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Differentialdiagnose der akuten Bewußtseinsstörung Priv.-Doz. Dr. med. Claus G. Haase Recklinghausen, den 26.01.2008

Differentialdiagnose der akuten Bewußtseinsstö · PDF fileDefinition- Bewußtseinsstörung Allg.: Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Selbstkontrolle und Wahrnehmung der Umwelt

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Differentialdiagnose der akuten BewußtseinsstörungPriv.-Doz. Dr. med. Claus G. HaaseRecklinghausen, den 26.01.2008

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Bewusstseinsstörungen

• Grad der Bewusstseinsstörung?• Auftreten plötzlich/langsam?• Verlauf der Bewusstseinsstörung?• Begleiterscheinungen?• Vorerkrankungen?• Medikamente?• Trauma?

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Definition- Bewußtseinsstörung

Allg.: Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Selbstkontrolle und Wahrnehmung der Umwelt

Dauer = variabel (Sekunden bis Wochen/Jahren)Quantitativ:Wachheit und Reaktionsfähigkeit(cave: „nicht-ansprechbar“ ist auch ein Tisch)

Somnolenz => Sopor/Stupor => Koma

Qualitativ:wach, aber veränderte Wahrnehmung

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Terminologie- Bewußtseinsstörung

Somnolenz: (abnorme) Müdigkeit-durch geringe Reize erweckbar-gerichtete Reaktion auf Ansprache/Aufforderung

Sopor/Stupor: - nur durch starke Reize erweckbar-ungerichtete Reaktion auf Ansprache, kann Aufforderungen nicht folgen, ohne einzuschlafen

Koma: nicht durch stärkste „Schmerz“-Reize erweckbar-Lokalisation der Hirnschädigung durch neurologischeUntersuchung

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Pathophysiologie- Bewußtseinsstörung

Formatio reticularis•Aufsteigendes Retikuläres

Aktivierendes System (ARAS) •Kreislauf- und Atemzentrum

(ventrolaterale Formatio ret.,Prä-Bötzinger-Komplex)

•Brechzentrum (Verbindungen mit Ncltractus solitarii) und A. postrema

•Extrapyramidale Steuerung der Motorik(Verbindungen mit Kleinhirn,

Nucleus ruber, Substantia nigra) •Pontine Kontrolle der Miktion

(Harnblasenentleerung) •Modulation der Schmerzempfindung

(via Periaquäduktales Grau(PAG) und Raphekerne)

•Emotionen (mesolimbische Bahn von der ventralen tegmentalen Areazum Nucleus accumbens)

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Pathophysiologie- Rolle des ARAS

•Thalamus: „filtert“ spezifischen Informationen der Sinnesorgane zum Cortex •Erhält vom ARAS „unspezifischen Bahnen“ als Erregungsschleife, über „Basalganglien“in einem variablen Rhythmus

•rhythmische Erregung der kortikalen Pyramidenzellen durch das ARAS erzeugt „Bewusstsein“ bzw. „Bewußtseinsstörung“•Wachheit, wenn Frequenz > 6Hz umso „wacher“ (bis ca. 40Hz)< 6Hz Einschlafen, 3Hz: Tiefschlaf oder Narkose bis zur Null-Linie (Hirntod)

•Thalamus ist „Tor zum Bewusstsein“•ARAS ist der “Hirnschrittmacher“

•die Frequenz des ARAS bestimmt, wie weit das „Tor“ offen ist•starke Reize führen zum Frequenzanstieg => „hellwaches“ Bewusstsein

•Steuerung der „Aufmerksamkeit“ über Aktivierungsschleife von Thalamus-Sinnesorganen und ARAS werden genau die Kortex-Areale aktiviert, in welche die stärksten Sinneseindrücke projiziert werden und umgekehrt

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Untersuchung- Bewußtseinsstörung

Basismaßnahmen der Reanimation

A = Atemwege freimachenB = BeatmenC = Circulation herstellen

Erweiterte Maßnahmen der ReanimationD = DrogenE = EKG DiagnostikF = Flimmerbehandlung

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Untersuchung- Bewußtseinsstörung

Anamnese

A = Atmung

B/C = Bewußtsein/Cognition = Reagibilität-Ansprechen/Schmerz/Strecksynergismen

D = Diagnostik Hirnnervenreflexe II+III+V+IX(Pupillenreaktion-Augenstellung-OCR-Kornealreflex-Würgereflex/Tubusschmerz)

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Terminologie- Glasgow Coma Scale

Augenöffnen:1- nicht; 2- bei Schmerz; 3-auf Aufforderung; 4 - spontanBeste motorische Antwort: 1- keine; 2- Strecksynergismen; 3- Beugesynergismen; 4-ungezielt auf Schmer; 5- gezielt auf Schmerz; 6- gezielt auf AufforderungVerbale Antwort: 1-keine; 2- unverständlich; 3-inadäquat; 4- verwirrt; 5-orientiert prompt

Koma: leicht: Summe >7; mittelschwer 7-6;schwer <6

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Differentialdiagnosen- Bewußtseinsstörung

Internistisch: Kardiologisch: Synkope

kardial: SVT/VT; SSS; Aortenstenosenicht-kardial: vasovagal-neurokardiogen

Inzidenz: >50Jahre: 3,9/1000 Pat.-Jahre>80 Jahre: 19,5/1000 Pat.-Jahre

Cave: konvulsive Synkope (90% mit kurzen tonisch-klonischen Muskelanspannungen ≠ Epilepsie)

Endokrinologisch: Diabetes (Hypoglykämie)M. AddisonDysthyreose

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Differentialdiagnosen- Bewußtseinsstörung

Metabolisch: hepatische/renale EnzephalopathieElektrolyt-Entgleisung (Hyponatriämie)Porphyrie CO2-Intoxikation

Auto/Iatrogen: UAW von z.B. Benzodiazepinen

OpiatenAlkohol

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Differentialdiagnosen- Fall-1

Frau C. 55J, Vorerkrankungen: ?zu Hause: plötzlich aufgetretene Bewusstlosigkeit NA: Übernahme einer malaysischen Patientin wg. epileptischem Anfallstatus vermutet => 40 mg Diazepam und i.v. Phenytoin. CCT dort unauffällig.Aufnahme: Pat. somnolent und psychomotorisch unruhig. Keine Kommunikation möglich. Klinisch-neurologisch schwere Somnolenz mit fragl. Minderbewegung der li Seite, ohne PBZIntermittierend und im Verlauf: wach, bewußtseinsklar, Sprachbarriere, vertikale Blickparese sonst kein neurologisches DefizitDD: Basilaris-Embolie, Intoxikation, Hirnstammenzephalitis, ??

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Differentialdiagnosen- Bewußtseinsstörung

Psychiatrisch: dissoziative Anfälle (Prolaktin i.S.)Panikattacken/Hyperventilationorg. Psychosen

Verwirrtheit/wahnhafte Störungen/Demenzen

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Differentialdiagnosen- Bewußtseinsstörung

Neurologisch:Vaskulär:

(Ischämie - Drop attack / Sturz-Synkope)

-cave: transiente Bewusstseinsstörung mit Herdsymptomen wie:

z.B. Aphasie (vorderer Hirnkreislauf), Paresen

z.B. Schwindel/Okulomotorik (hinteres Stromgebiet)

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Differentialdiagnosen- Fall-2

Frau B. 63J, Vorerkrankungen: Diabetes mell. IIzu Hause: Bewußtseinsstörung für 2 Minuten ohne Defizit

NA: schwere Somnolenz mit fragl. Minderbewegung der li Seite, ohne PBZStroke Unit: wiederholte Somnolenz mit divergierenden Bulbi und weiterhin Minderbewegung der li Seite, ohne PBZIntermittierend und im Verlauf: wach, bewußtseinsklar, Sprachbarriere, vertikale Blickparese sonst kein neurologisches Defizit

DD: Basilaris-Embolie, Intoxikation, Hirnstammenzephalitis

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Differentialdiagnosen- Bewußtseinsstörung

Neurologisch:Transiente globale Amnesie (TGA)

- akute Ratlosigkeit für <24h

Demenz- Verwirrtheit (optische Halluzinationen =Lewy Körper-Demenz:cave! Neuroleptika)

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Differentialdiagnosen- Bewußtseinsstörung

Neurologisch:Epilepsie- non-konvulsiver Status,

post-iktal

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Epilepsien betreffen 50 Million Menschen weltweit1

• Lebenszeitprävalenz: 5 %2

• Die Inzidenz von Epilepsien ist bei Kindern und älteren Menschen am höchsten3

1. World Health Organization. Epilepsy: Epidemiology, Etiology, and Prognosis. Geneva, Switzerland. World Health Organization;2001. Fact Sheet No.165.

2. Sander JW. Curr Opin Neurol. 2003;16:165-170. 3. Abb. Adaptiert nach Hauser WA. In: Epilepsy: A Comprehensive Textbook. 1997:47-57.

250

200

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50

00 20 40 60 80 100

USASchweden

IslandItalien

Finnland

Inzid

enzp

ro 10

0.000

Alter (Jahre)

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Take-home-message 1

• Bei unklarer Situation, lieber einmal zu viel zur Neurologie

• Jede Bewußtseinsstörung ist ein medizinisch-neurologischer Notfall

• Müdigkeit,Kopfschmerz, Fieber, Nackensteife –Meningitis ist ein Notfall

• Der erste epileptische Anfall ist ein Notfall, muss aber nicht medikamentös behandelt werden

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Take-home-message 2

• Anfallshäufung oder der Status epilepticus sind Notfälle und müssen sofort medikamentös behandelt werden

• Der einzelne Anfall bei bekannter Epilepsie ist kein Notfall und muss nicht medikamentös behandelt werden

• Lorazepam (Tavor®) ist gegenüber Diazepam vorrangig zu geben

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Take-home-message 3

• Kopfschmerz „wie noch nie“ - SAB ist ein Notfall (CCT nicht ausreichend)

• Kein Aspirin als Notarzt (ICB/Lyse!)• Wenn möglich keine Sedierung• Wenn nötig, dann ein kurz wirksames

Sedativum, z.B. Lorazepam 0,5-1 mg