29
Vertiefungsseminar Entwicklungspsychologie Dozentin: Frau Tettenborn Datum: 15. März 2001 Entwicklungspsychologische Theorie als Grundvoraussetzung für die Berufspraxis vorgelegt von: Hannah Uhle Wentorfer Str. 63 21029 Hamburg

Entwicklungspsychologische Theorie als … · Vertiefungsseminar Entwicklungspsychologie Dozentin: Frau Tettenborn Datum: 15. März 2001 Entwicklungspsychologische Theorie als Grundvoraussetzung

  • Upload
    dodan

  • View
    223

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Vertiefungsseminar Entwicklungspsychologie

Dozentin: Frau Tettenborn

Datum: 15. März 2001

Entwicklungspsychologische Theorie

als Grundvoraussetzung für die Berufspraxis

vorgelegt von:

Hannah Uhle

Wentorfer Str. 63

21029 Hamburg

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung................................................................................................................................1

2 Generelle Anwendungsmöglichkeiten von Entwicklungstheorien.........................................2

3 Spezielle Anwendungsgebiete der kognitiven Entwicklungstheorie......................................7

4 Spezielle Anwendungen von Piagets sensumotorischer Phase in der Ratgeberliteratur......124.1 Die sensumotorische Phase in der Ratgeberliteratur ROSSMANNS.............................124.2 Die sensumotorische Phase in der Ratgeberliteratur LÉCUYERS.................................144.3 Die sensumotorische Phase in der Ratgeberliteratur SCHENK-DANZINGER.............164.4 Die sensumotorische Phase in der Ratgeberliteratur KIPHARDS..................................19

5 Piagets Leistungen für die Entwicklungstheorie...................................................................24

6 Schlußwort.............................................................................................................................26

1 Einleitung

Inhalt des Vertiefungsseminar Entwicklungspsychologie im Sommersemster 2000 (Dr.

Tettenborn) war die Thematisierung der „kognitiven, motivationalen und emotionalen

Entwicklung in der frühen Kindheit und im Vorschulalter“, so der Titel des Aufsatzes von

DORIS BISCHOF-KÖHLER (1998), der als Grundlage des Seminars verwendet wurde.

Diese Autorin folgt der These, dass die drei phylogenetischen Niveaus

• instinktive vorrationale Verhaltenssteuerung,

• mentale Simulation von Problemlösungen und

• rationale Handlungsplanung

sich in der Kindesentwicklung der ersten fünf Jahren wiederfinden. In diesem Kontext hat sie

sich theoretisch mit der sensumotorischen Phase nach PIAGET, also der vorrationalen

Verhaltenssteuerung und der rationale Handlungsplanung, mit der Entwicklung des

Zeitverständnisses und metakognitiven Fähigkeiten (Theory of Mind) beschäftigt. Dabei

bleibt BISCHOF-KÖHLER lediglich auf der Stufe der theoretischen Interpretation von

kindlichem Verhalten, sie gibt keine praktischen Hinweise, wie beispielsweise die Fremden-

oder Trennungsangst von 8 Monate alten Kindern überwunden werden kann oder welche

erzieherischen Maßnahmen ergriffen werden sollten, wenn sich Kinder beim Fremden-

Situations-Test als unsicher-vermeidend oder unsicher-ambivalent herausstellen. Diesen

Anspruch erhebt sie aber auch gar nicht. Sie möchte, so scheint es, nur Modelle anbieten, die

möglicherweise typisch kleinkindliches Verhalten erklären könnten.

Dieses Anliegen der Autorin wurde im Seminar von den Teilnehmern problematisiert:

Was bringen solche Modelle? Haben sie Folgen für Pädagogik, Praxis und Eltern? Waren

Fragestellungen von Kommilitoninnen, die eher negativ beantwortet wurden. Ich vertrete in

meiner vorliegenden Arbeit die These, dass sie durchaus Relevanz für die Praxis haben. Sie

befassen sich nämlich mit Fragen, die die Menschheit schon seit Jahrhunderten beschäftigen:

Was ist von Geburt an da? Was ist universell gültig? Was ist normal und was weicht von der

Norm ab? Was muß ein Kind schon können, um ein autonomes Wesen zu werden? Genau

dies sucht der Grundlagentext des Seminars zu beantworten, indem er beschreibt, was ein

Kleinkind schon kann und was es erst lernen muß. Damit hilft er zu verstehen, warum jedes

Kind beispielsweise eine Trotzphase durchmachen muss und dass dies vollkommen natürlich

ist und keine Störung vorliegt.

1

Dies wiederum ist für Eltern hilfreich, wenn sie Umgang mit ihren Kindern haben. Aber mit

solcher These ist nicht spezifiziert, worin solche „Hilfe“ eigentlich besteht. Vielleicht war

dies der Grund für die Kritrik der Seminarteilnehmer an der mangelnden Praxisrelevanz des

Textes. Um genauer der Frage nachzugehen, worin die „Hilfe“ des Grundlagentextes von

DORIS BISCHOF-KÖHLER für praktisches Handeln vom Erwachsenen gegenüber Kindern

besteht, möchte ich am Beispiel der von der Autorin zitierten Entwicklungstheorie PIAGETS,

genauer seiner Bestimmung der sensumotorischen Phase, zu verdeutlichen versuchen, worin

mögliche Praxishilfen bestehen.

Dazu werde ich

1. fragen, welche Praxishilfen generell von Entwicklungspsychologie als einer

Forschungsdisziplin versprochen werden, indem ich anhand von OERTER/

MONTADA (1995) entsprechende allgemeine Anwendungsbeispiele vorstelle,

2. die Entwicklungstheorie PIAGETS und speziell seine Bestimmung der

sensumotorische Phase darstelle, um dann

3. die speziellen Anwendungen von der entsprechenden Phasenbestimmung PIAGETS in

der Ratgeberliteratur zu suchen.

Die Absicht meiner Arbeit ist es, einerseits dem Votum von der „Praxisferne“ kognitiver

Entwicklungstheorien entgegen zu treten und anderseits verständlich zu machen, warum und

in welchen Punkten doch dieses „Vorurteil“ zu Recht besteht.

2 Generelle Anwendungsmöglichkeiten von Entwicklungstheorien

An wissenschaftlich-psychologische Theorien wurden schon immer – so lese ich bei

SCHÖNPFLUG/ SCHÖNPFLUG (1989, S. 27) - unterschiedliche Anforderungen gestellt,

vor allem was demn Zusammenhang zwischen Theorie und Beobachtungsdaten betrifft. So

werden MORITZ SCHLICK (1918) und RUDOLF CARNAP (1932) als Vertreter eines sog.

„positivistischen“ Standpunktes vorgestellt mit der Forderung, dass Theorien sehr eng an

beobachtbaren, empirisch erfaßbaren Fakten anlehnen, was ihre konkrete Anwendung

erleichtern würde.

Andere Autoren dagegen sehen in „empiriefernen“ Theorien wie grundlegenden

philosophischen Weltkonzeptionen, fachspezifischen theoretischen Richtungen sowie

2

speziellen Theorien zu engen Problembereichen Möglichkeiten zur Lösung auch von

praktischen Problemstellungen.

Die Schwierigkeit besteht allerdings darin zu bestimmen, welche der vielen Theorien zur

Lösung einer bestimmten praktischen Frage geeignet ist.

Entwicklungstheorien können als fachspezifische theoretische Richtungen mit speziellen

Theorien im engeren Sinne verstanden werden, so dass sich hier das Problem der Anwendung

als Problem der gesamten Richtung und als Problem von Einzelkonzeptionen hinsichtlich von

Anwendungen zeigt.

So betonen OERTER/ MONTADA (1995), dass Entwicklungstheorien generell in fast jedem

Lebensbereich bewußt oder unbewußt angewendet werden. Sie finden Eingang in die

Hochbegabtenförderung, die Förderung geistig Behinderter und bei

Sorgerechtsentscheidungen. Die Entwicklungstheorien haben hierbei eine

Aufklärungsfunktion und sollen (er)klären, wie eine optimale Entwicklung des Individums

möglich ist. So sollen geistige, sensomotorische, soziale und motivationale Fähikeiten

gefördert werden.

Außerdem sollen Entwicklungstheorien eine Prävention vor Fehlentwicklungen ermöglichen.

Dafür stehen u.a. Entwicklungstests mit prädikativer Validität (z.B. Schulreifestests). Sie

sollen korrektive Interventionen ermöglichen. Beispielsweise sollen durch

Entwicklungstheorien spezielle Tests entwickelt werden, an Hand derer man Störungen

feststellen kann. So sollen sog. Transitorische Störungen (Fremdenangst mit 8 Monaten,

Trotzreaktionen mit 2 Jahren) als der Norm entsprechend erkannt und nicht als Störung

klassifiziert werden. Im Gegensatz dazu stehen die persistenten Störungen mit nachhaltigen

Folgen auf der für korrektive Intervention notwendigen roten Liste.

Insgesamt sollen Entwicklungstheorien nach OERTER/ MONTADA einen Ist-Zustand

zugunsten eines Soll- Zustandes als fragwürdig erkenntlich machen. BISCHOF-KÖHLER hat

beispielsweise die Folgen, die sich aus einem niedrigereren Ist-Wert im Vergleich zu einem

höheren Soll-Wert (und umgekehrt) ergeben könnten, durchdacht. Anhand des Züricher

Modelles der sozialen Motivation in Anlehnung an BOWLBYS Attachment Theorie hat sie

deutlich gemacht, was solche Zustandsänderungen für Folgen haben können. Liegt der

Istwert, d.h. die Geborgenheit oder das Faszinierende, unterhalb des Sollwertes, so entstehe

eine Appetenz und jeweils das Bestreben nach einer Sicherheitsregulation (Trennungsangst)

3

oder Erregungsregulation (Neugier). Umgekehrt entstehe eine Aversion: zuviel Vertrautheit

führe demnach zu Überdruß und Distanzierung, ein Übermaß an Erregung zu Flucht, Vorsicht

und Furcht. Sie erklärt auch welche Möglichkeiten bereits kleine Kinder bei der Verarbeitung

solcher traumatischen Lebensumstände haben. Sie können über die Copingstrategien

„Supplikation“ oder „Aggression“ oder sog. „Interne Akklimationen“ (Reduzierung der

Abhängigkeit und Heraufsetzung der Unternehmungslust) einen Ausgleich schaffen. Solch

eine Theorie hilft dann beispielsweise, um ein Erklärungsmodell für frühes aggressives

Verhalten oder frühe Unabhängigkeitsbestrebungen zu haben. Es macht auch deutlich, dass es

nicht unbedingt ein Erziehungserfolg darstellt, wenn sich ein Kind frühzeitig von seiner

Bezugsperson abwendet, da es sich hierbei auch um eine Copingstrategie für fehlende

Geborgenheit handeln kann.

Desweiteren ist für OERTER/ MONTADA wichtig, dass auch Bedingungen von Störungen,

die in der Person liegen, durch Entwicklungstheorien geklärt werden. Es soll also auch eine

Bedingungsanalyse möglich werden, um Anforderungen, Angebote und Methoden der

Vermittlung zu benennen, die dem Entwicklungsstand angemessen sein sollen.

Entwicklungstheorien müssen demgemäß sensible Perioden aufzeigen, beispielsweise wann

eine erhöhte Empfänglichkeit für Lernangebote besteht. Unter Verweis auf LENNEBERG

sehen sie beispielsweise den Zustand der Sprachbereitschaft als ein Stadium, das mit ca. 2

Jahren beginnt und in der Pubertät, mit Abschluß des zerebralen Wachstums, aufhört. Das ist

die sog. „kritische Periode“ der Sprachentwicklung. Während dieser „kritischen Periode“

erfolgt der Spracherwerb gemäß LENNEBERG und SZAGUN (1986) spontan und mühelos.

Anwendung psychologischer Entwicklungstheorien heißt hier, dass Forderungen nach

entwicklungspassenden Sprachförderungen aufgestellt werden können.

Im OERTER/ MONTADA wird jedoch davor gewarnt, zu hohe Erwartungen an

Entwicklungs- und Störungsprognosen zu stellen. Trotzdem haben solche Prognosen auch

Handlungskonsequenzen. Sie haben Einfluß auf die schulische oder berufliche Laufbahnwahl,

sie sorgen für präventive Maßnahmen bei drohender Fehlentwicklung, sie entscheiden mit

über Versetzung oder Nichtversetzung. Die Warnung OERTER/ MONTADAS beruht darauf,

dass Prognosen auf Entwicklungskurven, Entwicklungsepidemiologien von Störungen (z.B.

Delinquenz im Jugendalter) und Beschreibungen von Entwicklungsaufgaben und kritischen

Übergängen im Lebenslauf (z.B. Identitätsfindung im Jugendalter) beruhen. Die

Informationen über altersspezifische Störungen und Probleme, die solche Prognosen liefern,

4

sind die Basis für generelle Erwartungen von Entwicklungen und legen damit ein Fundament

für klassische Erziehungsnormen. OERTER/ MONTADA warnen deshalb, sie seien mit

Vorsicht anzuwenden, da nicht alle Entwicklungsbedingungen bekannt seien, zukünftige

Bedingungen unklar blieben und eine Entwicklung nicht unbedingt gesetzmäßigen

Bedingungen folge.

Die Kritik richtet sich vor allem auf Generalisierungen. Merkmale, die beispielsweise in den

ersten zwei Lebensjahren gemessen werden, lassen kaum Prognosen für die spätere

Entwicklung zu. Lediglich in bezug auf einige Temperamentsvariablen wie Irritierbarkeit,

Reizbarkeit, biologische Rhythmen (THOMAS und CHESS, 1977) und die Qualität der

Bindung (LEWIS et al, 1984) sind gewisse Kontinuitäten berichtet worden. Die beiden ersten

Lebensjahre stellen demnach keine besonders sensiblen oder „kritischen“ Perioden dar. Erst

vom Grundschulalter an sind über längere Zeiträume halbwegs treffsichere Prognosen

möglich. Dabei sind Leistungsvariablen normalerweise besser vorherzusagen als

Persönlichkeitsvariablen (BLOOM, 1973). Intellektuelle Hochbegabung ist zum Beispiel vom

10. Lebensjahr an relativ stabil (TERMAN und ODEN, 1959) – so die Autoren.

Desweiteren berichten OERTER/ MONTADA, dass aufgrund hoher Diskontinuitäten die

Daten keine präzise individuelle Prognose erlauben. Selten ist über einen Zeitraum von 5 bis

10 Jahren mehr als 25% bis 35% der Varianz auch durch eine Kombination von Prädikatoren

gebunden, was für den Einzelfall ein hohes Irrtumsrisiko bedeute. Interaktionen zwischen

Milieu, Geschlecht, Alter, etc. sind immer möglich. Ohne empirischen Nachweis dürfe

deshalb nicht generalisiert werden. Ein Beispiel für den Einfluß der Schicht auf Tests ist ein

suboptimaler APGAR-Index, benannt nach der Ärztin Virginia Apgar, sie zeigt, dass ein Wert

unter drei Punkten bezüglich Hautfarbe, Atmung und Herzschlag, 10 Minuten nach der

Geburt gemessen, für die Prognose von Entwicklungsstörungen prädikativ ist, aber nur für

Kinder aus Unterschichtsfamilien, nicht für Mittelschichtfamillien, die offenbar in der Lage

sind, die bei der Geburt bestehenden Störungen und Risiken im Verlauf der Entwicklung zu

kompensieren, so zitieren OERTER/ MONTADA BREITMEYER UND RAMEY (1986).

Ein weiteres Beispiel, diesmal für den Einfluß von biologischen Faktoren, ist der IQ. Bei

normalen, gesunden Kindern ist die spätere Intelligenzleistung nicht aus entsprechenden

Messungen während der ersten 18 bis 24 Lebensmonaten vorauszusagen. Die Stabilität dieses

Merkmals ist bei den verwendeten Messmethoden gering. Demgegenüber ist die Stabilität in

der Population hirngeschädigter Kinder wesentlich größer und die in den ersten

5

Lebensmonaten gemessene Leistungsfähigkeit ist ein guter Prädiktor für die spätere

Leistungsfähigkeit, wie die Autoren MCCALL, APPELBAUM und HOGARTY (1973)

zitieren.

Theorien und Forschungsergebnisse beeinflussen so auf vielfältige Weise Wert – oder

Zielentscheidungen. Altersverlaufsbeschreibungen und Altersnormen liefern nach OERTER/

MONTADA Bezugspunkte für die Beurteilung des erreichten Entwicklungsstandes sowie

Klassifikationen eines Verhaltens oder Merkmals als nicht altersgemäß (z.B. Strafrecht,

Wahlrecht, Zivilrecht, Jugendschutzgesetz, Familienrecht, Arbeitsrecht, Schulrecht, etc.).

Theorien geben folglich Orientierungshilfen. Entwicklungstests erlauben die Registrierung

des individuellen Entwicklungsstandes, der bewertet wird: Entwicklungssequenzen mit

Stadien der Reife werden als naturgegebene Ziele gewertet (z.B. der Aufbau eines rationalen

im Gegensatz zu einem magischen Weltbild, operatorisches statt voroperatorischem Denken).

Solche Wertsetzungen können nicht zwingend aus beschreibenden Untersuchungen begründet

werden. Entwicklungstheorien sollen allerdings Begründungen für Maßnahmen und

Entscheidungen liefern, um beispielsweise den richtigen Zeitpunkt für eine Intervention

bestimmen zu können. Soll man präventiv oder korrektiv eingreifen? Die Frage ist gar nicht

so leicht zu beantworten, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Man denkt schließlich

lieber präventiv als korrektiv, aber das ist letztendlich aufgrund der problematischen

Prognosesicherheit u.U. teurer als eine günstige spätere Korrektur. Nach OERTER/

MONTADA kann Wissen über lebensalterspezifische Stabilisierungen von Merkmalen,

Kompetenzen und Störungen für die Entscheidung des Interventionszeitpunktes bedeutsam

sein (zum Beispiel sollte vorher interveniert werden, wenn es für langfristige Stabilisierungen

von Störungen sensible oder „kritische“ Perioden gibt.) Entstehungsbedingungen seien nicht

mehr rückgängig zu machen, Stabilitätsbedingungen schon. Detaillierte

entwicklungspsychologische Sequenzbeschreibungen (Entwicklungstestreihen,

Beschreibungen von Stufenfolgen) lieferten Informationen über mutmaßlich angemessene

Sequentierungen von Entwicklungsanforderungen und –angeboten. Kognitive, sprachliche,

motorische und moralische Förderprogramme hätten sich diese Sequenzbeschreibungen

zunutze gemacht.

Aber festzuhalten ist, dass Bezüge zwischen Theoriebildung, Forschung und

Anwendungspraxis aus vielerlei Gründen problematisch sind. Theorien sind durch

empirische Forschung oft nicht zweifelsfrei bestätigt oder widerlegt. Zweifel an den Theorien

6

und/oder den Daten sind daher zulässig. Die experimentelle Kinderpsychologie ist zu einem

großen Teil als Simulation von Entwicklungsbedingungen gedacht. Sie hat beispielsweise

Kritik auf sich gezogen, weil sie ökologisch nicht valide sei. Komplexe Wechselwirkungen

zwischen dem menschlichen Organismus einerseits und einer sich ständig wandelnden und

historisch einmaligen Umwelt andererseits sind in Laborsituationen nicht zu simulieren.

Außerdem bieten empirische Befunde immer einen Interpretationsspielraum nach der

jeweiligen theoretischen Überzeugung. Der Geltungsbereich von Theorien und Gesetzen ist

grundsätzlich nicht vollständig bekannt. Praktiker müssen immer zusätzlich

Verallgemeinerungen vornehmen und gehen damit ein hohes Irrtumsrisiko ein. Ihnen bleibt

lediglich das „Probieren“, um das Verhältnis von Theorie und Praxis zu klären. Praktiker sind

Problemlöser, die ihr Repertoire durch die Auseinandersetzung mit theoretischen

Gesetzesaussagen und den zugeordneten Forschungen ständig erweitern können. Die

Theoriebildung zielt auf Erkenntnisse über Zusammenhänge zwischen Variablen. In der

Praxis fragt man sich hingegen hingegen, welche Variablen man wie kontrollieren kann.

Zwischen Theorie und Praxis besteht also ein gewisser Abstand, um die verschiedenen Ziele

zu verfolgen. Entwicklungstheorien sind nicht ohne Problematisierungen und Unsicherheit

auf die Praxis zu übertragen.

3 Spezielle Anwendungsgebiete der kognitiven Entwicklungstheorie

Die allgemeinen Schwierigkeiten der Übertragung generellen

entwicklungspsychologischen Denkens auf praktisches Handeln gelten auch und vielleicht

sogar insbesonders für spezielle entwicklungspsychologische Theorien. Denn diese

speziellen Theorien stellen Überlegungen meist eines Autors dar, der häufig wegen

„Einseitigkeit“ kritisiert wird. Dies gilt vor allem für sogenannte „Klassiker“ von

Denkrichtungen, wie dies bei PIAGET als dem „Vater“ kognitiver

Entwicklungspsychologie der Fall ist. Er hat eine Forschungsrichtung angestoßen, die sich

seit Beginn ausdifferenziert hat und in der seine Theoreme rezipiert, aber auch kritisiert

werden.

Im folgenden werde ich seine Konzeption von „Stadien“ menschlicher Entwicklung und

speziell sein erstes Stadium vorstellen, um zu zeigen, wie und warum dieses Stadium

Eingang in praktische Handlungskontexte gefunden hat.

7

OERTER/ MONTADA gehen auf die geistige Entwicklung aus der Sicht PIAGETS in

ihrem Kapitel „Entwicklung der Wahrnehmnung und Psychomotorik“ genauer ein.

PIAGET, so OERTER/ MONTADA, hoffe mit der Beschreibung und Erklärung der

Entwicklung von Geist einen Einblick in die Entwicklung von dessen Struktur, dessen

Leistungen und dessen Funktionierens zu bekommen. PIAGET sei in der kognitiven

Entwicklungspsychologie eine „monumentale Gestalt“. PIAGET untersscheidet vier

Haupstadien der geistigen Entwicklung, die von OERTER/ MONTADA (1995, S. 519)

und COHEN (1997; S. 228f) wie folgt skizziert werden. Aufgrund der

Themenakzentuierung lege ich den Schwerpunkt auf die erste Entwicklungsstufe.

1) Entwicklung von sensumotorischen Funktionen und Darstellungsfunktionen:

PIAGET unterscheidet hierbei 6 Stufen:

1. Stufe: (erster Monat) Übung angeborener Reflexmechanismen (z.B. Saug-,

Greif-, Schluckreflexe usw.) Der Säugling könne Dinge anschauen, neue Reize

von gewohnten unterscheiden, Geräuschen lauschen, lächeln, sich zu- und

abwenden usw. Das angeborene Verhaltensrepertoire werde auf dieser ersten

Stufe geübt. Üben führe zur Konsolidierung der gegebenen Schemata und zu

deren Anpassung an die jeweiligen Gegebenheiten, also bereits zu ihrer

Differenzierung. Das Saugen an der Mutterbrust ist etwas anderes als das

Saugen an der Flasche und am Daumen, das Saugen zur Nahrungsaufnahme ist

zu unterscheiden vom spielerischen Saugen usw.“ (Oerter/ Montada, 1995,

S.520) Unter Schemata versteht Piaget Abstraktionen und kategorisierende

Zusammenfassung von Handlungen. Zum Beispiel variiere jede

sensumotorische Handlung je nach Gegenstand und Körperlage, je nach

Situation. Die Welt des kleinen Säuglings, der noch nicht greifen kann, bestehe

noch nicht aus einer einheitlichen Welt mit konkreten Gegenständen, sondern

aus interessanten Sinneseindrücken, die das Resultat seiner eigenen

Handlungen sind. Speziell an diesem Punkt gilt Piaget allerdings durch die

neueste Kinderforschung als überholt – so OERTER/ MONTADA.

2. Stufe : (ein bis vier Monate) Primäre Kreisreaktion: Eine Handlung die zu

einem angenehmen Ergebnis geführt hat, werde wiederholt. Die ersten

Fertigkeiten und Gewohnheiten bilden sich aus. Ist es dem Säugling zufällig

gelungen, eine Kinderrassel zu greifen und zu schütteln, so wird er das viele

8

Male tun. Handlungsschemata wie Saugen, Greifen, einen Gegenstand

Anblicken werden auf mehrere Gegenstände und weitere Umweltbereiche

angewandt. Die Anwendung eines Schemas oder einer Struktur auf einen

Gegenstand nenne Piaget in Anlehnung an den biologischen Begriff

„Assimilation“: die „Einverleibung“ des Gegenstandes an das Schema. Wird

die Rassel gegriffen, dann ist das die Assimilation der Rassel an das

Greifschema, so OERTER/ MONTADA. Auf Stufe zwei beginne das Kind,

eine gewisse Erwartung zu entwickeln, dass Dinge, die es einmal gesehen und

berührt hat, wieder gesehen und berührt werden könnten, so Peter Rossmann

(1996, S.78). Das Kind schaue beispielsweise das Gesicht des Vaters an, sieht

wieder weg und wieder hin, wobei es offensichtlich erwartet, die

Reizkonfiguration „Gesicht“ wieder am selben Ort zu finden. Sollte das Objekt

aber nicht mehr am selben Ort sein, wird es schnell vergessen.

3. Stufe : ( vier bis acht Monate) Sekundäre Kreisreaktion: Diese Stufe ist durch

eine Differenzierung zwischen Mittel und Zweck gekennzeichnet. Der

Säugling entdeckt nun, dass eine bestimmte Handlungsweise immer wieder

zum selben Ergebnis führt, dass sie ein Mittel zur Erreichung dieses

Ergebnisses ist. Damit könne die Handlung als Mittel zu einem Zweck

eingesetzt werden. Ab dem 4. Monat strampeln Kinder nicht mehr nur aus

reiner Funktionslust, sondern stellen zufällig einen Effekt dieser Handlung

fest, z.B. das Klingeln von einem Glöckchen am Bett. Sie fahren also fort, um

diesen Effekt auszulösen oder andauern zu lassen. Handlungen und Effekt

werden miteinander verbunden und es ist oft noch unklar, was zuerst komme.

Die Schemata Greifen und Schauen koordinieren sich dabei so, dass es zu

einem Überlappungsbereich komme, in dem beide gleichzeitig gültig sind,

sowie Bereiche, in denen sie sich gegenseitig ausschließen (Teilnegation bei

Intersektion).Es ist zwar noch immer ein „Aus den Augen aus dem Sinn“-

Verhalten zu beobachten, aber das Kind sei schon in der Lage, schnelle

Ortsveränderungen von Objekten nachzuvollziehen. Wenn der Mutter

beispielsweise ein für das Kind interessantes Spielzeug aus der Hand fällt,

schaut es nun dem am Boden liegenden Objekt nach, anstatt weiter einfach auf

die Hand der Mutter zu starren. Legt man aber ein Tuch über das Objekt, dann

9

existiere es für das Kind nicht mehr. Auch ein halb verdeckter Gegenstand

wird meist nicht mehr erkannt, so PETER ROSSMANN.

4. Stufe : (acht bis zwölf Monate) Die Koordinierung der erworbenen

Handlungsschemata und ihre Anwendung auf neue Situationen. Typisch für

diese Stufe sei die systematische Anwendung mehrerer Handlungsschemata

auf den gleichen Gegenstand. Das Kind verhalte sich so, als wolle es

ausprobieren, wozu ein Gegenstand gut sei. Dadurch differenzieren sich die

Handlungsschemata weiter, sie werden dem Gegenstand angepaßt. Das

Schema oder die Struktur des Greifens könne und müsse – um erfolreich zu

sein - je nach Situation und je nach zu greifendem Gegenstand in anderer

Weise realisiert werden. Diese Anpassung an die Situation oder den

Gegenstand bezeichnet PIAGET nach OERTER/ MONTADA als

Akkomodation des Schemas an den Gegenstand. Gleichzeitig werden

verschiedene Schemata koordiniert: z.B. Greifen und Werfen (was ein

Loslassen voraussetzt), Hinkrabbeln, Greifen, An-den-Mund-Führen und

Beißen. PIAGET bezeichnet dies als gegenseitige, reziproke Assimilation-

Akkomodation. Es bilden sich dabei hierarchische Strukturen aus. Das Kind

kann nun den Gegenstand über alle Sinne identifizieren und verhält sich

allmählich so, als gehe es davon aus, dass der Gegenstand unabhängig von

seiner konkreten Handlung im Raum existiert und Dauer hat

(Objektpermanenz). Es beginne erstmals nach einem versteckten Objekt zu

suchen, was anzeigt, dass es über eine innere Repräsentation des Gegenstandes

verfügt. Allerdings passierten nach Rossmanns Meinung, dabei noch typische

Fehler. Beispielsweise suchten Kinder in diesem Stadium einen versteckten

Gegenstand üblicherweise an einem vertrauten Ort, auch wenn sie dabei

zusehen konnten, wie der Gegenstand an einem ganz anderen Ort versteckt

wurde. Der Ort werde noch als „Signal“ für das Objekt verstanden, die

Unabhängigkeit von Objekt und Ort wird noch nicht ganz erfaßt. Das

erwachsene Konzept der Objektpermanenz beginnt sich auf Personen

auszudehnen. Die Folge davon ist, dass die meisten Kinder im achten

Lebensmonat die sog. Achtmonatsangst zeigen. Auf der Basis der

entstehenden Objektpermanenz ist ihnen erstmals die Unterscheidung

zwischen „bekannter Person“ und „unbekannter Person“ möglich.

10

5. Stufe : (zwölf bis achtzehn Monate): Tertiäre Kreisreaktionen: Die Entdeckung

neuer Handlungsschemata durch aktives Experimentieren ist klassisch für

diese Stufe. Das Kind finde nun durch die Koordination von

Handlungsschemata zuweilen orginelle Mittel, um Ziele zu erreichen. So mag

es die Tischdecke heranziehen, um an einen außer Reichweite auf der Decke

liegendes Spielzeug zu gelangen. Es probiere systematisch verschiedene

Möglichkeiten aus, einen Ball zu werfen: mit einer Hand, mit beiden Händen,

aus geringer Höhe, aus großer Höhe usw. Das Kind variiert sein Strampeln, um

fasziniert zu beobachten wie das Klingeln des Glöckchens am Bett mal lauter

mal leiser bimmelt. Jetzt wüssten die Kinder, dass Objekte von Ort zu Ort

bewegt werden können, und suchen einen versteckten Gegenstand zielsicher an

jenem Ort, an dem er versteckt wurde, und nicht etwa dort, wo sie ihn beim

letzten Mal gefunden haben. Objektpermanenz ist weitgehend erreicht, ist aber

noch durch Versteckprozeduren störbar, bei denen eine innere Repräsentation

von Handlungen nötig ist, um die Prozedur begreifen zu können. (Man nehme

eine Kugel, stecke sie in eine kleine Schachtel, lege ein Tuch über die

Schachtel, leere die Schachtel unter dem Tuch aus und nehme die leere

Schachtel wieder unter dem Tuch heraus. Ein Kind auf Stufe 5 wird mit

hilflosem Erstaunen auf die leere Schachtel und das daneben liegende Tuch

schauen.) – so ROSSMANN

6. Stufe : (achtzehn bis vierundzwanzig Monate): Übergang vom

sensumotorischen Intelligenzakt zur Vorstellung: Spätestens in der Mitte des

zweiten Lebensjahres könne ein Kind offenbar in der Vorstellung die

Ereignisse seiner Handlung antizipieren. Die Sicherheit des Kindes, ein

bestimmtes Ergebnis zu erreichen, drückt sich sogar mimisch aus. Praktisches

Probieren sei nicht mehr notwendig. Handlungen scheinen innerlich vollzogen

zu werden. Diese Verinnerlichung, so OERTER/ MONTADA, charakterisiert

den Übergang zum Denken. An der „Konstruktion des Gegenstandes“ als dem

ersten „Begriff“ des Kindes haben die am Greifvorgang beteiligten Schemata

eine hervorragende Bedeutung. Das Kind hat jetzt eine vollständige innere

Repräsentation von Objekten und Handlungen.

11

OERTER/ MONTADA (1995) sowie COHEN (1997) verweisen des Weiteren auf das

2) Stadium des voroperatorischen, anschaulichen Denkens, wobei besonders die

Denkfehler der Kinder PIAGETS interesse geweckt hatten. Sie dauert etwa vom

zweiten bis zum siebten Lebensjahr. In dieser Phase ist das Kind durch seine

Wahrnehmung eingeschränkt und zutiefst egozentrisch. PIAGETS Ansicht nach

können sich Kinder in diesem Alter nicht den Blickwinkel vorstellen, aus dem andere

etwas betrachten. Einer von PIAGETS bekanntesten Versuchen zeigte, dass Kinder

stets sagten, dass in einem hohen Glas mit geringem Durchmesser mehr Wasser

enthalten sei als in einem niedrigeren Glas mit größerem Durchmesser, obwohl beide

Gläser exakt die gleiche Menge enthielten.

Darüber hinaus wird auf das

3) Stadium der konkreten Operationen verwiesen: Kinder in diesem Stadium hält man

für fähig, logische Zusammenhänge zu erkennen, solange sie keine abstrakten

Theorien verstehen müssen.

4) Stadium der formalen Operationen: Jugendliche sind bereits in der Lage abstrakte

logische Rätsel zu lösen und Argumentationsstrategien zu entwickeln.

Dies ist sozusagen der „theoretische Hintergrund“ Piagetischer Entwicklungstheorie. Er hat

natürlich noch viele weitere erkenntnistheoretische und genetische Modellvorstellungen

entwickelt. Mir geht es aber – wie gesagt – nur um die Frage, wie seine Gedanken zum 1.

Stadium praktisch gewendet wurden, d.h. Eingang in Ratgeberliteratur gefunden haben.

Darum erläutere ich nun die Anwendung dieses speziellen Ansatzes innerhalb von

theoretischen Deutungen in der genannten Literatur, um zu zeigen, dass und wie solche

Theorie für Eltern, Lehrer und Erzieher Bedeutung erhalten.

4 Spezielle Anwendungen von Piagets sensumotorischer Phase in der Ratgeberliteratur

4.1 Die sensumotorische Phase in der Ratgeberliteratur ROSSMANNS

12

PETER ROSSMANN (1996) hält in seiner „Einführung in die Entwicklungspsychologie des

Kindes- und Jugendalters“ PIAGETS Modell durch amerikanische Studien für überholt.

Seine Beschreibung, was ein Neugeborenes alles können muss hat aber praktische

Anwendungsrelevanz, insofern es die diagnostische Normentwicklung beschreibt. Ein

Neugeborenes mit normalen ABGAR-Index soll u.a. folgendes können: Es soll den Palmar-

und Plantargreifreflex (Hand- und Fußgreifreflex) mit 32 Wochen beherrschen. Dieser

Greifreflex müsste bei allen gesunden Neugeborenen durch Berührung der Handinnenfläche

bzw. des vorderen Teils der Fußsohle auslösbar sein. Beide Reflexe verlieren sich innerhalb

des ersten Lebensjahres. Beim Bestehenbleiben dieser Reflexe ist das Erlernen von Greifen

bzw. Stehen nach ROSSMANN unmöglich. Beim Kind muß der Rooting Reflex (sog.

Brustsuchen) nach einer Berührung der Hauptbezirke um den Mund des Babys ausgelöst

werden. Er besteht in einer Kopfwendung in Richtung auf den Berührungsreiz. Dieser Reflex

tritt in vollendetem Zustand üblicherweise nicht vor einem Konzeptionsalter von 34 Wochen

auf. Auch der sog. Babinski-Reflex, bei dem die Zehen gespreizt werden, wenn die Fußsohlen

bestrichen werden, muß bereits beherrscht werden.

Das Nervensystem des Neugeborenen sei jedoch nicht nur zu Reflexleistungen fähig, wie

PIAGET noch annahm. Neugeborene könnten Personen oder optische Muster fixieren und

ihnen mit den Augen folgen. ROSSMANN geht also über PIAGET hinaus und billigt dem

Säugling bereits mehr Fähigkeiten zu. Das Neugeborene reagiere durch heftiges Grimassieren

und schließlich durch Schreien auf starke Lichtreize oder Geräusche. Kinder sollten

idealerweise einen klaren Schlaf-Wach-Rhythmus entwickeln. Kinder, deren Bedürfnisse

unklar blieben, werden in der amerikanischen Literatur als „difficult children“ eingestuft und

stellten ihre Eltern auf eine harte Probe. Es hat sich in Längsschnittstudien gezeigt, dass

solche Kinder zu einem signifikanten größeren Prozentsatz als psychopathologisch auffällig

waren.

Hier hilft die Forschung also bei der Prognose von zukünftigen Verhalten. Diese recht früh

ausgeprägten Temperamentsunterschiede lieferten somit einen signifikanten Beitrag zur

Vorhersage (Prognose) des späteren Auftretens von psychischen Problemen.

An ROSSMANNS Ausführungen wird deutlich, dass Ratgeberliteratur zwar auf PIAGETS

Konzept Bezug nimmt, aber es um neuere Forschungen vor allem aus dem amerikanischen

Raum ergänzt. Dies wird auch daran sichtbar, dass die neuere Kognitionsforschung davon

ausgeht, dass die sensorischen Fähigkeiten von Neugeborenen größer sind als die von

13

PIAGET angenommenen. Ein gesundes Neugeborenes kann von Anfang an ein sich langsam

durch sein Gesichtsfeld bewegendes Objekt mit den Augen verfolgen und dreht oft sogar den

Kopf nach, wenn das Objekt aus seinem Gesichtsfeld zu entschwinden droht. Außerdem

haben sie die Fähigkeit, Gesichtsausdrücke zu imitieren, was zwar ein Reflex sein kann, aber

es spricht für eine differenzierte visuelle Wahrnehmung. (Allerdings gibt es hier

entwicklungspsychologische Einschränkungen, auf die ich hier nicht näher eingehen werde.)

Darüber hinaus wird sichtbar, dass PIAGETS theoretische Annahmen in der Praxis bei

weitem nicht so schön funktionieren, wie man es sich wünschen würde. Dies sei an einem

Experiment illustriert, das ROSSMANN wie folgt beschreibt:

So konstruierte BAILLARGON (1987) eine Versuchsanordnung, die es ermöglichte, vor den

Augen der Versuchsteilnehmer ein unmögliches Ereignis ablaufen zu lassen, nämlich einen

auf dem Tisch liegenden großen Baustein unter einem Blatt Karton vollständig verschwinden

zu lassen (weil in die Tischplatte eine kleine Falltüre eingebaut war, durch die der Baustein

nach unten entfernt werden konnte.) Kinder im Alter von dreieinhalb bis viereinhalb Monaten

(also auf Stufe 2 oder drei) dienten als Versuchspersonenen. Nach PIAGET sollten Kinder

dieses Alters von der Beobachtung von Ereignissen dieser Art nicht sonderlich beeindruckt

sein, da sie über keine Objektpermanenz verfügen. Tatsächlich zeigte sich, dass die Kinder

auf das „unmögliche“ Verschwinden des Bausteines mit merklichen Zeichen von Verblüffung

reagierten. Sie schauten z.B. danach signifikant länger auf das Kartonblatt, als wenn der

Baustein nur einfach durch das schräg liegende Kartonblatt abgedeckt worden war.

BAILLARGON (1987) schloß aus diesen Beobachtungen, dass offenbar schon Babies im

Alter von vier Monaten gewisse grundlegende Erwartungen in bezug auf das Verhalten von

Gegenständen haben dürften.

4.2 Die sensumotorische Phase in der Ratgeberliteratur LÉCUYERS

Einen etwas anderen Blickwinkel nimmt ROGER LÈCUYER (1998) in seinem Buch „Babys

können mehr“ ein. Er gibt Eltern Ratschläge, was ein Kind im ersten Lebensjahr schon leisten

können sollte, indem er typische Elternfragen beantwortet. Seine Fragen gestalten sich wie

folgt: Woher wissen die Forscher das alles? Können Neugeborene sehen? Erleben Babys die

Welt zwei- oder dreidimensional? usw.

Schon er geht über PIAGETS Annahme, dass die Sinnesmodalitäten von Säuglingen zunächst

getrennt voneinander wirken und noch kein zusammenhängendes Weltbild bestünde, hinaus:

14

„Die Vorstellung, dass die einzelnen Sinne bei der Geburt getrennt voneinander

funktionieren, ist also nicht vollkommen aus der Luft gegriffen. Dennoch hat sie sich als

falsch erwiesen. Vieles deutet daraufhin, dass auch Babys, die jünger sind als fünf Monate,

die Informationen, die sie über die verschiedenen Sinne erhalten, miteinander in

Zusammenhang bringen. (ebd., S.63) Als Beleg führt der Autor die Hinwendung des Kopfes

zu einer Stimme an. Auch die Konzentration auf Gegenstände (wie z.B. weiche Bälle), die

nicht denselben Härtegrad haben wie diejenigen, die es gerade im Mund habe, wird als

Argument verwandt. Sein Fazit ist daher: „Babys koordinieren die Informationen, die sie über

ihre unterschiedlichen Sinne erhalten, bereits sehr früh, vielleicht sogar schon vor der Geburt

(ebd., S.63) PIAGET datiert die sensumotorischen Vorformen von Objektklassen auf die 3.

Stufe, also ungefähr zwischen dem vierten und dem achten Monat. Auch LÉCUYER meint:

„Babys haben es gern ordentlich.“ (ebd., S.67), d.h.Versuchsreihen hätten gezeigt, dass

Säuglinge Frauen und Männer unterscheiden könnten, dass Babys Gegenstände, die ihnen aus

verschiedenen Blickwinkel gezeigt wurden eher wiedererkannten, auch aus dann unbekannten

Perspektiven, dass Kleinkinder bereits Prototypen von Rechtecken usw. verwendeten.

LÈCUYER gibt keine Altersangabe und bezieht sich nur in seinem Schlußwort explizit auf

„den großen Namen“ (ebd., S.139) JEAN PIAGET. Die Einflüsse werden jedoch noch

unterschwellig deutlich.

LÈCUYER geht des weiteren davon aus, dass Babys im Alter von drei bis sechs Monaten

schon zwischen kausalen und nicht-kausalen Ereignissen unterschieden. Allerdings beschreibt

er auch die Unsicherheit der Wissenschaftler, ob die Unterscheidung von Phänomenen wie

Billardkugeln, die sich gegenseitig anstoßen (oder eben auch gerade nicht) wirklich, von

Kleinkindern auf kausale Erklärungen zurückgeführt werden. Solche Fähigkeiten hat PIAGET

dem Baby noch nicht zugesprochen. In der primären Kreisreaktion findet ihm zufolge nur

eine Ausweitung postnataler Reflexe statt und eine differenziert-angepaßte Modifikation des

Verhaltens (Akkomodation) sowie eine Stabilisierung besser angepassten Verhaltens durch

reproduktive oder funktionale Assimilation. Eigenständig kausale Zusammenhänge zu

erkennen, spricht er dem Baby noch ab.

LÉCUYER stimmt mit PIAGET in der Datierung der Anfänge der Objektpermanenz überein,

obwohl LÉCUYER im Hinblick auf die Eltern den Begriff nicht explizit verwendet, sondern

nur von der Annahme des Kindes, ein Gegenstand existiere im Raum weiter, spricht. Er

verweist aber auch auf Versuche, die belegen, dass Kinder schon mit dreieinhalb Monaten

15

Gegenstände als dauerhaft erleben. So wurde ein großes und ein kleines Kaninchen jeweils

hinter einem Schirm versteckt. Dann wurde ein Fenster eingebaut, in dem das größere hätte

erscheinen müssen. Die Babys schenkten der „unmöglichen“ Situation mehr Aufmerksamkeit.

Allerdings, räumt LÉCUYER ein, suchten kleine Kinder Gegenstände gar nicht oder am

falschen Ort. Dies werde heute auf motorische Mängel zurückgeführt.

Das Imitationsverhalten, das Piaget in den ersten drei Monaten ansiedelt, wird von LÉCYER

schon auf die ersten Tage vordatiert. Studien aus den USA hätten kognitive

Entwicklungsforscher wohl in Erstauen versetzt, denn kleine Kinder imitieren nicht nur das

Zunge-heraus-Strecken, sondern auch das Wangen-Aufblasen und das Hände-Greifen.

PIAGET hat die kognitiven Fähigkeiten von Säuglingen unterschätzt. Auf die Frage, womit

Kinder am liebsten spielen, gibt LÉCUYER eine einfache Antwort: mit dem Menschen. Ich

wage die These, dass auch PIAGET diese Aussage unterstützt hätte. Auch bei LÉCUYER

wird deutlich, dass zwar auf Piagets Konzept Bezug genommen wird, dass Piaget selbst aber

nicht einmal zitiert, sondern nur im Anhang auf ihn verwiesen wird. Wenn hier

entwicklungspsychologische Befunde für die Praxis aufgegriffen werden, dann nur um Eltern

Sicherheit im Umgang mit ihren Kindern zu geben. Eltern sollen sozusagen selbst

entwicklungspsychologisch „sehen“ können.

4.3 Die sensumotorische Phase in der Ratgeberliteratur LOTTE SCHENK-DANZINGER

Im Unterschied zu LÉCUYER gibt LOTTE SCHENK-DANZINGER (1985, S.139) aktive

Handlungshinweise. Sie sieht in Piagets Theorie von der geistigen Entwicklung des Kindes

eine gute „Ausgangsbasis für das Verständnis der Rolle des Spiels in der Entwicklung“

Spielen sei ein Lernvorgang, der unbewußtes Lernen fördere, und eine wichtige

Voraussetzung für späteres organisiertes Lernen. Sie stellt fest, dass bestimmte Spielzeuge

zeitlos und ortsungebunden seien: Rassel, Ball, Kreisel, Reifen, Ziehtier, Spieltier, Puppe,

Schaukelpferd und Wägelchen hätte es zu allen Zeiten und in fast jeder Kultur gegeben. Auch

bei PIAGET kommt dem Ball als Spielzeug eine wichtige Rolle zu. Beim Spiel im

Kleinkindalter unterscheidet LOTTE SCHENK-DANZINGER Funktions- und

Explorationsspiele, konstruktive und Rollen- oder Illusionsspiele.

Das materialunspezifische Funktionsspiel mache das Kind aus Freude an der Bewegung und

zufällig bewirkten Veränderungen. Es entspricht der ersten Stufe in der Entwicklung

sensumotorischer Funktionen und Darstellungsformen. Es werde exploriert, was der Körper

16

schon alles könne. Eine besondere Bedeutung misst LOTTE SCHENK-DANZINGER vor

allem dem Fingerspiel bei. Fingerspiele gehörten zu den ersten gesteuerten Bewegungen.

„Etwa im vierten Monat kann man beobachten, dass das Kind seine Fingerchen langsam in

Augenhöhe bewegt und diese Bewegung mit den Augen verfolgt.“ (ebd., S. 195) Sie sieht

hierin erste Ansätze der sensumororischen Koordination. Das Greifen entwickle sich hieraus.

SCHENK-DANZINGER behauptet, die Klapper eigne sich für diese Entwicklungsstufe

besonders, da sie auch akustische und optische Reize liefere. Das Kind führe mit einer Uhr,

einem Kamm oder einem Baustein die gleichen Bewegungen aus wie mit einer Klapper. Hier

hätte man ein gutes Beispiel von Assimilation. Die Realität (das Material) werde den

Bedürfnissen des Organismus untergeordnet. Geformt werde nicht das Material, geformt

werde die Bewegung. Das Kind könne sich vorerst noch nicht an den Objekten orientieren,

die ihm in die Hände fallen, sondern müsse jene Bewgungen mit ihnen ausführen, die die

neuromuskuläre Reifung gerade möglich macht und die jeweils „geübt“ werden müsse: In-

den-Mund-stecken, Betasten, Ergreifen, Klopfen, Schütteln, mit einem Ding auf ein anderes

Schlagen, Werfen, Fallenlassen. Aber während es im ersten Lebensjahr primär seine

Bewegung ausforme, mache es mit Dingen, die ihm angeboten würden und deren es sich bald

selbst bediene, erste sensumotorische Erfahrungen in bezug auf Gestalt, Größen, Farben,

Schwere, Geräusche, Oberflächencharakter usw. – genügend Erfahrungen jedenfalls, um am

Ende des ersten Lebensjahres erste sensumotorischen Intelligenzleistungen zu vollbringen.

Mit dem sog. „Werkzeugdenken“ (ebd., S. 156) werde die Beziehung zwischen sich, einem

angestrebten Ziel und einem Mittel zum Zweck klarer. Dies entspricht Stufe drei in PIAGETS

Modell.

Als wichtiges Beispiel für Akkomodation bezeichnet SCHENK-DANZINGER das

Explorationsspiel, in dem Dinge zerrissen, auseinandergenommen, geknittert, also auf ihre

materialspezifischen Möglichkeiten hin untersucht werden. Diese materialspezifischen

Funktionsspiele würden ein „Grundmaterial“ (ebd., S.197) an einfachen sensumotorischen

Fähigkeiten und Erfahrungen schaffen, auf denen sich komplexere, zielgerichtete

Verhaltensweisen aufbauen könnten. Sie leisten einen wesentlichen Beitrag zur kognitiven

Entwicklung des Kindes, so SCHENK-DANZINGER. Ihr spontanes Auftreten sichere ein

„vorbewußtes Wissen“ über Materialqualitäten und Materialbeziehungen, das bald in

größeren Zusammenhängen sinnvoll eingesetzt werden könne. Durch die zufällige

Entdeckung, dass ein Spielprodukt während mit ihm funktional gespielt wird Ähnlichkeit mit

einem wirklichen Gegenstand hat, wird die Symbolstufe des konstruktiven Spiels eingeleitet.

17

Desweiteren folgen das werkschaffende Spiel und das Rollen- und Illusionsspiel, das die

Symbolstufe des konstruktiven Spiels voraussetzt.

Aus dem oben Gesagten zieht SCHENK-DANZINGER Konsequenzen für die Erziehung.

„Spielzeug gehört zu den entwicklungsfördernden Reizen des Kindesalters und soll den zur

Reifung gelangenden, körperlichen, intellektuellen und sozialen Funktionen und Fähigkeiten

entsprechende Übungsmöglichkeiten bieten.“ (ebd., S.206) Sie betont die Bedeutung des

richtigen Zeitpunktes für bestimmte Spielmaterialien. So kann ein zu früher Zeitpunkt dazu

führen, dass Materialien zerstört werden und das Kind – zu Unrecht - dafür bestraft wird und

dadurch Unsicherheiten im Umgang mit Spielzeugen auftritt. Ein zu später Zeitpunkt sei

ebenso problematisch. Dies gelte vor allem für konstruktives Spielmaterial. Viele Erzieher

seien der Ansicht, Bastelmaterial, Farben und Bausteine sollten erst dann gegeben werden,

wenn etwas Sinnvolles daraus gemacht würde. Dabei wird die Bedeutung der funktionalen

Vorübung, das Stadium, in dem Kinder experimentieren und ohne Plan mit den

Möglichkeiten und Eigenschaften des Materials vertraut werden, nicht beachtet. SCHENK-

DANZINGER empfielt solche Materialien für ein Alter, in dem das Kind sich spezifisch mit

dem Material beschäftigt. Von Vorlagen rät sie ab, da sie die Kreativität einschränken

würden. Für die ersten zwei Lebensjahre warnt sie vor Spielzeug das verschluckt werden

kann. Außerdem sollte das Spielzeug für Kleinkinder Schematisierungen aufweisen, damit

mehr Raum für Phantasie bleibe. Jedes Spielzeug sollte eine Vielfalt von

Betätigungsmöglichkeiten aufweisen, um zur Entfaltung kindlicher Selbständigkeit

beuzutragen. SCHENK-DANZINGER rät von zu viel Spielzeug ab, da sonst sprunghaftes,

unkonzentriertes Spielen gefördert würde. Außerdem behindere zuviel Spielzeug die

Fähigkeit, sich an ein Spielzeug emotional zu binden.

Diese Ratschläge zum Spielzeugangebot mögen für (verzweifelte) Eltern hilfreich sein, lassen

sich letztendlich aber nicht aus PIAGETS Modell der sensumotorischen Phaseneinteilung

ableiten. Dass für bestimmte Versuche solches Material nötig ist, kann allerdings ein Hinweis

für Eltern und seine Praxisnähe sein. LOTTE SCHENK-DANZINGER beruft sich zwar

stellenweise auf die Akkomodation und Assimilation Piagets, aber warum Spielsachen zeit-

und ortslos seien, warum einem Kind nicht zuviel Spielzeug gegeben werden dürfe und

warum das Spiel an sich so wichtig für die Entwicklung ist, lässt sich aus PIAGETS

theoretischen Überlegungen nicht ableiten. Die Wahrscheinlichkeit, dass PIAGET ihren

Ausführungen dennoch zugestimmt hätte halte ich dennoch für ebenso hoch wie bei

18

LÉCUYERS Behauptung, der Mensch sei das beste Spielzeug für das Kind. In seiner

Phasenbeschreibung finden sich aber kaum hinweise auf Spielverhalten und Unterstützung.

4.4 Die sensumotorische Phase in der Ratgeberliteratur KIPHARDS

Den Anspruch, praxisnah zu sein, hat vor allem die entwicklungspsychologisch begründete

Ratgeberliteratur Kiphards (1975) mit dem Titel „Wie weit ist ein Kind entwickelt?“. Es gibt

Eltern Richtlinien für altersgemäße Entwicklung und basiert auf Normen, die PIAGET

mitgeprägt hat. Das wird im folgenden an den von mir zitierten Beispielen hoffentlich

deutlich. Das Werk entstand primär nicht aus wissenschaftlichem Anliegen, sondern aus der

Notwendigkeit, den Eltern rückständiger und behinderter Kinder echte Hilfe zu geben. Ein

gezieltes Trainingsprogramm zur Förderung der rückständigen Bereiche setze eine genaue

Aufzeichnung der kindlichen Fähigkeiten und Schwächen in den einzelnen Sinnes- und

Bewegungsfunktionen voraus. In dem von mir kopierten sensumotorischen

Entwicklungsgitter würde sich der konkrete Entwicklungsstand des zu untersuchenden Kindes

eintragen lassen. Die Altersangaben orientieren sich an der untersten Grenze der Norm.

Ich werde im folgenden jeweils ein oder zwei Beispiele zur optischen Wahrnehmnung,

Handmotorik, Körpermotorik, Sprache und akustischen Wahrnehmung für die ersten zwei

Jahre geben:

„Erstes Lebensjahr: (A) Optische Wahrnehmung

(A4) Betrachtet Ding in der Hand

Betrachtet das Kind einen leuchtend roten Gegenstand in seiner Hand? Geben Sie dem Kind

ein entsprechendes Spielzeug in sein Händchen und führen Sie es im Abstand von etwa 30 cm

in das Blickfeld seiner Augen. Kann es den Gegenstand (rotes Wollknäuel oder ähnliches)

nicht selbst halten, so legen Sie ihre Hand um sein Händchen. Es genügt, wenn der

Gegenstand für zwei bis drei Sekunden betrachtet wird. Wichtig: Der Gegenstand darf kein

Geräusch erzeugen.

(A12) Findet verdecktes Ding

Entfernt das Kind ein über sein Spielzeug gelegtes Tuch? Legen Sie einen begehrenswerten

Spielgegenstand vor das Kind hin und vergewissern Sie sich, dass es ihn anschaut.

Wahrscheinlich wird es auch danach greifen wollen. Nun decken Sie schnell den Gegenstand

mit einem Taschentuch oder einem kleinen Deckchen ab, so dass er der Sicht des Kinds

entzogen ist. Beobachten Sie, wie es reagiert. Die Aufgabe gilt als gekonnt, wenn das Kind

19

das Tuch wegzieht, um wieder an den Gegenstand zu gelangen. Sie gilt als halb gekonnt,

wenn das Kind sein Händchen in Richtung des Tuches ausstreckt. Blickt das Kind lediglich in

Richtung des Tuches zeigt aber keine Greifreaktion, so gilt dies als nicht gekonnt.

Erstes Lebensjahr: (B) Handmotorik

(B6) Steckt Dinge in den Mund

Kann das Kind einen Gegenstand, den man in seine Hand gegeben hat, zum Munde führen?

Die Aufgabe gilt als gekonnt, wenn es eine Rassel, einen Greifring oder etwas ähnliches zum

Munde führt, um daran zu lecken oder darauf zu kauen. Sie gilt als halb gekonnt, wenn das

Kind nur gelegentlich auf diese Weise reagiert. Sie ist nicht gekonnt, wenn es den Gegenstand

gar nicht oder nur für einen kurzen Moment ansieht und sich danach sofort abwendet.

Erstes Lebensjahr: (C) Körpermotorik

(C4) Rücken gerade im Sitz und Schwimmbewegung in Bauchlage: Hält das Kind, wenn es

kurzzeitig mit Unterstützung sitzt, seinen Rücken gerade?

Macht es, wenn es in Bauchlage gelegt wird, schwimmähnliche Arm- und Beinbewegungen,

wobei die Glieder in unregelmäßigem Rhythmus fortlaufend angebeugt und wieder

ausgestreckt werden?

Die Aufgabe gilt als gekonnt, wenn das Kind jeweils beide Funktionen bewältigt, Wenn nur

eine dieser Entwicklungsfunktionen vollzogen wurde, so ist die Aufgabe als halb gekonnt zu

bewerten.

(C12) Kniet aufrecht und krabbelt allein

Kann sich das Kind mit aufrechtem Körper und gestreckten Hüftgelenken etwa 10 Sekunden

langt im Kniestand in der Balance halten? Ist das Kind in der Lage, sich auf Knien und

Händen krabbelnd vorwärts zu bewegen? Wertung siehe C4.

Erstes Lebensjahr: (D) Sprache

(D10) Äußert Stimmungslaute

Kann das Kind Stimmungen, z.B. Freude oder Unbehagen, durch unterschiedliche Laute

ausdrücken? Die Aufgabe ist gekonnt, wenn es bei Zuspruch im erhöhten Maße Laute

produziert und damit deutlich wird, dass es sich den Erwachsenen irgendwie mitteilen

möchte. Erfolgt diese Reaktion nur schwach, undeutlich oder selten, so ist die Aufgabe als

halb gekonnt zu bewerten.

20

Erstes Lebensjahr: (E) Akustische Wahrnehmung

(E4) Sieht Sprechenden an

Blickt das Kind der Beziehungsperson ins Gesicht, wenn diese zu sprechen beginnt? Nehmen

Sie das Kind so auf den Schoß, dass es Sie sehen kann, sprechen Sie es aber noch nicht an.

Wenn das Kind durch Saugen, Fläschchen trinken oder durch Betasten der Kleidung

abgelenkt ist, so beginnen Sie leise zu sprechen. Hält das Kind kurzzeitig in seiner Tätigkeit

inne, um in das Gesicht der sprechenden Person zu sehen, so gilt dies als gekonnt. Bei nur

schwacher Blickreaktion wird die Aufgabe als halb gekonnt gewertet. Zeigt es keine

Reaktion, so gilt dies als nicht gekonnt.

Zweites Lebensjahr: (A) Optische Wahrnehmung

(A24) Ordnet zwei Dinge zum Bild

Kann das Kind zwei Gegenstände zu den entsprechenden Abbildungen ordnen? Suchen Sie

zuvor in einfachen Bilderbüchern nach Abbildungen, die vorhandene reale Gegenstände wie

einen Apfel, eine Tasse, einen Löffel, eine Schere, eine Puppe, ein Telefon, ein Ball usw.

Legen Sie nun zwei Abbildungen vor das Kind hin und geben ihm einen Gegenstand, der

einer dieser beiden Abbildungen entspricht. Wenn das Kind nicht weiß, was es damit machen

soll, so ordnen Sie die Gegenstände ihren Abbildungen einige Male modellhaft zu. Danach

soll es aber das Kind mit anderen Abbildungen selbst tun. Die Aufgabe gilt als gekonnt, wenn

das Kind zwei Gegenstände auf die richtigen der beiden ausgelegten Bilder legt und dies

mehrmals wiederholen kann. Werden die Gegenstände vorwiegend richtig zugeordnet, macht

das Kind aber manchmal noch Fehler oder kann es nur einen der beiden Gegenstände auf das

entsprechende Bild legen, so ist die Aufgabe nur halb gekonnt. Erfolgt die Zuordnung rein

unwillkürlich, so gilt dies als nicht gekonnt.

Zweites Lebensjahr: (B) Handmotorik

(B14) Räumt Dinge aus und ein

Kann das Kind einen Kastendeckel öffnen und drei von fünf kleinen Gegenständen aus- und

wieder einräumen? In einem kleinen Holzkästchen, dessen Deckel leicht zu öffnen ist, sollen

sich fünf kleine Spieldinge befinden, z.B. eine Klammer, ein Lego-Baustein, ein

Plastiklöffelchen usw. Das Kind soll auf Vorzeigen oder aus eigenem Antrieb die Schachtel

öffnen, die Gegenstände nacheinander herausnehmen und sie auf Aufforderung wieder in die

Schachtel tun. Die Aufgabe gilt als gekonnt, wenn drei der fünf Dinge heraus- und wieder

21

hineinbefördert wurden. Räumt es sie aus aber nicht wieder hinein, oder werden weniger als

drei Gegenstände ein- und ausgeräumt, so ist die Aufgabe halb gekonnt. Kann der Deckel

nicht geöffnet werden oder wird der Inhalt des Kästchens einfach ausgeschüttet, so gilt dies

als nicht gekonnt.

Zweites Lebensjahr: (C) Körpermotorik

(C 12) Geht rückwärts

Kann das Kind fünf Schritte rückwärts gehen, ohne dabei zu fallen? Diese Funktion wird

meist gebraucht, wenn das Kind ein Spielzeug auf Rädern rückwärts gehend hinter sich

herzieht. Die Aufgabe gilt als gekonnt, wenn das Kind diese Aufgabe sicher und

gleichbleibend beherrscht. Sie gilt als halb gekonnt, wenn die Leistung zwar schon hin und

wieder vollbracht wurde, es aber noch an der nötigen Sicherheit mangelt. Nicht gekonnt sind

sie, wenn das Kind zu der Leistung noch nicht imstande ist.

Zweites Lebensjahr: (D) Sprache

(D 24) Benennt vier Dinge

Kann das Kind vier Gegenstände, Spielsachen oder Spieltiere auf Befragen benennen? Es

genügt, wenn die Antworten in Babysprache gegeben werden. Werden nur drei Dinge

benannt, so ist dies mit halb gekonnt zu bewerten. Bei nur zwei Benennungen ist die Aufgabe

nicht gekonnt.

Zweites Lebensjahr: (E) Akustische Wahrnehmung

(E22) Möchtest du...?

Reagiert das Kind auf die Frage „Möchtest Du noch einen Keks?“. Fragen sie das Kind bei

verschiedenen Gelegenheiten, ob es noch etwas zu essen oder zu spielen haben möchte. Die

Aufgabe gilt als gekonnt, wenn das Kind durch Kopfnicken oder Kopfschütteln oder auch

durch „ja“ oder „nein“ antwortet. Wenn Sie es mehrmals fragen müssen und das Kind nur

manchmal richtig reagiert, so gilt die Aufgabe als halb gekonnt. Zeigt es keine Reaktion, so

ist die Aufgabe nicht gekonnt.“ (ebd., S. 66 ff)

Die theoretischen Grundlagen zum Aufbau des vorliegenden Entwicklungsgitters basieren

natürlich nicht ausschließlich auf PIAGET, sondern auf statistisch ermittelten Normwerten.

Aber von ihm stammt die Einteilung in die sensumotorische Phase und die damit verknüpften

22

Anforderungen. Auch bei bestimmten spielerischen Übungen wie beispielsweise die nötige

Fähigkeit des Kleinkindes einen versteckten Gegenstand wiederzufinden, stammt von ihm.

Auch die Tatsache, dass das Kind vor allem im Spiel lernen würde, hat PIAGET unterstützt.

Auch er hat dem Greifen für das Erlernen kognitiver Fähigkeiten eine große Bedeutung

beigemessen. KIPHARD selbst schreibt: „Man sagt, das Betasten und Ergreifen mit der Hand

unterstütze das Begreifen mit dem Gehirn.“ (ebd., S.76) Voraussetzung dafür aber sei, dass es

genügend einfache Materialien für Experimentierspiele zur Hand habe. Ein Baby brauche

Papier, Karton, Bast, Leder, Gummi, Stein, Metall und Textilien mit unterschiedlichsten

Greifqualitäten, um seine Lernbedürfnisse befriedigen zu können! Lernen solle dabei

erlebnisreiches und für den einzelnen erfolgreiches Spiel sein. Den Eltern falle die schwere

Aufgabe zu, ihrem Kind das Richtige zur rechten Zeit spielerisch nahezubringen. Sie müssten

wissen, was ihr Kind schon alles kann, vor allem aber welcher nächste Lernschritt über

bestimmte Übungangebote erreicht werden sollte. Je nach Entwicklungsstand müssten ganz

verschiedene Spielanregungen an das Kind herangebracht werden.

In indirekter Anlehnung an PIAGET, verweist KIPHARD darauf, dass die gesamte kindliche

Entwicklung in ständiger Auseinandersetzung mit den verschiedenen Umweltsituationen vor

sich ginge. Dabei lerne das Kind, sich mehr und mehr an das, was es in der Umwelt vorfindet,

anzupassen. Hier findet wieder PIAGET Assimilations- und Akkomodationsgedanke

Eingang.

KIPHARD warnt vor zu frühen Leistunganforderungen, die unvermeidlich zu

Mißerfolgserlebnissen führen müssten, so dass Kinder später bei neuen Aufgaben

wahrscheinlich schnell die Lust verliere.

Die Spalte „Handgeschicklichkeit“ (B) stelle eine enge Beziehung zwischen körperlichen und

geistigen Tätigkeiten des Kindes dar. Wenn ein Kind seine Hände greifend und fühlend zum

Untersuchen von allen möglichen Gegenständen gebraucht, so mache es damit

Lernerfahrungen. Erst komme jedoch das Sehen, dann erst das Greifen. Es müsse die optische

Orientierung vorangegangen sein, ehe die Hände zum sinnvollen Handeln eingesetzt werden

könnten. Im Zusammenwirken von Auge und Hand entstehe also so etwas wie „praktische

Intelligenz“. Auch PIAGET betont die Bedeutung der Auge-Hand-Koordination. Die

erfolgreiche Koordination von Auge und Hand sei eine notwendige Voraussetzung für die

23

Ausbildung des Objektbegriffs und der Tiefenwahrnehmung. PIAGET, so beschreiben es

zumindest OERTER/MONTADA (1995, S. 210), gehe davon aus, dass Säuglinge unter vier

Monaten noch nicht gezielt nach einem gesehenen Gegenstand greifen können. Es gibt jedoch

Befunde, die bereits gegen eine anfängliche Trennung von Auge und Hand sprechen. So hat

HOFSTEN (1982) zitiert nach OERTER/MONTADA (1995) fünf bis neun Tage alten Babys

ein sich langsam und unregelmäßig bewegendes Bällchen aus farbigen Zwirn gezeigt. (Die

Babys saßen in einer Befestigung, die einen aufrechten Sitz ermöglichte und die freie

Armbewegung zuließ.) Bei Zielfixation verfehlten die Babys das Ziel im Durchschnitt nur um

32 Grad, ohne Zielfixation dagegen im Durchschnitt um 52 Grad.

Auch für KIPHARD (1975, S. 82) ist die Entstehung der Objektpermanenz ein wichtiger

altersgemäßer Entwicklungsschritt. Er schreibt: „Wenn es etwa ein Jahr alt ist, erkennt das

Baby sein Fläschchen oder sein Lieblingstier wieder. Es ist nun auch in der Lage etwas, was

vor seinen Augen mit einem Tuch bedeckt wurde, wieder unter dem Verdeck hervorzuholen,

wenn man es nicht sieht. Für das Baby bedeutet das einen großen Schritt vorwärts in seiner

geistigen Entwicklung. Es kann sich an das plötzlich verschwundene Spielzeug noch nach ein

paar Sekunden erinnern. Damit hat es die Fähigkeit erreicht, sich einen Gegenstand

vorzustellen, den es momentan gar nicht sehen kann.“

5 Piagets Leistungen für die Entwicklungstheorie

In Frankreich und wohl auch in Deutschland ist die Entwicklungspsychologie mit dem Namen

JEAN PIAGET (1896-1980) eng verbunden, so LÉCUYER in seinem Anhang. 1936, als man

nur sehr wenig und noch weniger Genaues über Babys wußte, erschien sein revolutionäres

und auch schwieriges Buch „Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde“ erklärt die

„Illustrierte Geschichte der Psychologie“ ( LÜCK/ MILLER 1999). Ein Jahr später wurde die

Fortsetzung mit dem Titel „Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kinde“ veröffentlicht. Diese

beiden Werke, denen noch viele weitere folgten, basieren zum einen auf den minutiösen

Beobachtungen, die Piaget an seinen drei Kindern vornahm, und zum anderen auf einer

Theorie, die Intelligenz als Fortsetzung der biologischen Adaption versteht, meinen LÜCK/

MILLER (1999).

Als Biologe und Wissenschaftstheoretiker setzte sich PIAGET damit auseinander, wie neue

Ideen entstehen, also wie Wissenschaft eigentlich funktioniert so LÉCUYER. Doch die

Mechanismen, die wirksam werden, wenn man eine Theorie aufstellt oder ein neues

24

Verfahren erfindet, sind äußerst komplex und schwer zu verstehen. PIAGET kam daher auf

den Gedanken, die Entstehungsgeschichte dieser Mechanismen zu erforschen, und fing damit

beim Säugling an. Er wollte genau beschreiben, wie sich das Denken in seinen Anfängen

formiert, und war so der erste Wissenschaftler, der eine fundierte Theorie über die Intelligenz

von Säuglingen aufstellte, so jedenfalls sieht es ROGER LÉCUYER.

PIAGET habe nicht nur die Säuglingspsychologie geprägt, sondern den gesamten Bereich der

Entwicklungspsychologie. Seine Theorie sei in der Tat von großer Tragweite, und noch heute

bezögen sich Wissenschaftler auf seine Erkenntnisse, und sei es auch nur, um sie in Frage zu

stellen. Was die Säuglingspsychologie angeht, so hätten sich unsere Vorstellungen sehr

verändert, und die meisten Antworten, die Piaget gegeben habe, hätten ihre Gültigkeit

verloren. Er hat aber über die Stufen der Sensumotorik Anregungen zur Erforschung der

„Leistungen“ auch von Kleinkindern/ Babys gegeben, rühmt ihn LÉCUYER. Er habe also die

richtigen Fragen zu stellen gewusst, und das sei in der Wissenschaft von entscheidender

Bedeutung.

Der Begründer der Kognitionsforschung hat dem Gedanken einer stufenweisen Entwicklung

zum Erwachsenwerden zum Durchbruch verholfen. Er sorgte dafür, dass eine

stufenangemessene Förderung als pädagogische Aufgabe betrachtet und vertieft wurde. Auf

diesem Hintergrund war es möglich, frühe Fehlentwicklung durch das Wissen um

Normalentwicklung erkennen und behandeln zu können. Entwicklungstests und

Entwicklungsgitter entstanden auf solcherlei Basis, beschreibt LÉCUYER die Leistungen

PIAGETS. Er gab Anregungen für das richtige Babyspielzeug und die richtige

anregungsreiche Umgebung für Kinder. PIAGETS Erziehungsideologie sorgte dafür, dass

Lehren nicht mehr nur die Wiedergabe von auswendiggelerntem Wissen darstellte. PIAGET

glaubte, dass die Äquilibrationsprozsesse, die zum Aufbau komplexerer Struktursysteme

führen, ohne Anleitung vollzogen würden. Sei ein bestimmtes Strukturnievau einmal erreicht,

dann mag ein Lehrer die Aufgabe übernehmen, Gegenstände anzubieten, auf die sich die

Strukturen anwenden ließen. Dieser Absatz bezieht sich nun auf die Entwicklung des dritten

und vierten Stadiums. Ich halte KIPHARDS Ausführungen für wichtig, da sie wirklich den

Anspruch erheben, ein Leitfaden für Eltern zu sein. Er ist trotzdem nicht völlig theoriefern.

Piagets sensumotorisches Stufenmodell kann nicht als Leitfaden für die Praxis verwendet

werden, aber die Ratgeberliteratur hat ihn oft als ihren Mentor bezeichnet und sich seiner

25

Normentwicklung als Leitfaden bedient, selbst dann noch als er bereits als überholt betrachtet

wurde.

6 Schlußwort

Leider bin ich in meiner Hausarbeit nicht zu dem gewünschten Ergebnis gekommen. Ich hatte

gehofft, zeigen zu können, was Entwicklungstheorien für den Praktiker alles bieten können.

Nun muß ich wohl zugeben, das die sensumotorische Phase nach PIAGET doch eher abstrakt

neben der tatsächlichen Entwicklung steht. Dennoch glaube ich, dass Entwicklungstheorien

als Orientierungshilfen und Zukunftsprognosen, wie in der Einleitung ausgeführt,

unabdingbar bleiben.Sie finden immerhin indirekt Eingang in moderne Ratgeberliteratur und

stehen in ständiger Wechselbeziehung mit der Praxis. Außerdem ist mir bei der Lektüre über

PIAGET aufgefallen, dass seine Theorien, was höhere Stadien der Entwicklung betrifft, wie

beispielsweise die logische Denkfähigkeit durchaus für Lehrer Relevanzen aufweisen, ob und

wie weit diese reichen, wäre in einer weiteren Arbeit zu prüfen. Ich habe jedenfalls in der

fünften Klasse den Versuch mit dem Wssserglas das einen niedrigeren Durchmesser bzw.

einen höheren Durchmesser hat, machen müssen.

KRITZ, LÜCK und HEIDBRINK (1996, S. 166) zitieren in dem Werk „Wissenschafts und

Erkenntnistheorie“ FRITZ HEIDER, der in seiner Einleitung zu seiner „Psychologie der

interpersonalen Beziehungen schrieb: „Wenn man (...) alle Kenntnisse der wissenschaftlichen

Psychologie aus unserer Welt herausnehmen würde, dann könnten Probleme der

zwischenmenschlichen Beziehungen (...) fast genauso gut wie vorher gelöst werden“.

Bezogen auf Entwicklungspsychologie hieße das: „Wenn man alle Kenntnisse der

Entwicklungspsychologie aus unserer Welt herausnehmen würde, dann könnten Probleme der

Entwicklung fast genauso gut wie vorher gelöst werden.“ Ich halte diesen Satz nach wie vor

für falsch. Denn ohne entwicklungstheoretische Aussagen wäre es fast unmöglich, Menschen

einzuschätzen und ihren alterspezifischen Eigenheiten Rechnung zu tragen. So gibt es Eltern

doch eine gewisse Sicherheit zu wissen, dass Trennungsangst, Fremdenangst und Trotzphasen

alltägliche Phänomene darstellen.

In meinen Ausführungen zur allgemeinen Bedeutung von Entwicklungstheorien habe ich

darüber hinaus einen wichtigen Punkt vergessen: das Erlernen eines kritisch-distanzierten

Blickes auf das Kind. Kenntnisse über normale Fähigkeiten schon von Säuglingen schärft den

26

Blick des Betrachters, die Beobachtungsfähigkeit wird geschult. Außerdem können Theorien

neue Möglichkeiten der Erziehung eröffnen. So ist jemand, der sich nicht nur jahrelanger

Kindergartenpraxis erfreut, sondern zusätzlich noch mit Theorien zu diesem Kindheitsstadium

auseinandergesetzt hat, vielleicht eher in der Lage, seine eigene Methode kritisch zu

hinterfragen und Alternativen auszuprobieren. Theorien dienen demnach der Erweiterung des

Wissensbestandes. Nur wenn man sich theoretisch mit Fragen z.B. der Kindesentwicklung

auseinandersetzt, kann man das eigene Verhalten also kritisch reflektieren. Wissenschaft hat

nie den Anspruch erhoben ein „Kochbuch“ für richtiges Handeln zu sein. Stattdessen versucht

die Wissenschaft die Wahrheit über die Wirklichkeit zu entdecken, wobei es vor allem auf

gezielte und präzise Fragen ankommt. Die Wissenschaft beginnt und endet mit Fragen, sie

glaubt nicht die Wirklichkeit jemals entdeckt zu haben.

27