes wurden  einzeln  in  Plastiktüten  verpackt  und  den  Etagen  der  Türme  entspre‐

    chend in Bücherkisten im Keller der Dieter Roth Foundation verwahrt.  

    Heute stellt sich die Situation so dar, dass es kein Remake unter dem Namen 

    Schimmelmuseum gibt und auch nicht geben wird. Laut Dirk Dobke soll so vermie‐

    den werden, dass der Anschein erweckt wird, das Schimmelmuseum sei einfach um‐

    gesiedelt worden. Dies würde  die  Intention  des  Schimmelmuseums  verfälschen.38 

    Auf dem Grundstück des ehemaligen Schimmelmuseums ist ein Neubau entstanden, 

    der so genannte „Dieter Roth Pavillon“. Ein Teil der Arbeiten aus dem Schimmelmu‐

    seum wird  nun  zusammenhängend  dort  präsentiert,  aber  nicht mehr  unter  dem 

    Namen Schimmelmuseum. Ausgestellt werden hier Materialgrafiken der 1960er Jah‐

    re,  die  allerdings  nicht  aus  dem  Bestand  des  Schimmelmuseums  stammen  sowie 

    Roths so genannte Fundbilder. Im Keller des Pavillons wird bis zu Beginn des Jahres 

    2009 ein extra abgedichteter und klimatisierter Raum entstehen, in dem die frei ste‐

    henden Schokoladenarbeiten wie die Coquillen‐Zwerge und der Selbstturm gezeigt 

    werden sollen. Weiter sind Werke wie der Zuckerturm, die Große Insel No.2, die Zu‐

    37 Dobke zitiert nach URL: ‹http://www.news.ch/Schimmelmuseum+wird+abgerissen/ 

    166117/detail.htm›  [30.06.2008]. 38 Vgl. Dobke, Dirk: Das Schimmelmuseum von Dieter Roth – künstlerische Installation oder Künstler‐

    museum?, unveröffentlichtes Vortragsmanuskript, August 2007. 

  •       Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung 

    ‐19‐

    ckerlandschaft Am Rhein und die gesamten Gewürzarbeiten  in das Dieter Roth Mu‐

    seums  aufgenommen und  in die  chronologische Hängung des Museums  integriert 

    worden.39 

    39 Vgl. Dobke, (wie Anm. 38), o. S;  Telefonat der Verfasserin mit Dirk Dobke [05.05.08].  

  •       Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung 

    ‐20‐

    3. Organisches als künstlerisches Material  

    In diesem Kapitel wird Roths Materialverwendung  im Schimmelmuseum einer ein‐

    gehenden  Analyse  unterzogen. Mit  der  Verwendung  von  organischen Materialien 

    greift Roth auf seine Werkphase der 1960er Jahre zurück, die er im Schimmelmuse‐

    um neu inszeniert. Mit einem allgemeineren Blick auf die Entwicklung der künstleri‐

    schen Materialverwendung  im Verlauf der Moderne soll deutlich gemacht werden, 

    dass Roth mit der Verwendung von vergänglichen Materialien  zeitgenössische Dis‐

    kussionen  aufgriff, die es möglich  gemacht haben, organische Materialien wie  Le‐

    bensmittel in der Kunst einzusetzen und deren eigene semantische Qualität nutzbar 

    zu machen.  

     

     

    3.1. Stellenwert des Materials im Kunstdiskurs 

     

    Der  lateinische  Begriff materia,  von  dem  die  Bezeichnung Material  abgeleitet  ist, 

    bezeichnete ursprünglich Bauholz, Nutzholz, Vorrat und Rohstoff. Allgemein charak‐

    terisiert Material  im Sinne von Werkstoff artifizielle und natürliche Materialien, die 

    der Weiterverarbeitung dienen und  somit  eine Veränderung  erfahren.40  „Material 

    im engeren Sinne  ist der Werkstoff der Künste,  im erweiterten Sinne alles, was Wi‐

    der‐  und  Gegenstand  der  künstlerischen  Gestaltung  ist“,  konstatiert  Wolfhart 

    Henckmann.41  

    Material nimmt im Verlauf der Kunstgeschichte einen unterschiedlichen Stel‐

    lenwert ein und bildet einen Korrespondenzbegriff zu Form und  Idee, die mit dem 

    Material  in einer Wechselbeziehung stehen. Nicht  immer wurde dem Material der‐

    selbe Bedeutungsgehalt  im Verhältnis zur Form zugesprochen und auch nicht  jedes 

    Material wurde  zu  jeder Zeit als kunstwürdig empfunden. Monika Wagner konsta‐

    40 Im deutschen Sprachgebrauch hat sich der Begriff des Materials erst in der Neuzeit von dem physi‐

    kalisch und philosophisch beanspruchten Materiebegriff gelöst. Vgl. Wagner, Monika: „Material“ In: Pfisterer, Ulrich  (Hrsg.): Metzler Lexikon Kunstwissenschaft,  Ideen, Methoden, Begriffe, Stutt‐gart 2003, S. 230−233 , hier S. 230; Wagner, (wie Anm. 18), S. 867; Rübel, Dietmar/Wagner, Moni‐ka (Hrsg.): Material in Kunst und Alltag, Berlin 2002, S. VII.  

    41  Henckmann, Wolfhart:  „Material“  In:  Henckmann, Wolfhart/Lotter,  Konrad  (Hrsg.):  Lexikon  der Ästhetik, München 1992, S. 157−158, hier S. 157.   

  •       Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung 

    ‐21‐

    tiert, dass von der Antike bis in das 19. Jahrhundert eine Marginalisierung des Mate‐

    rials zugunsten der Form statt fand. Dies ändert sich erst zum Beginn der Moderne.42  

    Herrschten in den Künsten bis ins 19. Jahrhundert vor allem Materialien wie 

    Bronze, Stein, Holz und Farbe vor, so veränderte sich mit der Industrialisierung und 

    der Entwicklung von Kunststoffen die Auseinandersetzung mit den Materialien der 

    Kunst. Die neuen Materialien wie Gusseisen, Aluminium, Kautschuk, Plexiglas oder 

    Zelluloid sorgten für kontroverse Diskussionen  in Bezug auf  ihre angemessene Nut‐

    zung und Formgebung. Dies führte zu grundlegenden Neubestimmungen des Mate‐

    rials:  Zum einen wurde  zwar weiterhin  für eine  immer bessere Unterwerfung der 

    Materialien plädiert, die im Zusammenhang mit der Erschließung neuer Materialien 

    stand und zum „Signum des Industriezeitalters“43 wurde. Zum anderen entstand das 

    Konzept der Materialgerechtigkeit, bei dem Fragen um die materialgerechte Form 

    und  funktionsgerechte Materialien  diskutiert  wurden.  Die  Vorstellung  einer  dem 

    Material gerechten Form bezog sich vor allem auf Naturstoffe und deren natürliche 

    Form,  im Gegensatz zu den neuen künstlichen Stoffen der  Industrieproduktion, die 

    alle Formen annehmen können und keine eigene natürliche Form besitzen.  

    Je umfangreicher der durch die  industrielle Revolution erschlossene Kosmos neuer Stoffe und neu entdeckter Elemente wurde, welche die Herstellung syn‐thetischer Materialien  versprachen,  desto  stärker  diente  das Argument  der dem Material angemessenen Form als Instrument der ästhetischen Kontrolle gegenüber dem Kitsch industrieller Produktion.44 

     Besonders in England mit John Ruskins (1819−1900) Ästhetik und der Arts and Crafts 

    Bewegung nahm dies industriefeindliche Formen an. Gottried Semper (1803−1897) 

    entwickelte in seinem Werk Der Stil (1860−1863) eine Theorie, in der er das Material 

    und den Zweck als ausschlaggebend für die Form in der angewandten Kunst betrach‐

    tete  und  somit  dem  Material  eine  zentrale  Stellung  in  der  Bildung  von  Stil  zu 

    42 Seit der Antike herrschten die Vorstellungen vom geringen Rang des Materials vor. Das Kunstwerk 

    sollte sich nicht durch seine Materialien auszeichnen, sondern durch die künstlerische Form. „Bis um 1800 […] gehörte [Material] der niederen Sphäre des Alltags an, die in der künstlerischen Ges‐taltung zum Verschwinden gebracht werden sollte.“ Zu den Marginalisierungsstrategien von der Antike bis ins 19. Jahrhundert siehe Wagner, (wie Anm. 18), S. 871−873.  

    43 Ebd., S. 874.  44 Ebd., S. 874. 

  •       Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung 

    ‐22‐

    sprach.45 Semper, der „zum Kronzeugen des ‚Materialstils’ und der ‚Materialgerech‐

    tigkeit’“46 wurde,  löste damit eine breite Auseinandersetzung um das Material aus, 

    die auch bei den Kritikern des Materialstils zu einer Aufwertung des Materials bei‐

    trug.47 

    ‚Materialgerechtigkeit’ wurde in Deutschland einerseits zum Synonym für die ‚gute Form’, wie sie volkserzieherisch von Gebrauchsgegenständen für die In‐dustriegesellschaft gefordert worden war. Die entgegengesetzte  Ideologisie‐rung  des  Begriffsfelds  führte  in  der  Verbindung mit  ‚heimischem’ Material zum Heimatstil und schließlich zum völkisch gegründeten Kunsthandwerk.48  

     Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat sich die Materialverwendung in den Bildkünsten 

    gegenüber den vorausgehenden Jahrhunderten grundlegend verändert. Die Aufwer‐

    tung des Materials gegenüber der Form nahm im ersten Jahrzehnt unterschiedliche 

    Formen an; sie war  ideologisch konträr ausgerichtet und verschiedene Strömungen 

    setzten  sich mit  den  neuen Materialien  der  Industriegesellschaft  und  deren  Rolle 

    auseinander. Die Futuristen und Dadaisten forderten in ihren Manifesten eine neue 

    Kunst aus alltäglichen und ephemeren Materialien, erprobten neue Materialien und 

    entzogen  ihnen den Nützlichkeitscharakter. Verbanden diese eine mit der Aufwer‐

    tung des Materials verbundene Gesellschaftskritik, äußerte sich dies bei den  russi‐

    schen Konstruktivisten  in einem „Fortschrittsoptimismus“,  indem  sie dem Material 

    „vor allem  in der Produktion von Alltagsgegenständen eine Schlüsselbedeutung  für 

    die neue Gesellschaft“49 zuwiesen, bei der sich Kunst und Alltagsproduktion verzah‐

    nen sollten. Auch am Bauhaus bildete das Material eine verbindende Funktion zwi‐

    schen Kunst und Industrie und somit eine Annäherung von Kunst und Alltagskultur.50  

    Eine zur Materialaufwertung gegenläufige Tendenz  in Form eines Plädoyers 

    zur Materialüberwindung zeigte sich in der abstrakten Kunst mit Wassiliy Kandinskys 

    (1866−1944)  programmatischer  Schrift  Über  das  Geistige  in  der  Kunst  von  1913. 

    Wagner hält dazu fest:  

    45 Die Debatten entfachten sich zunächst  in Bezug auf Architektur und Gebrauchsgegenstände. Das 

    Material der bildenden Kunst wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts ins Blickfeld gerückt. Vgl. Rü‐bel, Dietmar/Wagner, Monika/Wolff, Vera (Hrsg.): Materialästhetik. Quellentexte zu Kunst, Design und Architektur, Berlin 2005, S. S. 10f.  

    46 Wagner, (wie Anm. 18), S. 874. 47 Vgl. ebd., S. 873−875; Wagner, (wie Anm. 40), S. 231f; Rübel/Wagner/Wolff, (wie Anm. 45), S. 10.  48 Rübel/Wagner/Wolff, (wie Anm. 45), S. 10.  49 Wagner, (wie Anm. 18), S. 876.  50 Vgl. ebd., S. 876.  

  •       Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung 

    ‐23‐

    Für Kandinsky folgte aus der durch die naturwissenschaftliche Forschung aus‐gelösten  Verunsicherung  der  zuvor  in  ihrer  Materialität  stabil  geglaubten Welt die Abstraktion.  Sie  ist  ihm Ausdruck der Überwindung des Materials, d.h. seiner Vergeistigung.51  

     Innerhalb der  russischen Avantgarde gab es weitere Künstler, die Utopien von der 

    Überwindung des Materials entwickelten, um so zu amateriellen oder immateriellen 

    Materialien zu gelangen.52 

    Im Gegensatz zur Wertschätzung neuer Stoffe  in der Weimarer Republik be‐

    kamen  zur  Zeit  des Nationalsozialismus Materialien,  denen  die  Eigenschaften  von 

    Härte, Dauerhaftigkeit und Reinheit zugesprochen wurden, einen hohen Stellenwert, 

    und  das Material wurde  vor  allem  in  der Architektur  und  Skulptur  zugunsten  der 

    nationalsozialistischen  Ideologie eingesetzt.53 Nach dem Zweiten Weltkrieg reagier‐

    ten die Künste auf die nationalistische Staatskunst und die Propaganda vom schwe‐

    ren,  harten  und  dauerhaften Material mit  dem  Informel  und  der  Abwertung  der 

    Form, während dem Material ein neuer Stellenwert zugesprochen und einfache und 

    niedere Materialien betont wurden.  Im  Industriedesign wurde als Reaktion auf die 

    nationalistische Staatskunst die Verwendung von Kunststoffen bevorzugt.54  

    In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der bis dahin bestehende 

    Kanon der kunstwürdigen  Stoffe  immer häufiger gesprengt und das  Spektrum der 

    Materialien  in unüberschaubarer Weise erweitert. Eine Vielzahl von kunstfremden 

    Materialien löste die klassischen Materialien wie Ölfarbe, Stein oder Bronze ab, und 

    „wie nie zuvor haben alltägliche und organische Materialien Einzug  in die westliche 

    Kunst gehalten“55. Mit der Pop Art hielten nicht nur Themen des Alltags Einzug in die 

    Kunst, sondern auch in Form von industriell gefertigten Gegenständen. Die Künstler 

    des Nouveau Réalisme entgegneten „mit den entwerteten Materialien, dem Abfall 

    der Konsumgesellschaft“56 und Künstler der Land Art und Arte Povera mit unbear‐

    51 Wagner, (wie Anm. 18), S. 881. 52 Wagner nennt hier beispielhaft El Lissitzky, der es als Aufgabe der Kunst ansah, „durch einen mate‐

    riellen Gegenstand den imaginären Raum zu gestalten, um so zu einer amateriellen Materialität zu gelangen.“ Ebd., S. 881; Wagner, (wie Anm. 40), S. 231.  

    53 „Vor allem Granit als eines der beständigsten und härtesten Gesteine wurde zum Ewigkeitsgaran‐ten des ‘Dritten Reiches’”. Wagner, (wie Anm. 18), S. 877f. 

    54 Vgl. ebd., S. 878f.  55  Hackenschmidt,  Sebastian/Rübel,  Dietmar/Wagner,  Monika  (Hrsg.):  Lexikon  des  künstlerischen 

    Materials. Werkstoffe der Kunst von Abfall bis Zinn, München 2002, S. 7.  56 Wagner, (wie Anm. 18), S. 879. 

  •       Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung 

    ‐24‐

    beiteten Naturstoffen. Man griff unterschiedlichste Materialien auf: organische, an‐

    organische,  haltbare  oder  vergängliche,  ungeformte  oder  geformte,  die  alle  sich 

    selbst und ihre eigene Sprache zum Ausdruck brachten.  

    Der Aufstieg  des Materials  als  ästhetische  Kategorie  geht  einerseits  einher mit dem Versuch, die Grenzen zwischen Kunst und Nichtkunst durch serielle Produktionsverfahren  und  industrielle Materialien  aufzuheben. Andererseits kommt es zu einer radikalen Infragestellung der Form als des tradierten Kont‐rahenten des Material.57 

     

    Das traditionelle Verhältnis von Form und Material wurde umgekehrt: Material war 

    nicht mehr nur Mittel zur Kunst, sondern selbst dessen Thema mit eigener ästheti‐

    scher Qualität. Die Form wurde nicht mehr selbstverständlich als unveränderliches 

    Ergebnis gestalterischer Arbeit am Material betrachtet, sondern als variable Größe 

    und Resultat  von Materialeigenschaften.58 Auch die  Faszination des  immateriellen 

    Materials, wie sie bereits ein Teil der russischen Konstruktivisten postulierten, fand 

    nach 1945  ihren Ausdruck beispielsweise  in Yves Kleins (1928−1962)  Immaterialitä‐

    ten  oder  in  Licht‐  und  Farbinstallationen,  die  die Materialien  in  Schwerelosigkeit 

    oder umgekehrt in materiale Dimensionen überführten.59  

    Dem  Material  als  Ausgangsstoff  künstlerischer  Tätigkeit  sind  heute  keine 

    Grenzen  gesetzt:  Rohstoffe,  industriell  produzierte Ware,  organische Materialien, 

    Tiere und Menschen, Körper genauso wie Energie gehören dazu.60 Es  stehen  jene 

    Materialien im Vordergrund, „die die Künstler heute als Medien mit eigener seman‐

    tischer Qualität nutzen“61 . Wagner fasst zusammen, dass  

    auf der einen Seite […] Material […] gegenwärtig auf Grundlage der Vorstel‐lung von seiner Aufhebung in so genannte Immaterialitäten neuer Technolo‐gien diskutiert  [wird – d. Verf.], während  sich auf den anderen Seite – von den Rändern her – eine Stärkung des Materials als eigene Kategorie ebenso verzeichnen lässt wie deren kritische Durchleuchtung.62 

     

    57 Wagner, (wie Anm. 18), S. 880.  58 Vgl. ebd., S. 880.  59 Auch die technischen Medien förderten das  Interesse an  immateriellen Bildern und „mit der Ent‐

    wicklung digitaler Medien sind grundsätzliche Fragen nach der Materialität optischer Welten auf‐getaucht“. Ebd., S. 882.  

    60  Vgl. Wagner, Monika:  Das Material  der  Kunst.  Eine  andere  Geschichte  der Moderne, München 2002, S. 12.  

    61 Hackenschmidt/Rübel/Wagner, (wie Anm. 55), S. 7.  62 Wagner, (wie Anm. 18), S. 870. 

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    ‐25‐

    3.2. Dieter Roths Verwendung von organischen Materialien  

     

    Dieter Roths Verwendung  von organischen Materialien  als  künstlerisches Material 

    bei der Gestaltung des Schimmelmuseums stellt einen Rückgriff auf seine Werkphase 

    von  1964 bis  1971 dar.63  In den  1990er  Jahren  greift Roth diese Phase unter der 

    Verwendung von organischen Materialien nochmals auf und fertigt Remakes dieser 

    Arbeiten, die er im Schimmelmuseum herstellt und neu inszeniert.   

    Roth nimmt bei seiner Materialwahl die aktuellen Materialdiskussionen der 

    1960er  Jahre  auf  und  erweitert  seine  künstlerische  Palette  um  das  Organische, 

    gleichzeitig nutzte er die Materialeigenschaften und setzte ihren Verfall und die Ver‐

    derblichkeit  programmatisch  und  systematisch  in  seiner  Kunst  ein.64  Anstatt mit 

    Farbpigmenten, Bronze, Holz oder ähnlichen klassischen künstlerischen Materialien 

    zu  arbeiten,  setzt  er  sich mit  Abfällen  und  organischen  Stoffen,  vornehmlich  Le‐

    bensmitteln, auseinander. Es entstehen unterschiedliche Arbeiten, bei denen Roth 

    verschiedenste Lebensmittel zum Ausgangspunkt seiner Werke bestimmt. Seine Pa‐

    lette der  verwendeten  Lebensmittel umfasst Obst und Gemüse, Brot, Hackfleisch, 

    Pralinen, Mehl, Dickmilch, Milch, Joghurt, Käse, Kaffee, Kakaopulver, Fett, Bonbons, 

    Bier, Schokolade und Zucker sowie verschiedene Gewürze. Ralf Beil verweist darauf, 

    dass außer Roth nur Joseph Beuys (1921−1986) eine ähnliche Bandbreite an organi‐

    schen Lebensmitteln in seiner Kunst einsetzte.65  

    Über  die  Entstehung  seiner  ersten  vergänglichen  Kunstwerke  verbreitete 

    Roth selbst zwei unterschiedliche Versionen: Zum einen nennt er das mit Schmelzkä‐

    se gemalte Porträt des Kunsthändlers und Sammlers Carl Laszlo von 1964 als  Initial 

    63 Die Werkphase mit der Verwendung von ephemeren Materialien findet zu Beginn der 1970er Jahre 

    ihr Ende und Roth wendet sich danach wieder der Malerei und der Zeichnung zu.  In den 1980er und 1990er Jahren entstehen hauptsächlich großformatige Assemblagen und Collagen. Vgl. Dobke, (wie Anm. 34), S. 116.  

    64 Vgl. Beil, (wie Anm. 19), S. 168. 65 Vgl.  ebd.,  S. 167. Bei beiden Künstlern  lässt  sich  jedoch  eine unterschiedliche Verwendung und 

    Bedeutungszuschreibung der organischen Materialien ausmachen. Lädt Beuys die einzelnen Mate‐rialien bedeutungsvoll auf und  sah  sie als Energieträger an, nutzte Roth  stattdessen die  spezifi‐schen Verfallseigenschaften der organischen Materialien.  Siehe dazu  Schneede, Uwe M.:  „Roth und Beuys“ In: Söntgen, Beate/Vischer, Theodora: Über Roth. Beiträge und Aufsätze, Beiträge des Symposiums vom 4. und 5. Juli 2003 zur Ausstellung „Roth‐Zeit. Eine Dieter Roth Retrospektive“ im Schaulager Basel, Basel 2004, S. 136−150, hier vor allem S. 142−146.   

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    für diese Arbeiten  (Abb. 27).66 Der Schweizer Kunsthändler und Sammler wendete 

    sich mit der Bitte an Roth ein Bildnis von  ihm anzufertigen. Roth, der sich mit  ihm 

    entzweit hatte, wollte  ihn mit  seiner Ausführung provozieren und  verwendete  für 

    diese Auftragsarbeit ein Schwarz‐Weiß‐Foto Laszlos, das er solarisiert abziehen  ließ 

    und dann mit Streichkäse bemalte. Was für ihn zunächst Provokation darstellte ‐„Ich 

    habe gedacht, der wird grün und blau wie’n Käse“67‐, entwickelte er weiter zur ge‐

    stalterischen Methode.  „Da habe  ich angefangen,  [Arbeiten] mit Schimmel  zu ma‐

    chen.“68 In der anderen Version der neuen Verwendung von verderblichen Substan‐

    zen zur Kunstherstellung erklärt Roth diese mit seiner Wut über das Misslingen sei‐

    ner Arbeiten, die ihn veranlasste, diese mit organischen Materialien zu übergießen: 

    Nach [dem] Umweg über neorealistisch Angehauchtes gab’s ungef. 1962 Bil‐der  unter’m  Einfluss  Bellmers,  die mir  zu  deutlich  Bellmer  waren  und  ich schüttete schlechtgewordene Milch darüber (die stand umher). Nachdem  ich gesehen hatte, dass Fäulniss und Verschimmeln  fast Ornamente  liefern und überraschende Veränderungen abgeben, benutzte ich nichthaltbares Material mehrere Jahre hauptsächlich.69 

     

    Es  lässt  sich  feststellen,  dass  Roth  seit  Beginn  der  1960er  Jahre  in  verschiedenen 

    Arbeiten  immer wieder organische Materialien erprobte. Zu nennen sind hier seine 

    Buchobjekte und seine Auflagenobjekte, bei denen er Esswaren auf die Druckerpres‐

    se legte, die den Einsatz von Lebensmitteln in seinem Œuvre antizipieren. Das erste 

    Buchobjekt mit Verwendung von Lebensmitteln stellt die Literaturwurst70 (Abb. 28) 

    von 1961 dar. Hierzu häckselte er verschiedene Romane und Zeitschriften  in kleine 

    Papierschnipsel  und  vermischte  diese  mit  Gewürzen  und  Fett  nach  originalem 

    Wurstrezept, wobei die Fleischanteile durch die Papierschnipsel ersetzt wurden. Der 

    zuvor ausgeschnittene Titel wird als Etikett auf die Wursthaut appliziert. Roth arbei‐

    tet damit gleichzeitig auf sprachlicher Ebene, da er die umgangssprachliche Bezeich‐

    66 Vgl. Dobke, (wie Anm. 8), S. 54.  67 Roth zitiert nach Irmelin Lebeer‐Hossmann, Dieter Roth Interview September 1976 In: Wien, Barba‐

    ra (Hrsg.): Dieter Roth. Gesammelte Interviews, London 2002, S. 46.  68 Roth zitiert nach Dobke, (wie Anm. 8), S. 55; Wien, (wie Anm. 67), S. 46.  69 Roth zitiert nach Dobke, (wie Anm. 8), S. 55. 70 Ende der 1960er Jahre entstanden 25 weitere Literaturwürste aus Romanen wie Die Blechtrommel 

    (G. Grass), Die Rote (A. Andersch), Suche nach der neuen Welt (R. Kennedy), und ab 1970 setzt er die Verwurstungsserie mit deutschen  Illustrierten und Zeitschriften wie Bunte, Spiegel und Stern fort. Den Abschluss und das umfangreichste Werk dieser Gruppe bildet die Hegel‐Gesamtausgabe: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden. Vgl. Ausst. Kat. Roth‐Zeit, (wie Anm. 2) S. 74; Beil, (wie Anm. 19), S. 180. 

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    ‐27‐

    nung  „Schinken“  für  einen  gewichtigen  Klassiker wörtlich  nimmt.71 Bei  den Aufla‐

    genobjekten, die vor allem während seines Lehrauftrags an der Rhode Island School 

    of Design  in  Providence  im  Jahr  1965  entstanden,  kamen  Bananen,  Pralinen  und 

    Kekse  zum Einsatz, die Roth durch die Druckerpresse walzte. Roth  revolutionierte 

    die traditionelle Druckgrafik,  indem er auf Kaltnadelradierungen  im zweiten Durch‐

    gang die  Lebensmittel auswalzte. Bei der Arbeit Banana Print  (Abb. 29)  von 1966 

    hinterließen mehrere Bananen eine lange bräunliche Spur, und bei der Arbeit Rakete 

    (Abb. 30) drückte er eine gesamte Pralinenschachtel in Form einer Rakete durch die 

    Druckerpresse. Diese Arbeiten, bei denen die Lebensmittel auf Bildniveau gepresst 

    werden, bezeichnete Roth als „Pressungen“ und „Quetschungen“.72  

     

    In  den  1990er  Jahren  greift  Roth  die  Verwendung  von  organischen  Materialen 

    nochmals auf und  fertigt Remakes von Werken aus dieser Arbeitsphase, die  in der 

    Installation  Schimmelmuseum  hergestellt  und  neu  inszeniert  werden.  Mit  dem 

    Selbst‐ und dem Zuckerturm wurden bereits zwei wesentliche Arbeiten der Installa‐

    tion  benannt.  Die  für  den  Selbstturm  seriell  gegossenen  Schokoladen73‐

    Selbstbildnisse  in Form von Büsten  stellen einen Rückgriff auf die Figur Portrait of 

    the Artist as Vogelfutterbüste (Abb. 31) aus dem Jahr 1968 dar. Roth parodiert damit 

    den Titel des autobiografischen Romans A Portrait of  the Artist as a Young Man74 

    von  James  Joyce,  indem er  sich als einen alten Mann mit kahlem Schädel, großen 

    Ohren, spitzem Kinn und einer langen Nase in Schokolade porträtiert.75 Der 20 Zen‐

    timeter  hohen  Figur wurde  im  flüssigen  Zustand Vogelfutter  beigemischt,  und  sie 

    71 Vgl. Beil, (wie Anm. 18), S. 179; Ausst. Kat. Roth‐Zeit, (wie Anm. 2), S. 74; Dobke, (wie Anm. 8), S. 

    54. 72 In den folgenden Jahren setzte Roth seine Experimente mit den „Pressungen“ und „Quetschungen“ 

    unter  der  Verwendung  von  weiteren  Lebensmitteln  wie  Wurst,  Käse,  Milch,  Schokolade  und Fruchtsäften fort. Vgl. Ausst. Kat. Roth‐Zeit, (wie Anm. 2), S. 95, 116; Dobke, (wie Anm. 8), S. 71. 

    73 Schokolade stellt ein häufig verwendetes Material Roths dar, das er  in vielfältiger Form einsetzte. Die Schokoladenarbeiten bilden neben den Gewürzarbeiten eine der größten Werkgruppen. Vgl. Dobke, (wie Anm. 8), S. 69.  

    74 Portrait of  the Artist as a Young Man  ist ein 1916 erschienener autobiografischer Roman des  iri‐schen Schriftstellers James Joyce (1882−1941), der die  intellektuelle und emotionale Entwicklung seines Alter Egos Stephen Dedalus darstellt. Vgl.  Joyce,  James: Portrait of  the Artist as a Young Man, New York 1916.  

    75 Beil bemerkt, dass  „die  verzerrte Physiognomie,  ja Grimasse,  […]  [als]  ironische Hommage oder Persiflage  auf  die  aus  physiognomisch‐mimischen  Studien  hervorgegangene[n]  Charakterkopf‐Büsten des im 18. Jahrhundert in Wien tätigen Franz Xaver Messerschmidt (1736−1783)“ erschei‐nen. Beil, (wie Anm. 19), S. 198.  

  •       Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung 

    ‐28‐

    wurde  in einer Auflage von 30 Stück hergestellt. Auf einem Holzbrett montiert und 

    mit einer Holzstange als  Ständer,  ist die  Figur  für die Aufstellung  im  Freien  konzi‐

    piert, wo sie allen erdenklichen Witterungen ausgesetzt  ist und von Vögeln aufge‐

    fressen werden soll.76 Bei den für den Selbstturm gegossenen Multiples bezieht sich 

    Roth auf die Form dieser Arbeit. Für das Schimmelmuseum sind die Büsten  jedoch 

    ohne Vogelfutter gegossen und für den Innenraum  in der Aufstellung eines Turmes 

    konzipiert. Gleichzeitig stellt der Selbstturm, wie auch der Zuckerturm, einen Rück‐

    griff auf einen der zwei Ende der 1960er Jahre hergestellte Türme aus Schokoladen‐ 

    und Zuckerbüsten dar, die sich  im Roth‐Raum77 des Museums für Gegenwartskunst 

    in Basel befinden: der Selbstturm und der Löwenturm  (Abb. 32). Der Rückgriff des 

    Selbstturmes aus dem Schimmelmuseum auf den Selbstturm in Basel wird zum einen 

    durch die Adaption des Namens – Selbstturm – deutlich, zum anderen auch durch 

    die  formale Gestaltung des  Turmes. Der  Selbstturm  im  Schimmelmuseum  ist nach 

    demselben Prinzip wie die beiden Türme in Basel aufgebaut, dessen Gestalt Roth in 

    den beiden Türmen antizipiert und zum ersten Mal die Skulpturen nach und nach zu 

    zwei Türmen hoch wachsen  lässt. Wie der Selbstturm  in Basel besteht derjenige  im 

    Schimmelmuseum  nur  aus  Selbstbildnisbüsten  des  Künstlers  in  Form  eines  alten 

    Mannes. Während Roth in Basel die Schokoladen‐ und Zuckerplastiken in den beiden 

    Türmen  kombiniert, weist  er  den Materialien  im  Schimmelmuseum  jeweils  einen 

    eigenen  Turm  zu.  So  besteht  der  Selbstturm  nur  aus  Schokoladenbüsten  und  der 

    Zuckerturm,  wie  noch  zu  zeigen  sein  wird,  aus  Zuckerbüsten.78  Sollte  der  bei 

    P.O.TH.A.A.VFB.,  so die  von Roth  selbst  verwendete Abkürzung  für Portrait of  the 

    Artist as Vogelfutterbüste,  intendierte Verfall vor allem durch Vögel herbei geführt 

    werden, fallen die Schokoladenbüsten im Schimmelmuseum wie die beiden Türmen 

    in Basel der Zeit, den klimatischen Bedingungen, aber auch Tieren wie Würmern und 

    Motten und den organischen Zerfallsprozessen der Schokolade zum Opfer: sie wer‐

    76 Vgl. Ausst. Kat. Roth‐Zeit, (wie Anm. 2), S. 116.  77 Roth begann die Arbeit an den beiden Türmen in seinem Privatatelier. Nach dem Ankauf der Türme 

    1989 durch die Emmanuel Hoffmann Stiftung, kamen sie  in den heutigen Roth‐Raum, der eigens für die Weiterführung der Arbeit angemietet wurde. Der Raum befindet  sich  in einem Gebäude gegenüber dem Museum für Gegenwartskunst, das seit 1980 Werke der Stiftung beherbergt. Vgl. Berkes, Peter: „Die Kunst und die Würmer – Dieter Roths verderbliche Ware“ In: Nike Bulletin, 3, Bern 1997, S. 8–11, hier S. 8 und 11. 

    78 Vgl. ebd., S. 9; Beil, (wie Anm. 19), S. 193−200. 

  •       Dieter Roths Schimmelmuseum: Installation als Künstlerinszenierung 

    ‐29‐

    den mit der Zeit  immer poröser,  rissiger und brüchiger,  sind mit Spinnweben und 

    Madenfäden behangen bis sie letztlich auseinander fallen. Durch die Luftfeuchtigkeit 

    wird die Schokolade heller und durch chemische Prozesse bildet sich der so genann‐

    te Zucker‐ und Fettreif aus, der die Oberflächen der einzelnen Figuren strukturiert.79 

    Gleichzeitig kommt durch die turmartige Aufstellung ein neuer Aspekt hinzu und die 

    Figuren zerdrücken sich durch das enorme Gewicht, das auf ihnen lastet, mit der Zeit 

    gegenseitig. Die  verschiedenen  im Selbstturm verwendeten  Schokoladensorten er‐

    weisen  sich  dabei  als  unterschiedlich  stabil.  Je mehr  Kakao  die  Schokoladensorte 

    enthält, desto haltbarer sind die Figuren: so sind die Büsten aus weißer Schokolade 

    fragiler als die aus dunkler.80 Die Anordnung der unterschiedlichen Schokoladensor‐

    ten  ist auf die einzelnen Etagen verteilt,  jedoch  sind  sie nicht  immer konstant ge‐

    trennt und vermischen sich teilweise. Durch die temporären Einwirkungen, die Ver‐

    änderungen des Materials durch organische Zerfallsprozesse sowie den unterschied‐

    lichen Tierbefall variieren die Oberflächen bei jeder einzelnen Figur, so dass aus den 

    einheitlichen Multiples über die Zeit Unikate geworden sind, da sich kein Stück wie 

    das andere entwickelt respektive zersetzt. Roth greift bei den Einzelfiguren den Ty‐

    pus  der  klassischen  Porträtbüste  mit  ihrem  inhärenten  Ewigkeitsanspruch  auf. 

    Gleichzeitig setzt er den Figuren das Altern und Vergehen gegenüber: so konstatiert 

    Wagner, dass dies  zum einen das Altern und Vergehen des Materials betrifft und 

    zum  anderen  die Gestalt  des  Porträts,  verdeutlicht  durch  die  Physiognomie  eines 

    alten Mannes. Es verbindet  sich prozessuales Altern des Materials mit dem Altern 

    des Menschen.81  

    Der Zuckerturm, der nach einem ähnlichen Prinzip wie der Selbstturm aufgebaut ist, 

    besteht  aus  vers