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Agnes Christ-Fiala Dynamische Balance ein spannender Prozess. Dynamische Balance und Störungen bedingen einander 28253 Themenzentrierte Interaktion Typisch TZI?! Sichtbares und Ausgeblendetes 30. Jahrgang, 2/2016, Seite 715 Psychosozial-Verlag ZEITSCHRIFTENARCHIV

Dynamische Balance ein spannender Prozess. Dynamische ... Diskussion um die Dynamische Balance wird immer wieder betont, dass mit diesem Begriff ein dialektisches Denken in Gegensätzen

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Agnes Christ-Fiala

Dynamische Balance – ein spannenderProzess. Dynamische Balance undStörungen bedingen einander

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Themenzentrierte InteraktionTypisch TZI?! Sichtbares und Ausgeblendetes30. Jahrgang, 2/2016, Seite 7–15Psychosozial-Verlag

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Agnes Christ-Fiala, Dynamische Balance – ein spannender Prozess

Die dynamische Balance ist als Denkfigur und Arbeitshypothese der TZI grundlegend für das Leiten von Gruppen sowie die Analyse von Gruppenprozessen. Wer aber von Balance und Balancieren spricht, muss auch von Störungen sprechen: nur gemeinsam gedacht bringen sie einen Prozess ins Laufen. Der ist dann nicht unbedingt harmo-nisch, sondern spannungsgeladen und gerade deshalb fruchtbar. Am Beispiel einer Prozessanalyse soll dies ein Diskussionsbeitrag zum Verhältnis von Dynamischer Balance und Störungen sein.

Dynamic balance is a way of thinking and a working hypothesis for TCI which is fundamental for leading groups and analyzing group processes. And yet, when we discuss balance and balancing, we must also discuss disruptions: only when both are considered can a process begin to move forward, and it is not necessarily one characterized by harmony – rather it is filled with tension and this is precisely why it is also productive. Based on the example of a process analysis, this is a contribution on the relation of dynamic balance to disruptions.

Balance als Metapher

Denkt man an Balance oder Balancieren, so tauchen Bilder auf: Ein Artist auf dem Drahtseil, ein Fahrradfahrer, eine Tänzerin auf Zehenspitzen … Sie balancieren, d.h. sie sind bei höchster Aufmerksamkeit für Störungen ständig in Bewegung, um Un-gleichgewichte durch Flexibilität in der Bewegung auszugleichen.

Im Handlungskonzept der TZI gilt die Dynamische Balance als eine grundlegende „Denkfigur“ (Spielmann 2010, 141), die als Metapher die gleichzeitige Aufmerksamkeit für die vier Faktoren ES-ICH-WIR-GLOBE abbildet, die die Interaktion in einer Gruppe bestimmen. Dahinter steht die Arbeitshypothese, dass alle vier Fak-toren für ein gedeihliches Arbeiten an einem gemeinsamen Thema gleich wichtig sind (Cohn/Farau, 352). Eine Balance im Sinne eines Spannungsverhältnisses zwischen diesen vier Faktoren zu halten,

Agnes Christ-Fiala

Dynamische Balance – ein spannender Prozess Dynamische Balance und Störungen bedingen einander

Zur AutorinAgnes Christ-Fiala, Beratung/Coaching, Lehrerin/Lehreraus-bilderin i. R. für Bildungswissen-schaften/Fachdidaktik Russisch in Bremen sowie TZI-Diplom und [email protected]

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ist eine Aufgabe für alle Gruppenmitglieder mit einer besonderen Verantwortung für die Gruppenleiter (Cohn/Farau, 352). In der Diskussion um die Dynamische Balance wird immer wieder betont, dass mit diesem Begriff ein dialektisches Denken in Gegensätzen und Widersprüchen ermöglicht wird (Spielmann 2010, 141).

Dialektisch zu denken bedeutet m.E. nicht, in sich gegenseitig ausschließenden Binaritäten zu denken – eine Gruppe ist entweder „in Balance“ oder „gestört“ –, sondern „Balance“ und „Störung“ als zwei ständig vorhandene Größen zu begreifen, die im frucht-baren Widerspruch eine Entwicklung vorantreiben.

Die dynamische Balance und das Störungspostulat gehören zusammen

Die Aufmerksamkeit für das Balancieren der vier Faktoren, d.h. der thematisch-sachlichen und der individuell-menschlichen Seite unter Beachtung der gegebenen Bedingungen schließt notwen-digerweise den Umgang mit „Störungen“ ein. Denn diese sind es, die immer wieder ein neues Austarieren anstoßen und damit einen lebendigen Prozess ermöglichen.

Ruth Cohn formuliert im Störungspostulat: „Beachte Hin-dernisse auf deinem Weg, deine eigenen und die von anderen.

Störungen haben Vorrang, ohne ihre Lösung wird Wachstum verhindert oder erschwert“ (Cohn 1975, 121). Bei der gemeinsamen Bearbeitung eines The-mas in einer Gruppe soll unter „Störung“ alles ver-standen werden, was anscheinend das Bearbeiten von Aufgaben „behindert“: skeptische Fragen, Irritationen bei Teilnehmerinnen und Teilnehmern oder bei der Gruppenleitung, auftauchende Widersprüche, Skepsis

usw. Beiträge dieser Art können den Bearbeitungsprozess verlang-samen, variieren und vertiefen.

Wenn es eine zentrale Aufgabe der Gruppenleitung ist, die Dynamische Balance zu beachten, dann muss ihre Aufmerksam-keit gleichzeitig auch auf mögliche Störungen gerichtet sein. Das „Störungspostulat“ ist also in der Arbeitshypothese der Dynami-schen Balance enthalten, denn ohne Störung wäre das Balancieren nicht notwendig. Damit wird auch die Bewertung – Balance ist positiv/Störung ist negativ – verändert, da erst das „Störende“ das Balancieren notwendig macht und damit Bewegung ermöglicht.

Sarah Hoffmann stellt das Chairpersonpostulat dem Störungs-postulat als negative Kehrseite gegenüber: „Die beiden Postulate stehen zueinander in einem dialektischen Verhältnis und thematisie-ren positiv die Möglichkeiten (Chairpersonship) und als Negation die Hindernisse menschlicher Lern- und Entwicklungsprozesse.“

Ohne Störung wäre das Balancieren

nicht notwendig

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(Hoffmann 2010, 102). Dem möchte ich entgegensetzen, dass um-gekehrt gerade in der Bearbeitung von „Störungen“ wesentliche Entwicklungsmöglichkeiten für die Chairperson liegen. Sich mit Widersprüchen auseinanderzusetzen, führt zu einem fruchtbaren Wachstum sowohl von Einzelnen als auch in Gruppenprozessen.

Sieht man die Entwicklung der Chairpersonship und den Um-gang mit Störungen als sich gegenseitig beeinflussende Kräfte beim Balancieren der vier Faktoren, so wird der systemische Cha-rakter der TZI deutlich. Diesen Aspekt unterstreicht Palmowsky (Palmowsky 2010), der die positive Konnotation einer Störung hervorhebt: „Die Störung wird dann der mögliche Ansatzpunkt und der Auslöser für Veränderung, die Alternative oder die andere Sichtweise.“ Für einen lebendigen Gruppenprozess kann man da-raus ableiten, dass Verhalten angemessen ungewöhnlich sein muss, um mögliche Veränderungen in einer gegebenen Wirklichkeit zu bewirken.

Dynamische Balance meint nicht Harmonie

Balance gibt es nicht ohne die Vorstellung des Aus-der-Balance-Geratens, also des Fallens. Beim Erspüren unterschiedlichster Möglichkeiten, diese Schräglagen wieder aufzufangen, geht es nicht um die Herstellung und Aufrechterhaltung einer Harmonie, die zum Verweilen einlädt. Ein stabiles Gleichgewicht im Sinne einer statischen Größe entspricht nicht der Idee der Balance.

Die Befürchtung, dass das Austarieren von gegensätzlichen Bestrebungen zur Harmonisierung von Widersprüchen in TZI geleiteten Gruppen führt, findet man in der Diskussion um die Dynamische Balance immer wieder. Widersprüche und Gegensätze würden nicht gesehen, sondern un-terdrückt (Vopel 2000, 80). Diese Vorstellung wird gestützt, wenn Kompromiss und Konsens als die zentralen Möglichkeiten gesehen werden, um „per-sönliche und gemeinschaftliche Anliegen in kompe-tenten Handlungsweisen zum Ausdruck zu bringen“ (Cohn/Ockel 1995, 200). Bei gleichzeitiger Auf-merksamkeit für vier Faktoren ist eine Balance jedoch zu komplex, als dass sie, wie bei einer Waage, durch ein Mehr auf der einen oder ein Weniger auf der anderen Seite wiederhergestellt werden könnte. Jegliche Verlagerung des Gewichts bei einem Faktor ruft Veränderungen bei drei anderen Faktoren hervor und zwar kei-neswegs immer linear vorhersehbare, sondern durchaus auch chaotisch unvorhersehbare.

Balance in einer Gruppe lässt sich nicht nur durch Konsens oder Kompromiss herstellen, sondern gerade auch durch das Aushalten

Balance lässt sich auch durch das Aushalten von

Spannung herstellen

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von Spannung. Wenn ich als Leiterin einer Gruppe die dynamische Balance als Arbeitshypothese im Kopf habe, bedeutet dies zunächst, dass ich Ungleichgewichte, Gegensätze und Widersprüche in der Gruppe erkenne, ihnen meine Aufmerksamkeit zuwende und die Aufmerksamkeit der Gruppe darauf richte. Die Wahrnehmung gegensätzlicher Interessen oder Positionen kann zu einer Klärung und unter Umständen sogar zu einer einvernehmlichen Haltung führen. Es kann aber auch bedeuten, dass durch das Erkennen und Stehenlassen der Unterschiedlichkeit eine Balance insofern hergestellt wird, als dass jeder erkennen und auch erfahren kann, dass er in seiner Besonderheit anerkannt und gesehen wird und damit ein „Kampf“ um die Vorherrschaft (Hoffmann/Gores-Pieper 2010, 257) nicht stattfinden muss. Die Balance stellt sich vielmehr durch das Aufrechterhalten der Spannung ein.

Zwei Bilder mögen verdeutlichen, dass eine Balance zwischen mehreren Gewichten auch durch Spannung oder Gegendruck hergestellt werden kann: Bei der „Mühle“ im Tanz fassen sich zwei Menschen an den Händen und halten sich im schnellen Drehen durch extremes Ziehen in gegensätzliche Richtungen gegenseitig in Balance. Oder: Zwei Personen, die Rücken an Rücken sitzen, können, ohne die Hände zu benutzen, aufstehen, wenn sie sich gegenseitig durch Druck im Rücken stabilisieren.

So kann die respektvolle Akzeptanz gegensätzlicher Positionen in der Spannung der Gruppe gehalten und in Bezug auf die Lösung der gemeinsamen Aufgabe fruchtbar gemacht werden. Gleichzeitig heißt die Beachtung der Dynamischen Balance auch, die Gruppe nicht „fallen“ zu lassen, was hieße, dass sie nicht mehr arbeitsfähig wäre. Das ständige Balancieren zwischen diesen Polen ist nicht nur Auf-gabe der Gruppenleitung, sondern aller Teilnehmer dieser Gruppe, wenn denn alle an der Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit der Gruppe interessiert sind. Dass dies nicht immer der Fall ist, wird z.B. in vielen Schulklassen und Lerngruppen täglich offensichtlich, wo z.B. ganze Klassen oder Lerngruppen nicht mehr arbeitsfähig sind, sich Teile oder Einzelne aus diesen herauslösen oder exkludiert werden bis hin zum vollständigen Zerfallen von Arbeitsgruppen.

Balancieren kann für einen gewissen Zeitraum auch in fragilen Positionen möglich sein: Ein Segelschiff hält die Balance noch in einer extremen Schräglage bei entsprechender Geschwindigkeit. Balancieren schließt das Aushalten von Schräglagen ein.

Gruppenleiter und Gruppe spannen die dynamische Balance zwischen sich auf

Nicht nur die Leitenden sind „Hüter der dynamischen Balance“ (Hoffmann 2010, 105). Ruth Cohn verweist darauf, dass die Auf-

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merksamkeit für die dynamische Balance auch bei den Teilneh-menden liegt: „Es geht darum, die Wichtigkeit des Themas (resp. der Aufgabe) und die Wichtigkeit der Wirkungszusammenhänge in und mit der Umwelt in dynamischer Balance zu halten. Das Bewusstsein dieser Arbeitshypothese wird in allen Gruppenmitglie-dern gefördert; an ihrer praktischen Verwirklichung mitzuwirken, ist Aufgabe des TZI-Gruppenleiters“ (Cohn/Farau 352). Dieses Zusammenwirken möchte ich an einem Beispiel darstellen.

Die Wirksamkeit eines TZI-basierten Handlungskonzepts für die Leitung von Gruppen sollte sich gerade in Gruppen, die keine TZI-Ausbildungsgruppen sind, beweisen. In einer Gruppe von Lehramtsanwärterinnen und -anwärtern im Referendariat haben wir diese „Aufmerksamkeit für die dynamische Balance“ mithilfe einer Prozessanalyse erfahren.

In Lehrerausbildungsseminaren wird grundsätzlich im Sinne einer doppelten Vermittlungspraxis gearbeitet: Jedes Instrument zum Umgang mit Störungen, das in der Seminargruppe als hilfreich erfahren wird, um die Prozesse in dieser Gruppe zu leiten, wird damit zugleich als Instrument zur Verfügung gestellt, Lerngruppen in der Schule zu leiten.

Die Analyse des eigenen Gruppenprozesses in einer Gruppe setzt voraus, dass die Gruppenleitung die Teilnehmenden für fähig hält, sich den eigenen Gruppenprozess bewusst zu machen und damit Verantwortung für denselben zu übernehmen. Die Zumutung, selbst Verantwortung zu übernehmen, geht damit Hand in Hand mit einem Zutrauen, dazu in der Lage zu sein.

Im konkreten Fall handelte es sich um eine Ausbildungsgruppe von Referendarinnen und Referendaren, die bereits seit einem Jahr als feste Gruppe zusammen gearbeitet hat. Es hatte sich also bereits ein gutes Vertrauensverhältnis sowohl unter den Gruppen-teilnehmerinnen – und teilnehmern als auch zu mir als Leiterin herausgebildet.

Ein Wunsch der Gruppe war, die Gesprächsführung bei Unter-richtsgesprächen zu thematisieren, da sich die Referendarinnen und Referendare dabei selbst häufig unsicher fühlten. Dieses Thema schien auch aus meiner Perspektive sinnvoll, da ich beobachtet hatte, dass viele Unterrichtsgespräche „unter der Hand“ zu Frage-Antwort-Spielen mutierten. Für die Seminarsitzung wurde von mir folgendes Thema formuliert: „Unterrichtsgespräche führen – was müssen wir als Lehrende wissen, was müssen wir können, damit sie gelingen?“

Der Zielsetzung entsprechend gab es in der Seminarsitzung sowohl einen inhaltlich-fachlichen Input, als auch die Gelegenheit für die Teilnehmenden in Einzelarbeit und Kleingruppen über ihre eigene Durchführung von Unterrichtsgesprächen nachzudenken und sich über die Gelingensbedingungen von Unterrichtsge-

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sprächen in Kleingruppen auszutauschen. Sie beschäftigten sich bereitwillig mit den jeweiligen Aufgabenstellungen, sodass ober-flächlich betrachtet während der Seminarsitzung keine Störung zu erkennen war.

Es schienen auch alle vier Faktoren beachtet:➢➢ GLOBE: Der Gegenstand war im Rahmen der Ausbildung

von allen als relevant erkannt und zum gegenwärtigen Zeit-punkt aktuell.

➢➢ ICH: Jede und jeder Einzelne hatte die Möglichkeit sich mit den eigenen Problemen, Fragen, Vorstellungen zu unter-schiedlichen Zeitpunkten der Sitzung auseinanderzusetzen und einzubringen.

➢➢ WIR: In Kleingruppen und im Plenum bestand auf unter-schiedlichen Ebenen die Möglichkeit der Kooperation in Bezug auf die Aufgabe.

➢➢ ES: Das Thema war so formuliert, dass ein Anknüpfen jedes Einzelnen mit der gemeinsamen Aufgabe ermöglicht wurde.

Späte Störung – Balance in Schräglage

Erst bei der Rückmelderunde am Ende der Sitzung brachte dann ein Teilnehmer seine Unzufriedenheit mit der Sitzung mit der Bemerkung zum Ausdruck: „Das Thema hat mich zu Beginn sehr angesprochen, aber meine Fragen sind gar nicht vorgekommen und nicht beantwortet worden.“ Diese am Ende der Sitzung gemeldete Störung – der Teilnehmer war nach eigener Aussage schon eine längere Zeit nicht mehr wirklich bei der Sache, weil das, was ihm wichtig war, gar nicht vorkam – konnte an dieser Stelle nicht mehr bearbeitet werden. Ich bedankte mich daher zunächst für diese kritische Rückmeldung und die in ihr enthal-tene wichtige Information und versprach, sie bei der Planung der nächsten Seminarsitzung zu berücksichtigen.

Diese aktuelle Sitzung wurde mit einem Gefühl der Unzufrie-denheit beendet, das aber sowohl von mir als der Leiterin, wie auch von den Teilnehmenden aufgrund der schon vorhandenen Vertrauensbasis ausgehalten werden konnte: Das Boot war in eine starke Schräglage geraten, aber noch nicht gekentert.

Bei mir meldeten sich anschließend zunächst Ärger über die zu spät gemeldete Störung, darüber, dass sie mir nicht selber aufgefallen war, und dann die Frage, wie damit produktiv in der Gruppe umgegangen werden kann: Wie kann erreicht werden, dass dieser und andere Teilnehmende rechtzeitig und konstruktiv im Sinne der Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit der Gruppe am Thema ihre Fragen, ihr Unverständnis, ihre abweichenden Meinungen einbringen?

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Die Schräglage auffangen: eine Prozessanalyse

Obwohl die nächste Seminarsitzung erst zwei Wochen später stattfand, entschloss ich mich die spät gemeldete Störung als Anlass für eine Prozessanalyse zu nehmen. Das Ziel war, die Gruppe in die Bearbeitung der Störung einzubeziehen und damit zu zeigen, dass nicht nur die Leiterin, sondern auch jeder Teil-nehmer und jede Teilnehmerin für die themenbezogene Arbeit der Gruppe verantwortlich ist, insbesondere dafür, dass die eige-nen Fragen und Anliegen bei der Bearbeitung des Themas ein-gebracht werden.

Für die Durchführung der Prozessanalyse wurden vier Leit-fragen entwickelt, die den vier Faktoren eines erfolgreichen interaktionellen Arbeitsprozesses entsprechen: Hat das Thema den Bearbeitungsprozess geleitet? Inwiefern wurde die Frage geklärt? Inwiefern war die Struktur (der Sitzung) geeignet, den Prozess zu lenken? Wie hat die Leitung (habe ich als Leitung) den Gesprächsprozess geleitet? Wie habe ich (als Teilnehmer oder Teilnehmerin) meine Fragen und Erwartungen eingebracht? Wie sind wir als Gruppe mit dem Thema, den Arbeitsaufträgen, den Beiträgen anderer umgegangen?

Alle Beteiligten, auch ich als Leiterin, beschäftigten sich zunächst in Einzelarbeit mit den Leitfragen. Anschließend fanden sich die Teilnehmer in Triaden (Zufallsgruppen!) zusammen und tausch-ten ihre Gedanken mit dem Ziel aus, sich – wenn möglich – auf je eine Aussage pro Frage zu einigen. Schließlich wurden die Gruppenaussagen im Plenum erläutert und im Gespräch erörtert.

In der Prozessanalyse selbst erlebte sich die Gruppe mit mir als partizipierender Leiterin kompetent im Analysieren der interaktionellen Wirkungszusam-menhänge. So wurde jetzt deutlich, dass für viele Teilnehmer die im Thema aufgeworfene Frage nicht konkret genug beantwortet wurde. Die Redebeiträge der Teilnehmenden wurden sowohl hinsichtlich ihres thematischen Bezugs als auch bezüglich der Länge kritisch hinterfragt. Ebenso tauchten jetzt Wünsche an die Strin-genz der Gesprächsleitung in der abschließenden Plenumsdiskus-sion auf. Diese Offenheit in der Bearbeitung war möglich, weil eine symmetrische Beziehung zwischen mir als Leiterin und den Teilnehmenden hergestellt werden konnte.

Aus der Prozessanalyse wurden konkrete Konsequenzen für die weiteren Seminarsitzungen abgeleitet: Wenn ein Teilnehmer oder eine Teilnehmerin den Eindruck hat, dass das Thema verlassen wird, kann er mit einem verabredeten Handzeichen das Gespräch stoppen. Alle übernehmen die Verantwortung dafür, dass die eige-nen Fragen und Anliegen angemessen zur Geltung kommen. Die

Jede/r ist für die themen-bezogene Arbeit der

Gruppe verantwortlich

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Leitung strukturiert abschließende Plenumsgespräche deutlich ergebnisorientiert.

Die „Schräglage“ konnte ausgeglichen werden, aber nicht durch eine Harmonisierung der Unterschiede, sondern dadurch, dass wir uns miteinander vergewissert hatten, dass jeder und jede einzelne Person mit ihrer Position und ihrem Anliegen in dieser Gruppe ihren Platz hat. Gleichzeitig wurde für alle deutlich, dass das Ba-lancieren der Faktoren eines Gruppenprozesses keine stabile Größe ist, sondern in jedem Moment des Prozesses hohe Aufmerksamkeit und Präsenz von allen Beteiligten erfordert.

Fazit

Das Ausbalancieren der vier Faktoren in einer interaktionellen Gruppe lässt ein mechanistisches Vorgehen nicht zu: Es geht nicht darum, dass die Gruppenleitung im richtigen Moment das jeweils richtige der vier verschiedenen „Pedale“ bedient, sondern darum, dass zwischen Leitung und Gruppe ein Kontakt hergestellt ist, der das gemeinsame Aushalten von Spannungszuständen und Austa-rieren von Ungleichgewichten ermöglicht.

So können die Postulate „Sei deine eigene Chairperson“ und „Nimm (daher) auch die bei dir und anderen auftretenden Störun-gen wahr“ geübt und als konstruktives Arbeits- und Lebensprinzip erfahren werden. Durch diese Form der Integration von positiv konnotierten Störungen in den Arbeitsprozess unterscheidet sich eine auf der Basis der TZI geleitete Gruppe deutlich von anderen Konzeptionen, denen es eher darum geht Störungen zu vermeiden oder zu unterdrücken.

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