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Einführung in die interkulturelle Literatur · des abschließenden Teils dieser Einführung. 8 VonderOdyseezur Migrationsliteratur ZieledesBuches. II.Forschungsbericht Zwar lässt

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Einführungen Germanistik

Herausgegeben vonGunter E. Grimm und Klaus-Michael Bogdal

Michael Hofmann / Iulia-Karin Patrut

Einführung in die interkulturelleLiteratur

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitungdurch elektronische Systeme.

i 2015 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), DarmstadtDie Herausgabe dieses Werkes wurde durchdie Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, HemsbachEinbandgestaltung: schreiberVIS, BickenbachPrinted in Germany

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-26626-5

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): 978-3-534-73953-0eBook (epub): 978-3-534-73954-7

Inhalt

I. Grundlagen: Was ist interkulturelle Literatur? . . . . . . . . . . . 7

II. Forschungsbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

III. Ansätze, Theorien und Methoden der Analyse interkulturellerLiteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121. Alterität und Fremdheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122. Dekonstruktion und Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . 143. ,Orientalismus‘ und Postkoloniale Studien . . . . . . . . . . 164. Gender und Machtasymmetrien . . . . . . . . . . . . . . . . 18

IV. Geschichte interkultureller Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . 221. Vorgeschichte interkultureller Literatur . . . . . . . . . . . . 232. J. W. Goethes ,Weltliteratur‘ und ihre Kontexte . . . . . . . . 263. Indien, Ägypten und die Literatur der Romantik . . . . . . . . 284. Die ,Entdeckung der Welt‘ in der Literatur des Realismus . . . 395. Exotismus und Primitivismus in den Avantgarde-Bewegungen 476. Außereuropäische Kulturen in der literarischen Moderne . . . 58

V. Interkulturelle deutschsprachige Gegenwartsliteratur . . . . . . 631. Deutsch-türkische Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

1.1 Entwicklungstendenzen der deutsch-türkischen Literatur 671.2 Die Stellung der deutsch-türkischen Literatur in der Ge-

genwartsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 692. Deutsch-arabische und deutsch-iranische Literatur . . . . . . 733. Deutsch-rumänische Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . 834. Deutsch-baltische, deutsch-russische und deutsch-ukrainische

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 965. Weitere Konstellationen interkultureller Literatur nach 1945 . 104

VI. Exemplarische Textanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1151. Deutsch-türkische, deutsch-arabische und deutsch-iranische

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1151.1 Emine Sevgi Özdamar: Das Leben ist eine Karawanserei,

hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderenging ich raus (1992) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

1.2 Emine Sevgi Özdamar: Die Brücke vom Goldenen Horn(1998) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

1.3 Zafer S̨enocak: Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift(2011) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

1.4 Sherko Fatah: Das dunkle Schiff (2008) . . . . . . . . . . 123

Inhalt

1.5 Navid Kermani: Große Liebe (2014) . . . . . . . . . . . 1282. Deutsch-rumänische Literatur: Herta Müllers Atemschaukel

(2009) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1343. Ukrainisch-österreichische Literatur: Julya Rabinowich:

Die Erdfresserin (2012) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1414. Weitere Konstellationen interkultureller Literatur nach 1945 . 145

4.1 Yoko Tawada: Talisman (1996) . . . . . . . . . . . . . . 1454.2 Ilija Trojanow: Der Weltensammler (2006) . . . . . . . . 152

Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

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I. Grundlagen: Was ist interkulturelle Literatur?

,Kultur‘ wird im Sinne eines ,erweiterten Kulturbegriffs‘ als Ensemble desvom Menschen als sinnvoll Erachteten und als Ensemble der planvoll verän-derten Welt verstanden (vgl. hier und im Folgenden Hofmann 2006, S. 9–60). ,Kultur‘ in diesem weiten Sinne trennt den Menschen von der ,Natur‘;indem der Mensch die Natur verändert, stiftet er die menschliche Kultur.Die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur ist dabei selbst eine Denk-figur. Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass Leben und Materie (also ,Na-tur‘) außerhalb des menschlichen Bewusstseins und Verstandes und unab-hängig von seinen gestalterischen Bemühungen (also unabhängig von ,Kul-tur‘) existieren. Seit dem späten achtzehnten Jahrhundert spricht man aberauch von ,Kulturen‘ im Plural und versteht unter ,Kulturen‘ idealtypischeGemeinschaften mit gemeinsamer Sprache und gemeinsamen Traditionen.Benedict Anderson bezeichnet die Nationen als ,imaginäre Gemeinschaf-ten‘ (vgl. Anderson 2005), das heißt als Gemeinschaften, deren Identität mitkulturellen Hervorbringungen und einem gemeinsamen Diskurs gestiftetwird, die aber immer einer Veränderung unterworfen sind und die – dies istvon zentraler Bedeutung – nur im Austausch mit anderen Nationen und Kul-turen verstanden werden können. Hier wird der Begriff der ,Interkulturalität‘relevant: Er bezeichnet den Austausch zwischen den Kulturen und die Tatsa-che, dass kulturelle Identität nur in diesem Austausch und in der Mischungzwischen Eigenem und Fremdem begriffen werden kann. Einzelne Kulturensind nicht in sich homogen und es lassen sich zahlreiche Bezugsgrößen fin-den, die Kulturen untereinander als ähnlich erscheinen lassen. Dennoch istdie Rede von Kulturen in der Mehrzahl gerechtfertigt. Erstens haben sichtrotz der Relativität und Brüchigkeit der Grenzziehungen über Jahrhundertehinweg wirkmächtige, oft auch staatlich institutionalisierte Sprach- undDiskursräume herausgebildet, die ansprechbar bleiben müssen; und zwei-tens ist es sinnvoll, der Pluralität und dem hybriden Charakter von Selbst-und Weltbezügen, kollektiven Erinnerungen und tradierten Wissensbestän-den Rechnung zu tragen (ohne radikale Differenz zu implizieren).

Literatur galt insbesondere im 19. Jahrhundert als ein wichtiges Momentder Stiftung und Weiterentwicklung kultureller Identität in den ,imaginärenGemeinschaften‘ der Nationen; sie war und ist aber auch immer schon einOrt des Austauschs zwischen verschiedenen Kulturen und ein Raum der kri-tischen Reflexion von kollektiven Selbstentwürfen. Literatur gestaltet somitkulturelle Identität mit, sie gestaltet aber immer auch die Begegnung mit an-deren Kulturen und ist zudem in der Lage, Imaginationen der Homogenität,wie beispielsweise ,Volk‘ oder ,Nation‘ zu problematisieren. Sie stellt dieFormen und Denkfiguren zur Disposition, mittels derer sich das kulturelle,Selbst‘ entwirft, und kann darlegen, dass auch anderes möglich wäre.

Die Erfahrung von ,Alterität‘ bedeutet die Konfrontation mit einem kultu-rellen Anderen, dessen Verschiedenheit vom Eigenen sich erfahren lässt(wobei in dieser Begriffsverwendung jede Wertung suspendiert erscheint).

Kultur

Interkulturalität

Literatur undInterkulturalität

Alterität undFremdheit

I. Grundlagen

,Fremdheit‘ bedeutet Alterität mit einer intensiven Erfahrung der Differenz,die in Abgrenzung umschlagen kann; das Fremde kann zum ,Befremden-den‘ werden (engl. ,strange‘, frz. ,étrange‘). Individuen und Kulturen befin-den sich in einem ständigen Transformationsprozess, der sich den Irritatio-nen und Anregungen durch das ,Fremde‘ verdankt. Auf der anderen Seitekann die Begegnung mit Fremdem von Überforderungs- und Besitzstands-wahrungsängsten überschattet sein. Der Umgang mit dem Anderen unddem Fremden ist aus all den genannten Gründen ein facettenreiches undwichtiges Problem des menschlichen Zusammenlebens; der zivile Umgangmit Alterität und Fremdheit ist die Basis eines friedlichen Miteinanders in-nerhalb jeder Gesellschaft und auch zwischen verschiedenen Gesellschaf-ten. Er ermöglicht schließlich auch die bereits um 1800 angedachte Vorstel-lung von der ,Weltgesellschaft‘.

,Alterität‘ und ,Fremdheit‘ sind Grundthemen und Grundaspekte der Lite-ratur von der Odyssee bis zur Migrationsliteratur der Gegenwart. Indem Li-teratur das Fremde mit dem Eigenen verbindet, leistet sie einen Beitrag zuinterkultureller Kommunikation und interkultureller Kompetenz. ,Deutsche‘Literatur stand immer schon im Austausch mit anderen Kulturen und Litera-turen; so gut wie alle kanonischen Texte der deutschsprachigen Literatur ge-stalten die Begegnung mit dem Anderen und dem Fremden: von Parzivalüber Iphigenie auf Tauris, Heinrich von Ofterdingen, Der Tod in Venedig,Die Blechtrommel bis zu Der Weltensammler. In der interkulturellen Litera-tur aus den letzten, stark von Migration und Transmigration geprägten Jahr-zehnten rückt die Auseinandersetzung mit dem Stellenwert von Fremdheitfür den eigenen Selbstentwurf, aber auch mit Heterogenität, hybriden Äuße-rungen, Dialog und Anerkennung unübersehbar ins Zentrum der deutsch-sprachigen Literatur.

Dieses Buch stellt zunächst theoretische und methodische Ansätze zur Er-forschung interkultureller Literatur bereit und gibt dann einen geschichtli-chen Überblick über die Entwicklung interkultureller Bezüge in derdeutschsprachigen Literatur. Unser besonderes Augenmerk gilt dann der in-terkulturellen deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, die sich im Zuge derGlobalisierung und insbesondere der Migrationsbewegungen seit den1960er Jahren entwickelt hat und die besonders dadurch gekennzeichnetist, dass hier Autorinnen und Autoren mit nicht-deutscher Muttersprache zuwichtigen Akteuren dieser Gegenwartsliteratur geworden sind. Exemplari-sche Textanalysen wichtiger Werke dieser Gruppe bilden den Gegenstanddes abschließenden Teils dieser Einführung.

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Von der Odysee zurMigrationsliteratur

Ziele des Buches

II. Forschungsbericht

Zwar lässt sich in der Retrospektive erkennen, dass die Literaturwissenschaftschon immer die Aspekte und Fragestellungen behandelt hat, die als inter-kulturelle bezeichnet werden können. Eine explizite Auseinandersetzungmit interkulturellen Perspektiven bildet sich in der Germanistik aber erst inden 1990er Jahren heraus. Dies ist sicherlich darauf zurückzuführen, dassdie Erfahrungen mit der Arbeitsmigration und den Fluchtbewegungen seitden 1960er Jahren, die Deutschland trotz gegenläufiger Versicherungen zueiner Einwanderungsgesellschaft gemacht hatten, und die Auswirkungender Globalisierung auch die Germanistik erreicht haben. Im Zuge der Etab-lierung der Germanistik als Kulturwissenschaft wurde so die Interkulturalitätzu einem neuen Forschungsparadigma. Die Gründung der Gesellschaft fürInterkulturelle Germanistik (mit Alois Wierlacher) und die Etablierung desAdelbert von Chamisso-Preises (mit Harald Weinrich und Irmgard Acker-mann) sind Meilensteine dieser Entwicklung, zeigen aber zunächst noch dieBindung dieses Forschungsinteresses an den Bereich Deutsch als Fremd-sprache und an die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland. Während sichin den angloamerikanischen Ländern die postcolonial studies entwickelten(siehe unten), etablierte sich in der deutschen Germanistik zunächst eine ei-genständige Form interkultureller Literaturwissenschaft, die in der Traditioneiner kritischen Hermeneutik und der Kritischen Theorie den Bezug deut-scher Literatur und Kultur zu anderen Kulturen in literarischen Texten unter-suchte. Herbert Uerlings‘ Studie Poetiken der Interkulturalität. Haiti beiKleist, Seghers, Müller, Buch und Fichte aus dem Jahre 1997 kann als Pio-nierleistung einer kritischen interkulturellen Literaturwissenschaft verstan-den werden, mit der ein statisches und homogenes Verständnis von ,Kultu-r(en)‘ überwunden und eine neue Forschungsperspektive definiert wurde.Weitere Grundlagen der neuen Forschungsrichtung entwickelte NorbertMecklenburg, der wie Uerlings dafür plädierte, bei der Beschäftigung mitinterkulturellen Aspekten der Literatur nicht den genuin literaturwissen-schaftlichen Zugang aus den Augen zu verlieren. In dem Beitrag Über kul-turelle und poetische Alterität. Kultur- und literaturtheoretische Grundpro-bleme einer interkulturellen Germanistik (Mecklenburg 1990) plädierteMecklenburg für eine kritische Hermeneutik, die sich den Einflüssen auchder postkolonialen Kritik öffnen, dabei aber insofern die spezifisch literatur-wissenschaftliche Perspektive bewahren sollte, als die literarische Alteritätals Fremdheitserfahrung verstanden und somit als ,Einübung‘ in Interkultu-ralität begriffen werden könne. Im Jahre 2008 hat Mecklenburg mit seinemBand Das Mädchen aus der Fremde. Germanistik als interkulturelle Litera-turwissenschaft die Summe seiner Studien zu diesem Bereich vorgelegt undein grundlegendes Standardwerk präsentiert. Wichtig für die germanistischeDiskussion war auch der Beitrag von Ortrud Gutjahr, die im Jahre 2002 indem Band Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neueTheoriekonzepte (vgl. Gutjahr 2002) ein schlüssiges Konzept für die germa-

Germanistik undInterkulturalität

Herbert Uerlings

Norbert Mecklen-burg

II. Forschungsbericht

nistische als interkulturelle Literaturwissenschaft vorlegte, das kongenial er-gänzt wurde durch den Beitrag von Marina Münkler zur mediävistischenGermanistik (vgl. Münkler 2002). Erste Zusammenfassungen des For-schungsstands boten Michael Hofmann (Hofmann 2006) und Andrea Lesko-vec (Leskovec 2011). Jüngst verfassten Dieter Heimböckel und ManfredWeinberg den programmatischen Artikel Interkulturalität als Projekt (Heim-böckel/Weinberg 2014). Wichtig sind im Übrigen die Arbeiten von LeoKreutzer, der in Kooperation mit der westafrikanischen Germanistik einKonzept entwickelt hat, in dem die germanistische Literaturwissenschaft alskritische Entwicklungsforschung definiert und kanonische literarische Texteim Kontext von Modernisierung und Entwicklung neu interpretiert wurden(vgl. Kreutzer 1989).

Parallel zu diesen Bestrebungen entwickelten sich zunächst vor allem inder US-amerikanischen Germanistik Ansätze, mit denen die Anregungender postcolonial studies auf die deutsche Kultur übertragen werden sollten.Bahnbrechend für die Entwicklung dieser postcolonial studies war EdwardSaids Studie Orientalism (zuerst 1978), mit der die Diskurse über den,Orient‘ als Konstrukte eines hegemonialen Systems ,des Westens‘ verstan-den wurden und deren Verbindung zur kolonialen Herrschaft unterstrichenwurde. Davon ausgehend, legte Nina Berman im Jahre 1997 die StudieOrientalismus, Kolonialismus und Moderne. Zum Bild des Orients in derdeutschsprachigen Kultur um 1900 vor (Berman 1997). Susanne Zantopwandte sich in ihrer Studie Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutsch-land (1770–1870) (engl. 1997, deutsch vgl. Zantop 1999) gegen die Thesevon einem deutschen ,Sonderweg‘ in der Zeit der kolonialen Herrschaftund betonte die Affinitäten zum kolonialen Denken auch in der klassischendeutschen Literatur. Russel Berman stellte demgegenüber in Enlightenmentor Empire? (Berman 1998) die These auf, dass sich etwa bei Georg ForsterPerspektiven einer mimetischen Poetik finden, die Alterität tendenziell ohneHerrschaft denkbar erscheinen ließ. Todd Kontje wiederum diskutierte inseiner grundlegenden Studie German Orientalisms (2004) Saids These undbreitete umfangreiches deutschsprachiges historisches Material aus, in deminsbesondere auch der europäische Osten als Spielart des deutschen Orien-talismus begriffen wurde. Unter Berücksichtigung ästhetischer Eigenlogikvertiefen die Arbeiten von Iulia-Karin Patrut diese Forschungsrichtung underweisen die enorme Bedeutung Osteuropas für die Herausbildung orienta-listischen und kolonialistischen Denkens im deutschsprachigen Raum (Pa-trut 2014b, Patrut 2014c). Dass Saids Thesen freilich nicht unmittelbar aufdie deutschen Verhältnisse anzuwenden seien und das Verhältnis vonOrient-Diskurs und Literatur differenziert zu betrachten sei, betonten An-drea Polaschegg (Polaschegg 2005) und die Sammelbände Der DeutschenMorgenland. Bilder des Orients in der deutschen Literatur und Kultur von1770 bis 1850 (Goer/Hofmann 2007), Orientdiskurse in der deutschen Lite-ratur. (Bogdal 2007) und Morgenland und Moderne (Dunker/Hofmann2014).

Die Etablierung einer explizit postkolonialen germanistischen Literatur-wissenschaft vollzog sich dann in den Jahren nach 2000. So gab Axel Dun-ker im Jahre 2005 den Band (Post-) Kolonialismus und deutsche Literatur.Impulse der angloamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie (Dunker

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Leo Kreutzer

Edward Said

Deutscher,Orientalismus‘

Axel Dunker

II. Forschungsbericht

2005) heraus und bot mit Kontrapunktische Lektüren (Dunker 2008) einekonkrete Anwendung der erneuerten Thesen Edward Saids (in Kultur undImperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeichen der Macht, Said1984) vor allem auf die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts. Bereits2006 nahm Herbert Uerlings in ,Ich bin von niedriger Rasse‘. (Post-)Kolo-nialismus und Geschlechterdifferenz in der deutschen Literatur eine Profi-lierung postkolonialer Studien vor. Sein Ansatz fokussiert auf Machtasym-metrien und ,weiße‘ okkupatorische Blickregimes und schlägt eine Brückezwischen Herangehensweisen der kritischen Interkulturalitätsforschung undder postkolonialen Studien. Die Arbeiten Iulia-Karin Patruts haben erwie-sen, dass sich kolonialistische Diskurse auf dem Gebiet Deutschlands (in Er-mangelung an Kolonien) im Inneren auf ,Zigeuner‘ beziehen – ein Zusam-menhang, mit dem sich auch zahlreiche literarische Texte seit 1770 aus-einandersetzen (Patrut 2014a). Einen wichtigen Beitrag zur Etablierungeines postkolonialen Bewusstseins in Deutschland weit über die Germanis-tik hinaus hatten Alexander Honold und Klaus Scherpe mit ihrem Kompen-dium Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden inder Kolonialzeit (Honold/Scherpe 2004) geleistet, das in einer Fülle vonFallgeschichten den Einfluss der deutschen Kolonialherrschaft auf das natio-nale Selbstverständnis vor allem im wilhelminischen Kaiserreich anschau-lich demonstrierte. Eine eindrucksvolle Bestandsaufnahme des neuen For-schungsfeldes boten Gabriele Dürbeck und Axel Dunker in dem Band Post-koloniale Germanistik. Bestandsaufnahme, theoretische Perspektiven, Lek-türen (Dürbeck/Dunker 2014), in dem die theoretischen und forschungsge-schichtlichen Grundlagen des neuen Ansatzes ebenso dargelegt werdenwie wichtige neue Anregungen zu Interpretationen kanonischer und auchpopulärer Texte. Durchgängig plädieren die Autorinnen und Autoren desBandes für eine Durchdringung und Kooperation zwischen interkulturellerLiteraturwissenschaft und postkolonialen Ansätzen – eine Position, die auchDirk Göttsche in der umfassenden Studie Remembering Africa. The Redis-covery of Colonialism in Contemporary German Literature (Göttsche 2013)vertritt.

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,Mit Deutschland umdie Welt‘

PostkolonialeGermanistik

III. Ansätze, Theorien und Methoden derAnalyse interkultureller Literatur

Die interkulturelle Literaturwissenschaft bezieht sich zunächst auf Konzeptevon Fremdheit und Alterität, um die Begegnung mit dem Anderen undFremden theoretisch zu erfassen (vgl. Hofmann 2006, S. 9–26). Dabei istvon Bedeutung, dass vor allem in den gegenwärtigen Gesellschaften undKonstellationen die Konzepte des Eigenen und Fremden ihre Konturen ver-lieren, indem das Fremde im Eigenen und das Eigene im Fremden erkennbarwird und so Zustände des Übergangs und der offenen Identität in den Blickkommen (1). Dass sich Konzepte der Totalität, durch welche die Traditiondes westlichen Denkens geprägt ist, verändern und tendenziell auflösen,bedenkt die philosophische Strömung der Dekonstruktion, die aber zu denBemühungen der Hermeneutik in einem komplexen Spannungsverhältnissteht (2). Denn während einerseits starre Konzepte etwa kultureller Identitätaufgelöst werden, orientiert man sich andererseits grundsätzlich immer(noch) auch an Konzepten des Verstehens, die nach Identität und Synthesedes Mannigfaltigen streben. Allerdings ist jederzeit zu berücksichtigen, dassin vielen Fällen vermeintlich fraglose Konzeptbildungen und Begriffe aufeinem Denken beruhen, das im Rahmen des Kolonialismus europäischeHerrschaft begründet oder zumindest begleitet hat. So muss die interkultu-relle Literaturwissenschaft die postkoloniale Reflexion einer Herrschaftsbe-zogenheit der europäischen Konzepte mit bedenken (3). Dabei stellt sichheraus, dass die kolonialen Machtasymmetrien sehr häufig mit Ungleich-heiten in der Geschlechterordnung zusammengehen, sodass sich die Gen-derforschung als ein unhintergehbares Moment der interkulturellen undpostkolonialen Literaturwissenschaft erweist (4).

1. Alterität und Fremdheit

Unter ,Alterität‘ lässt sich das Andere verstehen, das nicht unmittelbar,fremd‘ sein muss (lat.: ,alter‘: ,der andere von zweien‘, ,alter‘ vs. ,alius‘,,alienus‘). Identität konstituiert sich aber zunächst in Abgrenzung vom An-deren (im individuellen wie im kollektiven Bereich). Das menschliche Be-dürfnis nach Identitätsbildung ist elementar; es muss aber nicht zu einerstarren Identität und zu einer Zurückweisung des Anderen führen, sondernkann prozessual und offen gedacht werden. Für die Philosophie der Alterität(Lévinas, Waldenfels) stellt die Begegnung mit dem Anderen eine ursprüng-liche Erfahrung dar, ohne die eine Konstitution des Ich gar nicht denkbar ist.

Die Bedeutung des Wortes ,fremd‘ lässt sich folgendermaßen rekonstruie-ren: Als ,fremd‘ gilt häufig all das, was sich außerhalb des eigenen Bereichsbefindet, was einem anderen gehört; allgemein auch das, was unvertraut er-scheint und deshalb möglicherweise ,befremdet‘. Aber: ,Fremde sind wir

Alterität

Fremdheit

1. Alterität und Fremdheit

uns selbst‘ (Julia Kristeva): das Fremde ist nicht nur außer uns. Das Unbe-wusste ist das fremde Eigene; der Tod ist das prinzipiell Fremde. So ist dieErfahrung von Fremdheit komplex und ambivalent. Die Bezeichnung einesAnderen als Fremdem beruht häufig auf einer Verdrängung des abgespalte-nen ,peinlichen‘ Eigenen und auf einer Projektion unangenehmer Eigen-schaften und Verhaltensweisen auf das ,Fremde‘ (dies ist eine Grundpers-pektive des Antisemitismus und des Rassismus).

Folgende Facetten des Fremdverstehens sind nach Ortfried Schäffter zuunterscheiden (vgl. Schäffter 1991):

1) das Fremde als Resonanzboden des Eigenen: Beschäftigt man sich intensivmit dem ,Fremden‘, so erkennt man viele Momente des Eigenen in ihm,sodass Fremdheit tendenziell verschwindet und Ähnlichkeit feststellbarwird. Diese Erfahrung artikulierte Goethe, als er die Gedichte des mittel-alterlichen persischen Dichters Hafis kennenlernte und diesen als seinen„Zwilling“ bezeichnete.

2) das Fremde als Gegenbild: Hier wird das Eigene definiert in Abgrenzungzum Fremden, wobei feste Identitäten hypostasiert werden, deren Kon-struktionscharakter eine kritische Kulturwissenschaft aufdecken kann.

3) das Fremde als Ergänzung: Hier wird der Kontakt mit dem Fremden positivals Erweiterung des Eigenen aufgefasst. Das Eigene wird durch die Fülleder fremdkulturellen Erfahrungen reicher und verändert sich und seine ei-gene Vorstellung kultureller Identität.

4) das Fremde als das Komplementäre: Hier wird vor allem in der Erfahrungeiner deutlichen Unterscheidung der Kulturen die Idee aufrecht erhalten,dass das Fremde fremd bleiben kann und dass man somit die Fremdheit inbestimmten Fällen nicht überwinden kann, beispielsweise weil man daranscheitert, alle auf der Welt gesprochenen Sprachen zu lernen. In solchenFällen kann die Distanz zum Fremden gewahrt bleiben und dennoch dasFremde in seiner Fremdheit anerkannt und respektiert werden.

Grenzphänomene der Fremdheit (aus europäischer Sicht etwa: Kannibalis-mus, weibliche Genitalverstümmelung usw.) führen zu der Frage, ob kultu-relle Differenz immer toleriert werden kann, das heißt ob in jedem Fall dieNormorientierung des Anderen/Fremden respektiert werden muss oder obes kulturübergreifende Werte gibt, die für jede Kultur gelten und derenÜberschreitung nicht mit einer kulturellen Besonderheit erklärt werdenkann. So stellt sich das Problem, ob kulturelle Fremdheit durch einen Uni-versalismus des Humanen zu begrenzen ist und ob der Mitmensch in sei-nem Menschsein prinzipiell als der nicht Fremde zu verstehen ist, der be-stimmte Grundüberzeugungen des Humanen mit mir teilt. Der Einspruchgegen diese Position verweist darauf, dass in der Geschichte des westlichenDenkens das Humane fast immer als das Europäische verstanden wurdeund dass deshalb die Subsumierung nicht-europäischer Kulturen unter einproblematisches menschliches Allgemeines Teil eines Herrschaftsdenkensist, das lediglich europäische Werte zu universellen machen würde. Auf deranderen Seite ist schwer zu vermitteln, woher der ethische Impetus der In-terkulturalität mit seiner Respektierung des Fremden kommen könnte, wennnicht von einem universalen Respekt vor der Selbstbestimmung jedes Men-

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Facetten desFremdverstehens

Grenzphänomeneder Fremdheit

III. Ansätze, Theorien und Methoden der Analyse

schen und jeder menschlichen Gemeinschaft, aus der heraus sich die Viel-falt der Kulturen entwickelt. In diesen Kontext gehören die Debatten umuniversale Menschenrechte, aber auch um das Konzept der Humanität, dasin der deutschen Kulturgeschichte gerade für Herder und Goethe zentralwar.

2. Dekonstruktion und Hermeneutik

Sowohl Hermeneutik als auch Poststrukturalismus interessieren sich für in-terkulturelle Literatur. Zum Poststrukturalismus gehören Ansätze wie diePsychoanalyse Jacques Lacans (Lacan 2006), die Machttheorie und Diskurs-analyse Michel Foucaults (Foucault 1991) und die Dekonstruktion JacquesDerridas (Derrida 1999, S. 31–56). Den drei Herangehensweisen ist ge-meinsam, dass sie sich mit dem letztlich unbegründeten und paradoxenCharakter aller Unterscheidungen in der Sprache sowie mit der Uneinlös-barkeit des Anspruchs, ,Wahrheit‘ sprachlich zu repräsentieren, befassen.Diese Probleme spitzen sich zu, wenn es um die Möglichkeiten geht, ho-mogene Einheiten und interkulturelle Konstellationen zu beobachten unddarzustellen. Die neuere Hermeneutik untersucht ebenfalls interkulturellePoetiken und fragt nach der Art und Weise, wie sich literarische Texte alseine ästhetisch codierte Kommunikation zu sonstigen kulturellen Kommuni-kationen verhalten, beispielsweise zu Ideologien, Ausschlüssen oder Grenz-ziehungen im wissenschaftlichen oder populärwissenschaftlichen Wissender Entstehungszeit des jeweiligen literarischen Textes.

Hermeneutik wie auch Dekonstruktion gewinnen in der Auseinanderset-zung mit interkultureller Literatur neue Facetten. In den letzten Jahrzehntendes 20. Jahrhunderts wurden hermeneutische und poststrukturalistische An-sätze – zumindest in ihrem jeweiligen Selbstverständnis – eher selten mit-einander verbunden, heute jedoch werden sie (gerade in der Auseinander-setzung mit interkultureller Literatur) durchaus miteinander kombiniert.Dies ist möglich, weil sich die Erkenntnisinteressen berühren und gegen-wärtig kaum mehr grundlegende Unterschiede zwischen den Vorannahmenbezüglich der Verfasstheit von Literatur, Wissen und Macht mehr bestehen,sodass sich die Stärken der Ansätze ergänzen können. Der Poststrukturalis-mus fokussiert auf die Haltlosigkeit aller Unterscheidungen, während dieHermeneutik hypothetische Fluchtlinien erkannter Unterscheidungen imText rekonstruiert und sie als grundloses Spiel versteht, dem dennoch Aussa-gen und Stellungnahmen innewohnen.

Poststrukturalistische Theorien haben gezeigt, dass Sprache, Wissen undMacht eng miteinander zusammenhängen und daher jeder Versuch, analy-tische Standpunkte zu entwerfen, die in kritischer Distanz zu diesen Wis-sensordnungen stehen, teilweise in sich selbst widersprüchlich ist. MichelFoucault hat mit dem Begriff der ,Episteme‘ die Gesamtheit des in einer be-stimmten Zeit in einem bestimmten kulturräumlichen Kontext Denkbarenbezeichnet, und mit jenem des ,Dispositivs‘ die Konkretion des Denkbarenin Macht-Figurationen und Institutionen wie dem Recht (Foucault 1971).Der Versuch, aus dieser Ordnung des Denkbaren auszutreten, um sie zu be-obachten und zu analysieren, zieht erkenntnistheoretische Probleme nach

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Jacques Lacan,Michel Foucault,Jacques Derrida

Hermeneutik undPoststrukturalismus

Episteme undDispositiv

2. Dekonstruktion und Hermeneutik

sich. Interkulturelle Literatur bildet hier keine Ausnahme, denn auch sie ist,auf der allgemeinsten Ebene betrachtet, Teil der Episteme ihrer Entstehungs-zeit. Dennoch wohnen ihr einige Möglichkeiten inne, die anders verfasstenFormen kultureller Kommunikation nicht gegeben sind, insbesondere daszweifache (ästhetische und kulturelle) Spiel mit Fremdheit in der interkul-turellen Literatur. Hier werden Spielräume des Auch-Anders-Denkbaren,Auch-Anders-Möglichen oder Noch-Fremden verhandelt. Dadurch scheintein Moment der Differenz gegenüber dem in der Sprache und im kulturel-len Wissen bereits Verfügbaren auf, und dieses Moment der Differenz er-möglicht es, das Gegebene zu befragen, zu analysieren und zu dekonstruie-ren – ein Weg, den literarische Texte bereits in der Zeit um 1800 einschla-gen und dabei unterschiedlich weit gehen.

Literarische Texte geben, im Unterschied zu anderen spezialisierten kul-turellen Kommunikationen wie etwa dem Recht, der Verwaltungssprache,den wissenschaftlichen Kommunikationen oder der Publizistik mit Nach-richtencharakter, gerade nicht vor, auf Gegebenes zu verweisen, und habendamit die Möglichkeit, in reflektierte Distanz zu einem naiven Verständnisdes Verweisungscharakters der Sprache zu treten. Sie entwerfen Sinn (odermitunter auch ,keinen Sinn‘, also Nonsens), indem sie Sprache zu ästheti-schen Formen arrangieren, die sich in erster Linie, im Ensemble des Textesoder des Fragments, zueinander verhalten, und die allenfalls mit Referentia-lität spielen, also innerhalb der fiktionalen Welt zwangsläufig ironische,nicht ganz aufgehende Verweise auf Daten und Orte der Geschichte ein-bauen. Diese Selbstreflexivität der Literatur, also das Hinterfragen des eige-nen Umgangs mit Sprache und der Möglichkeiten, zum Gegebenen in Dis-tanz zu treten, beschäftigt die Hermeneutik schon seit Längerem.

Interkultureller Literatur wohnt also ein besonderes Potential der Beob-achtung und Dekonstruktion epistemisch geronnener Formationen von Wis-sen und Macht inne. Dieses Potential und diese Leistungen sind Gegenstandder neueren hermeneutischen Beschäftigung mit interkultureller Literatur.Die hermeneutische Beschreibung interkultureller Poetiken könnte ohnedie neuen Perspektiven aus den poststrukturalistischen Theorien schwerlichauskommen. Im Lichte poststrukturalistischer Ansätze konnte erwiesen wer-den, dass schon in Teilen der Aufklärung, Klassik und Frühromantik Absur-des und Unhaltbares an den Grenzziehungen zwischen Kulturen und Natio-nen offengelegt und Identitäten als Spur einer nicht abschließbaren Suchereformuliert wurden. Die Unmöglichkeit, sich selbst als ,identisch‘ zu be-greifen zählte bereits zu den wichtigen Denkfiguren der Frühromantik. Post-strukturalistische Theorien setzen an einer ähnlichen Stelle an und radikali-sieren diese Überlegungen, wenn sie das Konzept der ,Identität‘ ganz verab-schieden und allen Sinn als bloße Gleitbewegung der ,différance‘ (des ,Dif-ferierens‘) auffassen.

Die neuere Hermeneutik interessiert sich durchaus ebenfalls für dasNachvollziehen oder rezipierende Neu-Entwerfen von Spuren der Differenzund für kulturelle, religiöse oder sonstige Unterscheidungen, die in Textengetroffen und wieder verworfen werden. Einige Texte, die Gegenstand die-ser Einführung sind, zielen bereits in der Zeit um 1800 darauf, tradierte Un-terscheidungs-Dispositive zu dekonstruieren und Grenzziehungen (bei-spielsweise zwischen vermeintlich überlegenen Kolonisierern und Koloni-

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Ästhetische Möglich-keiten: Spiel mitFremdheit

InterkulturelleLiteratur als Dekon-struktion von Wissenund Macht